Das Haus von Everard hatte eine dezent ruß- und abgaspatinierte viktorianische Fassade. Von vorn würde Daniel es nicht unbemerkt betreten können, zu viel Publikumsverkehr. Doch Kephs Dateien zeigten eine Rückansicht mit Dienstboteneingang. Morgens um fünf wurde das Tor zur Durchfahrt auf den Hinterhof vom Butler aufgeschlossen, um den Müllleuten und dem Milchmann Zutritt zu gewähren. Den Hinterhof umschloss eine ausreichend hohe Hecke und dahinter lagen die Ziergärten der Nachbargrundstücke. Die Wahrscheinlichkeit, dass Daniel beim Fassadenklettern beobachtet wurde, war gering.
In der Innentasche seines Parkers verschwanden der Dolch, die Giftkapseln und seine persönlichen Skrupel. Er warf noch einen Blick auf ein Foto von Hayman. Am markantesten war der schmale Schnauzbart unter der fleischigen Nase.
Dass er Jasminas Nylonstrumpf als Erinnerung an ihre gemeinsame Nacht behalten wollte, hatte sie ihm sofort geglaubt. Mit geschmeicheltem Lächeln hatte sie ihn um Daniels Gesicht geschlungen. Er hatte noch nie eine Strumpfmaske getragen. Bei seinem letzten Einbruch hatte es noch keine Nylonstrümpfe gegeben und Zeugen waren irrelevant. Im kultivierten London der heutigen Zeit war das anders. Je weniger ihn sahen, desto weniger musste er töten.
In seinem Magen begann es, zu kribbeln. Ein gutes Gefühl. Er hatte es lange nicht mehr gespürt.
Der Taxifahrer war ein netter Mann. Er ging um den Wagen und öffnete für Daniel die Beifahrertür. „Guten Morgen. Was für ein trübsinniges Wetter. Und es soll noch schlimmer werden.“
Seinem glücklichen Lächeln nach schien ihn das persönlich nicht zu tangieren. Daniel auch nicht. Je düsterer, desto besser. An der Arlington Street ließ er das Taxi halten.
„Noch einen schönen Tag und gute Geschäfte.“ Zufrieden mit sich steckte der Fahrer sein Trinkgeld ein.
„Danke. Die werde ich haben.“ Nach diesem Job wäre es an der Zeit, sich wieder ein Schweizer Nummernkonto anzulegen.
Das Tor ließ sich geräuschlos öffnen. Im Durchgang war eine schmale Tür, die zu den Garagen führen würde. Sie war verschlossen, ebenso wie der Dienstboteneingang und die mit altem Kohlestaub verschmierte Kellertür. Daniel überquerte den Hof, kauerte sich hinter die Müllcontainer und wartete. Neben dem Vorsprung vom Treppenhaus reihten sich vier schmale Fenster übereinander. Die Toiletten. Es war sieben Uhr dreißig morgens, also würde er nur warten müssen.
Im dritten Stock ging das Licht an. Daniel zwängte sich den Strumpf über den Kopf. Simse, Fassadenstuck, Fensterbretter und zur Not ein hoffentlich stabil montiertes Fallrohr der Dachrinne, es gab genug Möglichkeiten für trainierte Hände und Füße, Halt zu finden. Es dauerte nur einen Augenblick und er balancierte auf dem Fensterbrett zum Toilettenfenster und stemmte sich mit dem Rücken am Mauervorsprung zum Treppenhaus ab. Jetzt musste es nur noch geöffnet werden. Die Klospülung rauschte, der Wasserhahn floss. Das Fenster blieb zu. Verdammt, was sollte das denn? Daniel klopfte an die Scheibe.
„Hey, Sie da drin! Ich bin mit dem Paraglider abgestürzt. Bitte helfen Sie mir, ich kann meine Beine nicht mehr bewegen.“ Das Wasserrauschen verstummte schlagartig. „Schnell! Ich kann mich nicht mehr halten!“
„Oh Gott, warten Sie!“ Die dumpfe Männerstimme klang erstaunt und bestürzt zugleich. Endlich schwang das Fenster auf.
Völlig konsterniert starrte ihn ein gutmütiges Butlergesicht an.
„Ich bedaure zutiefst, Sie belogen zu haben und ich bedaure es noch tiefer, Ihnen das hier antun zu müssen.“
Ein leichter, schneller Tritt an die Schläfe ließ den Mann zusammensacken. Bevor er mit dem Kopf auf dem Klobeckenrand aufschlug, fing ihn Daniel auf und legte ihn vorsichtig unter das Waschbecken. Dann rief er Ruben an. „In zwanzig Minuten mit Sprungtuch im Hinterhof.“ Länger würde er unter keinen Umständen brauchen.
*
Endlich hatte sich der Kerl abschütteln lassen. Es hatte ihn nicht verwundert, dass Olivers Gast eine Physiotherapie-Praxis beauftragt hatte, ihm eine Mitarbeiterin zu schicken, die ihn manuell therapierte. Nur die frühe Stunde sei ungewöhnlich, da Mr. Hayman pflegte, bis mittags zu ruhen. Lucy hatte etwas von Schichtwechsel und Personalmangel gewispert und sich nach ihrem zufällig heruntergefallenen Autoschlüssel gebückt. Der Wachmann hatte die unerwartet tiefen Einblicke genossen und ihr seufzend den Weg zu den Gästezimmern gewiesen.
Lucy legte das Ohr an die Tür. Es war nichts zu hören. Leise schob sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Das Bett war leer. War sie im falschen Zimmer?
Die Tür wurde ihr aus der Hand gerissen. Jemand schleuderte sie aufs Bett, stemmte ein Knie in ihren Rücken und hielt ihr den Mund zu. Ihr wurde schlecht vor Schreck.
„Lucinde?“
In ihrem Sichtfeld erschienen schwarze Haare. Der Mann vom Flughafen. Er kam um sie herum und hockte sich vor sie.
„Werden Sie schreien?“
Lucy schüttelte den Kopf und er nahm seine Hand weg.
„Was machen Sie hier?“ Klopfte ihr Herz vor Angst oder vor Freude, ihn wiederzusehen?
Sein Blick schweifte zum Fenster. Es stand sperrangelweit offen. Lucy sprang auf, aber der Mann hielt sie fest.
„Warten Sie noch einen Moment.“ Er sah auf die Uhr, lächelte sie an und hielt weiter ihr Handgelenk umschlossen. Nach ein paar Sekunden ließ er es los. „So, jetzt können Sie nachsehen.“
Nichts. Der Hof war leer. Lucy fühlte das Laken. Es war noch warm. „Wenn Sie nicht hier drin gelegen haben, war es Hairman. Wo ist er jetzt?“
Sein entspanntes Lächeln passte nicht zur Situation. „Er hieß Hayman.“
„Und wenn schon! Wo ist er?“ Der Gedanke nahm unaufhaltsam Gestalt an. Er war sperrig und sie wollte ihn nicht in ihrem Kopf. Vor ihr saß ein Mörder im Bett seines Opfers; zumindest ein Entführer und er sah ihr in die Augen, als ob nichts geschehen wäre.
„Warum sind Sie hier, Lucinde Sorokin?“
„Woher kennen Sie meinen Namen?“
Er streckte ihr die Hand hin. „Daniel Levant. Auftragskiller einer traditionsreichen Organisation, deren Mitgliedschaft es mir ermöglicht hat, den Namen einer bezaubernden Diebin herauszufinden, deren Kuss mir die ganze Nacht süße Träume beschert hat.“
„Nenn mich Lucy und vergiss nicht, dass du mich geküsst hast.“ Ein Killer schüttelte ihre Hand und alles, was sie denken konnte, war, wie verführerisch sich seine Lippen auf ihrem Mund angefühlt hatten. Seine Augen funkelten, als er sie neben sich aufs Bett zog.
„Du leugnest die Diebin nicht?“
Die Situation war zu verrückt, um zu lügen. „Es sieht so aus, als hätten wir dasselbe Opfer.“
„Von dem bald nicht mehr viel übrig sein wird. Bedien dich.“ Er wies zur Kommode. Die Reisetasche war prall voll.
„Und du? Wir könnten teilen.“
„Mein Honorar übersteigt den Inhalt dieser Tasche bei Weitem, aber die Vorstellung, mit dir zu teilen, gefällt mir. Zeit, einen Kuss, eine Nacht. Suche es dir aus.“
Der verträumte Glanz seiner Augen verschlug ihr die Sprache. Sie war dabei, sich in einen Killer zu verlieben.
Er stand auf, lauschte in den Flur und schloss die Tür ab. „Ein paar Minuten werden wir noch haben, bevor wir uns aus dem Staub machen sollten.“ Er setzte sich wieder vor sie und schlug die Beine unter. „Was für ein Zufall, ein Mörder lernt eine Diebin kennen und wenig später erwischt sie ihn fast bei einem Mord und er sie noch nicht ganz bei einem Diebstahl.“ Das verschmitzte Jungenlächeln stand ihm gut.
„Woher wusstest du, dass wir uns wiedersehen werden?“ Der ernste Klang seiner Worte war ihr noch in guter Erinnerung.
Er spielte an einer Haarsträhne, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte. „Weil ich es vorhatte. Ich wollte mich für deine Freundlichkeit bedanken.“ Vorsichtig zog er eine Haarnadel nach der anderen aus ihrer Frisur. „Meiner Schwester geht es übrigens viel besser. Sie hat sich sehr gefreut, dass ich so schnell zu ihr gekommen bin.“
Der knappe Abstand zwischen ihren Gesichtern verschwand. Er legte ihr die Hand in den Nacken und fasste ihr ins Haar.
„Du hast dich gestern meinem Kuss in vollkommener Weise hingegeben. Möchtest du es wieder tun?“
Sein Blick liebkoste sie, noch bevor sein Mund sie berührte. Er begann sanft, wie ein Spiel. Seine Lippen neckten ihren Mund, bis sie es nicht mehr aushielt. Er sollte sie küssen. Tief und leidenschaftlich. Er drückte sie sanft zurück. Als sie lag, hielt er ihre Hände fest.
„Leb wohl, süße Diebin. Und wenn du klug bist, gibst du das Geld bald aus. Sein Wert verfällt täglich mehr.“
Ein flüchtiger Kuss auf ihre Nasenspitze und er schwang sich aus dem Fenster.
Bevor sie ihre Beine überzeugt hatte, sich zu bewegen, war er schon verschwunden. Zittrig sammelte sie die Haarnadeln ein und schnappte sich die Tasche. Dieser Mistkerl. Sie biss sich auf die Lippen, die seine in schmerzlicher Weise ersehnten. Aus dem Treppenhaus kamen Stimmen. Es wurde Zeit, dass sie ging. Ihre Beine fühlten sich wackelig an, dabei hatte er sie nicht einmal richtig geküsst.
*
Lucy, die keine Skrupel kannte, Lucy, die jetzt wusste, wer er war, Lucy, die ganz oben auf seiner To-do-Liste stand. Vier Tage waren nichts. Hoffentlich schwelgte sie in dieser Zeit in allen Genüssen, die sie ersehnte. Von allen unwahrscheinlichen Situationen war die unwahrscheinlichste eingetreten. Daniel wäre fast das Herz stehen geblieben, als Lucy plötzlich in der Tür stand.
Ihr Haar hatte sich zwischen seinen Fingern gut angefühlt. Alles an ihr würde sich zwischen seinen Fingern gut anfühlen. Er würde sich in ihr gut fühlen. Sein Körper reagierte auf diese verlockenden Aussichten. Er hatte es schon getan, als er sie geküsst hatte und er hatte sich zwingen müssen, sie ungeliebt auf dem Bett zurückzulassen. Aber sie vor ihrer letzten Nacht zu lieben, verstieß gegen seine Regeln. Er hatte sie einmal gebrochen und bitter dafür bezahlt. Niemals in den leuchtenden Blick schöner Augen verlieben, wenn sie dem Ziel gehörten. Das brachte nur Qual. Für ihn und die Frau gleichermaßen.
Im Hauseingang mit vor Kälte hochgezogenen Schultern stand Susanna. Ihre blonden Haare, die sonst in alle Himmelsrichtungen abstanden, hingen ihr in nassen Strähnen im Gesicht.
„Wieso hast du abgeschlossen? Ich wäre beinahe erfroren.“
„Weil ich weg war.“
Susanna sah ihn an, als verstünde sie seine Worte nicht. „Du schließt nie den Aufzug ab. Was soll die Paranoia auf einmal?“
Normalerweise stand auch kein Wiedergeborener unaufgefordert neben seinem Bett und nötigte ihn zu einem Mord.
„Willst du einen heißen Tee?“ Daniel schob sie zur Seite, um aufschließen zu können.
„Einen heißen Tee, eine neue Wohnung und ein bisschen Geld.“ Ihr süßer, aber mit Farbe vergewaltigter Mund spannte sich zu einem liebevollen Grinsen. „Mein Exfreund hat ein Problem mit George. Er duldet keine Ratten mehr in seiner Wohnung, seit seine bekloppte Schwester ihm gesagt hat, dass diese Tiere die Pest übertragen.“
„Seine bekloppte Schwester hat recht. Ich bin viermal an der Pest gestorben. Solltest du vorhaben, deine Ratte bei mir zu parken, schmink es dir ab.“
Während der Aufzug nach oben glitt, schmuste sich Susanna in seinen Arm. „Daniel, bitte, bitte, bitte. Es ist Winter, ich habe keine Bleibe, und bevor ich meine spießigen Eltern um Hilfe anflehe, schneide ich mir lieber die Zunge ab.“
Unter ihrer durchweichten Jacke bewegte sich etwas und eine kleine pelzige Schnauze tastete sich aus dem Ausschnitt.
„Susanna, wie lange kennen wir uns?“ Sie sollte begriffen haben, dass er immun gegenüber den Überredungskünsten eines Teenagers war.
„Zwei Jahre, vier Monate, eine Woche und drei Tage. Willst du auch noch die Stunden, Minuten und Sekunden wissen?“
„Hast du sie gezählt?“
Für einen Moment huschte die Resignation über ihr Gesicht, die sie damals unter der Brücke vollkommen umfangen hatte.
„Ich zähle jeden Atemzug, seit du mir gezeigt hast, dass das Leben schön zu Menschen wie mir sein kann.“
Den Kopf voll Erinnerungen, die sie nicht hatte zuordnen können, war sie kurz davor gewesen, den Verstand zu verlieren. Daniel hatte ihr sofort angesehen, dass sie eine Wiedergeborene war. Zuerst hatte sie vor Erleichterung geweint, dann vor Verzweiflung gelacht, als ihr klar wurde, dass die schrecklichen Bilder in ihrem Kopf ihren eigenen Leben entsprangen.
„Wusstest du, dass du der erste Mensch bist, der mich nie belogen hat?“ Ihre dünnen kalten Finger schlangen sich um seine. „Ich höre Lügnern ihre Lügen an. Dir konnte ich den Irrsinn nur glauben, weil deine Stimme nach Wahrheit klang.“
Er betete, dass die Bruderschaft von Menschen wie Susanna nichts wusste. Mahawaj würde sie sofort an sich binden und ein weiteres Werkzeug aus ihr machen. Sie war eine frisch Erwachte. Die Angebote der anonymen Meister waren zu verlockend, als dass sie ein naiver Neuling ablehnen konnte.
„Du könntest mir die Etage unter deiner überlassen. Da wohnt doch keiner.“
Sie drängelte sich an Daniel vorbei aus dem Aufzug und kauerte sich vor den Kamin. Daniel entfachte die Glut neu und Susanna seufzte behaglich. Ihr Kinn war zu spitz. Sie hatte zu wenig gegessen. Unter den Augen lagen Schatten, also sah es mit ihrem Schlaf nicht besser aus.
„Wie heißt dein Exfreund noch mal?“ Er würde ihn Kepheqiah als potenzielles Opfer vorschlagen, rein zu Trainingszwecken.
„Rembrandt, aber das ist nur sein Künstlername. Den bürgerlichen Namen gibt er nicht preis, wegen der Polizei, verstehst du? Was ist jetzt mit der Wohnung? Ich habe Freunde, die könnten mir beim Renovieren helfen.“ Ihre Ratte huschte aus der Jacke, lief über ihren Arm und sprang auf Daniels Schulter. „George mag dich.“ Susanna strahlte.
Daniel packte das fiepsende Tier am Schwanz und ließ es zurück zu Susanna pendeln. „Versprich mir, dass ich George nicht mehr zu Gesicht bekomme, dann kannst du in der dritten Etage machen, was du willst.“ Er würde diese Entscheidung bis zum Rest seines momentanen Lebens bereuen.
Susanna schlang die dünnen Arme um seinen Nacken. „Danke. Ich werde dich nicht stören. Versprochen. Du wirst gar nicht merken, dass ich da bin.“
„Eine Bedingung habe ich.“
Susannas Augenaufschlag glich der einer Heiligen. „Welche? Ich mach alles, was du willst.“
„Habe ich Besuch, lässt du dich nicht hier oben blicken. Hältst du dich nur ein einziges Mal nicht an diese Absprache, fliegst du raus.“ Kepheqiah durfte sie unter keinen Umständen kennenlernen. Die Gefahr, dass er sie an die Bruderschaft verraten würde, war zu groß.
Enttäuscht stopfte sie die Ratte in ihre Jacke zurück. „Und ich dachte schon, du lässt mich diesen Gefallen bei dir abarbeiten.“ Ihr sehnsüchtiger Blick streifte über sein Bett.
Daniel schlug ihr an die Stirn. „Du bist ein Kind. Ginge es nach mir, würde ich dich so lange von zukünftigen Exfreunden fernhalten, bis du weise genug wärst, es selbst zu tun.“
Susanna schnappte nach Luft, doch Daniel hielt ihr den Mund zu. „Akzeptier meine Bedingungen oder schlaf wieder unter einer Brücke. Ich bezweifle, dass George in der Lage ist, dich ausreichend zu wärmen.“
Bevor sie ging, plünderte sie seinen Kühlschrank, sein Portemonnaie und deckte sich mit einem Stapel Pullover von ihm ein. Sie würde die Dinger fünfmal um ihren dürren Körper wickeln können.
Kaum war sie weg, rief Keph an. „Guter Job. Gab es Probleme?“
„Nein.“
„Seltsam. Xavier sagt, das Ziel wäre zur selben Adresse gefahren wie du. Nur, dass sie Everards Haus zwei Minuten später als du verlassen hat.“
„Sag Xavier einen schönen Gruß, ich werde ab heute die Überwachung des Zieles selbst organisieren.“ Einen Seelenlosen in Lucys Nähe zu wissen, machte ihn nervös. „Um Sorokins Verschwiegenheit kümmere ich mich, aber dazu brauche ich einen Dienstwagen und Ives.“ Der Junge schuldete ihm einen Gefallen. Es wurde Zeit, dass er ihn einforderte.
„Ich schicke dir einen Fahrer. Verhandle mit Maurice. Er verteilt die Ressourcen.“
Ruben kam persönlich. Sie redeten während der Fahrt über gemeinsame Aufträge, das Wetter und die besten Fischrestaurants an der Algarve. Dass Ruben keine Seele hatte, fiel nur auf, wenn er ihm in die Augen sah. Sie waren kalt und ausdruckslos. Über seine Degradierung verlor Daniel kein Wort. Ruben war über Jahrhunderte ein besserer Meister gewesen als alle anderen. Baraq’el hatte eine widerliche Art, langjährigen Mitarbeitern seine Dankbarkeit zu zeigen.
„Wappne dich für Spott und Hohn. Denn genau der wird dir entgegenschlagen.“ Keph ging vor und klopfte an Maurice’ Büro. „Bei seiner momentanen Laune kannst du froh sein, wenn du am Stück bleibst.“
Zusammengesunken hockte Maurice am Schreibtisch, vor ihm stand eine Flasche Calvados. Als er sein Glas füllte, zitterte seine Hand. Seine Augen waren rot geädert. Daniel hatte Maurice noch nie betrunken erlebt.
„Keph sagt, du willst Ives. Warum?“
„Weil mir ein Dienstwagen zusteht.“
Maurice griff in eine Schreibtischschublade und warf einen Autoschlüssel über den Tisch. „Deine Limousine steht hinterm Haus. Nimm sie dir und verschwinde.“
„Ich kann nicht fahren.“
Maurice lachte lustlos. Dann sah er Daniel mit gerunzelter Stirn an. „Wirklich nicht?“
„Wirklich nicht.“
„Wie viele Leben hast du auf dem Buckel?“
„Genug.“
„Und du hast nie gelernt, Auto zu fahren?“
„Das brauchte ich nie. Ich hatte Kutschen, Sänften oder Pferde.“ Nur Kamele hatte er strikt abgelehnt. Zwischen ihren Höckern war ihm schlecht geworden.
„Also gut. Du hast gewonnen. Ives wird für den Zeitraum dieses Auftrags dein Chauffeur.“ Er läutete nach dem Jungen, der erstaunlich schnell auftauchte. „Pack ein paar Sachen. Für die nächsten Tage arbeitest du für Meister Levant.“
Ives nickte unüberrascht, bevor er wieder verschwand. Der Kerl hatte gelauscht. Das würde er ihm austreiben müssen.
Um aufstehen zu können, musste sich Maurice auf dem Tisch abstützen. Er schwankte, als er zum Fenster ging und in den Himmel starrte. „Magst du London?“
„Magst du es?“
Maurice drehte sich zu ihm, lehnte sich an das Glas und sah ihn unverwandt an. „Ich wollte nicht in diese Stadt versetzt werden. Ich habe darum gebettelt, in Marseille bleiben zu dürfen, aber Mahawaj meinte, ich sei der richtige Mann für diesen Posten.“
„So. Meinte er das?“ Es wäre kein herber Verlust gewesen, wenn ein anderer Meister diese Niederlassung betreut hätte.
„Du hasst mich.“ Das schiefe Grinsen entstellte Maurice’ Gesicht zu einer Fratze aus Hohn.
„Vom Grunde meines Herzens.“ Mit lächelnder Leichtigkeit hatte Maurice Ruth den Kopf vom Körper getrennt. Er war ein Vollstrecker ohne Mitgefühl. Was wimmerte er, dass Baraq’el seine Wünsche überhört hatte? Töten konnte er überall.
Mit vor Eifer roten Wangen kam Ives zurück. „Fertig. Können wir?“ Anscheinend konnte er es kaum abwarten, Maurice den Rücken zu kehren.
„Da. Nimm ihn dir.“ Maurice nickte zu dem Jungen, schenkte sich nach und trank das Glas in einem Zug leer. Calvados aus Wassergläsern zu trinken war eine Leistung.
„Wenn der Auftrag erledigt ist, bringe ich dir deinen Diener zurück.“
Maurice winkte ab. „Mach mit ihm, was du willst. Mir ist es gleich.“
Ives verdrehte hinter Maurice’ Rücken die Augen, schulterte einen Rucksack und drückte sich an Keph vorbei nach draußen. Gerade wollte Daniel ihm folgen, als ihm Maurice den Weg vertrat.
„Du taugst nicht zum Meister.“
Wie eine giftige Schlange kroch der Hass auf Maurice in ihm hoch. Als er sein Herz erreichte, ballte er die Faust.
Maurice sah es. „Wut, weil du die Wahrheit nicht ertragen kannst?“
„Geh mir aus dem Weg.“
Maurice trat noch einen Schritt näher. „Du unterschreibst mit deinem Blut, und wenn du töten sollst, springst du ab.“
„Das ist nicht wahr.“ Nur zwei Aufträge hatte er verweigert und die Klienten hatten seinen Tod gefordert und bekommen. Maurice wusste das.
„Mahawaj mag dich.“
„Weshalb er mich Leben für Leben in Ketten legen und nach seiner Pfeife springen lässt.“
„Es ist nur eine Kette.“ Maurice schlug ihm gegen die Brust direkt auf das Amulett. „Er hätte deine Seele nehmen können. Er hat dich verschont.“
„Baraq’els Entscheidungen gehen nur ihn etwas an.“ Keph legte die Hand auf Maurice’ Schulter, doch der schlug sie weg. „Du hast stets nur die Rosinen von Mahawaj zugeteilt bekommen, Levant. Ich das schimmelige Brot.“
„Es scheint dir zu schmecken. Immerhin hast du es in der Bruderschaft weit gebracht.“
Die Faust ging ins Leere. Maurice war zu betrunken, um zu treffen. Haltlose Wut sprühte aus seinen Augen. „Wenn du das nächste Mal vor mir erscheinst, will ich Sorokins Kopf in deinen Händen sehen.“
Keph zupfte Daniel am Ärmel und nickte zur Tür. „Lass uns gehen. Aus dieser Phase bekommst du ihn nicht raus.“
Daniel zitterte vor Zorn. „Das hat er nicht ernst gemeint.“
„Das mit dem Kopf? Keine Ahnung. Im Vertrag steht nichts dergleichen. Mach dich auf den Weg und überlass Maurice mir. Ich rede mit ihm.“
Ives wartete unten. „Frag mich nicht nach ihm. Ich bin nur ein Diener.“
„Ein Diener, der seine Ohren an Türen klebt.“
Das verlegene Lächeln ließ ihn noch jünger aussehen. „Gestern Nacht brachte ein Kurier die restlichen Unterlagen deines Klienten. Seitdem tickt Maurice ständig wegen allem und jedem aus.“ Er ging vor zu einer Reihe Wagen. „Dass ich dich fahren soll, ist okay für mich. Maurice’ Launen auszuhalten ist nur bedingt witzig.“
Dezentes Anthrazit, abgedunkelte Scheiben und schwarze Ledersitze. Die Limousine machte was her. Ives hielt ihm die Tür auf.
„Ich finde es lustig, dass du nicht fahren kannst.“ Grinsend setzte er sich hinters Steuer. „Ich fahre schon, seit das erste Automobil nicht mehr mit Dampf angetrieben wurde.“
„Was kannst du noch? Immerhin habe ich für vier Tage Anspruch auf deine Arbeitskraft.“
„Abwaschen, den Müll rausbringen, mich anschreien lassen, leidlich kochen, wenn du keine hohen Ansprüche stellst.“
„Kannst du auch ein Ziel observieren?“
Keph bekam rote Ohren. „Lässt du mich?“
„Wir fangen gleich an. Fahr zur Farringdon Road.“ Etwas sagte ihm, dass Lucy das Geld zuerst diesem Mann bringen würde.
*
Lucy platzierte die Tasche direkt vor Ethans Nase, aber er sah kaum hoch.
„Hat’s Spaß gemacht?“
„Es hätte noch schöner sein können, wenn Haymans Mörder mich leidenschaftlich in Haymans Bett geliebt hätte.“ Auch einer dieser roten Flauschteppiche wäre ihr recht gewesen.
„Fein, fein, das hör ich gern.“ Er schob ihr einen Teller mit Ingwer-Keksen hin. „Nimm dir einen, ich muss mit dir reden.“
„Wir sind reich. Dank mir.“ Sie erwartete keine Freudentränen, aber etwas Euphorie wäre schön gewesen.
„Ich weiß, was auf dem Ring steht.“ Aus der Schublade zog er einige Farbdrucke. Sie zeigten vergrößerte Ansichten ihres Ringes. „Es ist so, wie ich vermutet habe. Der Ring ist alt. Die Schrift ist sumerisch und diese Zeichen bedeuten, der Vorfahr ist ein Held.“ Mit der Spitze eines Bleistiftes tippte er auf die verzerrten Dreiecke links neben dem Stein. „Mein Bekannter hat die ganze Nacht daran gearbeitet. Er geht davon aus, dass der Ring ein geradezu alttestamentarisches Alter hat.“ Ethan grinste. „Läuft dir keine Gänsehaut über den Rücken?“
Hoffentlich wusste Kolja nicht, was er am Finger getragen hatte.
„Besser, du versteckst ihn, bis ich mich diskret nach einem liquiden Käufer umgesehen habe.“
Lucy zog den Ring aus der Tasche. Ein schönes Stück. Liebend gern hätte sie es getragen. „Das Ofenrohr?“ Dort verschwanden alle wertvollen Dinge. Lucy hatte an einem nasskalten Herbsttag den Fehler begangen, ihn anzuheizen. An diesem Tag hatte sie die erste und einzige Ohrfeige von Ethan bekommen.
„Lucy!“ Zuerst kam der Freudenschrei, dann schlug die Ladentür hinten an.
Jade stand mit wehendem blondem Haar im Eingang, breitete die Arme aus und kam auf Lucy zugesprungen.
„Auch das noch.“ Ethan versank hinter dem Bildschirm. „Gleich fällt mir deine Elfenfreundin um den Hals und küsst mich.“
Tatsächlich tänzelte Jade um den Tresen auf Ethan zu, und bevor sie seine weit ausgestreckte Hand bemerkte, küsste sie ihn mitten auf den Mund. Mit Sicherheit war sie die einzige Frau, die das bei ihm wagte. Dann schlängelte sie sich dicht an ihm und seinem heiligen Computer vorbei, wischte das Ladekabel vom Tresen und hätte beinahe den Keksteller mitgenommen, wenn Ethan ihn nicht festgehalten hätte.
„Du bist wieder da. Ich habe dich schrecklich vermisst.“ Jade zog sie in eine ausgiebige Umarmung und Lucy versank in einem köstlichen Duft aus Blumen und Kräutern.
„Lecker, was ist das?“
Ihre Freundin legte den Kopf zur Seite und ließ Lucy schnuppern. Fantastisch. Der Duft prickelte in ihrer Nase und vernebelte auf angenehme Art ihre Sinne.
„Eine neue Mischung. Habe ich heute vor Sonnenaufgang über einer heiligen Quelle ausgependelt. Wirkt anregend, aphrodisierend und schützt vor dem bösen Blick.“
Hinter ihrem zierlichen Rücken rollte Ethan mit den Augen. „Wo gibt’s hier heilige Quellen?“
Jade sah Ethan nachsichtig an. „Gleich die Straße runter. Clerks Well, welche sonst?“
„Die ist nicht heilig, die ist touristisch.“ Ethans Kampf mit der Freundlichkeit stand ihm im Gesicht.
„Sie ist ein missverstandener Ort. Ihre energetische Schwingung reicht weit über London hinaus.“
„Jade, Süße. Nimm dir doch einen Keks, dann ist dein Mund mit sinnvollem Tun beschäftigt.“
„Mach nicht auf grantig.“ Sie schenkte ihm das süßeste Lächeln des Universums. „Ich weiß, dass du mich magst.“ Nebenbei zog sie den Reißverschluss der Reisetasche auf. Kaum hatte der leise Pfiff ihre vollen Lippen verlassen, tauchte sie die Hand in die Scheine und zog sie voll wieder raus. „Darf ich?“
Ethan hielt ihr kommentarlos einen Keks hin.
„Sind da Eier drin?“ Ein grün lackierter Fingernagel stupste vorsichtig an die Kekskante. Ethan nickte.
„Und Butter?“
„Ich backe nie mit was anderem.“ Nach und nach färbte sich sein Gesicht rot.
„Dann wurden dafür hilflose Tiere ausgebeutet. Tut mir leid, ich kann das unmöglich unterstützen.“ Sie pickte das Gebäckstück aus Ethans Fingern und warf es in den Papierkorb. „Sanfte Kühe werden täglich an Melkmaschinen angeschlossen, deren kalte Metallsaugglocken aus zartestem Gewebe erbarmungslos die letzten blutdurchtränkten Tropfen …“
„Ist ja gut.“ Ethan hob die Hand. „Ich will mir das nicht vorstellen.“
Jade lächelte nachsichtig. „Natürlich nicht.“ Sie stopfte die Scheine in ihren Rucksack. Dabei fiel ihr Blick auf die Standuhr. „Schon so spät? Ich muss in mein Seminar!“ Mit vielen kleinen Küsschen überdeckte sie Lucys Gesicht. „Schamanische Energieheilung in der Gegenwart und ihre Bedeutung für tantrische Meditationspraktiken in der südöstlichen Ukraine.“
Hinter ihr schlug Ethans Stirn auf dem Tresen auf.
„Ich kenne einen Typen, der braucht so was unbedingt. Seine dunklen Schwingungen umwabern ihn regelrecht. Alles, was ich lerne, probiere ich an ihm aus.“
„Ein Loverboy?“
Jade rümpfte die Nase. „Nicht wirklich. Aber ich bin von seiner Seele fasziniert. Sie hat was Archaisches und schreit regelrecht nach Erlösung.“ Kritisch musterte sie die Partie unter Lucys Augen und klopfte sanft mit der Fingerkuppe ihres Ringfingers dagegen. Lucy hielt still. Was von Jade kam, war verrückt, aber gut. „Dein Energiefluss stockt. Du solltest deine Chakren besser aufeinander abstimmen.“
„Ich steh zurzeit etwas unter Strom.“
Jade hob ihr Kinn an und spähte in ihre Augen, dann verfolgte sie etwas, das knapp oberhalb ihres Kopfes hin und her hopsen musste. „Deine Aura ist total durcheinander. Was hast du angestellt?“
Ohne mit der Wimper zu zucken, legte Jade ihre rechte Hand zwischen Lucys Beine und ihre linke auf Lucys Herz. Ethans Braue war bis zum Anschlag hochgezogen, als sein Gesicht über Jades Schulter auftauchte. Lucy verkniff sich ein Grinsen.
„Hier sitzt das Problem.“ Beide Hände griffen energisch zu. „Der Dialog zwischen deinem Wurzelchakra und deinem Herzchakra wurde gekappt, aber das ist nicht schlimm.“ Sie strahlte sie liebevoll an. „Kommt dein Prinz angeritten, wird alles wieder gut.“
Dieses Thema war fehl am Platz. Peter eignete sich nicht mal als Pony eines Prinzen, und wenn sie wie der Teufel auf ihm reiten würde.
„Lass den Kopf nicht hängen, ich rede nicht von dem Schuhspanner, der nur zufällig ein Mensch geworden ist.“ Jade zwinkerte, schloss dann die Augen. „Ein schwarzer Ritter …“
„Eben war es noch ein Prinz.“ Ethan fuchtelte mit der Hand vor Jades Gesicht. Sie zuckte nicht.
„Da war ich voreilig. Es ist nur ein Ritter. Tut mir leid.“ Sie runzelte die Stirn. „Und er birgt ein düsteres Geheimnis.“
„Kling romantisch.“ Es klang nach Daniel. Auch wenn sie ihm seine Flucht nie verzeihen würde, das Echo des denkwürdigsten Kusses ihres Lebens brach sich sacht an ihren Lippen.
„Nein.“ Jade schüttelte energisch den Kopf. „Es klingt nach massivem Stress.“ Misstrauisch sah sie Lucy an. „Ist in Moskau was Ungewöhnliches geschehen? Ich sehe Katastrophen auf dich zukommen. Aus dem kalten Osten.“
Lucy zog den Kopf ein. Jades Blick bannte sie. „Nö. Warum? War alles schick.“ Lügen war ihr noch nie schwergefallen.
„Erzähl mir lieber was von diesem geheimnisvollen Typen und seinen dunklen Schwingungen, den du im Visier hast.“
Zur Abwechslung legte ihr Jade die Handballen an die Schläfen und zog sanfte Kreise. Lucy hätte schnurren können. „Also gut.“ Die Kreise an Lucys Schläfen wurden fester und schneller. Lucy schloss die Augen und verfolgte die bunten Lichtblitze, die um sie herum tanzten. „Auf eine stimulierend träge Weise ist seine Seele überaktiv. Das lockt mein Helfersyndrom an die Oberfläche meines Heilerbewusstseins und macht ihn zum perfekten Versuchskaninchen für meine neu erworbenen Künste.“
Von Ethan kam ein verzweifeltes Schnaufen. Sicher hatte er Mitleid mit dem Kerl.
„Er ist nur ein Freund. Er hat mal die Kaution für mich bezahlt, als ich im Knast war.“
„Du warst im Gefängnis?“ Warum hatte ihr Jade nie etwas davon erzählt?
„Ein Missverständnis.“
Noch ein Kuss auf die Wange und Jade entschwand anmutig wie eine Fee. „Komm die Tage vorbei und lass dich auspendeln.“
Die Tür war längst zu, aber Ethan starrte immer noch hin. „Sie ist eine Heimsuchung.“ Zwei Ingwer-Kekse verschwanden gleichzeitig in seinem Mund.
„Sie ist wundervoll.“ Jades Leben musste ein einziges Fest sein. Sie lebte in Harmonie mit jeder Schwingung, die es jemals im Universum gegeben hatte. „Eines Tages werde ich ihr meine Sünden gestehen.“ Wenn Jade ihr nicht verzieh, verzieh ihr keiner.
„Sicher, und dann meditiert ihr zu zweit in der südöstlichen Ukraine, aber bis es so weit ist, verstecken wir dieses Geld vor deiner Freundin und feiern deinen Erfolg.“ Ethan kniff sie in die Wange. „Shoppen bis zum Umfallen auf dem Piccadilly und danach ein sündhaft edles Essen im L’Escargot. Heute werden wir uns im Luxus suhlen.“
*
Nur um das Fauchen des Motors zu hören, hetzte Kolja den Wagen über die Landstraßen nach Twer. Überschäumende Wut, ätzende Frustration und schlichte Angst waren seine Mitfahrer.
Ramuell Grigorjew hatte ihn zu sich zitiert, auf den Landsitz der Familie. Kolja, als ältester Sohn, hatte zu gehorchen. Die Hand, die sich um das Lederlenkrad verkrampfte, war nackt und bloß. Vor Angst zog sich sein Magen zusammen. Er musste es seinem Vater gestehen, wie er Baraq’el gestanden hatte, dass die Diebin einen der mächtigen Nephilim-Ringe gestohlen hatte. Vor niemandem konnte er seine Schande verbergen. Jeder wollte sie ans Licht gezerrt wissen.
Er brauchte Zeit. Nur wenige Tage. Darum musste er seinen Vater anflehen.
Kolja verdrängte die Erinnerung an die kalt blitzenden Augen seines Vaters. Konstantin wäre da. Sein kleiner Bruder war der Sonnenschein der Familie. Kolja hätte ihn gern gehasst, doch es ging nicht. Konstantin musste man lieben.
Twer. So schnell? Der Kloß in seinem Hals wuchs, als er rechts auf die Straße nach Slavonye abbog. Auf halber Strecke lag das Gut. Warum konnte es nicht Konstantin sein, dem die Bürde der Familie aufgehalst wurde? Mit seinem Charme, mit seiner Liebenswürdigkeit hätte er alle Widersacher um den Finger wickeln können. Doch Vater misstraute ihm, gerade wegen seiner Menschenfreundlichkeit. Die alten Familien lechzten nach dem unsichtbaren Thron, auf dem Ramuell saß und die Geschicke seines Volkes lenkte. Kolja musste nachfolgen. Ob er wollte oder nicht. Mit derselben Härte, mit derselben Zuverlässigkeit.
Und er kam ohne Ring, übers Ohr gehauen von einer kleinen Diebin, unwürdig, kriechend, als Bittsteller. Der Hass pumpte die Übelkeit hoch in den Hals. Mit quietschenden Bremsen hielt Kolja mitten auf der Straße und schaffte es noch, sich aus dem Auto zu lehnen, bevor er sich übergab.
Er brauchte Zeit, bis er weiterfahren konnte. Angesicht zu Angesicht würde er Ramuell entgegentreten müssen, um Abbitte zu leisten.
Der Zufahrtsweg schlängelte sich durch die Felder, Wiesen und Waldbestände, die zum Gut gehörten. Das Tor stand auf. Wenn er Glück hatte, waren seine Eltern noch fort. Der Hummer seines Vaters stand nicht auf dem Hof. Ein gutes Zeichen. Aus dem Stallgebäude kam der Pferdeknecht. Mit rot gefrorener Hand schleppte er einen Eimer mit Weizen. Die Reitpferde der Grigorjews hatten es besser als manche Kinder in der Nachbarschaft. Und wenn schon. Wer Geld hatte, gab es aus. Wer keines hatte, hungerte. Das Leben war kompromisslos.
„Hey!“ Wie hieß der Kerl noch gleich?
Der Knecht sah teilnahmslos hoch.
„Ist mein Vater da?“
„Nö.“ Er trottete weiter, als ob Kolja irgendein dahergelaufener Speichellecker wäre.
„Bleib stehen.“ Kolja musste sich zusammenreißen, um langsam auf ihn zuzugehen. „Wie heißt du?“
„Sascha.“
Kolja zwang sich ein Lächeln ab, das Sascha bis ins Mark zu erschüttern schien. „Das nächste Mal, wenn ich dich anspreche, senkst du den Kopf, und antwortest in ganzen Sätzen.“ Er packte Sascha im Genick und drückte zu, bis dem Kerl die Tränen in die Augen traten. „Ich bin Kolja Grigorjew. Und ich schätze keine Unhöflichkeit meiner Person gegenüber.“
Um den Mund wurde der Knecht weiß, die Augenpartie stach dagegen rot ab. Er versuchte zu nicken, was wegen des Griffs nicht gelang.
„Sattle Fee. Ich reite aus.“ Bevor er seinem Vater gegenübertreten konnte, musste er sich abreagieren.
Der Knecht sah erschrocken hoch. „Das ist die Stute Ihres Bruders. Er will nicht, dass ein anderer als er sie reitet.“
Der Schlag ins Gesicht holte diesen Sascha von den Beinen. Er hielt sich das Ohr und blieb im Dreck kauern. Aus dem linken Auge liefen Tränen. Das Rechte blieb trocken. Erstaunlich. „Mach schon. In zehn Minuten will ich den Gaul aufgezäumt sehen.“ Fee war das schönste Pferd im Stall. Noch. Er war der Ältere. Konstantin musste lernen, sich unterzuordnen.
Bevor Kolja das Herrenhaus betrat, lauschte er. Niemand schien da zu sein. Er setzte die Stufen in den oberen Flur hinauf, und erst als die Tür zu seinem Zimmer hinter ihm zufiel, empfand er eine Ahnung von Sicherheit. Dicke Webteppiche lagen auf dem Boden, die Zeichnungen seiner Kindheit hingen an der Wand über seinem Schreibtisch. Er war früh aus dem Nest gestoßen worden. Internate, Universitäten, Heimweh. Wer Ramuell Grigorjew nachfolgte, zahlte den Preis schon früh. Hinter der Tür standen seine Reitstiefel, im Bord darüber lagen Hose, Gerte und Sporen. Warum nicht? Falls das Pferd ihn als Reiter nicht akzeptierte, brauchte er ein Überzeugungsmittel.
Die Reithose war zu weit, doch die Gerte lag gut in der Hand. Er ließ sie durch die Luft zischen, schlug damit auf sein Bett ein, wieder und wieder, bis der Bezug riss und Federn wie Schnee um ihn herumwirbelten.
Sinnlos. Ein Bett fühlte keinen Schmerz, es schrie nicht und es verstand Koljas Not nicht. Er wischte sich über die Augen, knöpfte die gefütterte Weste zu und kehrte dem Rückzugsort seiner Kindheit den Rücken.
Mit gesenktem Kopf kam ihm Sascha entgegen. Seine Wange war bis hoch zur Schläfe krebsrot. Fee schritt ruhig neben ihm. Kaum saß Kolja auf dem Sattel, rammte er dem Tier die Sporen in den Bauch. Es bäumte sich auf, wieherte schrill, doch er würde Fee keine Wahl lassen. Er hatte auch nie eine gehabt.
*