4. Antonius Ackermann und Fräulein Steinbrede

Ich versuche, nicht mehr an Mathilda zu denken. Ich meide die Promenade und den Weg vorbei am geheimen Briefkasten. Mein Schulweg führt jetzt durch die Stadt. Ich fahre mit dem Rad über die Telgter Straße, den Prinzipalmarkt und die Ludgeristraße zur Schützenstraße. Manchmal gehe ich auch zu Fuß und lasse mir Zeit. An einigen Ecken der Stadt werden immer noch Trümmer geräumt. Das erledigen Arbeiter aus Holland, die morgens mit dem Zug kommen und abends wieder zurückfahren. Oder französische und russische Kriegsgefangene, die unter Bewachung arbeiten und in Lagern vor der Stadt untergebracht sind.

Auf den Straßen ist nicht viel Verkehr. Die Straßenbahn fährt, und Pferdefuhrwerke sind unterwegs. Droschken und private Autos sind selten. Mir fällt auf, dass fast nur Frauen unterwegs sind. Aber das ist der Krieg. Im Capitol auf der Ludgeristraße läuft der Film Auf Wiedersehen, Franziska. Mir gefällt die Vorstellung, mit Werner in einen Liebesfilm zu gehen, in den roten, tiefen Plüschsesseln zu versinken, die Hand auf die Holzlehne zu legen und darauf zu warten, dass Werners Hand sich wie zufällig auf meine verirrt …

 

Ende August ist in der Schule einiges los. Endlich ziehen wir in den fast fertigen Erweiterungsbau, denn unser altes Schulgebäude an der Grünen Gasse ist schon lange viel zu klein. Der Neubau ist ein langgestrecktes Gebäude parallel zur Schützenstraße. Die Fassade ist sehr schlicht und längst nicht so schön wie der barocke Altbau mit der Inschrift Katholische höhere Mädchenschule über dem Hauptportal. Von den Flurfenstern im Obergeschoss kann man über den Aasee blicken.

Die neuen Räume sind groß, hell und freundlich. Es riecht noch nach Wandfarbe und frischem Bohnerwachs. Es gibt keine starren Doppelbänke mit Tintenfässern und Griffelkästen in den Pulten mehr, sondern Tische mit Drehstühlen. Das ist schon etwas Neues.

Den Umzug erledigen natürlich wir Schülerinnen. Da wird eingepackt, geschleppt und ausgepackt. Das Schulkreuz hängt jetzt an der Seitenwand des Klassenzimmers. Der Platz neben der Tafel gehört einem Bild des Führers.

Schon zwei Mal haben wir bei Fliegeralarmen in den neuen Luftschutzräumen im Keller der Schule gesessen. Die Flugzeuge kommen jetzt auch tagsüber. Es sind meistens wenige Maschinen. Unsere Lehrer sagen, dass das Aufklärer sind und wir auf schwere Angriffe gefasst sein müssen. Meine Angst ist immer die gleiche, egal wie viele Bomber am Himmel dröhnen oder in welchem Keller ich sitze und auf die Entwarnung warte.

Nach den Sommerferien sind einige Lehrer nicht an die Schule zurückgekehrt. Sie sind zur Wehrmacht eingezogen worden. Auch unser Geschichtslehrer Herr Wessels ist im Krieg.

»Ich vertrete Herrn Wessels«, sagt der weißhaarige alte Mann, der eines Tages in die Klasse kommt. Er schreibt A. Ackermann an die Tafel und sagt: »Das ist mein Name. Ackermann, Antonius Ackermann. Ich bin ab heute euer Geschichtslehrer.« Ich mag ihn sofort, seine sanfte Stimme und seinen Namen. Er ist schon pensioniert, 70 Jahre alt, und er ist gebeten worden, den Unterricht zu übernehmen. »Und darüber habe ich mich sehr gefreut. Wisst ihr, ich habe fast mein ganzes Leben in der Schule verbracht, als Schüler und als Lehrer, und für mich gibt es nichts Schöneres.«

Ein Stöhnen geht durch die Klasse. Ein »O Gott!« ist zu hören, und jemand sagt: »Das hätte mir gerade noch gefehlt.«

Herr Ackermann beendet diesen kleinen, lebhaften Tumult, indem er beschwichtigend die Hände hebt und sagt: »Aber meine Damen, ich bitte doch.« Herr Ackermann hat etwas liebenswert Altmodisches, als käme er aus einer anderen Zeit.

Er sagt: »Wie ich sehe, ist eure nationalsozialistische Haltung einwandfrei. Ihr tragt eure BDM-Uniform auch im Unterricht, und unser Führer hängt an einem Ehrenplatz an der Wand.«

Herr Ackermann steht von seinem Stuhl am Lehrerpult auf, verschränkt seine Arme auf dem Rücken und beginnt, in der Klasse herumzulaufen. Sein Rücken ist leicht gebeugt und sein Gang leicht schlurfend. Seine Schuhsohlen quietschen bei jedem Schritt auf dem frisch gebohnerten Fußboden. Er bleibt unter dem Bild des Führers stehen.

»Die Geschichte des Nationalsozialismus und das Leben des Führers sind euch bekannt.« Herr Ackermann geht zu seinem Pult zurück. Sein Blick schweift über unsere Köpfe. »Die Begriffe ›Volksgemeinschaft‹, ›Rassenkunde‹ und ›Führerprinzip‹ sind euch in Fleisch und Blut übergegangen.«

Er nimmt nun den Mittelgang zwischen den Tischreihen. Alle Augen folgen ihm. An der Wand bleibt er stehen.

»Nun, da habe ich mir gedacht, wir gehen in der Zeit mal etwas zurück. Und zwar bis ins 18. Jahrhundert, wir beschäftigen uns mit der Epoche der Aufklärung.« Er macht eine kurze Pause und hebt bedeutungsvoll die Stimme. »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Dieser Satz stammt von einem berühmten Deutschen. Immanuel Kant, 1724 in Königsberg geboren, 1804 dort gestorben.« Herr Ackermann schreitet durch die Klasse zurück zum Pult. Es sieht so aus, als mache er einen Spaziergang. Er schlendert, schaut sich um und bleibt unter dem Bild des Führers stehen. »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.« Er wippt leicht auf den Fußspitzen.

Es sieht aus, als würde er jede Einzelne in der Klasse bei diesen Worten ansehen. »In der Epoche der Aufklärung geht es um die Vernunft. Kant sagt: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Damit wollen wir uns in den nächsten Stunden beschäftigen. Mit der Aufklärung, dem Denken und der Vernunft.«

»Ich weiß nicht, das hört sich alles ziemlich seltsam an«, unterbricht ihn Franziska. »Irgendwie jüdisch.«

»Also, Kant war kein Jude. Und immerhin hat der Führer Kant gelesen. Zumindest wird das gesagt.«

»Nein, Herr Ackermann. Ich meine ja nicht diesen Kant. Ich meine diese ganze Philosophie. Das ist doch verlorene Zeit, weil so ein Gequatsche unnütz ist. Wir wissen doch, was wir wollen. Und wenn nicht, dann sagt es uns unser Führer.«

Einige nicken zustimmend.

»Unnützes Gequatsche? So? Und was hältst du von dem Satz: Handle stets so, dass das Gesetz deines Handelns zugleich auch allgemeines Gesetz werden könnte?«

»Ist das auch von diesem … Kant?«

»Ja. Das ist der kategorische Imperativ.«

»Imperativ. Kategorisch.« Franziska spuckt die Worte förmlich aus. »Ich verstehe davon nichts. Und mir reicht es zu wissen, dass der Führer mit meinem Handeln einverstanden ist und es billigt. Der Wille des Führers bestimmt mein Handeln.«

Sie sieht Herrn Ackermann herausfordernd an. Bei der Steinbrede hat im Unterricht nie einer eine andere Meinung. Da sitzt der Rohrstock viel zu locker.

Herr Ackermann bleibt erstaunlich gelassen. »Das wird ja richtig spannend mit euch. Ihr könnt und ihr sollt ja auch an den Führer glauben. Aber kein Mensch darf das eigenständige Denken dabei vergessen. Und wir Deutschen sind doch wahrhaftig nicht denkfaul.«

Franziska schweigt. Mit Ackermanns Beharrlichkeit und Ruhe scheint sie nicht gerechnet zu haben. Ich sehe, dass sie unter der Bank die Fäuste ballt. Wie ich Franziska kenne, wird da sicher noch was kommen. So leicht lässt die sich nicht unterkriegen.

Er fährt mit dem Unterricht fort, breitet vor uns historische Fakten, philosophische Annahmen, ganze Ideen- und Weltbilder aus. Wir wandern durch die Weltgeschichte. Die meisten hören ihm aufmerksam zu. Nur Franziska rollt zwischendurch immer wieder mit den Augen, runzelt die Stirn und schaut, nach Zustimmung und Unterstützung suchend, zu mir herüber. Ich weiche ihrem Blick aus, denn ich finde den Unterricht großartig. Und obwohl alle Philosophen, von denen er spricht, tot sind, ist sein Unterricht doch um einiges lebendiger als etwa bei Herrn Wessels. 333 – bei Issos Keilerei oder 375 – das Volk macht sich auf die Strümpf ist auch nur einmal lustig.

Bei Herrn Ackermann werde ich nachdenklich. Der ist gut gelaunt und sagt: »Da ihr denkende Menschen seid und bleiben sollt, bin ich sogar verpflichtet, euch von der Geschichte der Menschen und ihres Denkens zu erzählen. Der Führer will keine Dummköpfe.« Natürlich will der Führer keine Dummköpfe, und wenn ich ein Dummkopf wäre, wäre ich jetzt sicher noch nicht Schaftführerin.

Franziska meldet sich wieder. Sie gibt einfach nicht auf. »Also, Herr Ackermann, was der Führer will, ist wohl klar. Vor zwei Jahren begann der Krieg. Unsere Soldaten kämpfen gegen den Bolschewismus* und wir in der Heimat gegen die Juden. Ich finde, davon sollte der Geschichtsunterricht handeln.«

»Nun, ich finde, dass der Krieg unser Leben schon genug bestimmt.« In Herrn Ackermanns Stimme mischt sich nun doch etwas Ungeduld und Ärger.

Für den Rest der Stunde grinst Franziska vor sich hin. Sie hat es mal wieder geschafft, jemanden auf ihre Art herauszufordern.

Nach dem Unterricht kann sie es nicht lassen, mir zu zeigen, dass sie unzufrieden mit mir ist.

»Etwas mehr Unterstützung hätte ich von meiner Schaftführerin schon erwartet. Merkst du nicht, was der vorhat?«, so mault sie herum.

»Lass ihn doch«, sage ich, »der ist harmlos, etwas schrullig vielleicht. Und sein Unterricht ist spaßig, findest du nicht?«

Franziska tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Spaßig? Bei dir piept’s wohl. Ich werde mal meinen Vater fragen, was der von solchen Späßen hält. Spaßig!«

»Mein Vater spricht oft von uns Deutschen als dem Volk der Dichter und Denker. Aber er sagt auch, dass das Dichten und Denken keinen Arbeitslosen von der Straße geholt und keinem Hungernden geholfen hat. Das haben wir nur der Tatkraft und dem Genie des Führers zu verdanken. Denke nur an Marias Vater. Der hat Arbeit gefunden. Die sind jetzt eine richtige deutsche Familie.«

»Genau«, sagt Franziska, »dein Vater ist eben kein Schwätzer, sondern ein aufrechter Volksgenosse.«

Ich lenke ab. »Auf Wiedersehen, Franziska, hast du den schon gesehen?«

»Was? Ach so, du meinst den Film im Capitol. Der ist wirklich toll. Eine Frau zwischen zwei Männern, und am Ende entscheidet sie sich für das Richtige.«

»Oder den Richtigen?«, sage ich und grinse. »Aber verrate mir nicht alles. Vielleicht kann ich Werner überreden.«

»So, so. Du und Werner Reuter. Na ja, ein hübsches Paar seid ihr.« Sie sieht mich mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck an.

»Ach, lass mal. So weit sind wir noch lange nicht.«

Wir albern noch eine Weile herum, und Herr Ackermann ist vergessen. Und Mathilda auch. Fast.

 

Am nächsten Morgen ist meine Tischnachbarin Anna wieder da. Ihr Vater ist in Russland gefallen, und sie hat eine Woche gefehlt. Alle versuchen, sie zu trösten und ihr ein aufmunterndes Wort zu sagen. Aber eigentlich sind wir hilflos.

Anna sitzt schluchzend da und erzählt von dem Tag, als die Männer kamen und der Mutter und ihren drei Geschwistern die traurige Nachricht brachten. Ihre Mutter hat immer wieder gerufen, sie wolle ihren Mann zurück, und immer wieder nach dem Warum gefragt. Die Männer waren sachlich und haben Ausdrücke wie »für Führer, Volk und Vaterland« und »Heldentod« und »Tapferkeit« gebraucht.

»Ich pfeif auf den Helden. Ich will meinen Mann zurück«, hat Annas Mutter geschrien. »Ich pfeif auch auf den Führer.«

Anna erzählt, dass die Männer sich danach ganz schnell zurückziehen wollten. Sie meinten in einem strengen Ton, sie solle aufpassen, was sie sage. Sie könnten zwar ihre Traurigkeit verstehen, aber sie duldeten keine Beleidigungen des Führers. Wegen der Formalitäten möge sie im Amt vorsprechen. Der Führer kümmert sich um alle, sagten sie, und dass der Sold weitergezahlt werde und Krankenkosten für sie und ihre Töchter ab sofort übernommen würden. »In den nächsten drei Monaten jedenfalls und dann sehen wir weiter. Kopf hoch und herzliches Beileid, gute Frau. Heil Hitler.«

»Mein Vater war kein Held«, heult Anna. »Der hatte Angst. Mein Vater wollte nur nach Hause.«

Ich nehme Anna in den Arm und versuche sie zu trösten. Die anderen aus der Klasse bilden einen Kreis und stehen ratlos, traurig und sogar weinend um uns herum.

Franziska drängt sich dazwischen und sagt: »Die Männer haben recht, Anna. Dein Vater ist heldenhaft gestorben, und du beschmutzt sein Andenken und erzählst was von Angst. Ich an deiner Stelle wäre stolz auf meinen Vater! Er ist ein Vorbild für mich und für uns alle!« Seit Franziska weiß, dass sie im Januar nach Berlin in die Nähe des Führers zieht, ist sie einfach nicht mehr zu bremsen.

Ich schaue Franziska böse an. Jetzt geht sie wirklich zu weit. »Mensch, Franziska. Halt doch mal deinen Mund.«

 

Bei Fräulein Steinbrede in Biologie nehmen wir im Prüfungsfach Rassenkunde die Mendel’schen Gesetze und das Gesetz von der Auslese in seiner Bedeutung für die Erhaltung der Arten und Rassen durch.

»Ihr müsst die Mendel’schen Gesetze verstehen«, erklärt die Steinbrede, »um die Vererbung beim Menschen zu begreifen. Diese Gesetze sind wichtig für das Verständnis von Reinrassigkeit.«

Sie hält ein Plakat hoch. Auf der linken Seite dieses Bildes ist in einer grünen Landschaft ein großes weißes Gebäude zu sehen, dem auf der rechten eine beschauliche Siedlung mit mehreren hübschen, kleinen Häusern gegenübersteht. Darunter steht links: Erziehungsheim mit 130 Schwachsinnigen, Ausgaben jährlich rund 104000 Reichsmark, und rechts: Dafür könnte man 17 Eigenheime für erbgesunde Arbeiterfamilien erstellen.

Bereits vor den Sommerferien erhielten wir den Auftrag, Erbsen in Töpfen zu Hause auf der Fensterbank zu züchten. Während der Ferienzeit sollten die Erbsen tüchtig wachsen und gedeihen.

Um es ehrlich zu sagen, die Erbsen interessierten mich nicht die Bohne. Hans und ich machten beim Einpflanzen nur Quatsch. Wir warfen sie hin und her, spielten Murmeln, bis sie alle weggekullert waren.

»O Gott, und was mach ich jetzt?«, rief ich in echter Verzweiflung.

»Besorg dir neue«, sagte Hans und lachte.

»Klar«, erwiderte ich, »aber welche? Gelbe oder grüne?« An jenem Nachmittag war ich mit Mathilda verabredet. Und als ihr Vater uns bei einer Tasse Tee Gesellschaft leistete, erzählte ich von meinem Problem mit den Erbsen.

»Die Mendel’schen Gesetze, so, so«, sagte er. »Und dir sind die Erbsen weggekullert.« Er lachte.

»Ja, und jetzt weiß ich nicht, welche Sorte ich züchten sollte. Wie ich die Steinbrede kenne, hat sie bestimmt genau Buch geführt. Wenn ich jetzt mit weiß blühenden Pflanzen komme und sie mir rote gegeben hat?«

Mathildas Vater schmunzelte, aber er dachte nach. Dann sagte er: »Als Arzt kann ich dir da eigentlich keinen Rat geben. Aber als Schüler war ich ziemlich findig. Nimm doch beide Sorten und pflanze sie in getrennte Tröpfe. Damit zeigst du Interesse und Fleiß.«

Also stehe ich jetzt nach den Ferien mit zwei Töpfen in der Schule, habe rot blühende und weiß blühende Erbsen und denke an diesen Nachmittag bei den Schuberts. Ein bisschen Wehmut schwingt mit, auch das Gefühl, dass es mit dem Sommer unaufhaltsam zu Ende geht.

»Das ist ja hervorragend.« Fräulein Steinbrede lobt mich. »Was denkt ihr, was passiert, wenn wir nun die Erbsenpflanzen mit roter und weißer Blüte kreuzen?«

»Rote Blüten mit weißen Punkten!«, ruft Gertrud in die Klasse.

Alle lachen.

»Oder wie wäre es mit rosa Blüten?«, fragt Hedwig.

»Gestreift, gepunktet, gesprenkelt …«, jetzt rufen alle durcheinander, bis die Steinbrede die Geduld verliert. »Wollt ihr wohl ernst bleiben?«, mahnt sie und klopft mit dem hölzernen Zeigestock auf das Lehrerpult. »Ich erkläre es euch: Die Kreuzung von Erbsenpflanzen mit roter und weißer Blüte bringt ausschließlich Erbsenpflanzen mit roter Blüte hervor …« Begriffe wie »Phänotyp, dominant, Parentalgeneration, erste Filialgeneration, rezessiv, reinerbig, mischerbig« schwirren durch den Klassenraum, und bald verstehe ich nur noch Erbse. Doch als wir dann ein »Vererbungsbrett« mit farbigen Karten anlegen, die die Generationen P, F1 und F2 darstellen sollen, wird es verständlicher.

»Und nur die Reinrassigen sollen erhalten bleiben«, betont die Steinbrede.

»Und die anderen?«, fragt jemand von hinten.

»Na, die Antwort liegt doch auf der Hand: Die anderen werden aussortiert.« Sie verteilt für die nächste Stunde Auszüge aus dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Wir wiederholen noch die europäischen Rassen, und Fräulein Steinbrede schreibt groß an die Tafel: Nordische (arische*) Rasse.

»Wer sagt mir etwas dazu?«, fragt sie in die Klasse.

Ich melde mich. »Der nordische Mensch zeichnet sich vor allen anderen Menschenrassen durch charakterliche Stärke, Mut, Härte, Kühnheit, Unbeugsamkeit, eisernen Willen und Entschlusskraft aus.«

Hedwig ergänzt: »Und das alles macht das deutsche Volk zum Führervolk.«

»Richtig. Und genau deshalb sprechen wir über die Vererbungslehre, denn die Rasse liegt nicht in der Sprache, sondern ausschließlich im Blut. Es ist unsere heiligste Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass das Blut rein erhalten bleibt. Alles Unreine muss aussortiert werden.« Fräulein Steinbrede wächst bei diesen Worten förmlich empor.

Als wir später den Klassenraum verlassen, um in die Pause zu gehen, hält sie mich kurz zurück. »Ich bin sehr zufrieden mit dir, Paula. Du machst dich, und du bist ganz bei der Sache. Deine Noten werden immer besser. Weiter so.«

Ich freue mich über das Lob, doch plötzlich durchkreuzt Mathilda meine Gedanken, ich muss auf einmal an sie denken …

Immer wieder merke ich, wie klein meine Welt ohne Mathilda geworden ist. Ich habe alles. Und doch fehlt mir etwas.