Auf der heißen Milch hatte sich eine Haut gebildet. Der Honiglöffel hatte sie durchbrochen. Daniel würgte und Ives verschränkte entschlossen die Arme vor der Brust.

„Runter damit. Ihr Freund ist bei ihr. Sein Auto steht vorm Haus, da wird es auch bis morgen bleiben. Wir haben Pause vor deinem großen Auftritt. Ist doch auch mal schön.“

Daniel setzte das Glas an. Als die glibberige Schicht seine Lippen berührte, stellte er es wieder weg. Lucy ließ diesen Peter an sich ran. Er selbst hatte es ihr geraten. Von allen Geistern musste er verlassen gewesen sein. Sie gehörte ihm. Ihm allein. Gab es ein bedingungsloseres Band als den Tod?

„Ich verstehe deine Frustration.“ Mitfühlend tätschelte Ives seine Hand. „Wäre dieser Kerl nicht bei ihr, könntest du sie schön um die Ecke bringen. Gibst du mir zehn Prozent deiner Provision ab? Immerhin helfe ich dir bei dem Auftrag.“

Der Schlag klatschte schneller in Ives erstauntes Gesicht, als Daniel denken konnte.

„Mir reicht es jetzt mit dir, Meister Übersensibel.“ Er stapfte in die Küche, fluchte und kam mit einem Glas Wasser wieder, das seltsam sprudelte. „Trink das aus.“

„Was ist das?“

„Ein harmloses Schlafmittel. Wenn du es nimmst, verspreche ich dir, die restliche Nacht bei Sorokin Wache zu schieben.“

„Geh in ihre Wohnung und zieh diesen Bastard aus ihr heraus.“ Allein die Vorstellung, dass dieser Kerl in Lucy herumstümperte, machte ihn rasend. „Sie ist eine Stradivari und dieser Mann weiß nicht einmal, wo ihre Stimmwirbel sitzen.“

Ives blähte entnervt die Wangen. „Ich bin heilfroh, wenn dieses Weib sechs Fuß unter der Erde liegt.“ Dem nächsten Schlag wich er gekonnt aus. „Du bist eifersüchtig wegen einer Toten! Denn genau das wird sie sein. Schluck es endlich und komm zu dir. Du bist ein Mitglied des ehrwürdigsten und ältesten Syndikats der Welt. Es ist für mich demütigend, einen anonymen Meister dabei zu erwischen, wie er brüllend unter der Dusche onaniert und danach den Namen seines Zieles wimmert.“

„Ich habe nicht gewimmert und sei froh, dass ich es war, der Hand an mich gelegt hat. Ich habe Zeiten erlebt, in denen war für solche Notfälle die Dienerschaft zuständig.“

Ives verzog das Gesicht. „Ich weiß. Diese Zeiten habe ich auch noch mitbekommen, als Diener, wohlgemerkt.“

Daniel leerte das Glas. Es hatte keinen Zweck, sich zu verweigern. Er brauchte Schlaf. Warum grinste Ives derart hinterhältig? Sein Gesicht verschwamm vor seinen Augen, der Raum begann, sich um ihn zu drehen. „Ein harmloses Schlafmittel?“

Ives zuckte die Schultern. „Ich habe etwas untertrieben.“

Alles wurde schwarz, Daniel fiel. Er durfte nicht in diese dunklen Tiefen stürzen, die unter ihm warteten. Er musste Lucy retten. Vor sich.

 

*

 

Die Nacht wollte nicht vorbeigehen. Lucy lag wach und sah dem Mond beim Scheinen zu, bis er an ihrem Fenster vorbeigezogen war. Warum hatte sie nicht den Mut gehabt, zu Daniel zu fahren? Es lag an seinem Blick, als er sie zu Peter geschickt hatte. Er war dunkel und bedrohlich gewesen und auch, wenn die Gefahr, die darin lauerte, nicht ihr galt, schüchterte sie Lucy dennoch ein. Sobald sie Daniel wiedersah, musste sie ihm sagen, dass es in ihrem unsteten Leben keinen Peter mehr gab. Der Zeiger des Weckers rückte in Zeitlupentempo nach vorn. Halb fünf, halb sechs, halb sieben. Lucy hielt es im Bett nicht mehr aus. Der Tag, der vor ihr lag, war auch ohne ihr kompliziertes Liebesleben schwierig. Sie zog sich an, trank den ersten Kaffee vor dem Spiegel im Flur. Ihre Haare streiften ihre Schultern. Ein Jahr war um. Sie mussten ab. Der einundzwanzigste Dezember, der Todestag ihrer Eltern und damit ein Tag der Rituale. Er war nicht nachtschwarz, aber dunkel genug, um organisiert werden zu müssen. Als sie die Jacke schon übergezogen hatte, leuchtete das Handy auf der Ablage. Eine SMS von Ethan.

Lass sie nicht zu kurz schneiden. Komm nachher bei mir vorbei. Wir sehen uns schnulzige Filme an. Kopf hoch, mein verlorenes Mädchen!

Danke, Ethan. Lucy schleppte ihr Rennrad aus dem Keller und prüfte den Reifendruck. Es würde gehen. Ihr Trekkingrad stand noch bei Ethan. Sie fluchte bei der Vorstellung, mit dem guten Stück durch die Straßen zu schlittern. Einzelne Schneeflocken fielen vom grauen Himmel. Sie tanzten um Lucy herum, legten sich sacht auf den Sattel und stimmten sie milde. Daniel konnte so sanft küssen, wie diese Flocken fielen. Er konnte auch wie ein Hagelschauer sein. Beides war verheißungsvoll. Ob ihr Schicksal es gnädig mit ihr meinte und ihn heute wieder zu ihr brachte? Was er wohl zu ihrer neuen Frisur sagen würde?

Die Baker Street war im Weihnachtsrausch. Überall leuchteten Lichterketten und Plastiksterne in den Schaufenstern. Mr. Paddock schob die Ständer mit den Taschenbüchern vor die Ladentür und zwei erfroren aussehende Arbeiter standen am Bäckerstand an und wärmten sich die Hände am heißen Kaffee. Ein bildhübscher Junge sah auf, als sie vorbeiradelte. Er musste schon lange in der Kälte gestanden haben. Seine Ohren waren krebsrot. Würde er lächeln, sähe er aus wie ein Weihnachtsengel.

Die pinken und metallicgrünen Christbaumkugeln konkurrierten an Geschmacklosigkeit mit dem Wattebauschschnee im Schaufenster von Marius Friseursalon. Ein aufblinkendes Leuchtschild wünschte jedem mutigen Kunden frohe Weihnachten und tauchte für Bruchteile von Sekunden den Watteschnee in das kalte Blau einer Winternacht.

Neben ihr bremste ein Wagen. Er rollte aus, während sie ihr Fahrrad anschloss. Der Fahrer starrte sie an und fuhr langsam an ihr vorbei. Den Blick seiner starrenden Augen fühlte sie noch auf sich, als sie in den Salon ging.

„Guten Morgen!“

Marius sank über seinem dicken Timer zusammen. „Super, Lucy. Du bist die Erste, die mir heute den Tag versaut.“

„Charmant.“

„Gern geschehen.“ Sein mitleidheischender Blick suchte Verständnis in ihrem, fand es aber nicht. „Ich liebe deine Haare. Ich will das nicht tun.“

Lucy wählte den mittleren Friseurstuhl der Reihe aus.

Seufzend kam Marius zu ihr. „Nur nebenbei, so wie jedes Jahr?“

Sie hielt seinem bittenden Hundeblick stand. „The same procedure as every year, James.“

Marius verdrehte die Augen, baute sich aber mit gezückter Schere hinter ihr auf. Sein Gesicht war ein einziger Vorwurf.

„Deine Haare fließen glänzend zu deinen Schultern wie ein Schleier.“ Er legte zwei Finger an die Lippen und schüttelte immer wieder den Kopf. „Warum soll ich sie abschneiden? Ich bin dein Friseur, ich will, dass du in vollendeter Schönheit meinen Salon verlässt.“

Marius verzerrte das leicht aufgedunsene Gesicht, als ob er Zahnschmerzen hätte. Er würde klein beigeben.

Vor seinen verzweifelten Augen verwandelte sich Lucy in eine andere.

„Darf ich wenigstens retten, was du mir übrig gelassen hast?“ Der fleischige Handrücken wischte über seine Augen.

„Mach mit meinen Haaren, was du willst.“

Ungläubiges Kopfschütteln begleitete jeden Handgriff. Marius verpasste ihr einen hübschen Fransenkopf, der fröhlicher aussah, als sie war. Letztes Jahr war es ein kurzer glatter Bob gewesen, doch die Fransen gefielen ihr besser.

„Was trägst du da für einen fantastischen Ring?“

„Ein Geschenk von Ethan.“ Sie suchte seinen Blick und lächelte. Es war nur eine Beinahe-Lüge. Marius nickte anerkennend und schnippelte weiter an ihr herum.

„Fertig. Angewuschelt und peppig und deine grünen Augen kommen auch besser zur Geltung.“ Marius ging einen Schritt zurück und stemmte die Hände in die nicht vorhandene Taille. „Ich bin ein Genie. Los! Lass es uns gemeinsam sagen.“

„Du bist ein Genie.“

„Sag ich ja.“

Der Teppich aus abgeschnittenen Haaren wurde in den Bodensauger geschnorchelt.

Der hübsche Junge mit den roten Ohren stürmte in den Salon. Er sah sie kurz an, dann flammte sein Gesicht passend zur Ohrenfarbe auf.

„Einen Moment noch. Ich bin gleich für dich da.“

Marius lächelte charmant durch den Spiegel nach hinten. Der Junge sah sich hilflos um, nahm dann auf dem Wartesofa Platz und blätterte in einer der Zeitschriften.

Lucy zahlte und ging. Draußen erwartete sie Schneematsch und Düsternis. Die fahle Wintersonne schob sich mühsam über den Horizont und kam gegen die Wolkenberge nicht an. Der Fahrtwind strich ihr durchs kurze Haar, als sie durch die Baker Street Richtung Mayfair raste. Die North Audleys Street, die South Audleys Street, ein paar schmale Sträßchen und schon wäre sie am Piccadilly. Alles halb so wild. Sie würde den Tag mit einer Shoppingtour fortsetzten. Mühelos zog sie an einem Bus vorbei. Fantastisch. Der Schneematsch spritzte links und rechts von ihren Reifen. Ein Mann im Lodenmantel sprang erschrocken zur Seite. Seine Bundfaltenhose hatte sie dennoch erwischt. Sie raste weiter, fuhr schneller als ein Taxi, schneller als ein SUV. Hatte sie so einen eben nicht schon einmal gesehen?

Fußgängerampeln waren nur für Fußgänger da. Von links dröhnte eine Hupe. Der SUV kreuzte knapp ihren Weg. War der verrückt geworden? Lucy schlenkerte um den Kotflügel und fuhr noch schneller. Der Wind fühlte sich gut an in ihrem kurzen Haar.

Lächerlich, dieser pinkfarbene Hut. Er biss sich mit der roten Handtasche. Der Hund darunter war nicht viel größer. Plötzlich kniff er den Schwanz ein, zerrte an der Leine. Er riss sich los, rannte ihr genau in den Weg. Die lilafarbene Leine flatterte hinter flusigen Ohren her. Die Frau schrie, der Hut rutschte ihr vom Kopf.

Bremsen!

Es war zu spät. Eine Scheibe glitt hinunter. Starre Augen beobachteten sie. Das Rad schlitterte, Asphalt raste auf sie zu.

 

*

 

Hirnzerfetzendes Gejaule stach Caym durch das fleischige Menschenohr bis in sein Hirn. Die blinkenden Lichter, die Hast der Wesen, die so taten, als wären sie wertvoll, gingen ihm auf den Geist. Es waren nur ein paar Kratzer, die diese Frau abbekommen hatte. Der Tumult war unnötig. Auf sie wartete eine Pein, die ärger war.

Los, ihr Menschen. Trollt euch! Die Gaffer wichen nur langsam. Hauchdünne rote Schlieren verschwammen auf der regennassen Straße. Niemand bemerkte sie. Caym schmeckte den begehrten Geruch auf der stumpfen Zunge. Benzindurchsetzt, aber dennoch verlockend. Der Lebenssaft verrann in den Ritzen. Welch törichte Verschwendung. Beinahe hätten die plumpen Füße eines Menschen den winzigen Schluck Köstlichkeit besudelt. Er stieß den Mann weg, kniete sich nieder und fuhr mit der Zunge über den rauen Belag. Welch ein Genuss. Zu lange schon hatte er ihn entbehren müssen. Er hatte schon einmal Hände besessen, die sich in zähes Rot getaucht hatten. Doch sein Wirt war nicht hörig gewesen. Jedes Labsal hatte er erkämpfen müssen. Blut und Fleisch. Nichts begehrte er mehr. Dieses Blut. Dieses Fleisch.

Das schrillende Auto fuhr weiter. In ihm lag das, was ihm zustand. Sie würde noch mehr bluten können. Die saftigsten Stücke würde er für sich behalten. Ein zähes würde er als Beweis seines verhassten Gehorsams dem Nephilim bringen. Dann wäre er frei, zu tun und zu lassen, was ihm beliebte. Es waren viele Dinge, die sich mit einem Körper bewerkstelligen ließen. Wussten diese tumben Geschöpfe, die ihn entsetzt anstarrten, welchen Schatz sie besaßen?

 

*

 

„Liebe Mrs. …“

Assistenzarzt Dr. Trevena, wie Lucy das kleine Schild auf der Brusttasche seines strahlend weißen Kittels verriet, sah flüchtig auf das Aufnahmeprotokoll. Er blickte auf, lächelte, dann runzelte er die Brauen und starrte verwirrt auf die Zeilen.

„Sie haben drei ungewöhnliche Vornamen.“

Lucy zog den Kopf ein. Ihre Mutter musste high gewesen sein, als sie die Vornamen ihrer Tochter ausgesucht hatte. Auch an ihrem Todestag war dieses Vergehen am guten Geschmack unentschuldbar.

„Philippa Lucinde Violetta Sorokin. Alle Achtung.“

„Ich denke, Mrs. Sorokin reicht.“

„Kann ich verstehen.“ Sein Lächeln war von amüsiertem Mitleid geprägt. „Sie haben sich nichts gebrochen, keine Gehirnerschütterung, was ein Wunder ist, und auch sonst kann ich keine schwerwiegenden Verletzungen feststellen.“

Mit einer kleinen Lampe leuchtete er erst in ihr eines Auge, dann in ihr anderes.

Falls Sie morgen unter schmerzhaften Verspannungen leiden sollten, kommen Sie her und lassen sich eine Spritze geben. Ihrer Beschreibung nach sind Sie in hohem Bogen über den Lenker geflogen. Von den folgenden Prellungsschmerzen werden Sie noch länger etwas haben.“

„Hoffentlich nicht.“ Sie bückte sich, um ihre Jeans hochzuziehen. Die meisten Schürfwunden hatten ihre Knie und Schienbeine abbekommen. Schade um die Hose. Sie sah genauso ramponiert aus wie ihre Beine. Der dumpfe Schmerz kroch über ihr Genick, den Hinterkopf bis zu den Schläfen. Dann sammelte er sich in der Stirn. Vielleicht kam das von dem Sturz. Lucy richtete sich langsam auf. Es wurde schlimmer.

Travena zog die Brauen zusammen. „Ihre Hände zittern.“

„Das sieht nur so aus.“ Sie steckte sie in die Taschen, dafür begann ihr Fuß, auszuschlagen. Sie klemmte ihn hinter die Wade. Ausgerechnet jetzt musste sich ein Anfall anbahnen. Der Kopfschmerz wurde stärker, als ob ihr Hirn in ein Marmeladenglas gequetscht würde. Als der Deckel verschraubt wurde, biss sie die Zähne zusammen. Ein zügiger Abgang wäre perfekt, bevor Dr. Trevena auf die Idee kommen würde, sie zu verkabeln, um verrückt gewordene Gehirnströme zu messen.

„Ich hatte eine anstrengende Nacht. Ich fahr heim, schlafe und alles ist wieder gut.“ Ein Kommandolächeln täuschte ihn nicht.

„Sollte Ihnen schlecht werden, Sie Kopfschmerzen bekommen oder Schwindel empfinden, kommen Sie wieder her. In Ordnung?“

Sie nickte brav, während der Schmerz ihr Tränen in die Augen trieb.

„Und morgen will ich die Pflaster erneuern und mir die tieferen Schürffunden noch einmal ansehen.“

Sie nickte wieder brav. Das Behandlungszimmer schwankte auf und ab.

Noch ein weiteres freundliches Nicken und sie war entlassen.

Sie musste diese Spannung loswerden, bevor sie Funken schlug. Wenn Daniel jetzt hier wäre, wäre alles gut. Er würde sie in den Arm nehmen und geduldig unbekannte Voltmengen durch seinen Körper jagen lassen.

„Vorsicht!“

Weiße Laken, silberglänzende Gestänge, ein Bauch unter einer Decke. Wo kam die Liege plötzlich her? Sie rannte mitten hinein. Die Spannung entlud sich, als sie den Arm des Patienten berührte. Lucy keuchte auf. Endlich.

„Kommen Sie sofort von dem Patienten runter!“

Überall waren Schläuche mit durchsichtiger Flüssigkeit oder dunkelgelber. Der Mann lag reglos da.

„Können Sie nicht nach vorn sehen, wenn Sie schon durch ein Krankenhaus flüchten?“

„Tut mir leid.“

„Das hoffe ich.“ Mit fahrigen Fingern ordnete er die Schläuche. Seine leisen Flüche galten ausnahmslos ihr. „Seien Sie bloß froh, dass Mr. Adlam im Koma liegt und von ihrem Ungeschick nichts mitbekommen hat. Aber wenn Sie ihn zusätzlich verletzt haben sollten, wird das finster für Sie enden.“

Mr. Adlam öffnete die Augen, der Pfleger schloss perplex den Mund.

Der leere Blick füllte sich mit Leben und ein winziges Lächeln spielte in dem schlaffen Gesicht.

„Das gibt’s doch nicht! Der war doch schon so gut wie im Kühlraum.“ Hektisch fühlte der Pfleger seine Taschen ab. „Ich piepe jetzt Dr. Plympton her. Der muss sich das ansehen.“

Sollte er herpiepen, wen immer er wollte. Hauptsache sie war bis dahin weit weg. Sie schlich rückwärts hinter einen Rollwagen mit Handtüchern. Ein Mann mit Krücken blieb an der Liege stehen. Mr. Adlam sah Lucy hinterher. Er lächelte immer noch.

Plötzlich tauchte ein regloses Gesicht vor ihr auf. Lucy schrie vor Schreck. Wo kam der Kerl plötzlich her?

Sie rannte den Korridor entlang, sah nur ein Mal zurück. Der Mann sah ihr nach. Etwas stimmte mit seinen Augen nicht.

Die Glastüren schwangen vor ihr auf, nur noch ein Schritt und sie war draußen. Ein junger Kerl rempelte sie an. Der Typ mit den roten Ohren. Litt sie an Verfolgungswahn?

Wahrscheinlich hatte sie doch mehr abbekommen, als der Arzt gesagt hatte. Der Mann mit dem starren Blick musste sie für hysterisch halten, dass sie schreiend vor ihm geflohen war. Wahrscheinlich hatte er nur nach der Uhrzeit oder sonst was fragen wollen.

Ihr Fahrrad lag verbeult irgendwo am Straßenrand. Haymans Geld würde für ein neues herhalten. Ihre Handflächen brannten vor Hitze. Der Griff der Taxitür war wunderbar kühl. „Fahren Sie mich bitte zur Baker Street.“

Der Fahrer nickte und Lucy fiel in den Sitz. Wenn heute noch Daniel auftauchen würde, wäre dieser Tag trotz seiner Katastrophen gerettet.

 

*

 

„Reg dich bitte nicht unnötig auf.“ Ives drückte sich an der Wand entlang, beide Hände beschwichtigend vor sich gestreckt. „Sorokin hatte einen Unfall, war im Krankenhaus, ist wieder zu Hause und ihr ist nichts passiert. Nichts Wesentliches jedenfalls. Das ist die gute Nachricht.“

Daniel mühte sich um einen klaren Gedanken. Was immer Ives ihm verabreicht hatte, es hatte ihn für Stunden stillgelegt. Was faselte der Kerl von einem Unfall? Lucy?

„Du wolltest sie bewachen.“ Die Knochen würde er ihm brechen.

Ives schluckte. „Sieh mich nicht so an. Das Thema hatten wir schon. Ihr geht’s gut. Hab ich doch gesagt. Hör dir erst mal die schlechte Nachricht an.“

„Fahr mich sofort zu ihr.“ Er hätte sich nie auf Ives Deal einlassen sollen.

„Heute ist Stichtag, Großer. Mitternacht. Du erinnerst dich?“

Etwas Scharfkantiges schnitt durch seine Därme.

„Fehler kannst du dir nicht mehr erlauben. Der Klient ist in London. Er will die Leiche persönlich entgegennehmen.“

Tief in Daniel plante etwas minutiös den Mord an Lucy. Er hasste sich dafür.

„Du hast unterschrieben, Daniel. Deine Seele sollte dir heilig sein und was ich von Kepheqiah gehört habe, ist Baraqel nicht mehr bereit, nachsichtig mit dir umzugehen. Also pack deine Sachen, mach dich schick und auf geht’s.“

Es gab keine schöneren Augen als Lucys, keine zartere Haut, kein sehnsüchtigeres Anschmiegen an seinen Körper. Gallebitter schmeckte die Erkenntnis, dass er ihr Mörder sein würde. „Geh zurück auf deinen Posten. Ich rufe dich an, wenn ich so weit bin.“

Ives klappte die Kinnlade herunter. „Freund, du hast keine Zeit mehr, Margeriten zu befragen, ob du sollst oder nicht.“

„Auf deinen Posten!“

Ives taumelte zurück. Er starrte Daniel an, schluckte und nickte endlich. „Ich mag dich, Meister Levant, und ich würde um dich trauern, solltest du versagen.“ Ohne ein weiteres Wort ging er hinaus.

Erst im letzten Moment. Vorher würde er Lucy nicht unter die Augen treten.

 

*