Wie hatte er sich nur derart hinreißen lassen können?
Lucy war leichenblass, der Rand ihrer Lippen blau. Noch etwas mehr, und sie wäre in Ohnmacht gesunken. Ihr Lächeln war trotz ihrer Schwäche strahlend schön. Sie konnte nicht wissen, dass sie eben ihren Tod gekostet hatte.
Daniel streichelte über ihr Handgelenk, ihr Puls ging zu schnell und zu flach. „Kannst du mir meine Übergriffe verzeihen?“
„Nein.“ Ihr direkter Blick forderte ihn heraus. „Aber ich beginne, sie zu genießen, auch wenn mich dein Kuss eben beinahe das Leben gekostet hätte.“
Das würde er noch. Daniel nahm ihre Hand. Als Lucy ihn misstrauisch ansah, wich er ihrem Blick aus. Sein Herz wog Tonnen. Warum gehörte ausgerechnet sein Ziel zu den wundervollsten Geschöpfen des Universums?
Plötzlich stöhnte sie auf und presste die Hände an die Schläfen.
Der Ring.
Er zog ihn ihr vom Daumen. Lucy atmete auf.
„Hast du den Beruf gewechselt?“
Sie fuhr sich über die Stirn, auf der Schweißperlen glänzten. Daniel hatte sie geschwächt, der Ring ebenso. Er verfluchte sich dafür.
„Versprich mir, dass du ihn nicht mehr trägst. Er tut dir nicht gut.“
Lucy schüttelte verwirrt den Kopf. „Den Teufel werde ich. Was geht dich mein Ring an?“
Sie wollte danach greifen, doch Daniel hielt sie auf. „Den Teufel hattest du längst. Von ihm stammt der Ring.“
Lucy richtete sich auf und strich die Haare aus ihrem Gesicht. Sie war eine schöne Frau. Sie war eine starke Frau. Und es war ein Frevel, dass sie sein Ziel war. Sie würde nur für eine Nacht seine Geliebte sein. Diese Nacht musste ewig währen.
„Du redest Unsinn. Der Ring ist ein Geschenk.“
Sie reckte ihm trotzig das Kinn entgegen. Daniel berührte es. Der harte Ausdruck in ihren Augen verschwand nicht.
„Der Ring ist gefährlich.“
„Woher willst du das wissen?“
Über den Rand ihres Rollkragens kroch eine leichte Röte ihren geschmeidigen Hals hoch. Er war schlank, würde sich gut umfassen lassen. Wenn er sie bis zur Atemlosigkeit nahm, brauchte er nur ein wenig nachzuhelfen. Sie würde in eine süße, schwere Ohnmacht fallen. Ihr Körper würde erschlaffen, reglos in seinem Arm liegen, das Herz würde schwächer und schwächer schlagen, bis der Puls nur noch ein kaum spürbares Flattern war. Er würde sie halten, bis zum Schluss. Sie würde schön bleiben, mit entspannter Miene, friedlich, als ob sie schliefe. Kein Cleaner würde sie in einen Plastiksack stecken. Er würde sie persönlich Grigorjew überreichen. Die schöne Tote für den lebenden Nephilim.
„Was ist?“ Lucy sah ihn erschrocken an. „Wenn du mich so anstarrst, machst du mir Angst.“
Sie durfte keine Angst vor ihm haben. Das würde die Dinge verkomplizieren. Daniels Herz pochte so stark, dass es schmerzte. Es hatte Angst. Eine grausame Angst. Er hätte sie nicht küssen dürfen. Nicht ein einziges Mal.
Er kam bis zur Tür, spürte ihren Blick im Nacken.
„Daniel?“
Nein.
„Ich möchte dich wiedersehen.“
Dreimal verdammtes Nein.
„Vielleicht könnte ich dir noch einen Stromschlag verpassen.“ Ihr Lächeln war verunsichert wie der Blick, der in seinen Augen nach dem Grund für sein wirres Verhalten suchte. „Ich könnte dir auch alles wiedergeben, was dir gehört.“ In ihrer Hand hielt sie sein Portemonnaie. Ihr Lächeln strotzte vor Triumph. „Und deinen Kuss, dann wären wir quitt.“
Bevor er es verhindern konnte, legte er die Arme um sie. War er verrückt geworden? Er sah in ihre Augen und konnte nicht wegsehen. Sie reckte sich zu ihm hoch, er neigte sich zu ihr hinab und gab ihr alles, was er an überschäumenden Gefühlen empfand. Ihre Lippen nahmen es an, als könnten sie nicht genug davon bekommen. Seine Verwirrung, das ziehende Gefühl in seiner Brust, die Lust, Lucy bis zum Ende zu lieben. Und seine tiefe Verzweiflung über sein Tun. Seine Not, seine Leidenschaft, seine Freude in so vielen Leben; sie küsste es von seinen Lippen, forderte jede Nuance seiner Empfindungen. Er konnte nicht von ihr lassen. Ihr Hunger nach mehr reizte ihn, bis er es nicht mehr in ihrer Nähe ertragen konnte.
Als er sich zwang, seine Lippen von ihr zu lösen, schnitt der Schmerz des Verlustes in seine Eingeweide.
„Lucy! Wo warst du? Ich habe mir schon Sorgen gemacht.“
Scarboroughs Sorge schlug in Misstrauen um, als er sah, dass Daniel den Arm um Lucys Schultern gelegt hatte.
„Entschuldige, Ethan. Mir ist schlecht geworden. Liegt sicher noch an der Klimaumstellung.“
„Ich muss gehen. Pass auf dich auf.“ Wäre sie nicht sein Ziel, er hätte sie davon überzeugt, die Nacht mit ihm und nicht mit Scarborough zu verbringen.
Keph war weg. Grace schlief noch. Er küsste sie zum Abschied, nahm seinen Mantel und ging. Draußen fing ihn Kepheqiah ab.
„Was war das eben? Hast du dich auf dem Weg zur Toilette verlaufen?“
„Lucinde Sorokin ist da.“
Keph bekam große Augen.
„Der Ring erzeugt eine Spannung in ihr, die sie kaum ertragen kann.“
Keph lachte trocken. „Der Urfunke des Lebens. Wie sollte ein normaler Mensch den ertragen können?“ Er sah hinter ihn, runzelte die Brauen und zog ihn vom Eingang weg. „Sie kommt. Los, hinter die Litfaßsäule. Sie darf uns nicht sehen.“
Ethan hatte den Arm um Lucys Taille gelegt. Trotzdem stolperte sie über die letzte Stufe. Warum passte dieser Mann nicht besser auf sie auf?
„Daniel, du hast einen Ausdruck in den Augen, der für die Observierung eines Zieles unangebracht ist.“
Wie blass sie war. Wie verunsichert sie lächelte. Sie verstand es nicht. Sie hatte Angst. Er könnte sie ihr nehmen. Noch heute Nacht.
*
„Wer war das?“ Ethan spähte über seine Schulter, als ob er Angst hätte, der Mann könnte sie verfolgen. „Soll ich dich bei dir absetzen?“
Lucy nickte. Sie fühlte sich, als hätte sie seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen. Sie lehnte sich im Sitz zurück und versuchte, die letzten achtundvierzig Stunden zu reflektieren. Es gelang ihr nicht. Sie musste herausfinden, was mit ihr los war. Und sie musste Daniel wiedersehen. Sie explodierte vor unerfüllter Sehnsucht. Wenn seine Küsse solche Katastrophen in ihr auslösten, wie musste es dann sein, sich ihm hinzugeben wie diese Grace?
„Der Typ aus dem Pub?“ Ethan seufzte. „Vergiss Regel Nummer eins nicht; Liebe ist schlecht fürs Geschäft.“
Ethan hielt vor Starbucks. Die Fenster über dem Café waren dunkel und ihre Wohnung würde kalt sein. Sie würde ihren seltsamen Zuständen auf den Grund gehen. Was sollte der Smaragdring damit zu tun haben? Im Gegensatz zu Daniels Küssen fühlten sich ihre Zustände harmlos an. Er hatte sie bei einem Diebstahl erwischt. Sie ließ sich nie erwischen. Dass sie ihn bei einem Mord ertappt hatte, war zweitrangig. Dann war er gegangen. Wieder einmal. Ohne ihr zu sagen, wo er wohnte, welche Handynummer er hatte oder ob die Chance bestand, ihn wiederzusehen. Wenn sie daran dachte, was Daniel mit ihren Lippen gemacht hatte, wurde ihr heiß und kalt gleichzeitig. Seine Küsse waren mit nichts vergleichbar, was sie je erlebt hatte. Es war zum Verrücktwerden, ebenso wie die Tatsache, dass er wusste, dass sie stahl wie ein Rabe. Damit hatte er sie in der Hand. Ein verachtenswerter Zustand. Obwohl, wenn Daniels Hände ebenso talentiert waren wie sein Mund, wäre es zu ertragen.
Die Wohnung roch nach Einsamkeit. Das änderte sich auch nicht, als sie Nachtluft hineinströmen ließ. Lucy streifte die Schuhe ab und tauschte das Samtkleid gegen Jeans und Pulli. Als sie sich ihre Lieblingswollsocken anzog, streifte der Ring über ihre Wade. Aus einem haarfeinen Schnitt sickerte Blut. Sie hielt den Smaragd ins Licht. Wie konnte ein Schmuckstück derart scharfkantig geschliffen sein? Wie er schimmerte. Fantastisch. Wie ein Zauberring aus einem Märchen. Ob er Wünsche erfüllte? Lucy trat ans Fenster. Wünsche mussten fliegen können. Sie drehte ihn dreimal um ihren Daumen.
„Bring mir Daniel.“
Im Ofen knackte es.
Eine Gänsehaut kam und ging. Lucy zog den Ring ab und legte ihn unter das Sofakissen. Wenn Daniel recht hatte? Albern. Es gab keine magischen Ringe.
Warum tauchte Daniel ständig in ihrem Leben auf? Er verfolgte sie. Der Schreck nistete sich in ihrem Magen ein. Er hatte gesagt, sie gehöre ihm. Niemand hatte einen Anspruch auf Lucy Sorokin. Daniel war ein Mann. Männer unterhielten, befriedigten, ließen sich bestehlen und waren nützlich, so wie Igor und Peter.
Ob Igor endlich geschrieben hatte? Nein. Lucy sendete ihm eine knappe E-Mail, dass alles in Ordnung wäre und sie auf sein Päckchen wartete. Wehe, der Kerl hätte es sich selbst unter den Nagel gerissen. Lucy rief die Prawda auf und überflog die Schlagzeilen. Es war nur eine Randnotiz. Ohne Foto. Ohne Zeugenberichte.
Der Kleinkriminelle Igor Wolkow war tot in der Moskwa aufgefunden worden. Die Moskauer Polizei vermutet hinter der Gräueltat Revierstreitigkeiten rivalisierender Syndikate. Der Leichnam wiese Foltermale auf und es fehlten Gliedmaßen.
Lucy starrte auf den Bildschirm, bis ihre Sicht verschwamm. Igor war tot. Er war gequält worden. Hatte furchtbar gelitten. Lucy wurde es schlecht. Wie war Ethans Nummer? Sie hatte sie tausendmal gewählt. Jetzt konnte sie sich nicht erinnern. Sie hatte sie gespeichert. Wie die ellenlange Nummer von Igor. Warum brannten ihre Augen?
Zwei gemeinsame Heime. Zwei gemeinsame Ausbrüche. Ein gemeinsames Jahr auf der Straße. Zahllose gemeinsame Diebstähle.
Ethans Nummer. Wie lange wollte er es klingeln lassen?
„Lucy! Deine schräge Freundin war eben hier. Die, die nur bei Vollmond Grünzeug isst, oder waren es Kohlenhydrate? Ich soll dir ausrichten, sie hätte die Karten für dich gelegt und du solltest dich vor finsteren Mächten in Acht nehmen, die in deine Schicksalsfäden eingreifen wollten. Wenn dieses Weib noch einmal mitten in der Nacht klingelt, bringe ich es um.“
„Igor ist tot.“
Ethan schwieg.
„Geh ins Internet. Ließ die Kurznachrichten der Prawda.“
„Ich kann kein Kyrillisch.“
„Lies die englische Ausgabe.“ Lucy drückte ihn weg, verkroch sich auf den Sessel, schlang zwei Decken um sich und fror immer noch.
Tränen halfen weder ihr noch Igor. Sie zwinkerte sie weg. Sollte Igors Tod etwas mit ihrem Diebstahl zu tun haben? Nein. Sie hatte Kolja gegenüber Igor mit keinem Wort erwähnt. Woher sollte Kolja von ihrer Freundschaft wissen? Und wenn doch? Wenn an dem Ring Igors Blut klebte, klebte es auch an ihr.
Sie brachte Unglück. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitzschlag. Ihre Eltern waren tot. Igor war tot. Ethan hatte sich mit seiner Familie ihretwegen überworfen und Peter sah in ihr eine ehrenhafte, wenn auch arme Exilrussin. Sie nutzte alle Menschen aus, die es gut mit ihr meinten. Sie würde Peter verlassen und in eine andere Stadt ziehen. Dann hätte auch Ethan seine Ruhe vor ihr. Alles andere wäre unfair.
Lucy raufte sich die Haare. Was war mit ihr los? Seit wann dachte sie solchen Mist? Das Leben war nicht fair. Warum sollte sie es sein? Sie war eine Diebin.
Dinge waren da, Menschen waren da. Wer sie sich nahm, hatte sie. Punkt. Igor hatte sie sich genommen. Igor wurde ermordet. Bedwyr hatte sie genommen. Auf einem Sperrmüllhaufen hatte er gethront. Einarmig, pelzig, mit runden Knopfaugen. Der Bär flog in die Zimmerecke.
Peter hatte sie sich genommen. Peter war praktisch. Peter hasste Kerzenlicht beim Sex. Sie riss die Stummel aus den Halterungen und warf sie von sich. Wozu steckten sie da? Sie kamen nicht zum Einsatz. Das war unfair. Wenn etwas da war und seinen Zweck nicht erfüllen durfte. So wie ihr Herz. Es schlug. Mehr nicht. Es hätte lieben sollen. Lieben ging nicht. Lieben machte schwach, abhängig und tat weh. Zu lieben bedeutete, Zugeständnisse zu machen, Sünden zu gestehen, Abbitte zu leisten und zu trauern. Nichts davon war zumutbar.
Ethan war ein Freund. Sie war ihm dankbar. Sie bestahl ihn, wenn sie pleite war. Jade war eine Freundin. Jade war speziell. Jade nicht zu mögen, war unmöglich. Jade zu lieben, verbot sich Lucy strikt. Und Daniel? Er war ein Fremder, der ihr Herz mit verbotenen Früchten gefüttert hatte. Jetzt flatterte es hilflos in ihrer Brust. Sie würde es einfangen. Dann hatte der Spuk ein Ende.
*
Ramuell Grigorjew überragte Kolja um einen halben Kopf. Unter dem vernichtenden Blick der eisgrauen Augen schrumpfte Kolja zusammen, wie in seiner Kindheit. Konstantin stand nur knapp hinter ihm. Seine Anwesenheit tröstete, gleichgültig, was jetzt kommen würde.
„In unserer Familie versagt man nicht.“ Sein Vater schritt gemessen zur Bar und goss sich ein Glas Medowucha ein. Er schloss die Augen und sog den Honigduft tief in die Lungen.
Koljas Handflächen wurden nass. Er spürte sein Herz im Hals heftiger als in seiner Brust schlagen. Die Ruhe vor dem Sturm, sie hatte begonnen.
Seine Mutter erhob sich, küsste Kolja sanft auf die Wange und wünschte allen eine gute Nacht. Dann verließ sie den Raum. Sie war nie anwesend, wenn Ramuell sanktionierte. Konstantin trat einen Schritt näher zu ihm. Sein Vater sah es, zuckte mit der Braue.
„Ein so schlichter Genuss.“ Er schmeckte die Medowucha ausgiebig auf der Zunge nach. „Prickelnd, anregend, süß. Wie das Leben.“ Das aufgesetzte Lächeln verschwand von einer Sekunde auf die andere. „Wenn man es beherrscht.“
Sein Smaragdring blitzte auf. Der geschliffene Stein schnitt über Koljas Wangen. Konstantin keuchte hinter ihm, doch die Wunde schmerzte nicht. Nur die Scham brannte.
Sein Vater holte wieder aus. „In unserer Familie verzeiht man nicht.“
Wieder schleuderte er Kolja die Hand ins Gesicht. Diesmal zerschnitt der Ring die andere Wange. Wärme floss über seine Haut hinunter bis über seinen Hals. Er musste weiter in die kalten Augen sehen. Den Blick zu senken, bedeutete Unterwerfung. Ramuell goutierte den stolzen Starrsinn seines Sohnes mit einem eisigen Lächeln. Er schüttelte ein Seidentuch auseinander und reichte es ihm.
„Du tropfst den Teppich voll. Wisch dich ab.“
Es kostete ihn Überwindung, nach dem Tuch zu greifen, aber Ramuells helfende Hand schlug niemand ab. Die Folgen waren fatal.
„Ich kann dir zwei Wochen geben, mein Sohn.“ Ramuells geschäftiger Tonfall entspannte Kolja ein wenig. „Es hätte keinen Sinn, dir mehr Zeit einzuräumen.“ Prüfend zog er Koljas Lid hoch. Dann schüttelte er unglücklich den Kopf. „Du könntest sie nicht nutzen. Deine Lebenskraft schwindet. Aber ich werde Gründe nennen müssen.“ Er fuhr sich bedächtig über den Mund. „Sofia könnte krank werden, Schonung bedürfen.“
Ein amüsiertes Zucken umspielte seine schmalen Lippen. Seine Mutter war in ihrem Leben nie krank gewesen. Weder sie noch ein anderer der Familie. Würde der Ring nicht schnell den Weg zu ihm zurückfinden, wäre Kolja der erste Grigorjew, der das Schicksal gewöhnlicher Menschen teilen musste. Er hatte es bereits beim Reiten bemerkt, eine körperliche Schwäche war nicht zu leugnen.
„Oder du bist gezwungen, wichtige Termine im Ausland wahrzunehmen, die sich bedauerlicherweise nicht aufschieben lassen. London, vielleicht?“ Mit übertrieben fragendem Blick goss er sich nach.
Selbstverständlich nahm Ramuell an, sein Sohn würde sich selbst um diese Angelegenheit kümmern. Hätte Kolja gewusst, dass ihm zwei Wochen zugestanden würden, hätte er die Meister niemals beauftragt. Jetzt war es zu spät. Der Vertrag war unterschrieben und Ramuell durfte nichts davon erfahren. Kolja tupfte sein Gesicht trocken. Die Narben würden ihm erhalten bleiben.
„Nutze diesen Aufschub weise, mein Sohn. Denn er ist, was er ist, eine Galgenfrist.“
Zwei Wochen. Schon in drei Tagen wäre der Ring wieder in seinem Besitz, die Diebin irgendwo in England verscharrt und er ein armer Mann. Doch Geld konnte täglich verdient werden. Das eigene Leben nicht. Er würde nach London fliegen, den Ring in Empfang nehmen und alles wäre gut.
*
„Du bist zurück?“ Ives sah vom Computer hoch. Die Kartenwellen des Solitärspiels strömten über den Schirm. „Tut mir leid, ich bin eingeschlafen. Ruben hat mich erwischt und selbst übernommen.“
Daniel schickte eine SMS, dass Ruben nach Hause fahren sollte. Heute Nacht würde sie den Ring nicht verkaufen. Sie würde ins Bett gehen und schlafen bis zu dem Moment, wo er ihre Decke zurückschlagen würde.
„Was machst du für ein Gesicht? Quält dich was?“
„Ich bin erregt.“
Ives schaltete den Computer aus. „Echt? Wieso?“
„Lucy.“ Bis zur kalten Dusche waren es nur noch wenige Schritte.
„Sorokin? Was hat die denn so drauf?“ Wie ein Reporter trippelte er hinter ihm her.
„Bist du der Meister oder ich?“
„Scheiß auf den Meister-Mist. Was hat sie mit dir gemacht?“
„Wir haben uns geküsst.“
Die Enttäuschung gefror Ives Gesicht ein. „Mehr nicht? Und das hält so lange an?“
„Es war nicht geplant. Normalerweise habe ich es besser unter Kontrolle.“ Lucy sollte den Verstand verlieren und sich in seine Arme sehnen. Das würde Ziererei kurz vorm Abgabetermin vorbeugen. Stattdessen quälte er sich mit Sehnsüchten herum, die immer lauter nach Erfüllung schrien. Das musste ein Ende finden.
Mit kalter Gelassenheit griff Ives in Daniels Schritt. „Das fühlt sich nicht nach Kontrolle an, Meister.“
Daniel streckte sich auf dem kalten Steinboden aus. Am liebsten hätte er sich die Gefühle für Lucy aus der Seele geschnitten. Er musste einen kühlen Kopf behalten. Im Moment war nichts kühl, was auch nur ansatzweise mit ihm zu tun hatte.
„Woher willst du wissen, dass sie den Ring nicht verkauft?“ Ives begann, Kreise um ihn zu ziehen.
„Das wird sie nicht mehr können.“
„Wenn du dich irrst, lässt dich Maurice vierteilen.“
„Diese Zeiten sind vorbei.“
Ives stellte sich breitbeinig über ihn. „Das ist kein Spiel, Daniel Levant. Ich will, dass du dich mehr bemühst. Sie könnte längst tot sein. Stattdessen liegst du hier mit nem Ständer rum.“
Was für ein mutiger Bursche. Seinen Blick ertrug Ives nur für einen Moment, dann räusperte er sich und zog sich auf den Sessel zurück.
„Entschuldige. Ich vergaß, dass ich nur dein Diener bin.“ Die erste Fingerkuppe verschwand zwischen seinen Zähnen. „Außerdem kannst du in deiner Wohnung herumliegen, wie du willst.“
„Du kaust Nägel?“
Ives zuckte unglücklich die Schultern. „Es ist deine Schuld. Du machst mich nervös, wenn du mich ansiehst, als seist du einer der Apokalyptischen Reiter.“
„Das liegt daran, dass ich einer bin.“
Die Hand fiel auf den Schoß. „Du verarschst mich.“
„Durchaus nicht.“ Er war jeder Tod gewesen, den es auf dieser Welt geben konnte. Daniel rollte sich auf den Bauch und legte seine Wange auf die kalten Steinplatten. Er brauchte eine Lösung. Lucy war kein Ziel, das sich leicht eliminieren ließ. Lucy war sein Verhängnis. Wenn Ives ihn nicht mit seinem Gerede ablenkte, fielen Bedürfnisse über ihn her, die seiner Entschlossenheit im Weg standen. Lucy hatte seine Küsse getrunken und seine Gedanken verführt. Jeder Versuch, diese Tatsachen zu ignorieren, verstärkte sein Verlangen.
„Ich will diese Frau, Ives.“ Und er würde sie bekommen. Heute Nacht. „Und du fährst mich jetzt zu ihr.“
Ives pfiff lautlos durch die Zähne.
Sie erreichten die Baker Street viel zu schnell. Aus einem der Fenster kam Licht. Wenn sie noch wach wäre, würde er ihr keinen Atem lassen, um nach dem Grund seines Daseins zu fragen.
„Hör auf damit.“ Ives sah genervt zu ihm. „Es macht mich irre, wenn du ständig mit dem Knie wackelst. Vor allem in dieser rasenden Geschwindigkeit.“
„Warte auf mich. Egal, wie lange es dauert.“ Bevor Ives etwas erwidern konnte, war Daniel schon über die Straße gerannt. Die Vordertür besaß ein Sicherheitsschloss. Es zu knacken, würde zu lange dauern. Hätte er nur dieses elende Pick-Set nicht weggeschmissen.
Um die Ecke war ein Tor. Die Seitenstraße lag ausgestorben vor ihm, fast alle Fenster der angrenzenden Häuser waren dunkel. Er nahm Anlauf und setzte lautlos über das Blech. Für die Hintertür genügte der Nagel, der eine Wäscheleine an die Hauswand pinnte. Ein gutes Werkzeug, mit etwas Glück wäre Lucys Wohnungstür ähnlich leicht zu knacken. Sein Herz schlug schneller, als er den Knauf drehte. Warum zum Teufel hatte sie nicht abgeschlossen? Ein Killer stand vor ihrer Tür. Ein Windspiel schlug an. Daniel erstarrte. Das Klimpern wurde leiser, von Lucy war nichts zu hören.
Er musste gehen.
Er blieb.
Aus einem der Zimmer fiel Licht in den Flur. Lucy lag auf dem Sofa und schlief. Würde sie den Ring tragen, würde er seinen Job beenden.
Sie trug ihn nicht. Vor Erleichterung wurden seine Knie weich. Er deckte sie mit einer Patchworkdecke zu. Der Flickenstoff roch nach ihr. Für einen Moment drückte er seine Nase in die Falten. Was für eine Versuchung, unter die Decke zu schlüpfen, ihren Kopf auf seine Brust zu betten und bis zum Morgen friedlich zu schlafen, um sie beim Erwachen zärtlich zu lieben. Daniel zog die Konturen ihres Mundes nach. Ihre Lippen zuckten unter seiner Berührung.
Als er seine Hand zurückzog, nahm sie ihm diese Gewalteinwirkung auf ihren Willen übel. Alles an dieser Frau schien aus Seide zu sein. Ihre Haare, ihrer Haut, ihre Lippen. Sie fühlte sich in seinen Armen wohl. Er hatte es gespürt. Sie vertraute ihm. Es war so, wie es sein sollte.
Er musste den Ring finden.
„Ich mache dir deinen Tod zum schönsten Erlebnis deines Lebens. Ich verspreche es dir.“ In seiner Brust wehrte sich sein Herz gegen das Eis, mit dem er es überzog. Sie war das Ziel. Er war ihr Tod. Keine Kompromisse. Kein Versagen. Wenn er den Ring nicht fand, würde sie die Nacht überleben. Flüchtig sah er sich im Zimmer um. Hier schien er nicht zu sein.
Dunkle Möbel, keine Pflanzen, kaum Bücher, darunter eine zerfledderte Ausgabe von Peter Pan und Baudelaires Blumen des Bösen. Wo Bücher waren, war kein Ring. Es lohnte nicht, hinter den Bänden nachzuschauen.
Ein aufgeklappter Laptop, leere Kaffeetassen daneben. Daniel ließ ihn hochfahren und schaltete auf stumm. Der letzte Chronikhinweis war die Prawda. Sie hatten Wolkows Leiche gefunden. Von ihm hatte Grigorjew seine Informationen über Lucy. Wenn er dieser Igor gewesen wäre, hätte er lieber seine eigene Zunge abgebissen und verschluckt, bevor er Lucy verraten hätte.
Daniel suchte weiter. Viele Schubladen klemmten, manche Türen quietschten. Er öffnete sie nur einen Spalt. Kein Ring. Eine Holzkiste mit Modeschmuck, ein Etui mit zartgliedrigen Ketten und breiten Armbändern. Hier war er auch nicht.
Ein Schlafzimmer mit vielen Kissen, Decken und einem Teddy, dem ein Arm fehlte. Er lag in der Zimmerecke. Sein Pelz war abgegriffen und sein mit Stroh ausgestopfter Bauch zeigte Mottenlöcher. Ein Kerzenleuchter ohne Kerzen. Auf dem Boden verteilten sich die angebrannten Stummel.
Die Küche war schlicht. Würde sie diesen Ring zwischen Töpfen und Kekspackungen verstecken? Nein. Warum suchen?
Daniel ging zurück ins Schlafzimmer. Ihr Kleiderschrank quoll über. Zarte Stoffe. Fließend, edel, eng anliegend, dünne Träger. Sie zeigte gern Haut. In den Fächern lagen Jeans in allen Farben. Shirts, Pullis, Seidenunterwäsche, kein Ring. Ihr Körper würde sich wundervoll unter diesem Hauch von Nichts anfühlen.
Das Sofa knarrte. Daniel schlich zum Wohnzimmer. Lucy hatte sich ausgestreckt, ihre Arme lagen über ihrem Kopf, die Decke war zur Seite gerutscht. Daniel kniete sich zu ihr und fühlte ihren schlafwarmen Bauch. Unter seinen Fingerspitzen bildete sich eine Gänsehaut. Daniel wickelte die Decke fester um sie.
„Flieh vor mir, Lucy. Noch ist es nicht zu spät.“ Er log. Das war es längst. Daniel streichelte über ihren Hals. Lucy seufzte und schmiegte ihn in seine Hände. Seine Daumen warteten an ihrer Kehle. Sie wussten, was zu tun war. Lucy drehte sich näher zu ihm. Ihr Atem streifte sein Gesicht. Noch näher. Traumwandelnd suchte sie die Nähe ihres Mörders. Legte sich an seine Brust, verbarg ihr Gesicht in seiner Jacke. Er streichelte über ihre Haare, ihren Nacken. „Willst du nicht aufwachen?“
Sie lächelte im Schlaf. Daniel rutschte näher an das Sofa. Etwas bohrte sich in sein Knie.
Der Ring. Er lag vor ihm auf dem Boden. Es gab kein Hinhalten mehr, keine Ausrede. Daniels Hände begannen zu zittern. Musste ihm jetzt einfallen, wie dankbar sie seine Küsse genommen hatte?
„Wach auf. So kann ich das nicht.“ Ihr stand eine Nacht mit ihm zu. Er würde sie ihr schenken. Er legte ihr den Kopf zurecht, küsste ihre Lippen. Sie waren weich, warm, schmiegten sich an seine, lockten einen weiteren Kuss. In seine Hände kam die Kraft zurück.
*
Koljas Wangen brannten höllisch. Er war kurz davor, Konstantins Hand wegzuschlagen, die die Wunden mit Jod betupften.
„Vater hat dir das Fleisch bis auf die Knochen zerschnitten.“ Konstantin zuckte bei jedem Schmerzenslaut von Kolja zusammen. „Hättest du den Ring, würden die Wunden sofort verheilen.“
„Hätte ich den Ring, hätte mir Vater das hier niemals angetan.“
Und wenn er den Ring nicht fand, würde er zusammensinken und vor den Augen seiner Familie verrotten.
„Rebekka!“ Konstantin sah erleichtert zu ihrem alten Kindermädchen. Sie würde Kolja wieder zusammenflicken.
„Darf ich?“ Mit kritischem Blick musterte sie sein Gesicht. „Es wird wehtun.“
„Das tut es schon jetzt. Fang endlich an.“
Musste sein Bruder ihr dieses entschuldigende Lächeln schenken? Er war zu weich, war es immer gewesen. Der Schmerz brannte sich tiefer in Koljas Gesicht. Er würde die Diebin finden, und dann sollte sie jede Sekunde ihres verschwendeten Lebens bereuen.
„Meine Söhne, in trautem Mitgefühl vereint.“
Kolja zuckte zusammen, als die Stimme seines Vaters den Raum durchschnitt. Wollte er sich an seinem Schmerz weiden?
„Du suchst diese Frau?“
Er nickte und Rebekka sah ihn streng an. „Halt still, Junge.“
Ramuells Lächeln war sirupsüß, als er der alten Frau den Kopf tätschelte. „Sie meint es gut, mein Sohn. Sie hat es stets gut mit dir und Konstantin gemeint.“
Die Hand der Alten zitterte an Koljas Wange. Er versuchte, einen Blick auf seinen Vater zu werfen, doch der trat hinter ihn. Plötzlich lag eine Spannung in der Luft, die durch Koljas Herz zog.
„Du solltest diese Diebin wissen lassen, was ihr blüht.“
Blut tropfte auf Koljas Arm. Es war nicht seins. Rebekka keuchte voll Entsetzen hinter ihm auf.
„Verzeih, Rebekka. Deine Dienste waren hilfreich, doch nun sind meine Söhne groß und bedürfen deiner nicht mehr.“ Ramuell hielt ihr durchschnittenes Handgelenk über einen Holzkelch.
Konstantin wich zurück, leichenblass im Gesicht. Ramuell stützte die Frau, die vor seinen Augen ausblutete. Als der Kelch voll war, ließ er sie los. Sie stürzte in sich zusammen, das restliche Blut versickerte im Teppich.
„Der Kreis ist ein Ritual höchster Wirkkraft. Ich habe ihn lange nicht mehr gezogen. Welche Freude, es mit meinen Kindern zu tun.“ Sein Plauderton stach in Koljas Magen. „Die Diebin hat Grauen verdient. Wir lassen es ihr in üppigem Maße zukommen.“ Das Lachen klang nach gesprungenem Eis. „Die Macht, die ich locke, ist willig. Sie war Zeuge dunkler Taten.“ Er drehte sich gegen den Uhrzeigersinn und seine Hände schienen den Raum um sich her nach etwas abzutasten. „Sie hat Blut geleckt und will mehr.“
Unter sein Lachen mischte sich ein anderer Ton. Fremd und heiser. Er konnte niemals aus einer menschlichen Kehle stammen.
„Hört ihr sie?“ Verzückt sah er seine Söhne an. „Alte Diener sind treue Diener. Konstantin, wir brauchen deine Hilfe. Es sind stets drei, die Gedanken schicken, um den Tod zu verkünden.“ Mit höflicher Geste bat er ihn zu sich, während Rebekka ihr letztes Röcheln ausstieß. Ramuell führte seine Söhne in die Mitte des Raumes. Konstantin zitterte am ganzen Körper.
„Vater, ich will das nicht tun.“ Sein schreckensweiter Blick wurde von Ramuell mit nachsichtigem Lächeln quittiert.
„Doch. Glaub mir.“
„Wenn Mutter das wüsste.“
Amüsiert sah Ramuell seinen jüngsten Sohn an. Dann blitzte es diabolisch in den Tiefen seines Blickes. „Sofia hat dieses Ritual vorgeschlagen, Konstantin. Deine Mutter ist eine ausgesprochen weise Frau. Überschätze ihr Mitgefühl gegenüber der schlichten Kreatur nicht. Es ist nicht existent.“
Kolja reichte Konstantin die Hand, während ihr Vater langsam den Kreis abschritt. Gleichmäßig goss er Rebekkas Blut in ein Rund, beschwor es mit rauen Lauten, die sich erst außerhalb seiner Lippen zu Worten formten. Kolja verstand sie nicht, doch sie weckten etwas in ihm, das gierig war, grausam und böse. Es streckte sich in ihm aus, wuchs mit jeder Silbe. Die dunkle Kraft sickerte durch den Boden in seine Fußsohlen, kroch empor, wand sich durch seine Venen und vergiftete sein Blut.
Der Kreis war vollendet. Ramuell kniete sich in die Mitte, vergoss den letzten Tropfen. „Ihr Name.“
Kolja schluckte die Enge in seiner Kehle weg. „Lucinde Sorokin.“
Mit dem linken Zeigefinger strich Ramuell die roten Schlieren zu einem Namenszug aus. Sorokin.
*