Das Licht hatte sich einen sengenden Weg gebrannt, quer durch Koljas Hirnwindungen. Er umfasste seinen Kopf. Wie konnte etwas, das nur in seinen Gedanken zu sein schien, derart schmerzen?
Ramuell starrte keuchend auf den blutigen Schriftzug. Sein Gesicht war vor Anstrengung verzerrt.
„Woher kam dieses Licht?“ Ramuell brüllte vor Zorn. „Etwas stand zwischen ihr und uns. Es hat uns aufgehalten. Mit was?“ Er sprang auf und funkelte wutentbrannt seine Söhne an. „Die Kontur dieser Magie ist mir unbekannt.“ Sein hysterisches Lachen schallte von den Wänden wider, als ob der Raum kahl wäre. „Ich erkenne alle magischen Strukturen. Die kläglichen der Priester, ängstlich, kastriert, durchdrungen von geheuchelter Scham. Die Schnapsgeschwängerten der Schamanen, die sinnlos verschnörkelten der Hexenzirkel und auch das intellektuelle Gebrabbel der Magier stellte noch nie eine Hürde für mich dar. Aber was zur Hölle war das?“
Kolja versuchte, zu Atem zu kommen. Die Beschwörung hatte ihn Unmengen an Kraft gekostet. Kraft, die er nicht ohne Weiteres nachfüllen konnte. Die Haut an Händen und Armen sah grau und schlaff aus. Konstantin sah ihn besorgt an, sagte aber nichts.
Nur sein Vater schien nichts zu bemerken. Er fuhr mit den Fingern durch das antrocknende Blut. „Da war ein Mann. Dunkel, groß mit einer geliehenen Macht.“ Er kniff die Augen zusammen. „Er ist an die Frau gebunden, mit den schwarzen Fesseln des Todes.“ Mit den blutbeschmierten Händen verschattete er sein Gesicht. „Da ist ein Widerstand. In seinem Herz.“ Ramuell lachte kalt. „Liebe?“ Er schlug fest mit der flachen Hand auf den Boden. Die Tropfen spritzten Kolja ins Gesicht. „Das wird ihm nichts bringen. Die Fesseln lassen sich nicht zerreißen.“
Als er langsam aufblickte, gefror Kolja das Blut in den Adern. „Du hast die anonymen Meister behelligt.“
Der Blick, der ihn bannte, war nicht menschlich. Kolja hatte sich oft vor seinem Vater gefürchtet, doch nie so sehr wie in diesem Moment.
„Du hast Baraq’el um Hilfe gebeten. Er hat einen Meister ausgesandt. Um was zu tun?“ Er packte ihn am Schopf, riss seinen Kopf in den Nacken. Kolja verbrauchte den Rest seiner Kraft, um schweigen zu können.
„Den Ring für dich zu finden? Die Frau für dich zu töten? Wegen eines Diebstahls?“ Er schleuderte Kolja von sich, schüttelte achtlos das Haarbüschel, das er ihm dabei ausgerissen hatte, von den Fingern. „Von meinem Sohn hätte ich erwartet, dass er dieses winzige Problem selbst in die Hand nimmt.“
An der Tür drehte er sich zu Kolja um. „Die anonymen Meister sind der höchste und der letzte Trumpf, den man ausspielt. Du hast ihn verschwendet.“
Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Scham kroch in Kolja hoch. Er würde sie nicht ausmerzen können.
Konstantin sah ihn unglücklich an. „Warum hast du die Bruderschaft bemüht? Du hättest mich um Hilfe bitten können. Ich bin dein Bruder.“
„Dann hätte ich die Schmach eingestehen müssen. Ich dachte, ich könnte sie verheimlichen.“ Wie sollte er seiner Familie nur je wieder in die Augen sehen können?
Als er aufstehen wollte, gaben seinen Beine nach und ihm wurde schwarz vor Augen. Konstantin zog ihn hoch und stützte ihn.
„Bruder, ich bringe dich zu Bett. Du musst ruhen.“
„Einen Spiegel. Gib mir einen Spiegel.“ Er fuhr sich übers Gesicht. Seine Wangen waren schlaff, die Haut kalt.
„Schlaf erst, Kolja. Morgen wird es dir besser gehen.“
Konstantin wich seinem Blick aus. Er hievte ihn in sein Zimmer, bettete ihn und brachte ihm ein Glas Wasser. Kolja verschluckte sich und hustete alles wieder aus. Ein sabbernder Tattergreis würde er bald sein. Er musste nach London, solange er noch laufen konnte. Den Ring in Empfang nehmen und die Leiche begutachten. Doch seine Ehre hätte er damit nicht wiederhergestellt.
Konstantin ging leise aus dem Zimmer. Koljas Nerven vibrierten trotz seiner Erschöpfung. Die Dunkelheit um ihn wirkte bedrohlich. Welche Mächte hatte Ramuell beschworen? Sie waren hilfreich. Konnten Schrecken verbreiten. Auch den Tod? Unheilvolle Bilder waren in seinem Geist aufgeflackert. Er hatte die Schatten gesehen, die sein Vater gerufen hatte. Sie hatten Ramuell umschmeichelt wie Kätzchen. Sie wussten etwas, teilten etwas mit ihm und sie hatten ihm die Erinnerung daran gierig von den Händen geleckt.
Wirre Träume von Tod und Zerfall hetzten ihn über verschneite Felder. Kolja flüchtete über einen zugefrorenen See. Das todverkündende Klingen brechenden Eises war das Letzte, was er hörte, bevor ihn die kalten Fluten umschlangen.
„Kolja?“ Seine Mutter saß neben ihm auf dem Bett. Koljas Herz setzte aus. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“
Ihr mildes Lächeln entspannte ihn. Verspielt steckte sie eine weizenblonde Strähne fest, die sich aus ihrem zum Kranz aufgesteckten Zopf gelöst hatte. Mit ihren zweihundertundzwei Jahren machte sie den Eindruck einer in der Blüte ihres Lebens stehenden Frau.
„Dein Vater ist zu hart zu dir. Er ignoriert deine Erschöpfung.“ Zärtlich streichelte sie über seine Wange.
„Mutter, ich habe versagt. Niemals hätte ich Baraq’el um Hilfe bitten sollen. Wenn ich könnte, würde ich von dem Vertrag zurücktreten.“
Seine Mutter hob mahnend den Finger. „Das kannst du nicht. Das kann niemand, der ein Bündnis mit der Bruderschaft eingeht. Brichst du den Vertrag, gehört Mahawaj deine Seele.“
Kolja flüchtete sich in ihren Arm. Er war verloren.
„Es gibt noch eine Möglichkeit.“ Sofia lächelte ihn geheimnisvoll an. „Schaff dir deinen eigenen Joker in diesem Spiel. Setze ihn ein, wann immer und wo immer du willst.“
„Ich darf mich nicht einmischen. Das war eine der ersten Regeln, die mir Meister Orlow genannt hat.“
Sofia lachte. „Du sollst diese Regel auch nicht brechen, du sollst sie nur ein wenig verbiegen. Drück den Geschehnissen deinen Stempel auf.“ Sanft fuhr sie ihm durchs Haar. „Deinen grausamen Stempel. Das wäre für dich eine Genugtuung. Und deinem Vater würde es imponieren, dessen kannst du sicher sein.“
„Was muss ich tun?“ Die aufkeimende Hoffnung schmerzte vor Intensität in seiner Brust.
Anmutig stand Sofia auf und hielt ihm ihre Hand hin. „Komm mit. Ich zeige dir einen Ausweg, der eines Grigorjews würdig ist.“
*
Lucy krümmte sich in seinem Arm unter den Ekstasen, die er ihr zumutete. Er könnte sie nehmen. Jetzt sofort. Weder Keph noch sonst jemand mussten davon erfahren.
Sein Körper rebellierte, so dicht an sie gepresst. Wie er sich in sie hineinsehnte. Wie er diesen wundervollen Körper auf seiner nackten Haut spüren wollte. Er streichelte über ihre Schenkel. Sah seiner Hand dabei zu, wie sie unter den Frotteebandagen verschwand. Lucy stöhnte auf, als er sie tiefer berührte. Sie flehte um mehr. Sein Herz raste vor Verlangen. Er schob das Handtuch höher, küsste die Innenseiten ihrer Schenkel, küsste weiter. Er brach sämtliche Regeln, die er je für sich aufgestellt hatte. Er konnte Lucys Anblick nicht mehr ertragen. Seine wachsende Lust pochte immer stärker.
Daniel floh aus dem Bett. Er konnte das nicht tun. Unmöglich würde er sie heute Nacht töten können. Sein Körper schmerzte vor Lust. Er stemmte sich an die Wand und kämpfte mit seiner Erregung.
Lucy lag da, atmete schwerer als er. Sie versuchte, sich zu befreien, sehnte sich nach der endgültigen Ekstase ebenso wie er. Langsam ging er zu ihr. Ihr Blick verschwamm.
„Befrei mich, bitte.“
Sie zappelte in den Bandagen. Er zog die Handtücher fester um sie. Sie sollte sich nur auf die einzige Quelle des Genusses konzentrieren können, die er ihr freigab. Ihren sinnlichen Mund. Lucy gab sich unter seinen Küssen auf. Ihre Erregung raubte ihm jede Beherrschung und sein Körper brüllte vor Verzweiflung, den Rausch nicht mit ihr teilen zu können. Lucy umfing seinen stummen Schrei mit ihren Lippen. Er umklammerte sie so fest er konnte. Auf Lucys zuckendem Körper kämpfte er mit dem Bedürfnis, sie in den Wahnsinn zu lieben.
Ihr Kopf sank zurück. Daniel legte sich neben sie und strich über ihre blauen Lippen. Diesmal würde das Rot des Lebens zurückkommen. Erst als ihr Puls wieder ruhig ging und sie friedlich schlief, wickelte er die Handtücher ab. Er schloss die Augen. Ihr Anblick ließ sein Inneres erneut brennen.
Sie hielt ihn für einen Traum. So sollte es bleiben. Daniel legte die Handtücher zusammen und stapelte sie zurück ins Badezimmerregal. Er wischte den Boden trocken und ließ das Wasser aus der Wanne. Noch einmal sah er sich um. Alles, was Lucy morgen früh seltsam erscheinen würde, könnte sie auf den Traum und ihre Verwirrung schieben.
Daniel floh aus der Wohnung, rannte über den Hof, über das Tor, zu Ives. Sein Hirn spulte die Tode Tausender ab. Heute Nacht hätte er Lucys Leben beenden können. Er hätte es nur zuzulassen brauchen, den Ring nehmen und gehen. Sein Magen rebellierte und sein Herz stach, dass ihm die Luft wegblieb.
Ives hatte den Sitz zurückgestellt und schlief. Als Daniel die Beifahrertür aufriss, fuhr er hoch.
„Und? Ist sie tot?“
„Fahr mich nach Hause.“
„Aber wir sollten …“
„Sofort.“ Lucy war die Frau, mit der er alles machen wollte, nur nicht töten. Er presste seine Hände auf den Schoß. Die Lust auf Lucy wollte ihn nicht verlassen. Ives zuckte die Braue und schwieg, bis sie zu Hause waren.
Daniel hämmerte auf den Fahrstuhlknopf ein und stellte sich vor, es wäre Grigorjew oder Mahawaj. Maurice war auch eine gute Wahl.
„Sind wir etwas unentspannt, ja?“ Ives zog das Gitter auseinander.
Daniel stürmte an ihm vorbei. Grace hatte ihn mit Vorrat versorgt. Genau den brauchte er jetzt. Unverdünnt. Und wenn ihm morgen das Hirn rausfliegen würde. Teller, Tassen, keine Bleiglasflasche. Hatte er sie nicht in den Schrank gestellt? Der Küchentresen, nichts. Das Regal, nichts. Ein leerer Tisch, Nippes auf den Ablagen. Wer brauchte schon einen Toaster? Er wischte das Ding hinunter. Die Einzelteile sprangen durch die Küche.
„Ives!“
„Schrei nicht so. Ich stehe hinter dir.“
Ives sah ihn ernst an. Verfluchter Kerl. Was hatte er getan?
„Was du suchst, ist im Abfluss.“
Daniel klappte den Mülleimer auf. Auf Orangenschalen ruhte die leere Absinthflasche.
„Wenn es dir guttut, verprügele mich. Es macht mir nichts aus.“
Woher nahm dieser elende Lakai seine Gelassenheit? Wie hatte er es wagen können?
„Maurice war oft ein unentspannter Herr.“ Ives ging an ihm vorbei und schloss den Mülleimerdeckel. „Männer wie du und er sollten nicht trinken.“
Daniel ballte die Fäuste.
Ives sah es, stellte sich vor ihn und breitete die Arme aus. „Bitte. Nur zu. Bremse dich nicht.“
„Idiot, verdammter!“ Er schleuderte Ives an die Wand und packte ihn am Kragen.
Ives hielt still. „Ihr seid alle gleich.“ Er drehte nur den Kopf zur Seite, als Daniel ausholte.
Einen Fingerbreit vor Ives Kinn bremste Daniel ab. „Was meinst du damit?“
„Keiner von euch kommt mit seinem Leben zurecht. Und mir wirfst du vor, es nur bis zum Diener gebracht zu haben.“
Daniel ließ ihn los. Ives packte seinen Arm und hielt ihn vor sein Gesicht. Sie sahen beide Daniels Hand beim Beben zu.
„Du solltest schlafen.“
Daniel lachte, bis ihm die Tränen liefen. Die einzige Möglichkeit, in den Schlaf zu finden, hatte Ives fortgespült. Die Gedanken an Lucy würden ihn auffressen. Ives schob ihn vor sich her zum Bett, schlug die Decke zurück, zog ihm die Schuhe aus.
„Hinlegen. Augen zu und versuche, nicht zu träumen. Bis zum Sonnenaufgang hast du noch etwas Zeit. Soll ich dir ’ne heiße Milch bringen?“
„Soll ich dir vor die Füße kotzen?“
Ives zuckte die Schultern. „Dann nicht. Hab es nur gut gemeint.“
Daniel biss die Zähne zusammen. Er wollte diese Frau. Ihm musste etwas einfallen. Immer wieder zuckten Bilder durch seinen Kopf, wie er sie liebte, wie sie sich wand vor Lust, wie sie um mehr flehte.
Dieser Auftrag kostete ihn den Verstand.
„Soll ich mich morgen früh gleich auf die Socken zu dieser Sorokin machen? Du brauchst emotionalen Abstand, sonst wird das nie was.“
„Nein. Du bist Plan B.“ Noch ein einziges Mal musste er sie sehen. Vorher.
*
Die Rollbahn war eingefroren. Lew half dem Piloten bei der Enteisung. Kolja saß im Wagen, umschlungen von einer Wolldecke und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Konstantin hatte seinen älteren Bruder noch nie derart kraftlos erlebt. Er drehte seinen Ring am Finger. Seit seiner Geburt begleitete er ihn, wie er jedes Mitglied der alten Familien begleitete. Es war erschreckend, ansehen zu müssen, welche Auswirkungen sein Fehlen hatte. Koljas scharf geschnittenes Gesicht war eingefallen und glich einem Schädel. Die ebenholzfarbenen Haare waren weit über die Schläfen hinaus ergraut und sein ehemals sinnlicher Mund war farblos und wirkte zu schmal.
Der gellende Pfiff des Piloten gab das Zeichen, dass der Jet starten konnte und Kolja schälte sich aus der Decke. Konstantin reichte ihm seinen Arm und half ihm beim Aufstehen.
„Und ich soll dich wirklich nicht begleiten?“
Kolja schüttelte den Kopf. „Es ist nicht deine Aufgabe, meine Ehre wiederherzustellen.“
Ilja und Lew hievten einen Schrankkoffer in den Laderaum. Lew wischte sich über die Stirn. Er sah ungewöhnlich blass aus.
„Sie nimmst du mit und meine Hilfe schlägst du aus.“
Kolja lächelte matt. „Lew und Ilja sind dressierte Ratten. Nützlich und leicht zu ersetzen. Du bist mein Bruder. Wenn ich zurück bin, will ich dich in meine Arme schließen, bevor ich Ramuell und Sofia meine Aufwartung mache.“
Konstantin brachte es nicht über sich, die Hand zu küssen, die gestern seine Stute misshandelt hatte. Kolja bemerkte sein Zögern. Sein Blick machte ihm keine Vorwürfe, bat aber auch nicht um Verzeihung. Kolja war wie sein Vater, herrisch und unberechenbar. Im Stillen war Konstantin dankbar, dass nicht er das Los seines großen Bruders teilte, der eines Tages den Familien vorstehen musste.
„Sag Ramuell, wenn ich zurückkomme, werde ich den Kadaver der Diebin vor seinen Augen zerlegen und Stück für Stück an die Hunde verfüttern.“
Es war falsch, für die Frau Mitgefühl zu empfinden, die seinem Bruder so viel Leid angetan hatte. Doch seit gestern Nacht konnte er nicht anders. Sein Vater hatte einen Dämon gerufen. Konstantin hatten sich alle Haare aufgestellt. Es war das erste Mal, dass er an einer Beschwörung mitgewirkt hatte. Er wollte es nie wieder tun.
„Du bist mein Zuhause, Konstantin.“ Mit unsicherer Hand strich Kolja über seine Wange. Die Adern traten blau darauf hervor. „Wenn ich an unser Elternhaus denke, sehe ich nur Schatten und Kälte. Du bist das einzige Licht in meiner Finsternis.“ Er nickte der Stewardess zu, dass sie die Bordtür schließen sollte. „Was auch geschieht, bleibe in Twer. Versprich mir das.“ Kolja sah ihn eindringlich an.
„Wenn du sicher bist, es allein zu schaffen, warum sollte ich Twer verlassen?“
Kolja küsste ihn auf die Stirn. „Ich bin nicht allein.“ Für einen Moment erschien derselbe unheimliche Ausdruck in seinem Blick, den er gestern bei Vater gesehen hatte.
„Erwarte meine Nachricht.“
Schon waren es wieder müde alte Augen, die ihn schwermütig anlächelten. Konstantin musste es sich eingebildet haben. Er wartete, bis das Flugzeug abhob. „Zum Gut.“
Der Chauffeur nickte und legte die kurze Strecke zwischen Startbahn und Landsitz in wenigen Minuten zurück. Wäre Kolja nicht schwach gewesen, hätten sie laufen können.
Aus dem Pferdestall klang aufgeregtes Wiehern. Die Stalltür schwang in den Angeln, wo war Sascha? Wie konnte er die Tiere dem eisigen Wind aussetzen? Fee tänzelte in ihrer Box. Khan und Semiramis ebenso. Die Tröge waren leer, der Stall unausgemistet. Schubkarre und Harke standen an der Wand. Von Sascha war nichts zu sehen. Verdammter Knecht! Wehe, er würde ihn schlafend im Bett finden.
„Sascha!“ Der Hof blieb leer, bis auf den Chauffeur, der das eingefrorene Garagentorschloss auftaute. Aus dem Gesindetrakt kam kein Laut. Das Personal war längst auf den Beinen und im Haus beschäftigt. Saschas Kammer stand auf. Das Bett war unberührt. War der Kerl im Suff irgendwo eingeschlafen? Dann wäre er erfroren. Die Nächte klirrten vor Kälte.
Auf der Treppe kam ihm Galina entgegen. Die Daunenjacke spannte über ihrer üppigen Brust. Als sie seinen Blick bemerkte, lächelte sie verführerisch.
„Du warst gestern Nacht nicht in meinem Bett. Ich habe dich vermisst, süßer Konstantin.“ Sie schleuderte ihre blonden Haare über die Schultern. „Zwischen meinen Beinen ist es warm und gemütlich. Egal, wie kalt die Nacht ist.“
„Hast du Sascha gesehen?“
Galina zog eine Schnute. „Was willst du von Sascha? Er ist grob, unhöflich und verschwiegen. Sehe ich ihn, bekomme ich sofort schlechte Laune.“
Das mochte sein, aber er war ein guter Knecht. Jedenfalls für die Pferde, wenn auch offenbar nicht für Galina.
„Ich habe ihn nicht gesehen.“ Sie lehnte sich an ihn und griff in seinen Schritt. „Und den hier habe ich auch nicht gesehen. Kommst du heute Nacht zu mir?“
Galina rieb ihm die düsteren Erinnerungen an die Beschwörung aus dem Kopf. Konstantin wollte sie wegschieben, doch sein Körper redete es ihm aus. Galina drängte ihn an die Wand und öffnete mit geschickten Fingern seine Hose. Die andere Hand schob sie unter seine Jacke und knetet seine Brustwarzen. Sie würden morgen noch wund davon sein.
„Ein kleiner Vorgeschmack, süßer Konstantin. Damit du nicht vergisst, wo dein Platz ist.“
Ihre gierigen Küsse ließen ihn nicht zu Wort kommen. Ihre Behandlung war grob und wild. Er zuckte unter ihren Fingern vor Schmerz zusammen, erst dann aus Lust. Konstantin klammerte sich in ihrem dichten Haar fest, um ihren Überfall lautlos ertragen zu können. Erst als er kam, stöhnte er auf. Galina lachte triumphierend. Sie biss ihn in die Lippe, über die er noch keine Kontrolle hatte. Sein Bewusstsein verharrte in seiner Hose zwischen ihren brutalen Fingern. Es musste eine Verheißung sein, unter den zärtlichen Händen einer sanftmütigen Frau kommen zu dürfen.
„Konstantin?“ Vater stand hinter ihm auf dem Treppenabsatz. „Scheuch die Hure weg.“
Galina drückte sich an ihm vorbei nach unten. Konstantin rutschte ohne Galinas Stütze an der Wand hinab. Auch wenn er Respekt für Ramuell empfand, von der Magd konnte er sich nur langsam erholen.
„Ich muss dir etwas zeigen. Ordne deine Kleider und komm mit.“
Ramuell schritt über den Hof zum Herrenhaus und Konstantin beeilte sich, ihm zu folgen. Vor der Bibliothek blieb er stehen. Ihm wurde übel. Die Erinnerung an das Blutritual saß ihm im Nacken. Er hatte Rebekka hinter der Koppel begraben. Nahe des Bachlaufs, an dem sie mit ihm und Kolja früher gespielt hatte. Der Boden war dort sandig und nicht vollständig hart gefroren. Blasen hatte er trotzdem an den Händen.
„Gestern Abend ist mir ein Missgeschick passiert.“ Ein überhebliches Lächeln zuckte über seinen Mund. „Ich vergaß, den Bannkreis aufzulösen. Ein dummer Fehler.“
„Was meinst du?“
Wortlos trat Ramuell zur Seite. Der Blutkreis war an zwei gegenüberliegenden Seiten durchbrochen. Die Stellen sahen verwischt aus, als ob etwas über den Rand gezogen worden wäre. Auf der einen Seite hinein, auf der anderen Seite wieder hinaus.
„Der Dämon hat den Kreis verlassen.“ Sein Vater zeigte auf die verwischten Stellen. „Er hat einen Körper und er hat einen Auftrag.“
*
Was für irrwitzige Träume. Lucy streckte sich die Müdigkeit aus dem Körper. Erst der blanke Horror, dann die absolute Ekstase in Daniels Armen. Wie er sie umschlungen hatte, wie er ihr den Verstand weggeküsst hatte. Es war fantastisch gewesen. Wie konnte ein Mensch nur durch Küsse solche ekstatischen Erdbeben auslösen? Sie musste ihn wiedersehen. Auf irgendeine Weise musste sie herausbekommen, wo er wohnte. Ihr Körper vibrierte vor Erregung, nur, wenn sie an ihn dachte.
Sie stolperte aus dem Bett und torkelte ins Bad. Ihre Knie gaben nach, als hätte sie sich tatsächlich Daniel die halbe Nacht hingegeben. Sie duschte, bis ihre Haut schrumpelig war. Das Puddinggefühl verließ sie nicht. Als ob ihre Nerven bis zum Zerreißen gespannt worden wären und jetzt überdehnt in der Gegend herumbaumeln würden.
Was war mit dem Handtuch los? Es war feucht. Lucy nahm das nächste aus dem Regal. Das war auch klamm. Der Badewannenvorleger war nass am Rand. Hatte sie gestern noch ein Bad genommen und das komplett verdrängt? Es war ein verrückter Tag gewesen. Gallebitter und süß. Ihre Nerven waren überspannt. Deshalb hatte sie diese Zustände. Deshalb hatte sie komische Träume und deshalb hatte sie einen moralischen Anfall bekommen. Das geschah ihr selten, aber angesichts der Ermordung eines Freundes war es nicht verwunderlich. Ihr Verstand konnte den Tod von Igor immer noch nicht fassen. Sicher spielte er ihr deshalb Streiche und bescherte ihr Träume, die sie selbst in der Erinnerung noch zittern ließen. Nicht nur vor Angst. Auch vor Lust.
Storytime erklang vom Fensterbrett. Ethan rief an.
„Wie geht es dir?“
„Weiß nicht. Ich habe das Gefühl, dass mir mein Leben entgleitet.“
„Das kenne ich. Normalerweise kommt das erst mit Mitte vierzig. Komm zu mir. Ich habe jede Menge Arbeit für dich. Das bringt dich wieder ins Lot. Und bring den Ring mit. Ich habe einen Käufer.“
Der Ring. Verdammt. Wo war der abgeblieben? Mit dem Handy am Ohr suchte sie jede Ecke ab.
„Warst du in der Nacht bei mir?“ Manchmal reichten Ethans Vatergefühle sehr weit.
„Ich? Wieso?“
„Weil ein Freund von mir ermordet wurde und ich trauere?“
Ethan lachte trocken. „Igor war ein Komplize und kein Freund. Du selbst hast ihn einen dürren Halsabschneider genannt. Und trauern würdest du nicht einmal um mich.“
Das war nicht wahr. Ihr Herz würde zerbrechen und kein Heißkleber der Welt würde es je wieder flicken können.
„Stimmt. Ich bin gleich bei dir.“
Da lag er. Vor dem Sofa. Er musste hinuntergefallen sein. Sie zog sich so schnell und so dick an wie möglich und steckte den Ring in die Tasche.
Als Lucy das Antiquitätengeschäft betrat, war Ethan dabei, seinen Zwicker zu putzen. „Ich halte es für klug, wenn du für das nächste Jahrhundert keine Ausflüge mehr nach Moskau unternimmst. Das Pflaster könnte zu heiß für dich werden.“
„Kommt meinen Vorstellungen von der Zukunft entgegen. Peter wird mir lästig. Ich sollte die Verbindung beenden.“
Ethan schenkte ihr einen kritischen Seitenblick, bevor sich seine Mundwinkel an die Ohrläppchen zogen. „Warum so plötzlich? Ist er etwa untreu?“
„Das Grinsen in deinem faltigen Gesicht ist mies und dein Hohn ist unbegründet.“ Sie wusste selbst, dass sie keine Heilige war. „Was ist das für ein Typ, der den Ring haben will?“ Die tiefe Ernsthaftigkeit, mit der Ethan zu einem Wattestäbchen griff, um akribisch die Tastatur des Computers zu reinigen, machte sie misstrauisch.
„Ein gemeinsamer Freund von mir und Peter. Stell dir mal vor.“ Er lächelte unsicher. „Er war es, der mir bei der Entzifferung der Zeichen geholfen hat.“
Die Ladentür bimmelte. Dann war es wieder still. Keine Schritte. Da hatte einer wohl nur mal die Nase reinstecken wollen.
„Achtzehntes Jahrhundert vor Christus.“ Ethan kratzte sich am Ohr. „Meine Güte, das ist wirklich alt und mein Freund vermutet, dass er vielleicht noch älter sein könnte. Er ist gerade dabei, die restlichen Zeichen zu entziffern.“
„Ich suche eine frühe Ausgabe des Decamerone.“
Hinter dem Regal mit dem viktorianischen Geschirr trat Daniel hervor. Lucy war kurz davor, ihm um den Hals zu fallen. Er sah abgekämpft aus, als hätte er die ganze Nacht Kohlen schaufeln müssen.
„Ist das nicht der Kerl vom Clink Inn?“
„Er hat mich beim Klauen erwischt und ich ihn kurz nach einem Mord. Das verbindet.“
„Mord?“ Ethans Misstrauen schlich sich über den Zwickerrand zu Daniel.
„Sei nicht zu streng. Keiner ist perfekt. Außerdem kann er küssen, dass man meint, vor Verlangen sterben zu müssen. Ihm verdanke ich den lustvollsten Traum meines Lebens.“
Dem trockenen Schlucken folgte ein tiefes Seufzen. „Ich beneide dich, Lucy.“
„Ich weiß.“ Das Grinsen wollte nicht aus ihrem Gesicht verschwinden, als Daniel zu ihr kam. Sein Lächeln war vorsichtig. Ethan hatte sie früher auf diese Weise angesehen, wenn sie krank gewesen war. Bei kühler Stirn war sein Lächeln breiter, bei heißer zu lieb geworden.
„Wie geht es dir?“ Ein Schatten huschte über sein schönes Gesicht. Er verschwand so schnell, wie er gekommen war.
„Wilde Träume, sonst geht es mir gut. Kommst du, um dich als Blitzableiter anzubieten oder um einen Mord mit mir zu planen?“
Ein klein wenig Spott mischte sich in seinen besorgten Blick. „Du kannst frei über mich verfügen.“
Er legte seine Hand auf den Tresen und Lucy legte ihre hinein. War sie bei Sinnen? Zurückziehen ging nicht mehr. Er hielt sie schon fest. Neben ihr sog Ethan die Luft scharf ein. Sein Seitenblick fragte, ob diesem Mann zu trauen war. Ethan vergaß regelmäßig, dass sie es war, der man keinen Schritt über den Weg trauen konnte. „Bist du zufällig hier?“ Sie musste es einfach wissen.
Daniel zuckte amüsiert die Braue. „Glaubst du an Zufälle?“
„Ja.“ Schicksal war eine sentimentale Erfindung überspannter Romantikerinnen. Egal, was Jade behauptete.
„Dann kreuzen sich unsere Wege zufällig Tag für Tag.“ Er blies sanft über ihr Handgelenk.
Sofort stellten sich alle Härchen auf. Lucy träumte sich in seinen Arm. Unter seinen Atem, unter seinen Körper.
„Wenn du die Augen wieder öffnest, kann ich hineinsehen und ihr faszinierendes Farbspiel genießen.“
Ethan lachte neben ihr. Er grinste zu dem Mann, dann surfte er weiter auf irgendwelchen unwichtigen Seiten zum Thema Babylon und alte Sagen.
„Die antiken Bände stehen hinten.“ Sie räusperte sich. Was machte der verdammte Frosch in ihrem Hals? „Die frühesten Abschriften stecken in den Safes von Privatsammlern oder im Museum.“
„Was immer du mir zeigst, ich werde ihm meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken.“
Seine Worte klangen gewichtig wie ein Schwur. Wie konnte tiefer Ernst betören? Peters Ernsthaftigkeit war störend, im schlimmsten Fall lächerlich, doch dieser Mann sagte Alltägliches und berührte dabei die Festen dieser Welt. Auch Ethan sah ihn erstaunt an, wechselte einen Blick mit ihr und zuckte kaum merklich die Schultern. Daniel hielt ihre Hand fest, als er ihr nach hinten folgte. Es fühlte sich gut an. Sie wurde viel zu selten an der Hand geführt.
„Juvenal, Petronius, ihr seid gut sortiert.“ Daniel fuhr mit dem Finger über brüchige Buchrücken.
Irgendwo musste auch Boccaccios Il decamerone herumliegen. Während sie suchte, stand er dicht hinter ihr. Sie konnte ihn atmen hören und wurde nervös. Er machte nichts. Stand nur da, während sich ihre Lippen an die süße Feuchte seines Mundes erinnerten. Ob er sie küssen würde, wenn sie ihn darum bat? Hier, zwischen den alten Schinken? Ethan drehte ihnen den Rücken zu. Theoretisch könnten sie sich auch hinter dem Regal mit dem Tongeschirr lieben. Von der Ladenseite her würde nichts zu sehen sein. Lucy schüttelte den Unsinn aus ihrem Kopf.
Seiten raschelten. Daniel hielt einen Bildband japanischer Holztafeldruck-Kunst in der Hand.
„Shungas.“
Seine Stimme war verführerisch wie ein milder Abendwind im Sommer. Nur ein wenig Anlauf, und sie hätte sich zu ihm emporgeschwungen und sich von ihm davontragen lassen.
„Hast du dich jemals mit den Bildern des Frühlings befasst?“
Nachlässig fächerte er die Seiten vor ihr auf. Alles, was sie sah, hätte sie nur zu gern mit ihm praktiziert.
„Inspirierend und einzigartig, in ihrer eindeutigen Schönheit.“ Er strich über ein Blatt, das eine Frau mit vor Verzückung geschlossenen Augen darstellte, die sich ihrem Geliebten hingab. „Auch wenn bei diesem Kunstwerk die Fantasie dem Maler Flügel verliehen hat. Diese Stellung ist nicht möglich.“ Er hielt ihr den Bildband hin. „Nicht, wenn die Frau unten liegt.“
Erst jetzt bemerkte Lucy, dass beide Liebenden seltsam verrenkt gezeichnet waren. Warum war es hier plötzlich so warm? Daniel sah ihr gelassen dabei zu, wie sie eine Hitzewallung nach der anderen erlitt, und erwartete tatsächlich eine Stellungnahme von ihr. Lucy konzentrierte sich auf das Bild, was nicht dazu führte, dass sie sich abkühlte. Die abgebildete Position war schwierig. Aber unmöglich? Sie nahm das Buch an sich, drehte es hin und her. Ihr Rücken streifte seinen Mantel. Der Geruch nach benutztem Leder lenkte sie ab. Er mischte sich mit Daniels Duft. Wie um das Bild besser betrachten zu können, legte sie den Kopf schräg. Dadurch war sie ihm näher.
„Bist du sicher, dass es unmöglich ist?“
„Ganz sicher.“
Dieses amüsierte, nur angedeutete Lachen weckte ein Kribbeln in ihrem Bauch, das selbst Kolja nicht zustande gebracht hatte. Es verteilte sich großflächig in ihrem Körper. Lucy sammelte jeden Krümel Selbstbewusstsein zusammen und sah Daniel fest in die Augen.
„Wenn die Frau akrobatisch und das Glied des Mannes lang genug ist, könnte es klappen.“ Und es würde sich wundervoll anfühlen.
Er sah ihr tief in die Augen. Beobachtete er ihre Gedanken? Ihr aufgesetztes Selbstbewusstsein verflüchtigte sich augenblicklich. Was war mit ihr los? Sie war nie unsicher. Es lag an ihm. An der Art, wie er sie ansah. Es dauerte eine Ewigkeit, aber dann hatte sie ein oberflächliches Lächeln auf ihren Mund gezwungen.
„Was ist? Warum siehst du mich so an?“ Sie wollte ihm dieses elende Buch aus der Hand nehmen, aber er hielt es fest.
„Ich würde dich gern auf diese Art lieben.“ Seine Stimme umschmeichelte ihre Seele und ihr Körper würde blind vor Sehnsucht hinterher tappen. „Dann können wir ausprobieren, ob der Künstler ein Aufschneider war, oder ob er aus der Erinnerung heraus gemalt hat.“
„Küss mich vorher.“ Es hatte nur ein Gedanke werden sollen. Wie hatten sich die Worte nur unbemerkt aus ihrem Mund schleichen können?
Daniels Hand kühlte ihre Wange. „Ich würde dich dabei küssen. Die ganze Zeit, bis das letzte Beben deinen Körper verlassen hat.“
Drei, vier heftige Herzschläge und ein Pochen, das mit dem Herz nicht das Geringste zu tun hatte. Warum blieb ihr in seiner Nähe immer die Luft weg? Endlich gab er den Bildband frei. Seine Finger streiften über ihre Hände, wie ein Versprechen auf Zärtlichkeit, wenn sie es nur wollte.
„Stell es dir vor, Lucy.“ Seine Augen glühten, als er sie rückwärts an die Wand drängte. „Stell dir vor, dass wir uns lieben.“
Sie konnte nur den Kopf schütteln. Daniel war zu nah. Wie in ihrem Traum. Konnte die Erinnerung an eine geträumte Ekstase sie derart erschüttern? Sie konnte. Daniel berührte ihr Kinn und hob es an. Gleich würde er sie mit diesem unglaublichen Gefühl fluten, wie er es in ihrem Traum getan hatte. Kurz bevor seine Lippen ihre berührten, starrte er an ihr vorbei.
„Gibt es noch diesen fahlhaarigen Mann, der dich zwingt, durch dein Leben zu hetzen?“
„Peter?“ Ihre Stimme war seltsam schrill. Wen interessierte Peter?
„Er steht draußen und sieht uns zu.“
Tatsächlich.
Die Hände schirmten die Augen ab und die Nase drückte sich am Glas platt. Als Peter merkte, dass sie zurückstarrte, richtete er sich kerzengerade auf. Daniel winkte ihn herein.
„Was machst du da?“ Hatten sie sich nicht eben noch in ihrer Fantasie bis zur Belastbarkeitsgrenze des menschlichen Körpers geliebt? Peter störte nur. Schon kam er in den Laden und schlängelte sich durch die Regalreihen und Tische zu ihnen nach hinten.
„Lucy, da bist du ja.“ Sein irritierter Blick glitt über Daniel. Er erkannte ihn nicht. Sein höflich oberflächliches Lächeln verriet es. „Ich bin früher als geplant nach London zu meinem Haselkätzchen zurückgekehrt.“
Lucy versank im Erdboden. Wie konnte er es wagen, vor Fremden diesen hochpeinlichen Kosenamen zu gebrauchen? Hinter ihr trat Daniel einen Schritt näher an sie heran. Die Entscheidung, Peter entgegenzugehen und einen sterilen Kuss zu empfangen, verflüchtigte sich.
Plötzlich fühlte sie Daniels Hände über ihre Hüfte streicheln. Er schob ihren Pulli hoch und zupfte das T-Shirt aus der Hose. Sie hielt den Bildband vor sich.
„Haselkätzchen?“ Daniels zärtlicher Spott kitzelte an ihrem Ohr. „Deine Augen sind wundervoller als die Lagune von Aitutaki. Hat sich dein Freund nie die Zeit genommen, sich in ihrer Schönheit treiben zu lassen?“
Das tonlose Wispern war nur für sie. Sicher hatte Peter nicht einmal gesehen, wie sich Daniels Lippen bewegt hatten.
Peter berichtete von der wohltuenden Wirkung des Landlebens aufs Gemüt und die Konstitution und beschrieb detailverliebt die Reaktionen seiner Bronchien auf das Reizklima, während Lucy der wohltuenden Wirkung fremder Hände ausgesetzt war. Sie hielt den Atem an, als sie mit einem kleinen Ruck zurückgezogen wurde und Daniel an sich spürte.
„Glaub mir, wir würden beide dem Shunga gerecht werden. Es wäre ein unvergleichlicher Genuss, den du niemals vergessen würdest.“
Sie fühlte hinter sich dieselbe Erregung, die durch sie strömte. „Du wagst viel. Mein Verlobter sieht uns zu.“ Die maßlose Übertreibung hatte einen bitteren Nachgeschmack. Umso süßer fühlte sich das Warmwerden von Daniels Hand an ihrem Bauch an.
„Ich begehre. Männer, die das tun, wagen generell viel und dein Peter sieht nur Lackpapier, Farbe und ein leichtes Beben, was von deiner Lust zeugt. Halte das Buch still, Lucy.“
Wenn seine Nähe sie nicht verführen würde, sein Flüstern würde es in jedem Fall.
Peters Blick flackerte zwischen ihr und Daniel hin und her. Dann wurde er von dem Cover ihres Sichtschutzes abgelenkt. Er rückte seine Brille zurecht und starrte auf überdimensioniert gezeichnete Beweise japanischer Männlichkeit.
„Lucy, Mäuselchen, willst du uns nicht vorstellen?“
Mühevoll riss er den Blick von dem Hochglanzumschlag. Anscheinend hatte er begriffen, dass es für normale Kunden ungewöhnlich war, sich von hinten an die Verkäuferin zu drängen aber Lucy hatte keine Stimme, mit der sie hätte reden können.
Ein Arm blieb um ihre Hüfte geschlungen, der andere streckte sich über ihre Schulter Peter entgegen. „Entschuldigen Sie bitte meine Unhöflichkeit. Ich bin Lucys Cousin. Mein Name ist Ebenezer Smith.“
Sie schluckte den winzigen Kiekser hinunter, der in ihrer Kehle lauerte.
Zögernd griff Peter zu, um schnell wieder loszulassen. „Noch ein Cousin? Ich wusste nicht, dass du eine so große Familie hast.“
Peters Irritation lächelte sie hilflos weg. Sie senkte das fantastische Werk über japanische Liebeskunst ein klein wenig. Ihr neuer Cousin verstand den dezenten Hinweis und ließ seine einfühlsamen Hände folgen. Konnte Peter nicht wie ein Ballon platzen oder wenigstens einer vorübergehenden Blind- und Taubheit zum Opfer fallen?
*
Daniel strich über ihren Bauch, der sich unter seinen Fingern zusammenzog. Lucy war angespannt, aber sie verharrte in ihrer Position auch dann noch, als sich seine Hand in ihren Hosenbund schob. Die Verlockung, ihren Hals zu küssen, war groß. Die, ihr die Kleider vom Körper zu lieben, noch größer.
„Die beiden haben sich lange nicht gesehen.“ Scarborough lehnte sich an eines der überfüllten Regale. Seine grauen Haare passten nicht zu der Dynamik seiner Bewegungen. „Sie hatten schon in ihrer Kindheit ein inniges Verhältnis.“
Sein Lächeln zu Peter glich dem eines Unschuldslamms. Der Blick zu Daniel mahnte zur Vorsicht. Ein gut aussehender Mann. Distinguiert, schlank und mit sympathischen Lachfalten. Lucy stand ihm nah. Ein kleiner Splitter Eifersucht stach in Daniels Herz.
„Wirklich?“
Stirnrunzelnd betrachtete Peter die Frau, die er hätte besser kennen müssen als sich selbst. Er kannte nichts von ihr. Darauf war Daniel bereit, sein Leben zu verwetten. Scarborough verwickelte Peter in ein Gespräch über das Wetter und die beste Zeit, Schafe zu scheren.
„Soll ich dich loslassen?“
Lucys Kopfschütteln war minimal. Sie lehnte sich noch fester an ihn.
„Deine Haut ist zart wie Samt. Sie verführt meine Fingerspitzen. Ich hoffe, es stört dich nicht.“
Wieder schüttelte sie den Kopf. Als er ihren Hosenknopf öffnete, hörte nur er das sehnsüchtige Seufzen. An die Art, wie sie seine Küsse genommen hatte, durfte er nicht denken. Sie würde alles von ihm auf diese Weise nehmen.
„Ich habe letzte Nacht von dir geträumt.“ Unter seiner Hand zuckte sie leicht zusammen. „Es war ein Albtraum, aber du hast mich gerettet. Ich weiß nur nicht mehr, wovor. Und dann hast du mich geküsst, bis mir die Sinne geschwunden sind.“
„Lucy, ich …“
Peter drehte sich zu ihnen. Er übersah, wie sich Lucy an ihm streckte. „Liebes, was hältst du von der These, dass die Moorhuhnjagd immer bedrohlichere Ausmaße für die Touristen annimmt?“
„Wie bitte?“
Lucys nach Luft schnappen nötigte sowohl Peter als auch Scarborough zum Stirnrunzeln. Daniel glitt in Gebiete vor, die mit seidigem Stoff bedeckt waren. Der Bildband begann, in Lucys Händen zu zittern.
„Tut mir leid, Peter. Ich bin heute etwas unkonzentriert.“
So zart, so liebesbedürftig. Was er auch berührte, es nahm seine Zuwendung dankbar an. Lucy schluckte nass, räusperte sich und erzählte ein Erlebnis mit einem Japaner im North York Moor. Mit eiserner Disziplin zwang sie ihre Stimme zu einem gleichmütigen Tonfall. Die verlockenden Vibrationen zunehmender Hilflosigkeit nahm niemand außer Daniel wahr. So unauffällig wie möglich bewegte er sich an ihr, nur um die Falle auszulegen, in der er sie bald fangen musste. Nicht daran denken. Nur an den Moment. Er versenkte seine Nase in ihren Haaren, ihr Duft machte es noch schlimmer.
„Apropos Kopfschüsse.“ Scarborough legte Peter freundschaftlich den Arm um die Schulter und führte ihn zu einem Regal mit angelaufenen Duellierpistolen. „Wissen Sie, ich verabscheue Gewalt, aber was meinen Sie, wie diese Drecksdinger hier gekauft werden?“ Hinter seinem Rücken wedelte er energisch mit der Hand. „Dabei rosten die seit über zweihundert Jahren vor sich hin. Aber die samtausgeschlagenen Holzkisten sind sehr dekorativ, finden Sie nicht?“ Er reichte Peter eine der Pistolen. „Liegt gut in der Hand. Ist eben noch echte Handwerkskunst.“
„Ich mag deinen Boss.“ Daniel nutzte Peters Ablenkung und küsste Lucys Hals, soweit ihn der Rollkragen kommen ließ.
„Er ist ein Freund. Der Beste, den es geben kann.“ Sie legte den Kopf zur Seite und Daniel verwöhnte seine Nase an ihrer Halsbeuge, ihrem Ohrläppchen, ihrer Wange, ohne Peter aus den Augen zu lassen.
„Nur ein Freund?“
„Bist du eifersüchtig?“
„Ein klein wenig. Er ist attraktiv.“ Daniel gestattete seinen Händen etwas mehr Freizügigkeit. Das Zittern ging durch Lucys gesamten Körper. Bevor ein Laut ihrer Kehle entkommen konnte, presste er seine Lippen auf ihren Mund. Ihre Lust schmeckte zu köstlich, um es bei einem harmlosen Ablenkungskuss zu belassen.
Ethan schien plötzlich an einem Hustenanfall zu ersticken. Als sich Peter zu ihnen umdrehte, stand Daniel wieder hinter Lucy. Zum Glück konnte ihr Verlobter nicht sehen, dass er sie stützen musste.
„Haselmäuschen, ich hatte vor, den Abend mit dir zu verbringen.“
„So?“
Daniel musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu grinsen. Lucy klang nach reiner Panik.
Scarborough warf ihr einen warnenden Blick zu. „Ich habe hier eine fantastische Übersetzung von Kalendersprüchen ins Altenglische. Wenn Sie mal schauen wollen?“
Er tippte Peter auf die Schulter, hielt ihm ein Buch vor die Nase. Hoch genug, dass es die Sicht auf Lucy und Daniel verstellte. Sie ging seufzend einen Schritt von ihm weg.
„Was sollte das eben?“ Lucys Versuch, empört zu flüstern, misslang. Sie klang so sehnsüchtig, wie er sich fühlte.
„Es war eine Einladung.“
„Was für eine Einladung?“
„Auf mehr von mir.“
Ihr Lächeln schlich sich an seinen Vorsätzen vorbei in sein Herz. Es wurde bleischwer. Diese funkelnden Augen würde er schließen. Für immer. Er versuchte, zu lächeln, aber seine Gesichtsmuskeln weigerten sich. Er nahm ihr das Buch ab, hielt es hoch und Scarborough nannte einen astronomischen Preis. Daniel legte ein Bündel Pfundnoten auf ein Regalbrett. Er musste aus Lucys Nähe kommen. „Wir sehen uns später, Cousine.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“ Er eilte an ihr und den Männern vorbei und schlug Peter dabei fest auf die Schulter. Dieser Trottel wusste nichts. Er verschwendete eine Rose für etwas, dem auch eine Primel genügt hätte.
*