War das London?
Der Nebel hing dick in der schmalen Gasse. Es roch nach fauligem Gemüse und Regen. Die Gaslaternen warfen zu wenig Licht, das streifig durch die Nebelschwaden schnitt. Lucy konnte kaum etwas erkennen. Die Gasse hinunter lief eine Frau. Ihr Rock reichte bis zum Boden und ein seltsamer Hut thronte auf ihrem Kopf. Sie schwankte, musste sich hin und wieder an der Backsteinmauer abstützen. Was war das für ein seltsamer Ort? Es war Nacht, die Häuser alt, alle Fenster dunkel. Wieso war es so dreckig? Unrat klebte zwischen den hochragenden Pflastersteinen.
Lucy ging der Frau hinterher. Kein anderer war in der Nähe. Die Frau blieb stehen, rückte ihren Hut zurecht und lachte schrill. Aus einem Hauseingang trat ein Mann. Seine flache Mütze hing ihm schief auf dem Kopf.
„Schicker Hut, Polly.“
Schwerfällig drehte sich die Frau nach ihm um und kicherte albern. „Gefällt er dir? Der ist brandneu.“
„Im Gegensatz zu dir.“ Auf sein gehässiges Lachen zeigte sie ihm die Feigenhand. Der Mann lachte noch lauter. „Na dann, viel Erfolg heute Nacht.“ Er schob seine Mütze in den Nacken und ging davon.
Die Frau ordnete ihre Kleider. Schob ihre Brüste unter dem Mieder zurecht und zwickte sich in die Wangen. „Heute Nacht bist du schön, Mary Anne Nichols. Die paar Jahre zu viel sieht dir keiner der Halunken an.“
Plötzlich rührte sich etwas in der Dunkelheit hinter ihr. Schatten krochen über die Häuserwände, wanden sich die Gasse entlang auf Lucy und die Frau zu. Wie flüssiges Pech tropften sie aus Mauerritzen, aus Fensternischen und Türspalten. Die Finsternis brachte Kälte mit. Lucys Atem gefror. Sie bibberte, schlang die Arme um sich, doch es half nichts. Die Kälte suchte sich einen Weg durch ihre Kleidung bis in ihr Herz. Lucy traute sich nicht mehr, zu atmen. Die Schatten verdichteten sich, wölbten sich zu Gestalten, die näher und näher kamen.
*
Lucy wimmerte. Daniel ließ sie los. Er hatte ihr nichts getan, doch sie verzog das Gesicht und stöhnte angstvoll. Plötzlich fuhr sie hoch und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Zimmerecke.
„Lucy?“
Sie nahm ihn nicht wahr. Er fasste sie an den Schultern und schüttelte sie. „Lucy. Wach auf.“
Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei.
„Lucy, sieh mich an!“
Sie reagierte nicht, starrte weiter in die Ecke. Er setzte sich zu ihr, zog sie in seinen Arm. Es war gleichgültig, wenn sie wach wurde und ihn für einen Einbrecher hielt. Nur diese Angst durfte sie nicht mehr erdulden müssen. Lucy keuchte, schlug die Arme vor die Augen und zitterte am ganzen Körper. Ihre Hände waren eiskalt. Ihre Wangen, ihre Arme, wie in Eiswasser getaucht. „Lucy!“ Er rüttelte sie fester. Sie hörte nicht auf, zu zittern. Im Zimmer war es warm. Sie hatte unter einer Decke gelegen. Warum war sie eiskalt? Er rieb über ihren Rücken, hauchte in ihre Hände. Lucys Finger waren dünn und blau vor Kälte. Ihr Blick wurde leer, ihr Atem ging flach und das Wimmern wurde leiser. Es klang verzweifelt, hoffnungslos. Ihr Körper verlor jegliche Farbe, wurde immer kälter.
„Lucy!“ Warum nahm sie seine Wärme nicht an? Er hob sie hoch, eilte ins Bad. Vorsichtig legte er sie in die Wanne und ließ warmes Wasser über sie fließen.
Ein Schauder ging durch sie hindurch. Für einen Moment klammerte sie sich an den Rand und schnappte nach Luft. Ganz langsam entspannte sie sich. Daniel drehte das Wasser heißer. Endlich sah sie ihn an, aber auf eine Weise, als würde sie durch ihn hindurchsehen.
„Sie kommen zu mir.“
„Wer?“
„Die Schatten.“
*
Lucy schrie. Die Frau hörte sie nicht.
„Dreh dich um!“
Sie blieb nicht mal stehen. Der Schattenmann wuchs in ihrem Rücken zu etwas Mächtigem, Bedrohlichem. Die schwarzen Schlieren wehten wie Haare um seinen Kopf, als er die Arme nach der Frau ausstreckte. Sie erstarrte, schaute über ihre Schulter. Als sie sah, was sie verfolgte, wurden ihre Augen weit vor Schreck. Sie taumelte zurück, stolperte. Kein Schrei kam über ihre Lippen, als sie wahnsinnig vor Angst an einem Tor zerrte. Es ging nicht auf. Die Frau trat dagegen. Lucy hörte ihr Keuchen. Das Schattenwesen verschluckte das matte Licht der Laternen, den roten Schein am Himmel, das fahle Glimmen der wenigen Sterne. Die Kälte erreichte Lucys Herz. Fraß sich hinein, umschlang es, bis sie nicht mehr atmen konnte. Sie wollte rennen. Sie konnte sich noch nicht einmal bewegen.
Die Finsternis stülpte sich über die Frau. Sie würde sie töten. Grausam, bestialisch. Sie konnte nichts tun. Musste zusehen. Konnte nicht fliehen, nicht helfen. Pechschwarze Rinnsale sickerten von der Leiche weg. Sie lag reglos da. Wunden klafften, der starre Blick war nach oben gerichtet.
Wohin wollten die Schatten? Sie waberten auf sie zu. Lucy drängte sich fester an die Hauswand. Sie hatte kein Gefühl mehr im Körper. Er war wie aus Eis. Die schwarzen Wogen türmten sich auf. Sie würde verschlungen werden wie diese Frau. Lucy schrie. Es blieb still. Sie hatte keine Stimme mehr, nur noch Angst.
*
Daniel zerrte ihre nassen Sachen vom Körper. Lucy wehrte sich nicht. Ihr Blick huschte panisch hin und her, als würde sie furchtbare Dinge sehen.
„Schatten!“ Sie klammerte sich an seinen Arm, ihr Blick ging an ihm vorbei. „Sie haben die Frau getötet. Sie kommen zu mir.“
„Welche Schatten?“
„Es ist so kalt.“
„Lucy, welche Schatten?“
„Die!“ Ihr Arm schoss aus dem Wasser, ihr Zeigefinger durchbohrte die Wasserdampfschwaden. Sie schrie wie am Spieß.
„Lucy!“
Sie hörte nicht auf, schrie lauter, dann röchelte sie und rutschte schlaff aus seinem Arm. Das Wasser überspülte sie, nahm Lucy vollständig auf. Er brauchte nur zu gehen, das Cleaner-Team zu rufen und zu sagen, dass sie die Leiche bergen sollten. Lucy lag ganz ruhig. Nur ihre Haare tanzten im Wasser um ihre blassen Wangen.
Der Schreck fuhr ihm wie ein Dolchstoß ins Herz.
„Lucy!“ Er riss sie hoch und schlug ihr ins Gesicht. Mochte seine Hand dafür abfaulen. Sie durfte nicht sterben. „Ich bin dein Tod! Ich entscheide, wie du dieses Leben verlässt!“ Er hob sie aus dem Wasser und wickelte alle Handtücher um sie, die er zu greifen bekam. Auf den Boden gekauert wiegte er sie in seinen Armen. Da war ein Pulsschlag. Schwach, aber er war da. Sie lebte. Er strich ihr die nassen Haare aus dem Gesicht, küsste ihre Stirn, ihre Lider. Sie durfte nicht sterben. Nicht auf diese Weise. Ihre Lippen waren kalt. Er umschloss sie mit seinen. Langsam wurden sie warm, reagierten auf sein Drängen. „Lucy.“
*
„Lucy!“
Die eiligen Schritte hallten von den Mauern wider. Lucy war starr vor Angst.
„Lucy, komm zurück!“
Sie kannte die Stimme. Sie wärmte sie, klang voll Sorge und weich vor Liebe. Der Schatten verharrte. Er durfte dieser Stimme nichts tun.
Es kostete sie Überwindung, den Blick von der Schwärze vor ihr abzuwenden und sich nach dem Mann umzudrehen, der sie rief. Daniel rannte durch die Gasse. Direkt auf sie zu. Er streckte seine Hand nach ihr aus. Wenn Lucy sie zu fassen bekäme, wäre sie gerettet.
„Es ist nur ein Traum, Lucy.“
Er kniete sich vor sie und streichelte über ihr Gesicht. Wo seine Hände ihre Haut berührten, kam Wärme und Gefühl zurück.
„Nur ein Traum. Hab keine Angst.“
Seine Sorge um sie floss von seinen Lippen in ihren Mund bis in ihr Inneres. Wärme breitete sich aus und taute ihr Herz auf. Sie fühlte sein Schlagen und konnte wieder atmen.
Warum war sie im Badezimmer? Wo war die schmutzige Gasse, der Schatten, die tote Frau?
„Ganz ruhig.“ Daniel hielt sie fest umschlungen. „Ich bin bei dir.“
Sie schmiegte sich an ihn. Sein Pullover war nass. Als sie zurückzuckte, zog er ihn aus. Es war schön, an seiner Brust zu ruhen. Er roch gut, fühlte sich gut an, war warm. Daniel hob sie hoch und trug sie ins Schlafzimmer.
„Warum bist du hier?“ Sie wollte sein Gesicht berühren, aber ihre Arme steckten in Frotteeschichten fest.
„Das bin ich nicht. Du träumst immer noch.“
„Wirklich?“
„Wirklich.“ Er legte sich zu ihr, bettete sie in seinen Arm und zog sie dicht an sich. „Was war los? Wovor hattest du Angst?“
„Nur ein Traum. Dunkel und böse. Jetzt ist er wieder gut. Es ist schön, von dir zu träumen, Daniel.“
Er streichelte ihren Nacken. Es fühlte sich an wie die Wirklichkeit. „Du bist der beste Traum, den ich je hatte. Schläfst du mit mir?“ Dann würde sie die Angst vergessen können, bevor sie sich zu tief in sie eingrub.
Warum lachte er? Es war nur leise, klang zärtlich, aber er sollte nicht lachen.
„Nicht heute Nacht. Wenn wir uns lieben, musst du wach sein.“ Sein Gesicht strich über ihres. Sein Kinn war kratzig.
„Dann küss mich wenigstens.“ Irgendwo in dieser Rauheit mussten seine Lippen sein. „Küss mir alles in den Mund, was du empfindest.“ In der Realität hatte es Daniel getan. Das hier war ihr Traum. Warum sollte er sich verweigern?
„Bist du sicher?“
Warum machte er sich Sorgen? Sie würde erwachen und nichts von dem hier wäre geschehen. Zuerst küsste er sie sanft und vorsichtig, dann wurden seine Küsse drängender, so, wie Lucy sie wollte. Sie schmeckten nach Angst, Lust und nach etwas unglaublich Intensivem, das sie nicht zuordnen konnte. Ein wunderbarer Traum. Ein ganz und gar fantastischer Traum. Lucy wollte ihm ins Haar greifen, ihn umarmen aber sie konnte sich nicht befreien. Als er fühlte, wie sie in seinen Armen zappelte, hielt er sie noch fester umschlungen.
„Du musst nicht geben, Lucy. Nur nehmen.“
„Dann gib mir mehr.“
Daniel zögerte nur einen Moment, dann fühlte sie seine Schwere auf sich. Er ließ sie kaum zu Atem kommen. Er küsste ihr den Schrecken der Traumbilder von den Lippen und eine nicht zu ertragende Erregung in ihren Körper. Ihre Beine schlugen aus. Daniel umschlang sie mit seinen. Sie hielt es nicht aus. Es war zu viel. Sie konnte sich nicht bewegen und er flutete sie mit immer mehr. Wieder legte er ihr den Kopf zurecht. Sie konnte nicht abwarten, bis seine Zunge ihren Mund nahm, sie versuchte, sich aufzurichten, er empfing sie mit dem tiefsten Kuss ihres Lebens. Zu viel Lust. Lucy hörte ihren eigenen Schrei. Daniel erstickte ihn mit seinen Lippen. Ihr Atem versiegte. In ihrem Kopf drehte sich alles. Es war so gut. So gut, dass sie Angst bekam.
*