Daniel streckte sich auf dem Bett aus. Ives hatte die Schicht allein übernommen, damit er schlafen konnte. Lucy hatte den ganzen Tag mit diesem Mann verbracht. Neben ihm lag ihre Akte. Ein paar Seiten behandelten auch ihn. Scarborough war ein Sonderling einer alteingesessenen Londoner Familie. Als er ein herumstreunendes Mädchen bei sich aufnahm, wandte sich die Familie von ihm ab. Ein netter, kleiner Skandal flammte auf, erlosch aber bald wieder, um sich an der Tatsache neu zu entzünden, dass Scarborough eine Liaison mit einem Abkömmling eines Nebenzweiges der Windsors unterhielt. Er war Lucindes Mäzen. Stahl sie für ihn? Aus Dankbarkeit? Hatte er sie angelernt? Wie weit ging ihre Dankbarkeit? Obwohl sie eine Wohnung in der Baker Street mietete, hatte sie die letzte Nacht bei Scarborough verbracht. Daniel warf die Akte vom Bett.

Was interessierten ihn ihre Partner? Der fahlhaarige Kerl vom Flughafen war bis jetzt nicht mehr aufgetaucht. Er passte nicht zu Lucy. Auch Ethan passte nicht zu ihr. Daniel versuchte, die Gedanken aus dem Kopf zu schütteln. Es gelang ihm nur mit Mühe. Die Gefühle, die sich in ihm einnisteten, wenn er an Lucy dachte, ließen sich nicht verscheuchen.

Am Himmel leuchteten die ersten Sterne. Es war beinahe Nacht, er war todmüde und wusste trotzdem, dass er keinen Schlaf finden würde. Lucy hatte sich in seinen Kuss fallen lassen wie in einen Berg warmer Daunendecken. Noch jetzt erinnerte sich sein Mund an den sanften Druck ihrer Lippen. Sie hatten den Todeskuss genossen.

Die Verzweiflung schlich langsam aus dunklen Zimmerecken auf ihn zu. Ganz ruhig. Alles war gut. Er plante einen Mord. Einen wie viele andere. Es war nichts dabei. Nur ein Job. Es war gleichgültig, dass sie schön war. Er hatte viele schöne Frauen getötet. Es war gleichgültig, dass ihre Augen leuchteten wie Frühlingsgras nach einem Regenschauer und es spielte auch keine Rolle, dass sie Mitgefühl für eine verunglückte Schwester hatte, die es nicht gab. Wenn sich der Reißverschluss des Gummisacks schloss, hatte all das keinerlei Bedeutung mehr.

Daniel rang nach Atem. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er riss das Fenster auf. Schneeluft füllte seine Lungen, die sich immer schneller zusammenzogen. Nächte, die so begannen, würde er nicht allein durchleben. Davon hatte er genug erlitten. Er musste weg aus diesen Wänden. Sie schoben sich zusammen, erstickten ihn unter Leichenbergen.

Das Clink Inn war noch bis weit nach Mitternacht geöffnet. Dort gab es alles, was er brauchte. Absinth und Grace. Beide würden seine Nerven massieren.

Daniel hetzte zur U-Bahn. Dieses elende Gefühl, das ihm das Atmen erschwerte, wurde immer stärker. Das Handybrummen ließ ihn zusammenfahren. Es war Keph.

„Daniel, ich muss mit dir reden. Sofort.“

„Ich kann jetzt nicht.“ Er konnte förmlich sehen, wie Keph die Brauen hochzog.

„Ich habe beunruhigende Neuigkeiten über den Klienten. Er heißt Kolja Grigorjew. Maurice hat in der Vergangenheit bereits für seine Familie gearbeitet.“

Hatte Keph nicht zugehört? „Der Name des Auftraggebers hat mich nie interessiert. Das weißt du.“

„Diesmal sollte es das aber. Ich habe im Archiv die Stammakte der Familie Grigorjew gefunden. Du musst unbedingt vorsichtig sein. Diese Frau hat ein Mitglied der alten Familien bestohlen.“

Welche Familien? Daniels Mund war staubtrocken. Keph sollte mit Reden aufhören.

„Daniel, um Himmels willen, reicht es dir, wenn ich dir sage, dass Maurice blass geworden ist, als er den Namen Grigorjew auf dem Vertrag gelesen hat?“

„Mir reicht es, wenn Maurice blass wird, weil er die Blattern am Hals hat.“

„Ich muss mit dir reden. Persönlich. Noch heute Nacht.“

Daniel schlug mit der Faust auf den Sitz. Keph würde sich nicht abwimmeln lassen. „Komm in zwei Stunden ins Clink Inn.“ Bis dahin würde es ihm wieder gut gehen. Daniel kündigte sich bei Grace an. Sie war da. Er atmete auf.

Die ausgetretenen Stufen, die ins Gewölbe führten, waren glitschig von dem Atem zu vieler Menschen. Grace stand an der Bar. Als sie ihn sah, kam sie ihm entgegen.

„Eine schlimme Nacht?“

Sie streichelte ihm den Mantel von den Schultern und warf ihn achtlos neben den Treppenaufgang. Daniel vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge. Grace kannte ihn, seit er sechzehn war. Sie hatte ihn für achtzehn durchgehen lassen und er war seitdem ein häufiger Gast im Clink Inn und in ihr. Damals hatten die Erinnerungen aus seinen vergangenen Leben nach ihm gegriffen. Grace hatte ihm die Albträume fortgeliebt, ihm immer wieder versichert, dass er nicht verrückt war und ihm sein komplettes Taschengeld für ihre Dienste abgeknüpft.

„Da hinten sind wir ungestört.“

Sie nickte in eine Ecke neben dem Kamin. Auf dem leeren Weinfass standen bereits Glas und Absinth-Brouille. Jeder Eiswassertropfen zog eine milchige Schliere durch smaragdenes Grün. Daniel streckte sich auf dem Chaiselongue aus und Grace schob ihren ohnehin schon kurzen Rock höher, als sie sich auf seinen Schoß setzte. Ihre warmen Hände verschwanden unter seinem Pullover und massierten seine Brust. Sie waren warm, griffen fest zu und wussten, was sie taten. Daniel fasste in ihre Locken und zog ihren Kopf zu sich. Ihr Mund war voller geschminkt, als er war, doch er nahm seine Küsse gierig auf.

„Du warst lange nicht da.“ Die Gürtelschnalle klackerte, als Grace ihn von der zunehmenden Enge befreite. Daniel ließ seine Hände unter ihren Rock gleiten. „Ich habe deine Küsse vermisst.“ Sie tauchte den Finger ins Glas und fütterte ihn mit bittersüßen Tropfen. Daniel umfasste ihre Hüften und führte sie dahin, wo er sie brauchte. Grace stöhnte auf. „Küss mich dabei. Die ganze Zeit. Hör nicht auf, ehe du mein Zittern spürst.“

 

*

 

Das Pferd strauchelte, sah den Weg ebenso wenig wie Kolja. Bei jedem Fehltritt strafte er es ab. Es reagierte kaum noch. Das Tor war auf. Mittendrin stand Konstantin.

„Wie konntest du es wagen!“ Sein kleiner Bruder sah aus wie ein Schutzengel, als er mit ausgebreiteten Armen auf seine Stute zuging, um ihr beruhigend über das nasse Fell zu streichen. „Sie hat Schaum vorm Maul, ist klitschnass. Es ist Winter!“

Kolja stieg ab. Seine Beine waren steif vor Kälte und der Anstrengung, sich im Sattel zu halten. Es hatte lange gedauert, bis dieses Biest den Widerstand gegen ihn aufgegeben hatte.

„Willst du deinen Bruder nicht begrüßen?“

Konstantin funkelte ihn hasserfüllt an, ging um das Pferd, sah die blutigen Male am Bauch. „Du bist ein elender Schinder.“

„Es freut mich, dich zu sehen.“

„Halts Maul, Kolja! Fees Blut läuft über meine Hände.“

Was waren das für freundliche Laute, mit denen er das Pferd mit sich führte? Und seinen einzigen Bruder blaffte er an wie einen Hund? An der Schulter riss er Konstantin zurück, dass er ihn ansehen musste. Das Pferd wieherte ängstlich und versuchte, zur Seite auszubrechen. Kolja gab ihm einen Schlag mit dem Griff der Gerte. Konstantin schlug ihm die Gerte aus der Hand.

„Berühre Fee noch einmal!“

„Und dann?“

Mit geballten Fäusten stand Konstantin vor ihm. Er war selbst in seiner Wut wunderschön. Die dunkelblonden Haare hatte er zurückgebunden. Konnte er sich immer noch nicht von der Haarpracht trennen? Die ebenmäßigen Gesichtszüge hatte er von Mutter geerbt. Beneidenswert. Koljas Gesicht war kantiger. Er mochte an sich nur seinen Mund. Alles andere erinnerte ihn auf eine schmerzliche Weise daran, Sohn seines Vaters zu sein.

Wortlos drehte sich Konstantin um und führte Fee in den Stall. Kolja folgte ihm und lehnte sich an einen Balken. Sein Rücken schmerzte. Er war lange nicht mehr ausgeritten. Trotzdem hätte es ihn nicht derart erschöpfen dürfen.

Zärtlich rieb sein Bruder das Fell trocken, redete ununterbrochen leise und freundlich mit dem Tier. Hatte er selbst je solche Worte gehört?

„Was macht dein Studium? Liegt dir Architektur?“

Konstantin sah nur kurz zu ihm. In seinem Blick lag Abscheu. Kolja schnürte es das Herz ab. Konstantin durfte ihn nicht hassen. Er musste mit ihm lachen, mit ihm trinken und schmutzige Lieder singen, bis sie beide vergaßen, aus welcher Familie sie stammten. Warum hatte er ihn dominieren wollen? Er liebte ihn mehr als sein eigenes Leben.

Liebevoll tupfte Konstantin die Wunden ab. Die Haut der Stute zuckte trotzdem. Kolja ging einen Schritt auf seinen Bruder zu. Sofort wurde Fee nervös und tänzelte. Mit zurückgelegten Ohren sah sie ihn starr vor Angst an. Oder war es Hass, wie in Konstantins Blick?

„Geh zurück. Du hast genug angerichtet.“ Die Hand auf dem Pferdemaul strahlte Ruhe aus, obwohl in der Stimme blanker Zorn schwang.

„Es tut mir leid, Bruder.“ Kein Hass, bitte keine Abscheu. Er hatte Konstantin nicht ein einziges Mal gehasst, dabei hatte sein Inneres so oft vor Neid gebrannt. Mit zusammengezogenen Brauen arbeitete Konstantin weiter, als hätte er ihn nicht gehört. Langsam näherte sich Kolja, damit das Pferd ruhig blieb. Er legte seine linke Hand auf Konstantins rechte, die den Lappen gleichmäßig über die Seite der Stute rieb. Konstantin erstarrte in der Bewegung.

„Wo ist der Ring?“ Sein Blick blieb ungläubig auf Koljas Finger geheftet.

„Eine britische Schlampe mit russischem Namen hat mich übertölpelt und ihn mir gestohlen.“

Endlich drehte sich Konstantin zu ihm. Der Schrecken in seinen Augen verstärkte Koljas Angst.

„Vater kommt gleich.“

„Ich weiß. Deswegen bin ich hier.“

Konstantin schluckte. „Du darfst ihm so nicht unter die Augen treten.“

Wie im Affekt legte Konstantin ihm die Hand auf die Schulter. Kolja zog seinen Bruder an sich, drückte sein Gesicht in die Fülle heller Haare, die nach Stroh und Pferd rochen. „Hilf mir.“

Für ein paar wenige Herzschläge fühlte er Geborgenheit. Dann machte sich Konstantin von ihm los.

„Du wartest draußen. Wenn ich fertig bin, komme ich und begleite dich zu ihm.“

Unter der Strenge der Stimme schwang Mitgefühl gepaart mit einer Angst, die Kolja seine gesamte Kindheit über nie verlassen hatte. Er konnte nur nicken. Dann trat er vor die Stalltür und atmete eisige Winterluft. Wie wundervoll die Sterne leuchteten. Ganz anders als in Moskau, wo sie kaum zu sehen waren. Konnte er sich in den Anblick vollkommener Schönheit verlieren und nie wieder hinausfinden?

Das Motorengeräusch des Hummers quälte die Stille der Nacht. Kolja trat einen Schritt zurück, um nicht von seinen Eltern gesehen zu werden. Als der Jeep im Hof ausrollte, knirschte der Schnee unter den Reifen. Koljas Atem gefror. Hoffentlich hatte sein Vater den Nebel nicht bemerkt, der sich hinter dem Windfang hervorwagte.

Der Wolfspelz seines Vaters reichte bis auf den verschneiten Boden. Ramuell schritt um den Wagen, um Sofia Grigorjew die Tür zu öffnen. Beim Aussteigen küsste sie ihn zum Dank. Kolja hatte nie erlebt, dass seine Eltern miteinander auch nur ein lautes Wort gewechselt hätten. Welcher Art musste eine Liebe sein, die eine Frau an einen Mann wie Ramuell band?

Sie redeten leise miteinander, während Ramuell bunte Tüten mit sicherlich wertvollsten Weihnachtsgeschenken von der Rückbank nahm. Ramuell schaffte es, seinen Sohn bis aufs Blut zu demütigen, um ihn anschließend mit exquisiten Aufmerksamkeiten zu überhäufen. Es gab keinen Weg rechts und es gab keinen Weg links. Es gab nur den, den Ramuell in die Wildnis dieser Welt geschnitten hatte. Wer ihm nicht folgte, war verloren.

Kolja spürte die Hand seines Bruders im Rücken. „Lass den beiden Zeit, sich umzuziehen und ein Glas Port zu trinken. Nur eins. Dann gehen wir zu ihnen.“

Ein zweites Mal konnte er Konstantin nicht um Hilfe anflehen, doch die Worte drängten in seinem Mund. Sie wollten ausgesprochen werden, damit er Trost empfangen konnte.

 

*

 

Die verrottenden Köpfe sahen täuschend echt aus. Sie spießten auf Lanzen, die auf jeder dritten Treppenstufe den Abgang zum Gewölbe zierten. Die Luft war neblig vor Rauch. Was hatte Ethan nur geritten, ihr diese Spelunke vorzuschlagen? Aus dem Gewölbe drang dumpfes Reden. Die Klänge, die sich misstönend unter Wortfetzen mischten, mussten Musik sein. Unentschlossen blieb Ethan auf der obersten Stufe stehen.

„War vielleicht doch keine gute Idee, hier noch einen Absacker zu trinken. Als Aleister mir von diesem Laden vorgeschwärmt hat, hatte es romantisch geklungen.“

Rohe Holzschemel um alte Weinfässer, hier und da ein abgewetzter Sessel. Die Vergänglichkeit war jedem Teil hier unten anzusehen. Das Imitat eines Verwesenden hinter Käfigstäben, das von der niedrigen Decke hing, ließ Lucy schaudern.

„Jetzt sind wir hier, jetzt trinken wir auch was.“ Sie hakte Ethan unter, der zwei Männern in schwarzen Roben hinterherstarrte. Wenigstens das Publikum schien ihm zuzusagen. „Da hinten, beim Kamin, ist es doch hübsch.“ Sie manövrierte Ethan bis zu einem Fass, auf dem in der Mitte eine dicke Kerze klebte. Ethan sah sich misstrauisch um. Ein Pärchen hinter ihnen lag eng umschlungen auf etwas, das nach gepolsterter Gartenbank aussah. Der Schatten der Lehne zitterte an der Salpeter schwitzenden Wand im Rhythmus ihrer Bewegungen.

„Ein Jammer, dass es zu dunkel ist, um ein bisschen zu spannen.“ Mit breitem Grinsen nickte Ethan zu dem Pärchen und schnappte sich dann die Getränkekarte. „Möchtest du einen „Bloody Bone, einen Executioners Love oder einen Jailbirds last wish?“

„Alles. Mit dem Jailbird fange ich an.“

Ethan sah auf und lächelte glücklich. „Du siehst wunderbar aus. Mit diesem Kleid, diesem Ring, so habe ich mir Guinevere vorgestellt, als ich noch ein kleiner Junge war.“

Zur Feier des Tages hatte sie Ethan überredet, den Ring tragen zu dürfen. Moskau war weit und er glänzte im Kerzenschein wie ein Zauberring. „Warum hast du dich dann doch für Artus entschieden?“

Ethan lachte. „Habe ich nicht. Mein Favorit war Sir Bedwyr. In den Sagen heißt es, niemand in Britannien außer Artus selbst sei schöner als er gewesen, obwohl er nur eine Hand hatte.“ Er biss sich mit verträumtem Augenaufschlag auf die Unterlippe. „Aber mit der soll er sehr geschickt gewesen sein.“

Sein Blick wanderte wieder in die dunkle Ecke zu dem Pärchen. Sie ließen sich weder von ihm noch von einem der anderen Gäste stören. Der Mann lag hingebungsvoll unter der Frau. Sein Gesicht war verschattet, aber die Konturen zeichneten sich vielversprechend markant gegen die Wand ab. Er war groß. Die Frau auf seinem Schoß wirkte klein wie ein Kind und ebenso behutsam hielt er sie im Arm. Es musste wunderbar sein, auf diese Weise gehalten zu werden.

„Der wird die doch nicht stören wollen?“

Ethan sah einem Mann nach, der eben den Pub betreten hatte. Seinen Hinterkopf zierte ein Haarknoten, der die strengen Gesichtszüge noch verstärkte. Er legte dem Mann auf der Gartenbank die Hand auf die Schulter und sprach leise mit ihm. Die Frau reagierte nicht. Lucy an ihrer Stelle hätte den Störenfried längst zum Teufel gejagt.

 

*

 

Daniel erkannte die winzige Kapsel sofort, die ihm Keph hinhielt. Er drückte Grace noch fester an sich, die ihren Liebesrausch mit einem Dämmerzustand bezahlte.

„Sie ist kein Ziel.“

„Und ich halte nicht den Tod in meinen Händen. Nur seinen kleinen Bruder.“

Daniel nahm die Kapsel und biss sie auf.

Keph schnappte nach Luft. „Bist du bei Sinnen?“

Als Grace seine Lippen auf ihrem Mund fühlte, erwiderte sie seinen Kuss. Das bittere Betäubungsmittel ließ sie die Stirn runzeln. Daniel küsste sie drängender, verteilte das Elixier über ihre Mundhöhle bis in ihren Rachen. Genussvoll rekelte sie sich in seinem Arm, dann wurde sie schlaff.

„Du kannst reden.“

„Und du?“ Ungläubig sah ihn Keph an.

„Es braucht mehr, um mich auszuschalten.“ Das schwebende Gefühl, das ihn beschlich, war intensiv genug, um seine Gegenwart gelassen zu ertragen. Wenn er sich konzentrieren würde, würde er sogar den Sinn von Kephs Worten verstehen. Nur das leichte Brennen auf seiner Zunge störte.

Keph zog sich einen Schemel heran. „Was weißt du von den Nephilim?“

In Daniels Beinen begann ein eigentümliches Ziehen. Es war nicht unangenehm. In seinen verschwimmenden Gedanken suchte er nach allem, was er je über die Kinder der Gefallenen erfahren hatte.

„Sie sind ein überdurchschnittlich begabtes Volk der Vorzeit mit labilem bis kriminellem Charakter. Angeblich stammen sie von Überirdischen ab, die sich die Wächter nannten.“

Kephs Augen wurden zu Schlitzen. „Allgemeinwissen. Ist das alles?“

Das lauter werdende Rauschen schien aus Daniels Kopf zu kommen. Kein anderer der Gäste sah sich danach um.

Am Tisch schräg vor ihnen saß Lucinde Sorokin.

Das war unmöglich.

Ives hätte ihn angerufen, wenn sie das Restaurant verlassen hätte. Das Summen in seinem Kopf wurde lauter. „Was war das für ein Anästhetikum?“

Mit Besorgnis im Blick fühlte Keph Daniels Stirn. „Ein Wirkungsvolles. Kann sein, dass dir gleich ziemlich warm wird.“

„Löst es Halluzinationen aus?“ Er fischte das Handy aus der Tasche, ohne Grace aus dem Arm rutschen zu lassen. Keine verpassten Anrufe. Dafür sah Lucinde unwirklich schön aus, in ihrem dunkelgrünen Samtkleid. Die hohen Stiefel endeten unter verlockend betörenden Knien und die Art, wie sie die Beine übereinandergeschlagen hatte, ließ ihn von dem Weg zum Anfang ihrer Seidenstrümpfe träumen.

Keph rüttelte ihn an der Schulter. „Konzentrier dich. Du hättest das Ding ja nicht aufbeißen müssen.“

Lucinde spielte mit einer Haarsträhne und lächelte Scarborough an. An ihrem Daumen glänzte ein Smaragdring.

„Was hat es mit diesem Ring auf sich, den mein Ziel geklaut hat?“

Keph runzelte die Stirn. „Warum fragst du?“

„Weil heute Energie in einer Intensität durch mich hindurchgeflossen ist, die mich beinahe von den Füßen gehauen hat.“ Es war heftig gewesen, aber auf eine brachiale Weise auch vitalisierend.

Der leuchtende Blick ihrer grünen Augen schweifte zu ihm, dann wandte sie sich wieder ihrem Begleiter zu. Eine schlanke Hand tauchte vor seinem Gesicht auf. Plötzlich brannte seine Wange und Keph funkelte ihn wütend an.

„Hast du mich gerade geschlagen?“

„Worauf du dich verlassen kannst. Ich rede von der Heimsuchung der Welt und du träumst vor dich hin.“

Die Vision von Lucinde Sorokin runzelte die Stirn.

„Die Nephilim?“ Daniel zwang sich zur Konzentration auf seinen Freund. Oder war es sein Feind? Pelto-Pekka hatte ihn diverse Male verprügelt und er war definitiv sein Freund. Wo war der Finne? Weg. Gestorben, noch nicht geboren oder erst ein Kind oder schon ein Greis.

Keph wartete immer noch auf eine Antwort.

„In der Bibel heißt es, die Nephilim seien die Söhne der gefallenen Engel, Helden, Riesen. In den Apokryphen werden sie als boshaft, aber sehr klug und talentiert beschrieben.“ Es gab sumerische Texte, die sie zusammen mit der Sintflut nannten. „Angeblich verschlingen sie Mensch und Tier.“ Ob Lucinde ihn umsorgen würde, wenn Keph ihn niederschlug? Daniel hätte gern in ihren Armen gelegen und sich sanft von ihr übers Gesicht streicheln lassen.

„Die Nephilim sind in erster Linie hintertrieben und boshaft bis in die Grundfesten ihrer Existenz. Sie lernten Zauberkundiges von ihren menschlichen Müttern, die es von ihren himmlischen Buhlern gelernt hatten.“ Keph fuhr sich mit der Hand über den Mund. Er sah angewidert aus, als hätte er in eine madige Pflaume gebissen.

Wie grazil Lucinde ihre Hände bewegte. Sie war eine Diebin. Diebinnen-Hände waren geschickt. Ob es sie stören würde, dass er schwitzte? Es musste an der unglücklichen Kombination von Absinth und Kapsel liegen. Er könnte daran sterben.

Dann musste er Lucinde nicht umbringen.

„Dein Ziel hat den Nachfahren eines Nephilim bestohlen. Deshalb hast du den Energiefluss gespürt. Der Ring versorgt Kolja Grigorjew mit Lebenskraft.“

„Welchen Kolja?“

„Den russischen Klienten. Hörst du mir nicht zu? Er ist ein Nachfahre der Nephilim. Erster Spross einer der einflussreichsten alten Familien.“

Lucinde stand anmutig auf. Das Kleid umschmeichelte alles, was er berühren wollte. Wo ging sie hin?

„Die Nephilim sollten nicht grundlos vom Erdboden vertilgt werden. Sich mit ihnen anzulegen, spricht von Todessehnsucht oder gnadenloser Dummheit.“

„Weder noch.“ Mussten Halluzinationen auf die Toilette? „Lucinde Sorokin weiß es nicht. Woher auch?“

„Deine Gleichgültigkeit ist unangebracht. Maurice misstraut den Grigorjews noch stärker als ich. Er hat versucht, Mahawaj davon zu überzeugen, den Auftrag abzulehnen.“

„Und?“

„Nichts. Mahawaj bleibt unbeirrbar. Die Verträge sind unterschrieben und Maurice Bedenken lässt er nicht gelten. Ich bitte dich, mit äußerster Achtsamkeit zu agieren. Grigorjew wird kein Versagen dulden.“

„Hast du Angst um mich?“

„Ja.“

„Ich werde nicht versagen.“

Keph legte eine Mappe auf das Fass. „Sie enthält alle Informationen, die dieser Grigorjew einem Komplizen des Ziels abgepresst hat und einen kompletten Background-Check unsererseits.“

Daniel blätterte mit einer Hand. Grace wurde immer schwerer in seinem Arm. Es dauerte, bis die Buchstaben aufhörten, vor seinen Augen zu tanzen. „Undine und Samuel Sorokin. Ihre Eltern waren Vulkanologen?“

„Bis sie über dem Cotopaxi abgestürzt sind.“

Daniel pfiff durch die Zähne. „Vollwaise mit sieben Jahren. Eine zweifelhafte Karriere in diversen Kinderheimen, aus allen geflohen, wieder aufgegriffen, wieder geflohen. Pflegeeltern wiederholt bestohlen, galt seit dem als unvermittelbar. Netter Lebenslauf.“ Lucinde kam nicht zurück. Scarborough sah auf die Uhr. Ein weiterer Cocktail wurde an ihren leeren Platz gestellt. Wo blieb sie? Vorsichtig legte er Grace neben sich und ordnete seine Kleidung.

Keph starrte ihn entgeistert an. „Du nimmst das hier nicht ernst.“

„Doch. Das tue ich. Sag mir, ob du dort einen Mann mit drei Cocktailgläsern am Tisch sitzen siehst.“

Keph sah hinter sich. „Ja. Und?“

Wenn ihr Begleiter keine Halluzination war, war es Lucinde auch nicht.

„Ich bin gleich wieder da.“ Fast wäre er gestürzt. Keph stützte ihn. Es wurde Zeit, dass die Wirkung dieses Giftes aufhörte. Daniel atmete tief ein und konzentrierte sich auf jeden Schritt.

Die Damentoilette war leer. Der Gang zur Küche auch. Wo war sie?

 

*

 

Die Kälte biss in ihre Füße. Lucy ging auf und ab. Die Nervosität blieb. Ihr Kopf fühlte sich an, als ob er gleich auseinanderplatzen wollte. Auf der Toilette hatte es sie überfallen. Als es sich angefühlt hatte, als ob ihre Nerven brennen würden, war sie nach draußen geflüchtet. Die Kälte linderte, aber die Spannung in ihrem Kopf blieb.

„Kann ich dir helfen?“

Diese samtschwere Stimme würde sie nie wieder vergessen. Als sich Lucy zu ihm umdrehte, klopfte ihr Herz bis zum Hals. Er sah blasser aus als heute Morgen. Die Haare, die ihm ins Gesicht fielen, klebten vor Schweiß. Diese markante Linie vom Kinn bis zu den Wangenknochen. Warum hatte sie ihn nicht gleich erkannt? Er war es, der sich eben im Pub dieser Frau hingegeben hatte. Lucy wollte wütend sein, aber es reichte nur zu bodenloser Enttäuschung. Jetzt wusste sie wenigstens, warum er vor ihr geflohen war.

„Du holst dir hier draußen den Tod.“

Sein Blick glitt über ihre nackten Arme. Er zog seinen Pullover aus und wickelte ihn eng um sie. Seine Hände blieben auf ihren Schultern liegen, deren Wärme strahlte durch den Wollstoff.

„Ich komme schon klar. Geh wieder zu deiner Freundin, sicher wartet sie.“ Die Beulenpest wünschte sie diesem Weib an den Hals.

„Grace tut mir hin und wieder gut. Unsere Beziehung ist rein kameradschaftlich.“

Er rieb über ihren Rücken und hinterließ eine Spur Behaglichkeit.

„Scheint eine sehr innige Kameradschaft zu sein.“

„Du siehst süß aus, wenn du wütend bist.“ Seine Hand ruhte an ihrer Wange.

Lucy brachte es nicht über sich, sie wegzuschlagen, obwohl sie die Vorstellung hasste, dass er unter diesem Weib gelegen hatte. Und wie entsetzlich verführerisch er in seiner Lust gewirkt hatte, dabei hatte sie nur Schemen erkennen können.

„Warum bist du mit Scarborough hier und nicht mit mir?“

Sie verkniff sich die Frage, woher er Ethans Namen kannte. Seine Organisation schien über eine detaillierte Datei zu verfügen.

„Warum bist du ein Mörder?“ Der Gedanke schreckte sie immer noch nicht ab.

„Warum bist du eine Diebin?“

Sein Blick glitt über ihre Augen zu ihrem Mund. Mit dieser tiefen Sehnsucht sah er hinreißend begehrend aus.

„Es macht mir Freude.“

„Das macht es mir auch, manchmal.“ Daniel legte ihr die Hand in den Nacken. Mit einer erschütternden Selbstverständlichkeit presste er seine Lippen auf ihren Mund.

Lucy biss ihm in die Zunge. „Tu nicht so, als ob ich dir gehören würde. Ständig startest du diese Übergriffe. Wir kennen uns kaum.“ Seine Übergriffe lösten Emotionslawinen aus, von denen sie nur zu gern überrollt werden wollte. Aber sie hatte nie jemandem gehört. Ihre Freiheit gehörte zu ihrem Dasein wie das Kribbeln in den Fingern beim Anblick einer verlockenden Beute. Daniel löste in ihr dieses Kribbeln aus. Nicht nur in den Fingern.

Er wischte das Blut ab. „Mach das nicht noch einmal.“ Seine Augen wurden sichelschmal. „Nicht so.“

„Nein? Und wie dann?“ Ihr Herz klopfte schneller, als sein Griff in ihrem Nacken fester wurde.

„So.“

Er hauchte die Silbe in ihren Mund. Lucy vergaß, zu atmen. Zuerst spielte seine Zunge nur über ihre Lippen. Sie versuchte, den Kopf wegzuziehen. Es war ebenso vergeblich, wie ihren Lippen zu verbieten, seine Liebkosungen reaktionslos zu ertragen, alles in ihr vibrierte. Dann biss er zu. Zärtlich, leidenschaftlicher, wild. Der kitschigste Satz aller Liebesromane ihr schwanden die Sinne bekam plötzlich eine ungeheuerliche Relevanz. Lucys Knie gaben nach. Daniel umfasste ihre Taille und hielt sie aufrecht. Flammende Kreise tanzten vor ihren Augen, dabei hatte Lucy sie geschlossen. Irgendwo holperte ihr Herz und schrie um Hilfe. Sie konnte ihm nicht beistehen, sie bekam keine Luft mehr, doch als die Angst kam, war die Sehnsucht nach dem nächsten Kuss größer. Auf einmal konnte sie ihren Körper nicht mehr spüren. Die aufpeitschenden Empfindungen fanden ohne ihn statt. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, ihre Lider waren bleischwer.

„Hast du genug?“

Die lauernde Sanftheit seiner Stimme konnte die Grausamkeit nicht verbergen. Sein Finger strich über ihren Mund, der nicht aufhören konnte, nach Atem zu ringen und dennoch den süßen Schmerz zurücksehnte. Lucy war vollkommen verwirrt. Ihr war schwindelig. Ihre Ohren sausten und sie zitterte. Sie fuhr sich über den Mund. Kein Blut. Nur eine Sensibilität, die ihre Nerven zum Flirren brachte.

 

*