Dieser Bastard! Die Nephilim wären besser bis auf den Letzten in den gerechten Fluten ersoffen.

Kepheqiah schleuderte die Teekanne an die Wand. In eiskaltem Geschäftston hatte ihm Grigorjew Vertragsbruch vorgeworfen. Er sei auf dem Weg hierher, um über seine Entschädigung zu verhandeln. Er würde Daniel wollen. Die Tasse teilte das Schicksal der Kanne. Wie lange würde er diese Katastrophe vor Baraqel verheimlichen können? Daniel würde nicht vollkommen versagen. Er würde das Ziel eliminieren, zu spät. Was war los? Hatte er sich in dem Weib festgeliebt?

Kepheqiah eilte durch die Flure. Maurice Büro war leer. Aus dem Zimmer des Jungen drang noch Licht. „Wo ist Maurice?“

Erstaunt schaute Ives von seinem Observationsbericht auf.

„In seinen Privaträumen. Er sagte, er wolle nicht gestört werden.“

„Komm mit.“

Ives sprang auf und folgte ihm.

Maurice saß zusammengesunken an der Wand, umgeben von seinen Krummsäbeln und Schleifsteinen. Schwerer Alkoholdunst hing im Raum und seine Augen waren geschlossen. Kepheqiah trat ihm ans Bein.

„Daniel eliminiert das Ziel und du schmust mit deinen Waffen?“

„Ich schleife sie.“ Der Blick zu ihm hoch war verschattet wie eine Nacht bei Mondfinsternis.

„Grigorjew verlangt den Abzug des Meisters.“

Maurice fluchte auf Französisch und Aramäisch gleichzeitig, während er wie angestochen auf die Beine sprang. „Das geht nicht. Das ist ein Vertragsbruch. Ist er von Sinnen?“

„Genau das wirft er uns vor. Es ist kurz nach Mitternacht und wir haben noch keine Nachricht von Daniel.“

Maurice wurde kreideweiß. „Kontaktier ihn. Er muss sich beeilen.“

„Denkst du im Ernst, er hätte auch nur einmal den Sender im Ohr gehabt? Weder lässt er sich belauschen noch beobachten. Sein Handy ist auch aus. Das habe ich längst versucht.“

„Levant spielt mit seiner unsterblichen Seele.“ Maurice klang wie frisch aus dem Grab. „Und ich rede nicht von Mahawajs Sanktionierung.“

Ives drängelte sich an Kepheqiah vorbei. „Von was redest du dann?“

Maurice Augen wurden schmal. „Von der Schuld, seinen Willen der Dunkelheit zu überlassen.“

„Von welcher Dunkelheit sprichst du?“ Nie hatte Kepheqiah einen trostloseren Blick gesehen.

Maurice kam ganz nah, legte seine Hände auf die Schultern des Jungen, der dabei zusammenzuckte. „Du siehst dir bei Dingen zu, die dich schreien lassen. Doch kein Laut kommt über deine Lippen, denn sie gehören dir nicht mehr. Du kämpfst dagegen an, aber eine fremde Stimme in deinem Innern lacht vor Hohn. Du beschmierst dich mit schuldigem Blut und bist es selbst, der Schuld auf sich lädt, bis du darunter erstickst.“

Maurice würgte und wandte sich ab. Ives schluchzte auf. Kepheqiah zog ihn von dem Franzosen weg.

„Raus mit dir und mach uns einen Tee. Ich muss mit Maurice allein reden.“

Auf unsicheren Beinen tappte der Junge zur Tür.

„Und hüte dich, zu lauschen. In deinem eigenen Interesse.“

Kaum war Ives raus, packte er Maurice. „Sag mir, was du weißt.“

Maurice schüttelte den Kopf. „Wann kommt Grigorjew?“

„Noch diese Nacht.“

„Dann wirst du es erfahren.“ Er ging zum Safe, öffnete ihn und entnahm ein vergilbtes Notizbuch. „Nimm es mir ab, wenn es an der Zeit ist.“ Er steckte es sich in die Brusttasche seines Sakkos. „Lies es und entscheide selbst, zu welchen Taten dich dieses Wissen treiben wird. Und jetzt geh. Ich muss mich auf den Klienten vorbereiten.“ Seine verschlossene Miene duldete keinen Widerspruch.

Vor der Tür kauerte Ives. Er hörte auf, Nägel zu kauen, als er Kepheqiah erblickte. „Oute ich mich als Schlappschwanz, wenn ich dir sage, dass ich Angst habe?“

„Die Situation ist bedrohlich. Doch Angst hilft selten weiter.“

Ives nickte unüberzeugt. „Sie fängt wieder an.“

„Was meinst du?“

„Die Katastrophe, die mich von Leben zu Leben begleitet. Sie endet damit, dass ich aufgespießt oder gevierteilt im Matsch lande und mir mit meinem letzten Atemzug vornehme, es nächstes Mal besser zu machen. Nur habe ich es bisher nie geschafft.“

Kepheqiah hockte sich zu ihm und nahm dessen Hände in seine. Die Trostlosigkeit in so jungen Augen zu sehen, war unerträglich. „Fürchte dich nicht.“ Die Worte wirkten, während er sie formulierte. Ives atmete tief ein und sah ihn erwartungsvoll an. Dann straffte er die Schultern. Es war ewig her, dass Kepheqiah diesen Satz einem Menschen gesagt hatte. „Diesmal wird alles gut. Du wirst als alter Mann sterben, umgeben von den Menschen, die du liebst und der Erinnerung an Abenteuer in deinem Herzen, in denen du der Held gewesen bist.“ Was spielte es für eine Rolle, dass er log? Lügen trösteten oft und Ives brauchte Trost.

Das Jungengesicht verzog sich zu einem resignierten Grinsen. „Du bist der einzige Meister, den ich kenne, der nie die Nerven verliert.“

Kepheqiah musste lachen. Er war der einzige Meister, der Zeugen in solchen Situationen nicht zuließ.

„Ruben sagt, du wärst bei der Bruderschaft ebenso lange dabei wie Baraqel selbst. Wie lange ist es bei Meister Levant?“

Daniel war der erste Meister des dritten Kreises, den Kepheqiah im Auftrag Mahawajs rekrutiert hatte. Diese Tat hatte er ebenso oft bereut, wie er sich dazu beglückwünscht hatte. „Er ist schon lange dabei und jetzt lass uns mit Gerede keine Zeit mehr verschwinden. Wenn Grigorjew kommt, müssen wir ihm einen angemessenen Empfang bereiten.“ Hoffentlich behielt Maurice die Nerven. Dann würde Kepheqiah schlichten, verlockende Angebote unterbreiten und Mahawaj aus dieser unseligen Geschichte raushalten können.

 

*

 

In ihren Armen lag ein Wunder. Dicht an sie geschmiegt, tief schlafend. Ihre Beine zitterten. Sie hatten allen Grund dazu. Daniel hatte sich ihr geschenkt, mit jedem tiefen Kuss, mit jeder Berührung seines geschmeidigen Körpers. Jeder Herzschlag hatte ihr gegolten. Er hatte ihre Seele umwoben, ihren Geist gefesselt und ihrem Körper jeglichen Atem genommen. Manchmal war es wie Sterben gewesen. Absolutes Loslassen, Dahintreiben, nur noch Gefühl sein. Es war wie Zauberei. Sanft, aber unaufhaltsam, hatte er ihr die Zügel aus der Hand genommen und sie dorthin gelenkt, wo er sie haben wollte. Mitten hinein in den Ozean seiner Liebe zu ihr.

Albern. Arrogant. Vollkommen verrückt. Wie sollte er derart innig für sie empfinden können?

Lucy legte ihm sacht die Hand auf die Brust. „Danke für die Illusion absoluter Liebe. Ich rede mir ein, dass deine Taten nicht gelogen haben.“

Jetzt war der Moment, wo sie aufstehen, stehlen und sich davonschleichen musste. „Ich liebe dich, Daniel Levant.“ Mit zärtlichen Küssen bedeckte sie sein entspanntes Gesicht. „Aber ich bin, was ich bin und du wirst mich nicht ändern können.“ Es war der denkbar schlechteste Moment zum Weinen. Sie tat es trotzdem. Konnte man sich hassen und dennoch gierig seine Hände nach Schätzen ausstrecken, die einem nicht gehörten? Sie konnte es. Vorsichtig zog sie das Amulett über seinen Kopf. Es war so schön und geheimnisvoll wie er.

In der Küche stand eine Krepprolle. Die musste reichen. Fünf Ikonen wickelte sie einzeln in das Papier. Zwei mit Rissen im Lack, eine aus der Mitte und eine, die noch brandneu sein musste. Der Nikolaus, Franz und Maria waren dabei.

„Seht mich nicht so vorwurfsvoll an. Jeder tut das, was er am besten kann.“ Die Tränen liefen immer noch. Eine wurmstichige Holztruhe stand an der Wand. Schränke gab es nicht. In der Truhe waren Laken, Bettbezüge und Handtücher.

Die Ikonen verschwanden in einem Kopfkissenbezug. Mochte der Taxifahrer denken, was er wollte. Sie war fertig. Musste nur noch verschwinden. Daniel konnte sie nach dieser Aktion nie mehr wiedersehen. Ihr Herz stach bei dem Gedanken. Komm schon, Lucy, häng die Heiligenbilder wieder an die Wand. Tut doch nicht weh, sich zurück zu ihm ins Bett zu legen und in ein paar Stunden mit ihm Croissants und ekligen Grapefruitsaft zu frühstücken. Es tat weh. Der gefüllte Kissenbezug schien sich an ihr festzuklammern und versprach auf paradoxe Weise Freiheit.

Bleib dir treu. Dann geschieht dir nichts. Mit dieser Erkenntnis hatte sie Heime und Straßen überlebt. Sie war eine Diebin. Sie konnte es sich nicht leisten, ihr Herz zu verschenken.

Daniel hatte ihr alles gegeben. Ihre Tränen zerplatzten auf dem Boden und ihr Hals wurde eng. Wenn sie schon ersticken sollte, dann während der Liebe mit diesem Mann aber nicht vor Scham über ihre Taten.

Ein letzter Kuss flog durch die Luft zu ihm, dann öffnete sie eines der mächtigen Fenster und kletterte einhändig die Feuerleiter hinab. Sie biss die Zähne zusammen, als ihre wunden Muskeln in der kalten Winterluft streikten.

Die Leiter führte auf den Hinterhof. Alle Fenster der Umgebung waren dunkel und niemand würde sie sehen. Der Aufzug hätte zu viel Lärm gemacht. Als sie unten angekommen war, zitterte sie wie Espenlaub. Die Kälte, die Anspannung, die Ekstasen, die sie mit Daniel erlebt hatte. Ein Traum. Er endete hier, an dem Punkt, wo sie noch Macht darüber hatte. Gib niemals die Zügel über dein Leben anderen in die Hände. Auch eine Überlebensweisheit

Das Tor zur Straße schwang quietschend im kalten Wind. Für die U-Bahn war es noch zu früh. Sie musste ein Taxi erwischen. Sie würde zu Ethan fahren, ihm die Ikonen bringen und für eine Weile untertauchen. Das war nicht das erste Mal, dass sie für einige Zeit Gast in Ethans Cottage war. Ein paar Wochen, dann wäre die Luft wieder rein und Daniel hätte sie vergessen. Er wirkte nicht wie ein Typ, der ihr die Polizei auf den Hals hetzen würde.

Als der verschlafene Fahrer neben ihr hielt, hing Daniels Amulett bereits um ihren Hals. An jeder Straßenecke war sie kurz davor, dem Taxifahrer zu sagen, dass er umkehren sollte. Sie tat es nicht.

 

„Warten Sie, bitte? Ich bin gleich wieder da.“

Der Taxifahrer nickte müde. Im Laden brannte Licht. War Ethan wieder einmal über den Seekarten von Kapitän Bligh eingeschlafen? Er saß auf einem Stuhl, mitten im Raum, einen Golfschläger in der einen, eine Tasse in der anderen Hand. Er sah aus wie der lebende Tod. Schwarze Schatten umrandeten seine Augen und stachen grell von seinem kalkweißen Gesicht ab. Um den Hals trug er einen seiner bunten Seidenschals.

„Bist du erkältet? Du siehst schrecklich aus.“

Ethan lachte schaurig, dass ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. Als er die Tasse zum Mund führte, zitterte seine Hand. Es roch stark nach bitterem Kaffee.

„Was willst du mit dem Neuner Eisen? Wolltest du dir nicht einen rückenfreundlicheren Sport suchen?“

Wieder lachte er. Lucy hatte nie etwas Schaurigeres gehört.

„Was ist los? Du machst mir Angst. Seit dem Überfall dieser Springerstiefel-Ärsche hast du weder einen Golfschläger angefasst noch vorgehabt, damit zuzuschlagen.“

Er nickte mit aufeinandergepressten Lippen. „Was sagt dir das?“

„Wer war hier?“ Kolja. Sie wusste es. Grigorjew war ihr nicht umsonst unheimlich gewesen.

„Drei charmante Herren, die nachdrücklich nach dem Ring und dir gefragt haben. Russischer Akzent, gut gekleidet, einen Hang zum Sadismus konnte ich bei dem einen feststellen, einen Hang zu primitiverer Grausamkeit bei den anderen.“

Lucy wurde schlecht. „Was haben sie dir angetan?“

„Falsche Frage.“

„Dann eine andere. Was hast du ihnen gesagt?“

Er atmete schwer durch. „Dass ich den Ring einem Kaito Yoshida verkauft hätte.“

„Wer ist das denn?“

„Ein erfundener Manga-Künstler aus Tokio, der den Ring seiner Tante als Hochzeitsgeschenk überreichen will.“ Sein Lächeln war gequält. „Ich habe den Kerlen eine exakte Personenbeschreibung geliefert plus den halben Lebenslauf dieses gesprächigen Touristen. Die Geschichte war dermaßen kompliziert, der Russe hat sie mir irgendwann abgekauft.“

Seine Miene war zu gleichgültig, sein Gesicht zu blass, sein Mund zu schmal. Igor hatten sie in der Moskwa gefunden. Ethan stand lebendig vor ihr. Sie fiel ihm um den Hals und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Sein Hemd war durchgeschwitzt und stank nach Angst. Ethan machte sich steif und schob sie von sich.

„Du musst fliehen. Sofort.“

Lucy drückte ihm den Kissenbezug in den Arm. Das Schmerzensgeld konnte nicht hoch genug sein. Ethan fühlte die Konturen nach.

„Was ist das?“

„Ikonen. Die Besten, die du je gesehen hast. Sie stammen von Daniel. Wenn er nach mir fragt, sag, ich sei gestorben.“

Ethan nickte. „Hieß er nicht Ebenezer?“

„Nur für Peter.“

Unendlich sanft strich er über ihre Wange. Eine Träne glitzerte auf seinem Finger. „Du ziehst es immer durch, Lucy Sorokin. Ist kein Platz für Liebe in deinem kleptomanischem Herz?“

Welches Herz? Sie musste es auf dem Weg hierher verloren haben. Ethans kritischer Blick glitt über ihren Hals.

„Was ist das?“

„Ein Erinnerungsstück.“ Das Amulett war unverkäuflich.

„Das meine ich nicht.“ Vorsichtig tastete er an ihrem Kehlkopf. „Da sind rote Flecken.“

Was immer es war, es tat nicht weh. Sie nahm seine Hände in ihre und legte sie an ihre Wange. „Du weißt, wo ich bin, aber suche mich nicht auf.“

Ethan nickte. „Wie lange?“

Sie wusste es nicht. Vielleicht würde sie nie wiederkommen.

Nicht umdrehen. Nicht in sein versteinertes Gesicht sehen. Er lebte. Das musste reichen.

Auf dem Weg zum Taxi rannte sie beinahe in einen Jeep. Sie stützte sich auf der Motorhaube ab. Der Wagen stand sofort. Ein kalter Blick hinter Glas starrte sie an. Heute Nacht konnte sie nichts mehr schrecken.

Der Taxifahrer kam ihr aufgeregt entgegen und drohte dem Jeepfahrer mit der Faust. Dann half er ihr zum Wagen. Warum fragte er ständig, ob alles in Ordnung wäre? Sie wollte nicht antworten. Es gab nichts zu sagen.

 

*

 

Bleierne Schwere und das Vibrieren seiner überreizten Nerven war alles, was Daniel fühlte. Eine Nacht, ein Traum nicht enden wollender Ekstase. Lucys Duft haftete an den Kissen. Ihre Wärme wohnte noch in seinem Körper.

Lucy!

Daniel fuhr hoch. Sein Herz raste, Schweiß brach ihm aus. Er hatte sie getötet. Sie hatte dagelegen, reglos und mit geschlossenen Augen.

Der Platz neben ihm war leer. Wo war sie? Hatten die Cleaner sie bereits geholt? Mitternacht war längst vorbei. Draußen wurde es hell.

Die Schachtel Benson & Hedges war leer. Ein Gummi lag vor dem Bett, eins hing an der Tischkante, das dritte klebte noch an ihm. Dreimal. Und keine Leiche. Innerlich sank er vor Erleichterung auf die Knie. Langsam kam die Erinnerung zurück. Er hatte ihr den Atem genommen. Nach endlosen Sekunden war ein Zittern durch ihren Körper gefahren, sie hatte nach Luft geschnappt und um mehr gebeten.

Warum hatte Kepheqiah nicht längst angerufen, ihm mit Vorwürfen überschüttet und ihm die ewige Verdammnis angedroht? Sein Handy war aus. Als er es angeschaltet hatte, sprang ihm eine lange Liste unerreichter Anrufe entgegen. In seinem Kopf herrschte Chaos. Keph musste ihm helfen.

„Und? Ist sie tot?“ Der gehetzte Klang in Kephs Stimme gefiel ihm nicht.

„Ich weiß es nicht. Sie ist nicht mehr da.“

„Was?“

„Dafür fehlen ein paar meiner Ikonen.“ Fünf spinnennetzüberzogene Rechtecke an der Wand ließen sein Herz vor Freude höherschlagen. Er fühlte an seine Brust. Das Amulett war auch weg. Es gab keinen besseren Beweis für Lucys Lebendigsein.

„Daniel, hör zu. Grigorjew ist hier. Er tobt auf eine eiskalte Weise, die mein Blut gefrieren lässt.“

Der Russe. Lucy durfte ihm nicht in die Arme rennen.

„Du hast den Vertrag gebrochen, du elender Scheißkerl!“

Zorn. Bei Kepheqiah. Dann hatte Daniel den Bogen überspannt. „Was ist mit Lucy?“

„Nenn das Ziel nicht Lucy!“ Keph schrie ihm ins Ohr. „Du hast mit ihr nichts mehr zu tun. Er will sich später selbst um sie kümmern. Vorher will er den Ring. Von dir. Oder er zieht dir die Haut bei lebendigem Leibe ab.“ Keph schnappte nach Luft. „Er sagt, der Ring sei in Japan und er sei nur dann bereit, auf dein Leben zu verzichten, wenn du ihn innerhalb von drei Tagen beschaffst.“

„Der Ring ist bei Scarborough.“

„Der hat ihn an einen japanischen Touristen verkauft.“

„Sagt wer?“

„Grigorjew. Er hat Scarborough diesbezüglich ins Verhör genommen.“

„Scarborough lügt. Gestern Abend hat er Lucy danach gefragt. Er wollte ihn aus ihrer Wohnung holen.“

Keph knirschte mit den Zähnen. „Ich zitiere Grigorjew wörtlich: Niemand lügt, der einen Bissen meiner Methoden kosten durfte.“

Daniels Gedanken überschlugen sich. Lucy konnte überall sein. Er wusste nur, wo sie nicht war, bei Scarborough, der jetzt wie sie in größter Gefahr schwebte. Es war seine Schuld. Alles. Er musste sie finden.

„Halte mir den Nephilim vom Hals. Verstrick ihn in die Verhandlungen über seine Schadensersatzansprüche oder tanz mit ihm. Meinetwegen kannst du ihm auch die Kehle durchschneiden, nur gib mir Zeit, Lucy zu finden.“ Daniel trennte die Verbindung. Seine Seele hatte er verspielt, seit er den Vertrag mit der Bruderschaft unterzeichnet hatte.

„Du versaust schon wieder einen Job, Daniel Levant, Superkiller der Ewigkeit.“ Hatte er nicht schon von Beginn an gewusst, dass er versagen würde?

Keph versuchte erneut, ihn anzurufen. Daniel schaltete das Handy aus. Er musste zu Scarborough, der würde wissen, wo Lucy zu finden war. In Sekundenschnelle raffte er alles zusammen, was er brauchte. Das Wichtigste war Geld und der Dolch für die Moral.

In Susannas Wohnung erwartete ihn ein Schlachtfeld. Hinter durchtrennten Balken und abgerissenen Tapetenfetzen lag eine Matratze mit Schlafsack und Inhalt. Daniel schüttelte das Mädchen heraus. Wenigstens war sie allein.

„Daniel? Spinnst du?“

„Noch nicht.“ Er packte sie am Kragen und schleppte sie hinter sich her. Auf dem Weg zur Tür sammelte er Socken und Turnschuhe auf. „Anziehen. Kannst du Autofahren?“

Susanna riss sich von ihm los und schlüpfte in ihre Jacke. „Klar, kann doch jeder. Frag mich nur nicht nach dem Führerschein.“

„Mach ich nicht. Du bist engagiert. Hinten steht eine Limousine, die auf uns wartet. Fahr schnell. Farringdon Road.“

„Macht es Sinn, zu fragen …“

„Nein.“

 

Das Mädchen fuhr wie der Teufel. Die Hälfte der Fahrt verbrachte Daniel mit geschlossenen Augen.

„Du bist gut.“ Daniel lauschte, von einer Polizeisirene war nichts zu hören.

„Ich weiß. Soll ich im Wagen auf dich warten?“

Auf sein Nicken schob sie den Sitz nach hinten und legte die Beine aufs Lenkrad. Die Schutzgatter des Antiquitätenladens waren heruntergelassen und an der Tür hing ein Zettel, wegen Betriebsaufgabe geschlossen.

Daniel klingelte Sturm. Nichts geschah. Hinter dem Fenster im ersten Stock bewegte sich eine Gardine. Daniel winkte nach oben. Der Schemen verschwand wieder. Für Spielchen blieb keine Zeit. Daniel quälte sich die Fassade hoch. Die Nummer mit der Scherbe im Fuß bereute er bei jedem Auftreten und Halt suchen.

„Verschwinde von meinem Fenster oder ich zieh dir einen über den Schädel!“

Auch für Diskussionen war keine Zeit. Daniel klammerte sich an den Sims über dem Fenster, holte aus und sprang mit den Füßen vorweg durch das Glas.

Scarborough musterte ihn kalt, während sich Daniel auf seinem Teppich den Fuß hielt.

„Warte mein Junge, ich hol nur eben meinen Golfschläger.“

„Lucy ist in Gefahr, ich muss mit Ihnen reden. Ich weiß von Ihrem nächtlichen Besuch. Grigorjew ist ihr auf den Fersen.“

Scarborough wurde eine Spur blasser. „Was hast du mit dieser Sache zu schaffen?“

Als er die Arme vor der Brust verschränkte, gaben seine Manschetten tiefe rote Striemen an seinen Handgelenken preis. Grigorjew durfte nicht in Lucys Nähe kommen.

„Ich sollte Lucy töten. Für den Irren, dem du das da zu verdanken hast.“

Scarborough rieb über die wunden Stellen und sein Gesicht verwandelte sich in eine Maske der Ausdruckslosigkeit. „Und jetzt?“

„Will ich sie schützen.“

Scarborough lachte trocken. „Wehe, du sagst jetzt, dass du sie liebst.“

„Das wäre mein nächster Satz gewesen.“

„Verschwinde. Wie kann ich einem Killer trauen? Lucy ist längst weg und in Sicherheit.“

„Ist sie nicht. Es gibt keinen Ort außer in meiner unmittelbaren Nähe, an dem sie sicher vor Grigorjew wäre. Er ist ein Nephilim. Die verzeihen Kleinigkeiten wie den Diebstahl ihrer Lebensquelle nicht.“

Misstrauen schlich sich in Scarboroughs Blick. „Ein Nephilim? Willst du mich verarschen?“

Daniel sprang ihn an und riss ihn mit sich. Dieses Geplänkel ging zu lange. Er hockte sich auf dessen Brust und zerrte den Schal von Scarboroughs Hals. An einigen Stellen hatte das Seil tief genug eingeschnitten, dass die Wunden noch nässten. „Willst du das für Lucy?“ Daniels Berührung an den Würdemalen jagte einen Schauder durch den Körper des Mannes. „Dabei wird es nicht bleiben. Er wird sie in Stücke schneiden. Aus reiner Lust an ihrer Qual. Ob sie dabei noch lebt oder bereits tot sein wird, wird ihn nur sekundär tangieren.“

„Schwör es mir, dass du sie schützen wirst.“

Aus seinem zitternden Mund kam nicht mehr als ein raues Keuchen. Daniel nahm Scarboroughs Hand und legte sie sich an die Brust. „Solange dieses Herz schlägt, werde ich sie vor allem schützen, was sie bedroht. Vor den Nephilim, vor der Bruderschaft, vor ihrem eigenen Leichtsinn.“

Scarborough starrte ihn fassungslos an. „Sie ist auf dem Weg nach Paris. Mit dem Eurostar. Du schaffst es nicht mehr. Der Zug fährt um fünf Uhr vierzig von St. Pancras ab.“

Daniel sprang von ihm herunter. „Warte hier. Gleich kommt ein Freund von mir. Du erkennst ihn an einem Bramahnenknoten. Sein Name ist Kepheqiah und du wirst mit ihm gehen.“

Scarborough nickte. Keph würde ihn vor Grigorjew verstecken müssen. Daniel nahm denselben Weg zurück, den er gekommen war.

 

„Coole Nummer.“ Susanne pfiff durch die Zähne.

„Zum St. Pancras. Schnell!“

Er rief Keph an. Der hielt ihn für geisteskrank. Dass er dem Plan dennoch zustimmte, war ein Wunder oder die Spuren uralter Freundschaft. Er würde Scarborough in Daniels Loft bringen und Ruben als Bewachung bei ihm lassen. Mehr konnte er nicht von ihm fordern.

Daniel hechtete aus dem Wagen. Der viktorianische Uhrenturm läutete zweimal. Noch zehn Minuten. Lucy musste noch im Check-in-Bereich sein, sonst hätte er keine Chance mehr, sie vor dem Einsteigen abzufangen.

Daniel rannte die Rolltreppen hinunter. Die Schalter waren bereits leer. Er war zu spät. Hinter der Sicherheitsabsperrung gingen die Lifts zu den Gleisen. Daniel setzte über und rannte einem Security-Mann in die Arme. Bis er ihn von seiner Redlichkeit überzeugt hatte, fuhr der Zug los. Daniel hätte den Kerl verprügeln können.

 

„Und?“ Susanna drehte die Musik leiser. „Geht es um die Frau, die dich neulich besucht hat?“

„Allerdings. Sie ist weg. Fahr mich nach Hause.“ Eine Chance blieb ihm noch, aber er konnte nicht Lucy und Ethan gleichzeitig schützen. Er brauchte Hilfe.

 

*

 

Zäher Schleim rann in seinen Hals bis in die Bronchien. Kolja hasste das röchelnde Geräusch beim Einatmen. Der Ring, nichts anderes konnte ihn retten. Meister Lacroix musterte ihn mit nur zum Teil unterdrücktem Ekel. „Das Versagen der Bruderschaft wird Folgen haben.“

Lacroix nickte schweigend. Ein Diener kam und brachte Tee. Ekelhaft jung. Ekelhaft hübsch. Die Haare voll und weich, der schlanke Körper ohne Schmerzen. Kolja packte ihn am Arm. Die Muskeln krampften unter seinem Zugriff. Wie erbärmlich sich seine knöcherne graue Hand von dem rosa Fleisch abhob. Dieser Junge gäbe einen perfekten Lakaien ab, einen Ersatz für Sascha. Konstantin würde sich über das Geschenk freuen.

„Angesichts der prekären Lage fordere ich neben Meister Levant auch diesen Knaben als Entschädigung.“

Ilja lachte, der Junge keuchte vor Schreck. Meister Lacroix schüttelte den Kopf. Armseliger! Dachte er wirklich, jetzt noch verhandeln zu können?

„Meister Levant ist in diesem Moment dabei, den Ring zu beschaffen. Sein Leben gehört Ihnen, wenn Sie das wünschen. Mein Diener steht nicht zur Diskussion.“

Die Tasse klirrte, als der Lakai sie vor ihn stellte. Angst. Sie tanzte in seinen jungen Augen einen grausamen Tanz. Hinter ihm erhob sich Ilja, das Handy am Ohr. Als er das Gespräch beendet hatte, grinste er vielversprechend.

„Er folgt ihr nach Westen aus der Stadt. Ein Mann ist bei ihr. Er humpelt. Sie fahren in einer dunklen Limousine.“ Er schlenderte zum Fenster und sah auf den Hof. Sein Grinsen zog sich höher. „Ich wette, es ist so eine wie die da unten.“

Lacroix tauschte einen Blick mit dem Lakaien. Beide wurden blass. Ein Komplott. Baraqel würde bitter für die Verräterei seiner Meister zahlen müssen.

Ilja fuhr sich über das Kinn. „Wir können sofort aufbrechen. Ich bin sicher, die Frau ist gesprächig, was den Aufenthalt deines Ringes angeht. Und wenn sie es nicht ist, wird es dieser Meister sein.“

Die ganze Fülle seiner Rachegedanken würde Kolja in diesem welkenden Körper nicht ausleben können, doch auch der Schmerz der Diebin würde ihn befriedigen.

Plötzlich schnappte Ilja nach Luft und starrte zu Meister Lacroix. „Was hat der Kerl mit den Säbeln vor?“

Mit wutverzerrter Miene sprang Lacroix über den Schreibtisch auf Kolja zu. In den Händen hielt er zwei Krummsäbel. War der Mann wahnsinnig? Kolja floh zurück. Eine Klinge sirrte durch die Luft, Lew fasste sich an die Kehle und keuchte. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Lacroix holte erneut aus, doch Ilja war schneller und schoss ihm in die Brust. Lacroix sackte zusammen und blieb reglos liegen.

Wir gehen.“ Er zerrte den Lakai dicht vor sein Gesicht. „Richte Meister Levant meine Grüße aus. Was hier geschah, hat er zu verantworten.“

Ilja trat Lew zur Seite. Ein Bauernopfer wie Lacroix. Nicht weiter beklagenswert.

 

*

 

Daniel war wahnsinnig und er unterstützte ihn auch noch dabei.

Kepheqiah schlug aufs Lenkrad. Scarborough war vorerst in Sicherheit. Er war der Einzige. Auf dem Display des Bordcomputers erschien Ives Nummer.

„Was ist passiert? Ich bin gleich zurück.“

Er hätte die Filiale niemals in so einer heiklen Situation verlassen dürfen. Am anderen Ende schluchzte es.

„Maurice stirbt. Überall ist Blut. Dieser Ilja hat ihn erschossen. Maurice wollte Grigorjew töten, den anderen Russen hat er erwischt.“

Kepheqiah Atem stockte. „Beruhige dich! Lebt Maurice noch?“

„Ja! Nein! Ich weiß es nicht.“

„Bleib, wo du bist. Ich schicke Leute zu dir, die helfen werden.“

Das medizinische Team wäre in wenigen Minuten vor Ort. Er selbst würde länger brauchen. Verflucht! Warum hatte er sich von Daniel dazu bringen lassen, Maurice mit Grigorjew allein zu lassen?

Als er in der Turner Street ankam, wurde Maurice bereits die Treppe heruntergetragen. Sein Gesicht war eingefallen und grau.

„Schafft er es?“

Die Sanitäter zuckten die Schultern. Im Büro war ein Team dabei, Ordnung zu schaffen. Mittendrin stand Ives. In der Hand hielt er ein blutdurchtränktes Notizbuch.

„Von Maurice. Du sollst es lesen. Du wüsstest Bescheid.“

Kepheqiah nahm es ihm ab. Bevor er es las, musste er Mahawaj informieren.

Die Antwortmail kam sofort. Mahawaj zog ihn und Daniel von dem Auftrag ab. Er sollte seine Sachen packen und unverzüglich zurück nach Rom fliegen. Die Filiale in London wurde aufgelöst. Die Hilfsteams hätten Anweisung erhalten, sich ebenfalls in der Zentrale einzufinden. Kepheqiah sollte den Diener von Meister Lacroix in das nächste Flugzeug nach Moskau setzen. Er würde auf den ausdrücklichen Wunsch des Klienten der Familie Grigorjew als Vergebungsgeschenk offeriert. Seine Akte, seine persönlichen Dinge und alles Weitere, was seine Existenz bei der Bruderschaft bezeugen konnte, sollte Kepheqiah persönlich vernichten.

Er fuhr den Laptop hinunter. Ives stand über Maurice Schreibtisch gebeugt. Seine schmalen Schultern zuckten. Mahawaj hatte ihn für dieses Leben abgeschrieben. Kepheqiah schloss die Augen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der die Worte Fürchte dich nicht ein Versprechen gewesen waren, das nicht gebrochen werden konnte.

„Du sollst nach Moskau. Zu Grigorjew. Du bist ein Geschenk an ihn.“ Jedes Wort schnürte seinen Hals enger.

Ives erstarrte. Dann richtete er sich langsam auf und sah ihn mit leerem Blick an. „Ich bin nicht Mahawajs Eigentum.“

Wäre es nicht so tragisch, Kepheqiah hätte gelacht. „Doch. Du, Daniel, Maurice und alle hier im Raum.“

„Ich bin kein Meister! Ich trage kein Amulett.“

Der Junge glaubte tatsächlich an seine Freiheit. Seine Naivität war rührend. „Wenn Daniel meint, er müsse für eine gewisse Zeit untertauchen, lässt ihm Baraqel das durchgehen. Er ist wertvoll und Mahawaj Baraqel erweckt gern den Anschein, die Meister handelten selbstbestimmt und an Meister Levant liegt ihm besonders viel. Aber wenn ein Diener wie du sich widersetzt, hetzt ihm Mahawaj einen Suchtrupp hinterher. Ich gebe dir drei, vielleicht vier Tage. Dann haben sie dich.“

„Ich kann zur Polizei gehen. Ich kann alles sagen, was ich weiß.“ Trotzig reckte er das Kinn vor.

„Und die würden dir Glauben schenken, ja?“

Die erste Träne lief. Der Junge wusste viel zu wenig von der Bruderschaft. „Ich weiß, was Grigorjew ist.“ Er wischte sich die Tränen ab und verteilte Maurice Blut über sein Gesicht. „Niemals werde ich mich ihm oder einem anderen dieser Sippschaft aussetzen.“ Das Lächeln tauchte sein Gesicht in tiefe Resignation. „Ich bin nicht zum ersten Mal auf der Welt. Ich weiß, was mich bei einem Grigorjew erwartet.“ Er hob eines der Sarazenenschwerter vom Boden. „Machst du es, oder muss ich es tun?“

Kepheqiah hatte sich noch nie einer konkreten Anweisung widersetzt. Es war ein seltsames Gefühl.

„Lass das Schwert fallen. Du brauchst es nicht.“

 

*