2. Gut, dass wir uns haben

Unser Häuschen schmiegt sich schmal und grau links an die Schreinerei Heitkamp und rechts an Wellermanns hellroten Klinkerbau. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite türmen sich zwei Schuttberge. Auf ihnen beginnt das Unkraut zu wachsen.

Im letzten Sommer hatten wir trotz des Krieges Blumenkästen an den Fenstern, bepflanzt mit roten Geranien und weißen Margeriten. Doch in diesem Jahr nutzt meine Mutter die Kästen für Kräuter und Gewürze. »Blumen kann man nicht essen«, sagt sie.

Unser Haus ist trotzdem schön mit seinen grünen Blendläden und der hölzernen Dachgaube. Dort ist Hans’ Zimmer. Meines liegt nach hinten zum Garten hinaus. In unserer gemütlichen Küche mit den schwarzweißen Bodenfliesen stehen der Kohleherd, der große Küchenschrank mit den zwei Glastüren und den Schütten für Zucker, Salz, Grieß, Mehl und Sago und ein Tisch mit einer Eckbank und zwei Stühlen. Die gute Stube, die in der Woche verschlossen bleibt und nur sonntags oder wenn Besuch kommt genutzt wird, ist wirklich etwas eng. Aber das liegt daran, dass meine Mutter überall Blumen, Bildchen und Nippes hinstellt. Einen Platz für ihr Klavier hat sie auch noch gefunden. Auf dem Klavier steht golden eingerahmt ein Foto von Onkel Heinrich, ihrem Bruder. Vor zwei Jahren kam er ums Leben. Immer wenn ich samstags unsere gute Stube abstaube und die Teppichfransen kämme, putze ich den Rahmen besonders gründlich, bis er glänzt.

Oben unter dem Dach sind die Schlafzimmer. Sie sind klein, aber Hans und ich haben immerhin jeder ein eigenes Zimmer, und das hat von meinen Freundinnen kaum eine. Unter der Dachschräge steht mein Bett. Durch die geblümte Tagesdecke ist in meinem Zimmer immer Sommer. Erst recht, wenn durch das Fenster die Sonne hereinscheint. An der Stirnwand steht mein dunkelbrauner Kleiderschrank. Eine Tür hängt schief, lässt sich nicht mehr ganz schließen. Neben den Schrank habe ich meinen Puppenwagen gequetscht. Meine Puppe Mona liegt darin und mein Teddybär Brumm, dem der linke Arm fehlt. Auch wenn ich schon lange nicht mehr damit spiele – davon trennen mag ich mich nicht.

Ich habe sogar einen Schreibtisch und muss nicht wie einige meiner Freundinnen meine Hausaufgaben am Küchentisch machen.

Am meisten aber liebe ich unseren Garten, der direkt an der Promenade liegt. Vor dem Krieg war Mutter sehr stolz auf die Blumenpracht. Jetzt wachsen nur noch wenige Stauden am Zaun. Wegen der Lebensmittelknappheit wird jeder Quadratmeter für den Anbau von Kartoffeln, Beeren, Obst und Gemüse genutzt. In allen Gärten sieht es jetzt so aus.

Außerdem hat das Häuschen einen Luftschutzkeller. Mein Vater hat ihn zusammen mit Schreiner Heitkamp hergerichtet. Zusätzliche Balken stützen die Decke, und die Kellerfenster sind zugemauert. Die Einrichtung beschränkt sich auf das Notwendigste. Wir haben zwei Feldbetten, einen Tisch und Stühle. Links neben der Kellertür steht ein Regal mit Lebensmitteln für zwei Tage, den Gasmasken und mit einem Eimer Sand zum Löschen. In einem Koffer verwahren wir das Wichtigste: Lebensmittelkarten, Kleiderkarten, Mamas Schmuck, Bargeld und unsere Ausweispapiere. Die Deckenlampe gibt ein schwaches Licht, ist aber hell genug, um lesen zu können. Hans hat sein Quartettspiel Waffen der Wehrmacht ins Regal gelegt, denn manchmal verbringen wir längere Zeit hier. Ich spiele lieber das Brettspiel Flieger-Alarm und hoffe immer, dass einer von uns auf Feld 100 gelangt, denn dann ist zumindest im Spiel der Alarm vorbei.

Mein Vater hat uns versichert, dass später, nach der gewonnenen Schlacht um England, die Bombenangriffe aufhören werden. In der letzten Zeit vergeht kaum eine Nacht ohne Fliegeralarm, aber nicht jeder Alarm bedeutet, dass die Stadt angegriffen wird. Manchmal fliegen die Flugzeuge auch nur über uns hinweg, ohne Bomben abzuwerfen.

Es ist beruhigend, dass wir uns in unseren Keller verkriechen können und nicht zu einem der Bunker laufen müssen. Denn dort herrscht dichtes Gedränge und Geschiebe, und wenn der Luftschutzwart die Tür schließt, fühlt man sich wie in einem Gefängnis. Es riecht immer muffig und feucht. Manchmal schreien Menschen in Panik, wenn Bomben einschlagen und die Wände wackeln. In unserem Keller haben wir natürlich auch Angst. Wenn die Wände vibrieren und feiner Staub von der Decke rieselt, kann einem ganz schön mulmig werden. Aber wir sind zusammen. Mama legt schützend ihre Arme um uns, und Papas ruhiger Blick und seine Gelassenheit nehmen uns etwas von der Furcht. Wenn es ganz schlimm kommt und Hans seinen Kopf in Mamas Schoß versteckt, sagt Papa auch nichts. Obwohl er Angst und Feigheit eigentlich nicht mag, vor allem nicht bei einem Jungen.

»Bald werden wir in ein größeres Haus umziehen.« Vater hat mir das vor kurzem bei einem unserer Spaziergänge und ganz im Vertrauen erzählt. Er spricht manchmal mit mir über Dinge, die eigentlich für meine Mutter bestimmt sein sollten. Seit ihrer Fehlgeburt vor zwei Jahren übergeht er sie manchmal. Sie kann keine Kinder mehr bekommen. Ich glaube aber schon, dass sie sich noch lieb haben. Wenn Mama ihre Hand auf seinen Unterarm legt und er sie dann anlächelt, spüre ich die Vertrautheit zwischen ihnen, und das gibt mir Geborgenheit. Nur ganz selten zieht er seinen Unterarm zurück, oder er übergeht sie bei unseren Tischgesprächen. Das sieht dann aus, als wäre ihm Mama nicht mehr gut genug. Mir tut das weh, weil ich weiß, dass es Mama traurig macht. Papa ist bestimmt auch traurig, aber auf seine Art.

»Wenn ihr dafür umso tüchtiger seid«, sagt er manchmal zu uns Kindern, »dann gleicht ihr das alles aus.« Viele Kinder zu haben ist eben wichtig für unser Deutsches Reich. Da hat Papa schon recht. Der Führer will eine gesunde Volksgemeinschaft. Aber Mama kann doch nichts für ihre Krankheit. Sie leitet sogar in der NS-Frauenschaft* das Winterhilfswerk*. Das zählt aber nicht so richtig. Frauenkram, sagt sogar mein kleiner Bruder Hans, die Frauen gehören an den Herd, und die Männer ziehen ins Feld.

Dabei hat Mutter Abitur, doch ihre Eltern konnten nur ihre zwei Brüder studieren lassen. Für Mama reichte das Geld nicht. Und ein Mädchen würde sowieso heiraten und Kinder haben und nicht mehr im Beruf sein. Mamas Traum wäre es gewesen, Ärztin zu werden. So ist sie dann Krankenschwester geworden.

»Ein sehr schöner, fraulicher Beruf«, sagt Opa immer und nickt dabei mit dem Kopf.

Mein Vater hat die Mittelschule besucht und dann einen technischen Beruf erlernt. Ich weiß nicht, wo er in der schwierigen Zeit nach dem Weltkrieg überall gearbeitet hat. Nur, dass er schon 1931 in die Partei eingetreten und schnell aufgestiegen ist. Deshalb konnte er auch zur Polizei wechseln und eine Spezialausbildung machen. Nun sitzt er seit einiger Zeit in der Abteilung für Juden- und Räumungsangelegenheiten, die Berlin unterstellt ist. Er ist Major der Schutzpolizei, arbeitet eng mit der Gestapo* zusammen und ist oft in deren Leitstelle. Die neue Stelle bedeutet auch, dass es unserer Familie finanziell gutgeht, viel besser als vorher und besser als anderen. Treue und Pflichterfüllung, so lautet sein Motto. Papa liebt seine Arbeit, den Führer und das Vaterland. Und meine Familie, fügt er immer augenzwinkernd hinzu.

 

Heute ist mein erster Tag als Schaftführerin. Dauernd schaue ich in den Spiegel, ob meine Uniform auch richtig sitzt. Die weiße Bluse, der blaue Rock, das Halstuch, von einem Lederknoten gehalten. Die Sonne scheint schon früh am Morgen kräftig, und nur wenige Wolken unterbrechen das Blau des Himmels. Seit Tagen hat es nicht mehr geregnet, und die Erde ist staubtrocken. Ein heißer Tag steht uns bevor.

Meine erste Gruppenstunde werden wir deshalb dazu nutzen, unsere Parzelle im BDM-Garten draußen vor der Stadt zu wässern, Kartoffeln zu häufeln und Unkraut zu jäten. Das sind keine besonders schweren Aufgaben und ein leichter Einstieg in meine Arbeit. Meine Mädels sind bestimmt mit Begeisterung bei der Sache. Trotzdem kribbelt es unruhig in meinem Bauch. Mein Vater sagt, dass das gut sei und ein Zeichen für Wachsamkeit. Wenn wir beide unsere Uniformen tragen, spüre ich, wie er mich wohlwollend und stolz betrachtet. Gleichzeitig wird er förmlich und achtet auf einen gewissen Abstand zwischen uns. Aber als er mir heute Glück wünscht, nimmt er mich sogar in den Arm.

 

Viel zu früh bin ich mit allem fertig. Ich habe mein Fahrrad aufgepumpt, die Dienstvorschriften und das Dienstbuch in meinen Tornister gepackt und zum bestimmt hundertsten Mal das Halstuch in den Knoten gezogen. Ich entschließe mich, im Schatten der Schreinerei auf Gertrud zu warten. Sie wohnt gleich um die Ecke in der Lotharingerstraße und holt mich ab. Die Säge kreischt unablässig. Männer schneiden Holzplatten zu. Damit werden die Fensteröffnungen ausgebombter Häuser verschlossen. Glasscheiben sind knapp geworden.

Pünktlich auf die Minute schwenkt Gertrud in die Sonnenstraße. Sie winkt mir schon von weitem fröhlich zu und lässt die Fahrradklingel bimmeln.

»Heil Hitler!«, ruft sie ohne anzuhalten und etwas atemlos. Ich schwinge mich auf mein Rad und hole sie rasch ein. Unter dem schattigen Dach der Alleebäume auf der Promenade können wir nebeneinanderradeln. Gertrud lächelt mir aufmunternd zu. Das tut gut. Es nimmt mir ein wenig mein Lampenfieber.

Wir überqueren vor dem Hauptbahnhof die Adolf-Hitler-Straße und biegen in die Hafenstraße. Der Verkehr wird dichter, und unter der Unterführung am Güterbahnhof müssen wir absteigen und schieben. Eine lange Kolonne schwerbeladener Lastwagenungetüme der Wehrmacht dröhnt an uns vorbei. Die Tunnelwände scheinen zu vibrieren, und wir ziehen unwillkürlich den Kopf ein. Es riecht nach Dieselöl und verbranntem Gummi. Die Abgaswolken hängen unter dem Tunnelgewölbe. Ich glaube, man könnte in dem Lärm das eigene Wort nicht verstehen. Auf der Kreuzung regelt ein Polizist mit Handzeichen den Verkehr. In der Luft liegt der rußige, beißende Mief der Dampflokomotiven. Hinter Kiesekamps Getreidemühle und den hohen Silos der Speicher mischt sich der Geruch von Pferdemist darunter. In den Viehhallen der Halle Münsterland stehen Pferde der Wehrmacht und warten auf ihren Transport an die Ostfront. Hans hat mir von einem Pferdelazarett erzählt. Sein HJ-Fähnlein wird hier häufig eingesetzt. Sie arbeiten in den Ställen und den Werkstätten oder helfen beim Beladen der Lastwagen.

Der Platz vor der Veranstaltungshalle wird in der Sonne gebacken. Die Hitze lässt die Luft über dem Asphalt flirren. Das mächtige Tonnengewölbe der Haupthalle türmt sich vor uns auf. Die Fensterfront auf der Vorderseite ist mit schwarzen Planen abgedeckt. Die Eingangshalle mit den Kassenhäuschen hat einen Bombentreffer abgekriegt. Die Lastwagenkolonne biegt auf den Platz. Motoren röhren und sprudeln Qualmwolken. Heiße Luft umweht uns. Überall sind Soldaten rastlos unterwegs.

»Meine Güte«, staunt Gertrud, »ich war schon lange nicht mehr hier. Das hat sich aber mächtig verändert! Mein Vater wollte mich immer zu den Radrennen mitschleppen.«

»Und meiner zu den Großveranstaltungen der Partei. Zehntausend passen in die Halle.«

Ein Lastwagen hupt uns an.

»Passt auf, Mädchen! Sonst kommt ihr noch unter die Räder«, ruft der Fahrer.

Ich ziehe Gertrud beiseite und deute mit dem Kinn in Richtung der Straßenbahnhaltestelle.

»Komm, Gertrud, wir stellen uns da hin. In dem Trubel finden uns die Mädel sonst nie.«

Nach und nach trudeln die anderen ein. Maria hat ihre Gitarre auf den Gepäckträger gebunden, Johanna balanciert eine Hacke auf dem Lenkrad, und Klara bringt noch eine Gießkanne mit. Alle sind pünktlich, nur Hedwig kommt als Letzte angehetzt. Ihre Haare kleben auf ihrer verschwitzten Stirn, und die oberen Knöpfe ihrer Bluse stehen offen.

»Kinder, bin ich froh, von zu Hause wegzukommen. Wäre jetzt kein Dienst, müsste ich mich um meine rotznasigen Brüder kümmern und mir Mamas Genörgel anhören.« Hedwig lächelt breit. »Puh! Ich zähle immer schon die Stunden zwischen unseren Treffen und mache Kreuzchen. Wenn ich euch nicht hätte …«

»… und wenn wir dich nicht hätten, Hedwig, könnten wir pünktlich anfangen!«, sage ich streng.

Ich stehe jetzt ganz nahe vor ihr, rieche ihren Schweiß und bemerke, wie sie zusammenzuckt. Ihr Mund steht vor Schreck leicht offen.

»Was ist los mit dir?«, frage ich, halte ihr meine Armbanduhr unter die Nase und tippe mit dem Zeigefinger auf das Zifferblatt. »Meinen ersten Dienst als Schaftführerin hätte ich gerne anders begonnen. Du bist sieben Minuten zu spät. Und bring deine Uniform in Ordnung!«

Hedwig beginnt hilflos und mit fahrigen Bewegungen an ihrer Bluse herumzufummeln.

»Etwas mehr Einsatz für unsere Sache würde dir gut zu Gesicht stehen«, setze ich noch hinterher.

»Es tut mir leid, Paula«, stottert sie, »kommt nicht wieder vor.«

Gerade will ich mich noch ausführlich über Pünktlichkeit, Ordnung und Disziplin auslassen, als ich die sanfte Stimme Gertruds höre.

»He, ihr beiden, macht mal langsam. Das ist heute so ein schöner Tag, und ihr …?«

Ich fahre herum. Ausgerechnet Gertrud widerspricht mir? Gertrud, die mich sonst immer unterstützt und die ich immer auf meiner Seite weiß? Dabei ist es doch so einfach, nur das zu tun, was von uns erwartet wird!

»Der Führer greift auch mit Härte durch. Wenn es sein muss, mit unerbittlicher Härte.« Das kann nur von Klara kommen. Die kleine, altkluge Klara, die jeden Spruch mit ihrer piepsigen Stimme nachbetet. Der Führer braucht mich, das sagt sie ständig. Manchmal ist mir diese Sprücheklopferei zu viel. Aber es gibt Mädchen, die das immer wieder hersagen. Klara gehört ganz sicher dazu. Man könnte meinen, sie hätte Fieber, so glänzen ihre Augen dabei. Aber Klara ist im Moment nicht mein Problem.

Gertrud steht vor den anderen Mädchen, kreuzt die Arme unter ihrer Brust und lächelt mich an. Nicht spöttisch, nicht hämisch und auch nicht herausfordernd. Gertrud lächelt einfach nur, und damit sagt sie mir, dass sie mich versteht. Es ist meine Aufgabe als Schaftführerin, die Mädel auf Trab zu bringen. Nur wie ich es tue, das gefällt ihr nicht.

»Nun regt euch mal wieder ab.« Johannas klare, ruhige Stimme mischt sich ein. »Können wir nicht einfach so tun, als würde die Gruppenstunde erst jetzt anfangen? Niemand ist zu spät gekommen, und niemand muss sich aufregen.« Johanna ist immer so vernünftig und praktisch, und es gibt niemanden in der Mädelschaft, der sie nicht mag. »Wir alle haben uns auf heute gefreut, denn der Nachmittag gehört uns. Keine lästigen Geschwister hüten, keine blöde Wäsche waschen, sondern ein paar herrliche Stunden liegen vor uns.«

Mein Ärger verraucht. »Also gut«, höre ich mich sagen. »Lasst uns fahren. Hedwig führt uns an, und wenn es heute nicht anders geht, dann kommen wir eben alle zu spät.«

Hedwig wirft mir einen dankbaren Blick zu und schiebt ihr Rad an die Spitze unserer kleinen Kolonne. Ich reihe mich hinter ihr ein, und die Mädchen schließen sich an. Hinter der Halle Münsterland führt die Straße durch eine Ansammlung von Schornsteinen, Lagerhallen, Speditionshäusern und Ziegeleien über den Dortmund-Ems-Kanal. Dahinter brechen die Häuserzeilen ab, und der Weg führt ins offene Land. Dann kommt nur noch der Flugplatz Loddenheide mit seinen beiden riesigen Flugzeughallen und einer Reihe von Kasernengebäuden. Kurz vor Gremmendorf hat der BDM Land erworben und in Parzellen aufgeteilt. Hier bepflanzen wir seit April unseren Garten. Die Ernte erwirtschaften wir nicht für uns, sondern sie wird an besonders bedürftige Familien gegeben.

»Ich kann nicht mehr«, höre ich hinter mir Line japsen. Die Straße führt jetzt in einer lang gezogenen Steigung bis zur Kanalbrücke hoch. Es ist warm und staubig, und scharfer Zementgeruch liegt in der Luft. Ich höre das Kreischen der Verladekräne im Hafen, die Rufe der Hafenarbeiter und das monotone Tuckern der Frachtkähne auf dem Kanal. Aus einem Seitenweg vor uns biegt der von zwei kräftigen Kaltblütern gezogene, blau lackierte, hölzerne Umzugswagen der Spedition Peters in den Albersloher Weg ein. Die breitschultrigen Männer auf dem Kutschbock heben die Hand und winken uns zu. Langsam, als hätten sie alle Zeit der Welt, nehmen sie eine scharfe Rechtskurve.

»Ich kann wirklich nicht mehr. Können wir nicht schieben? Die Steigung bringt mich um.« Line quengelt vor sich hin.

»Meinetwegen, dann schiebt eure Räder auf die Brücke.« Das abbiegende Fuhrwerk hat uns jeden Schwung genommen, und aus dem Stand kommt meine Truppe nicht mehr in Bewegung.

»Gott sei Dank, ich dachte schon, ich muss sterben.« Line hält sich theatralisch den Handrücken an die Stirn.

Alle lachen, doch ich werde wohl mal ein ernstes Wort mit Line reden müssen. In jeder Gruppenstunde treiben wir Sport, machen Gymnastik oder spielen Völkerball. Eigentlich sind alle mit Freude dabei. Nur Line treibt sich an der Seitenlinie herum, lässt plump die Bälle fallen oder bummelt verträumt hinterher. Stricken, Sticken, Stopfen, Häkeln sind die Dinge, die ihr Spaß machen. Mit wirklicher Begeisterung probiert sie fleischlose Rezepte aus. So hat eben jede ihre Stärken. Aber meine Aufgabe ist es, ihre Schwächen aufzudecken und abzustellen. Deshalb muss ich in allem ein Vorbild sein. Das habe ich auf den Schulungen gelernt.

»Verdammt! Jetzt habe ich einen Platten«, ruft Emmy verzweifelt.

Wir halten an und lehnen unsere Räder an das Brückengeländer. Emmy ist den Tränen nahe.

»So ein Mist. Immer ich«, jammert sie.

»Ja, ja, Emmy. Immer du«, echot es aus der Gruppe. Das ist eine Anspielung darauf, dass sie bei der letzten Obsternte aus dem Baum gefallen ist.

»Aber Emmy hat bestimmt an alles gedacht und Flickzeug dabei.« Ich sage das wie ein Stoßgebet und hoffe, dass wenigstens eine von uns Flickzeug dabei hat. Ich auf jeden Fall nicht …

Johanna sieht sich Emmys Fahrrad an. »Flickzeug hilft da nicht. Die Decke ist vollkommen durchlöchert.«

Die Mädchen beugen sich über Emmys Rad. Und plötzlich bin ich fruchtbar traurig. Das ist meine erste Stunde als Schaftführerin, und ich habe es nicht einmal geschafft, meine Gruppe über den Kanal zu bringen. Ich könnte heulen und lehne mich an das Brückengeländer, während die Mädchen den Reifen und den langen Riss darin begutachten.

»Na, Schaftführerin«, sagt Franziska. »Gar nicht so einfach, oder?«

Auch das noch. Franziska hat sich die ganze Zeit merkwürdig im Hintergrund gehalten. Dabei ist sie es doch, die immer so ungeheuer scharfsinnig ist, so klug, so überlegen. Eigentlich will sie immer die erste Geige spielen. Andererseits hat sie es gar nicht nötig, auf meinen Posten eifersüchtig zu sein. Mit einem Bein ist sie schon in Berlin. Ihr Vater hat eine einflussreiche Position in der Partei, und ihre Mutter ist eine bekannte Theaterschauspielerin, die unbedingt zum Film will. Wir ziehen nach Berlin in die Nähe des Führers, das ist Franziskas Lieblingssatz.

»Ach, Franziska. Heute hab ich einfach nur Pech«, sage ich.

»Ich weiß. Mach dir nichts draus. Es kommen auch andere Tage, und du kannst doch wirklich nichts dafür. Es gibt keinen Grund, den Mut zu verlieren.« Franziska legt ihren Arm um mich. So etwas tun sonst eigentlich nur meine Mutter oder Mathilda. Dann fügt sie noch hinzu: »Ich glaube, du bist eine gute Schaftführerin, und du wirst eine erstklassige Scharführerin.«

Es tut mir gut, zu wissen, dass ich mich auf Kameradinnen wie Franziska, Gertrud und Johanna verlassen kann. Und auf die anderen sicher auch.

»Weißt du, was eine gute Führerin auszeichnet?« Franziska macht eine aufmunternde Kopfbewegung.

»Dass sie nie …«, beginne ich.

»Nein, Paula. Dass sie gut improvisieren kann, so wie du.«

»Mensch, Franziska. Du bist eine echte Freundin.«

Franziska nimmt ihren Arm von meiner Schulter und gibt mir einen aufmunternden Klaps.

»Also gut, Mädels.« Meine Stimme ist jetzt wieder fest und selbstbewusst. »Das Glück verfolgt uns heute nicht gerade. Aber der Garten wartet. Wir machen es so: Das kaputte Fahrrad lassen wir hier stehen, und ich nehme Emmy auf meinen Gepäckträger. Ab hier geht es bergab, und auf dem Rückweg wechseln wir uns ab. Der Nachmittag ist noch jung, und das Gemüse braucht dringend Wasser.«

Wie blaue Seide spannt sich der Himmel über die grünen Wiesen. Nur von Hecken und Zäunen unterbrochen, verschmelzen sie in weiter Ferne mit dem Horizont. Kühe ziehen träge grasend über die Weiden oder liegen wiederkäuend im Schutz der Wallhecken.

Im Garten angekommen, lasse ich meine Mädelschaft antreten. Wir beginnen den Dienst mit dem Deutschen Gruß* und einem Lied, das Maria auf der Gitarre begleitet. Bevor wir uns auf Kartoffeln, Gemüse und Unkraut stürzen, sage ich noch ein paar Worte über die Notwendigkeit unseres Dienstes und frage in die Runde, ob jemand noch etwas hinzufügen möchte. Maria meldet sich.

»Ich wollte euch erzählen, dass meine Mutter am Erntedankfest das Mutterkreuz* bekommen wird. Ihr wisst doch, dass mein Vater vor zwei Jahren wieder Arbeit als Verkäufer gefunden hat, damals, als fast alle Geschäfte ihre jüdischen Angestellten entlassen haben. Und deshalb haben meine Eltern ja noch meinen kleinen Bruder Josef bekommen, jetzt, wo wir wieder gut leben können. Sechs Kinder! Wisst ihr, was das heißt? Das silberne Mutterkreuz!« Stolz schaut sie uns an. Wir alle freuen uns mit Maria und klopfen ihr kameradschaftlich auf die Schulter.

»Ihr seht, was der Führer für uns tut«, sage ich. »Also los, Mädels, tun wir unsere Pflicht für den Führer.«

 

Nachdem die Gartenarbeit erledigt ist, hält Gertrud es nicht mehr aus. Sie hat ihre Fotos mitgebracht, die Fotos von der Sonnwendfeier*. Endlich war der Film voll, und sie durfte ihn entwickeln lassen. Wir rufen durcheinander: »Zeig mal!« – »Sieh mal hier.« – »Das war so schön!« Alle schwärmen noch von dem Fest der Sonnwendfeier vor einigen Wochen.

In die Baumberge sind wir gefahren, zum Longinusturm. Oben am Turm hatten die Bauern einen gewaltigen Holzstoß zusammengetragen und aufgeschichtet. Von allen Seiten sammelten sich die Menschen unten am Weg, und mit beginnender Dunkelheit durften wir, die Mädchen und Jungen der HJ*, unsere Fackeln entzünden. In einem nicht enden wollenden Zug marschierten wir den Weg hinauf, erleuchteten die Nacht und sangen dabei das Lied der Sonnwendfeier: Flamme empor! Flamme empor! Was für ein Jubelgesang, der über die Wiesen bis hinab ins Dorf erklang!

Wir wollten gar nicht mehr aufhören zu singen, doch dann trat Werner Reuter vor und sagte mit ruhiger, klarer Stimme den ersten Feuerspruch. Mucksmäuschenstill wurde es, und alle hörten auf seine Worte. Ich ganz besonders, stand ich ihm doch beinahe gegenüber. Das Feuer der Fackeln malte wilde Schatten auf sein Gesicht und spiegelte sich in seinen funkelnden Augen. Ein Fanfarenruf folgte, und Franziska durfte für den BDM den zweiten Feuerspruch vortragen. Endlich erhielten wir den Befehl, den Holzstoß zu entzünden. Schon bald loderte ein gewaltiges Feuer gegen den Nachthimmel und beleuchtete unsere aufgeregten Gesichter. Der Höhepunkt aber war das mit Stroh umwundene Wagenrad, das flammend den Weg hinunterrollte, sich unten angekommen noch einmal drehte und ein glühendes Sonnensymbol erkennen ließ.

Die Botschaft des Reichsjugendführers wurde verlesen: Deutsche Jugend! In allen Teilen Deutschlands steht ihr heute an den Feuern der Sonnenwende zusammen. An allen euren Feuern hört ihr die gleiche Botschaft … Das sich anschließende: Adolf Hitler – Sieg Heil! wurde mit Begeisterung aufgenommen und durch die Nacht getragen. Doch für mich war das Allerschönste, dass ausgerechnet Werner meine Hand ergriff und mit mir über den noch glimmenden Holzstoß sprang.

 

Wir sehen das alles auf Gertruds Bildern wieder. Auch wenn sie nur schwarzweiß sind – in der Erinnerung färbt sich das Feuer glutrot und erhellt die Dunkelheit der Nacht. In der Erinnerung klingen die Lieder in unserem Kopf, so sehr, dass Maria die Gitarre ergreift und wir noch einmal Flamme empor! schmettern und uns dabei an den Händen halten.

»So was nimmste doch mit in die Ewigkeit«, flüstert Hedwig ehrfürchtig.

»Ja, so etwas vergisst man nie. Das brennt sich in die Seele ein«, raune ich zurück.

Es gibt sogar ein Bild von Werner und mir beim Sprung. Ob Gertrud es mir wohl überlässt? Ich werde sie fragen, aber nicht, wenn die anderen dabei sind …

Zum Abschluss singen wir noch einige Lieder, leisten den Gruppenschwur. Danach fahren wir heim. Emmy schwingt sich bei Franziska auf den Gepäckträger, und ab der Brücke schieben wir unsere Räder gemeinsam zurück in die Stadt.

»Ich freu mich jetzt schon auf Samstag«, sagt Hedwig zum Abschied. »Weißt du schon, was wir machen werden?«

»Pünktlichkeitstraining«, sage ich und lache.

»Ha, ha«, mault Hedwig. »Ich habe doch gesagt, kommt nicht wieder vor.«

»Das hoffe ich auch. Lasst euch am Samstag einfach überraschen. Auf jeden Fall treffen wir uns im Zwinger.«

Als wir uns mit Händedruck verabschieden, meint Gertrud noch: »Gut, dass wir uns haben.«

 

Zu Hause angekommen, laufe ich über die Promenade und die Wiese hinab zu unserem Baum. Ich schaue mich vorsichtig um – es ist niemand zu sehen – und fasse in den Geheimbriefkasten. Tatsächlich, ein kleiner Brief von Mathilda, auf rosa Briefpapier. Mathilda hat immer so wunderschöne Sachen.

Erst gehe ich ein Stück von unserem Baum weg, dann öffne ich den Brief mit klopfendem Herzen und lese:

 

Bleibt es bei unserer Verabredung? Donnerstag bei Berning? Ich bin ab 15  Uhr da. Wäre wunderbar! Verlässt du mich nicht, verlass ich dich auch nicht. Dein Lenchen

 

Schnell stecke ich das Briefchen ein und durchsuche meine Taschen nach einem kleinen leeren Zettel. Schließlich reiße ich einen aus meinem Heft mit den Gruppenvorbereitungen und schreibe: Ich komme, ja! Und ich freue mich schon. Dein Fundevogel. Unwahrscheinlich, dass sie den Brief vor morgen Nachmittag noch holt, aber das ist egal. Es ist einfach spannend, etwas in den Briefkasten zurückzulegen. Wir setzen beide nicht unsere richtigen Namen unter die Briefe. Das war Mathildas Idee. So ist es noch geheimnisvoller, finden wir beide.

3. Die harte Hand

 

Reibeplätzchen und Apfelmus! Es duftet schon im Hausflur danach. Ich schließe die Tür und stelle meinen Tornister auf die Treppenstufe. Bevor ich mich mit Mathilda treffe, will ich unbedingt meine Hausaufgaben erledigen. Meine Mutter steht am Herd und wendet die Reibeplätzchen in der Pfanne. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Hans sitzt auf der Eckbank und schiebt sich einen Bissen nach dem anderen zwischen seine fettglänzenden Lippen. Ich umarme meine Mutter und drücke ihr einen Kuss in den Nacken.

»Da bist du ja. Hans konnte nicht warten.« Sie legt den Pfannenwender aus der Hand und drückt mir einen Teller mit Reibeplätzchen in die Hand. »Setz dich, du musst hungrig sein.« Mama sieht glücklich aus, wenn wir an ihrem Tisch sitzen und sie sich um uns kümmern kann.

Mir kommt der Gedanke, dass es gerade diese selbstverständlichen Dinge sind, die mich zufrieden machen. Momente wie dieser – oder wenn ich mit Papa am Ufer der Werse sitze und wir den Paddelbooten zusehen. Wenn er dabei so jungenhaft wirkt, in den Himmel schaut, die ziehenden Wolken betrachtet und mir Geschichten erzählt.

Ich lächele meiner Mutter zu. Dass ich mich heute Nachmittag mit Mathilda auf Bernings Gestüt treffe, kann ich ihr unmöglich auf die Nase binden. Ich werde sie anlügen müssen, und mein Herz klopft mir schon jetzt bis zum Hals.

Sie hat sich Bohnenkaffee aufgebrüht und setzt sich zu uns. Meine Hausaufgaben kann ich jetzt wohl vergessen. Dafür haben wir zu viel auf. Und Mathilda kann ich nicht warten lassen. Also werde ich mich jetzt eine Weile mit Mama über die Schule, meine Freundinnen, meinen ersten Dienst als Schaftführerin und über ihre Pläne für die kommende Woche unterhalten. Ich bin spät dran, verflixt.

»Mama, ich muss gleich zum BDM. Wir wollen mit den Vorbereitungen für den Abschied des Polizeipräsidenten beginnen. Es soll etwas ganz Besonderes werden.«

»Sieh nur zu, dass es nicht so spät wird. Die ständigen Fliegeralarme machen mir Sorgen, und ich möchte, dass ihr abends zeitig zu Hause seid. Hans kann mir beim Abwasch helfen.« Hans fängt sofort an zu maulen, aber meine Mutter zuckt nur mit den Schultern und sagt: »Das bisschen Geschirrspülen wird dir nicht schaden.«

»Ich bin um fünf zurück. Spätestens.« Ich gebe Mama einen Kuss, und am liebsten würde ich Hans die Zunge rausstrecken. Aber ich glaube, das ist etwas für kleine Mädchen und nichts für eine Schaftführerin, die ein schlechtes Gewissen hat, weil sie ihre Mutter ein bisschen anlügt. Ich trage meinen Tornister in mein Zimmer, stopfe meine Reithose in einen Beutel, springe die Treppe hinunter, rufe einen Gruß und lasse die Haustür ins Schloss fallen.

Geschafft, denke ich, hole das Fahrrad aus dem Schuppen und radele die Promenade entlang. Meine Flunkerei hat mir etwas Zeit verschafft, und ich fahre eine Schleife am Zwinger vorbei. Hier hat die HJ ihr Kulturheim, und ich sehe Werner draußen am Eingang. Ich glaube, der ist immer hier. Der lebt für seine HJ. Er winkt mir tatsächlich zu! Am Freitag haben wir im Zwinger Chorprobe, vielleicht sehe ich ihn dann wieder.

Am Morgen hat es heftig geregnet, dann nieselte es nur noch, und jetzt ist es ein herrlich sonniger Spätsommertag. Die Promenade riecht nach feuchtem Laub und nasser Erde. Ich freue mich riesig auf Mathilda, Herrn Berning und die Pferde. An einem Tag wie heute könnte man den Krieg glatt vergessen. Doch schon auf der Höhe des Staatsarchivs holt mich die Wirklichkeit wieder ein. Neue Unterstände und Splittergräben werden zum Schutz vor den Bomben ausgehoben. Es gibt nicht genügend Bunker in der Stadt, aber ob diese Unterstände ausreichend Sicherheit bieten? Gut, dass wir unseren Keller haben.

Ich biege in die Warendorfer Straße ein und fahre Richtung Handorf. An der Eisenbahnunterführung werden die Bombentrichter aufgefüllt, und Arbeiter sind damit beschäftigt, die Straßenbahnschienen zu reparieren. Nicht weit hinter dem Tunnel liegt in einer Seitenstraße die Dienststelle meines Vaters. Am liebsten würde ich mich unsichtbar machen. Wenn er mich hier sieht, kann er an zwei Fingern abzählen, wohin ich unterwegs bin. Ich mag nicht daran denken und mache mich ganz klein auf meinem Fahrrad.

Der Hof liegt direkt an der Werse, einem schmalen, ruhig dahinfließenden Fluss, der sich gemächlich durch die Wiesen schlängelt. Schon von weitem sehe ich den mächtigen Giebel des Fachwerkhauses rot durch uralte knorrige Bäume schimmern. Eine hohe Eiche steht vor dem verklinkerten Torbogen, und das schmiedeeiserne Tor ist weit offen. Ich fahre über den Hofweg direkt auf die Ställe zu, lehne mein Fahrrad an die Scheunenwand und schaue mich um. Mathilda wartet schon.

»Fundevogel, Fundevogel!«, ruft sie und kommt mir entgegengelaufen. Sie hat alles vorbereitet. Die Pferde stehen schon gesattelt in ihren Boxen, und ich muss mich nur noch umziehen.

Mathilda reitet vor mir her. Ihre braunen Locken quellen unter der Reitkappe hervor. Im gemütlichen Schritttempo verlassen wir den Hof. Auf den Wiesen nahe beim Ufer stehen wiederkäuende Kühe und glotzen uns an. Das mahlende Geräusch ihrer Mäuler ist deutlich zu hören. Es riecht nach frisch gemähtem Heu. Der Weg wird breiter, und wir können nebeneinandertraben.

»Komm, trau dich!«, ruft Mathilda auf einmal, lacht und fällt in einen schnelleren Galopp. Ich bin zwar noch nicht ganz so sicher auf dem Pferd, aber so einen kleinen Galopp, den schaffe ich schon. Ich spüre Mozarts Kraft unter mir. Er drängt, er fliegt nur so dahin, kein Stocken, kein Zögern! Wir jagen gemeinsam über den Weg, vorbei an abgeernteten goldenen Stoppelfeldern. Rechts von uns glitzert die Werse in der Nachmittagssonne. Der Himmel wölbt sich strahlend blau über uns. Alles scheint möglich!

Wir erreichen das Wäldchen, zügeln die Pferde, und in einem gemütlichen Schritttempo reiten wir am Waldrand entlang. Von oben sehe ich Mozarts glänzendes tiefbraunes Fell, und ich bin stolz, ihn reiten zu dürfen. Mozart und Astra sind die besten Pferde in Bernings Stall. Ich schaue Mathilda von der Seite an. Sie sieht auf einmal so ernst aus.

»Ist etwas passiert, Mathilda?«

In ihren Augen liegt tiefe Traurigkeit. Sie will etwas sagen. Doch plötzlich lenkt sie ein: »Ach, nichts. Nein, es ist wirklich nichts.« Sie versucht wieder ein Lächeln.

»Mathilda«, dränge ich, »wir wollten uns alles erzählen.«

»Wollten wir das?«, fragt sie. »Auch das, was keiner wissen darf?« Ein Hauch von Bitterkeit liegt in ihren Worten.

»Manchmal verstehe ich dich nicht, Mathilda. Es ist so traumhaft hier. Du sitzt auf dem edelsten Pferd der Stadt, die Sonne, die Werse. Anstatt das alles zu genießen, bist du bedrückt. Ich sehe doch, dass etwas los ist.«

Mathilda antwortet nicht. Sie tätschelt Astras Hals und reitet im leichten Trab vor mir her. Ich hole sie ein.

»Komm, Mathilda, sei jetzt nicht traurig. Lass uns um die Wette reiten. So ein richtiger Spurt, der hilft garantiert gegen Weltschmerz. Wer zuerst am Bootshaus der Rosenbergs ist.« Ohne eine Antwort abzuwarten, gebe ich Mozart die Sporen. Ich traue mich und fühle mich sicher im Sattel. Aber Mathilda hat mit Astra einfach das bessere Pferd, und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie heranfliegt und mich lachend und mit wehenden Locken überholt. »Juchhu!«, ruft sie. »So soll es immer bleiben!«

»Ja«, rufe ich ein wenig außer Atem, »so soll es bleiben!«

Am Bootshaus springen wir von den Pferden, setzen uns auf den Steg. Unter unseren Füßen fließt ruhig und gemächlich die Werse. Das Ufer ist schilfbewachsen, Mückenschwärme tanzen in der Sonne, und ein Fisch springt und taucht wieder in die Fluten. Am anderen Ufer neigen sich Linden, Buchen und Eichen zum Wasser.

Ohne mich anzusehen, sagt Mathilda leise: »Ich bin so froh, dass du meine Freundin bist.«

Wir bleiben eine Weile auf dem Steg sitzen, bis Mathilda sagt: »Komm, es wird spät.« Wir reiten nebeneinanderher, bis der Weg schmaler wird und ich mit Mozart hinter Astra und Mathilda zurückbleibe.

Vor dem Stall unterhält sich Herr Berning mit einem Hofarbeiter. Er winkt uns zu und kommt mit leicht hinkendem Gang näher. Seine Kriegsverletzung macht ihm zu schaffen. Ich mag Herrn Berning sehr. Er ist aufmerksam und gleichzeitig zurückhaltend. Er behandelt uns wie junge Damen, hilft uns beim Absteigen und hält die Pferde am Halfter.

»Schön, dass ihr beide mal wieder zusammen hier seid. Mathilda, du weißt, dass du zu jeder Zeit Astra oder Mozart reiten darfst. Mein Wort darauf.«

Ich glaube, ich habe mich verhört. Du darfst? Das sind doch nicht Herrn Bernings Pferde. Warum sollte Mathilda um Erlaubnis bitten müssen? Ich schaue sie überrascht an. Aber sie sieht weg und beginnt mit dem Fuß Figuren in den Sandboden zu kratzen.

»Was bedeutet das, Mathilda? Das sind doch eure Pferde. Oder?«

Herr Berning ist sichtlich erschrocken. Er greift sich mit der Hand ans linke Ohrläppchen und wiegt verlegen den Kopf hin und her. »Oh! Ich dachte, deine Freundin wüsste Bescheid. Ich konnte ja nicht ahnen … Wie dumm von mir.«

»Schon gut, Herr Berning.« Mathilda betrachtet ihre staubigen Stiefelspitzen und malt jetzt Kreise.

»Ich glaube, ich lass euch mal alleine.« Herr Berning stößt seine Hände fast bis zum Ellenbogen in die ausgebeulten Taschen seiner beigen Jacke, wendet sich um und geht langsam, ohne sich umzudrehen, in Richtung Wohnhaus. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin völlig verwirrt.

»Nun sag schon, Mathilda!«, dränge ich

»Vater hat die Pferde an Berning verkauft«, antwortet sie knapp.

»Was? Auch Astra? Sie ist doch der ganze Stolz deiner Mutter! Wieso verkauft ihr sie? Braucht ihr Geld? Seid ihr auf einmal arm? Bist du deshalb so traurig?«

»Arm? Ich weiß nicht, Paula. Aber mein Vater möchte alles regeln. Er will vorbereitet sein. Und er glaubt, dass wir nicht mehr viel Zeit haben.«

»Was redest du da, Mathilda?«

»Paula, bitte. Hör mir einfach nur zu. Ja? Vielleicht willst du dann gar nicht mehr meine Freundin sein.«

Ich nicke und schaue sie mit fragenden Augen an.

Mathilda schluckt, dann sagt sie stockend: »Meine Mutter ist Jüdin. Ich bin Halbjüdin.«

Das ist alles, was sie sagt.

»Ja und? Du bist meine beste Freundin.« Und gleichzeitig höre ich Vaters Stimme: Wir werden dieses Problem in Münster bald gelöst haben …

»Hast du wirklich keine Ahnung, was die Nazis mit den Juden vorhaben? Siehst du denn nicht, was um dich herum passiert?« fragt Mathilda.

Jetzt erinnert sie mich an Franziska. Warum tut sie plötzlich so überlegen, so besserwisserisch? Warum sagt sie das so vorwurfsvoll? Was habe ich ihr getan?

Mathilda redet weiter: »Erinnerst du dich an die brennende Synagoge, die eingeschlagenen Schaufenster, die Schilder: Kauft nicht bei Juden! und an die jüdischen Mädchen, die ganz plötzlich nicht mehr zur Schule kamen? Erinnerst du dich an HJler und SA*-Männer, die Juden über die Promenade jagten? Siehst du nicht die gelben Bänke, die dort stehen?«

Für einen Moment bin ich sogar ärgerlich. Ja, denke ich. Ich erinnere mich auch an Mathilda, die Privatunterricht erhält, die nicht zum BDM kommt, die nicht bei den Arbeitseinsätzen dabei ist. Mathilda, die das nicht nötig hat, die vielleicht etwas Besseres ist.

»Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Nur weil vor ein paar Jahren die Synagoge gebrannt hat und ein paar Scheiben zu Bruch gegangen sind, muss dein Vater doch nicht heute die Pferde verkaufen?« Ich sage das trotzig.

»Wir haben Angst. Wir fürchten um unser Leben.«

»Mathilda, du spinnst.« Jetzt bin ich wirklich wütend.

»Na klar. Ich spinne. Und du? Du träumst.« Mathilda stößt die Worte heftig hervor. Sie sieht mich an. »Vater musste die Leitung seiner Klinik abgeben. Und weißt du, warum? Weil er sich weigert, sich von meiner Mutter scheiden zu lassen. Kannst du dir das vorstellen? Mein Vater soll sich scheiden lassen, weil Mama Jüdin ist.«

Ich verstehe überhaupt nichts mehr, ehrlich. Unvermittelt greift Mathilda meine Hand und zieht mich in den Schatten der Scheune. »Da, sieh nur. Da sind sie.« Sie flüstert es. Ihr Finger zeigt auf einen schwarzen Wagen, der gerade auf den Hof fährt. Wir haben ihn nicht gehört. Plötzlich ist er da und bremst vor dem Reitstall. Hinter der Windschutzscheibe sitzt ein Fahrer in Uniform. Er spricht über die Schulter mit jemandem, der auf der Rückbank sitzt und für uns unsichtbar bleibt. Mathilda hockt zusammengekauert und eng an die Scheunenwand gepresst und späht zu dem Auto hinüber.

Ich versuche ganz ruhig zu sprechen. »Das ist doch nur ein schwarzes Auto. Mein Vater wird oft von so einem abgeholt.«

»Ja«, sagt Mathilda, »das sind die Autos, die die Angst verbreiten.« Sie lacht kurz auf, doch es ist kein fröhliches Lachen. »Weißt du Paula, jedes Mal, wenn ich abends den Hof verlasse, frage ich mich, ob es ein nächstes Mal geben wird.« Und fast beschwörend fügt sie hinzu. »Lass mich nicht alleine, mein Lenchen. Behalte unseren Geheimbriefkasten im Auge. Bitte!«

Sie drückt sich fest an mich, steht auf und eilt ohne ein weiteres Wort zu ihrem Rad. Als sie durch die Toreinfahrt verschwindet, trete ich auf den Hof. Die hintere Tür des schwarzen Autos öffnet sich, und ein Mädchen in Reitkleidung klettert heraus. Der Fahrer kurbelt das Seitenfenster herunter, und ich sehe ihn eine Zigarette rauchen. Das Mädchen winkt ihm zu und hüpft dann fröhlich in Richtung Stallgebäude. Herr Berning kommt auf mich zu. Er macht ein besorgtes Gesicht.

»Ist Mathilda schon gegangen?« Er spricht leise und sieht sich nach dem schwarzen Auto um. »Ich bin froh, dass ihr so gute Freundinnen seid.«

Wir führen die Pferde an die Striegelwand und binden sie fest. »Ich mach das schon, Herr Berning«, sage ich und hole den Putzkasten. Sorgsam reibe ich Astra und Mozart mit einem weichen Tuch trocken und striegele ihr Fell, bis es in der Sonne glänzt. Dabei beruhige ich mich langsam. Die Gedanken hören auf, in meinem Kopf im Zickzack zu rasen. Zum Abschied sagt Herr Berning, dass seine Einladung auch für mich gelte.

Es ist spät. Ich ziehe mich um und klettere auf mein Fahrrad. Auf dem Feldweg überholt mich das schwarze Auto. Doch für mich ist es nicht wichtig.

 

»Ich bin wieder da«, rufe ich zu Hause in den Flur. Hans kommt aus der Küche und wirft mir einen bösen Blick zu. Er wischt sich verstohlen Tränen aus den Augen und reibt mit der Hand seinen Hintern in der kurzen Lederhose. Hans bekommt gelegentlich die harte Hand unseres Vaters zu spüren. Der Junge braucht das. Das ganze Gerede bringt nichts. Das sagt Papa. Mir hat er noch nie etwas getan. Nicht einmal im Zorn.

Bei mir machte er es anders.

Komm, zu mir, Prinzessin, hatte er früher gesagt, als ich in Hans’ Alter war, und dann wusste ich, es wird ernst. Er saß an seinem Schreibtisch. Vor sich die dunkelgrüne Schreibunterlage aus marokkanischem Leder. Darauf lag ein hölzernes Lineal, breit und flach und fünfzig Zentimeter lang. Die Tischlampe mit dem grünen Schirm brannte. Die Vorhänge waren zugezogen. Die Tür zum Flur stand offen. Ich konnte meine Mutter in der Küche mit den Töpfen hantieren hören. Mein Vater saß aufrecht. Sein Blick war kühl und beinahe abweisend ruhig.

Ich stand vor seinem Schreibtisch, verschränkte die Arme in meinem Rücken und presste die Lippen aufeinander. Vater diskutierte nicht. Die Uhr über der Tür zertickte die Zeit. Er sprach mit mir über meine Fehler. Er nannte mich undiszipliniert oder hielt mir Pflichtverletzung vor. Vater verlangte, dass ich mich mehr einsetze und meine Treue beweise. Er sprach von seiner Überzeugung, vom Führer und von Deutschland. Von den großen Aufgaben, die vor uns liegen.

Was hatte ich getan? Fräulein Steinbrede hatte mich in der Schule auf dem Kieker. Sie lastete mir Sachen an, die ich gar nicht getan hatte. Ein andermal war ich zu spät zum Abendessen gekommen, weil ich meine Zeit mit Mathilda verquatscht hatte. Einmal riskierte ich sogar einen leisen Widerspruch, doch Vaters strenger Blick ließ mich verstummen. Er hielt das Lineal in der rechten Faust und ließ es auf die offene Handfläche der anderen Hand sausen. Ich zuckte zusammen und hielt den Mund.

Aber er hat mich nie geschlagen.

Hans hat irgendwann herausgefunden, dass Papa den Rohrstock nie gebraucht, wenn Hans die HJ-Uniform trägt. Der wird doch nicht das Neue Deutschland schlagen, sagte er grinsend zu mir. Jetzt trägt Hans die Uniform besonders gerne, wenn er etwas ausgefressen hat.

Vater ist aber auch schon mit dem Rohrstock in der Faust hinter Hans hergerannt. Es ging die Treppe rauf, die Treppe runter, quer durch den Garten und um den Küchentisch herum. Irgendwann waren beide außer Atem oder haben sich vor Lachen gebogen. Alles war wieder gut, und Mama konnte beiden nie ernsthaft böse sein. Hans wurde mit der Zeit unempfindlich und sträubte sich nicht mehr gegen die Bestrafung. Er beugte sich über den Stuhl, holte sich die Fuhre ab und wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augen. Vater dehnte die Bestrafung aus. Hans sagte, er müsse einfach nur länger durchhalten als er. Alles geht vorbei. Er sprach von Papa als dem Alten. Der Alte spinnt mal wieder, sagte er. Und: Du hast es gut, Prinzessin.

 

Heute hat Hans Pech gehabt. Mutter bat Vater, streng durchzugreifen. Sie meint, er sei frech und aufsässig und würde seine Pflichten im Haus vernachlässigen. Papa meint, dass Hans seine Kräfte ausprobieren muss! Aber Unverschämtheiten gegenüber Mutter duldet er nicht.

»Paula.« Das ist Papas Stimme aus der Küche. Er schnauft und tut so, als wische er sich Schweiß von der Stirn. Er atmet tief aus. »Puh, dieser Flegel schafft mich.« Er lässt sich seufzend auf die Eckbank fallen und klopft mit der flachen Hand auf den Stuhl neben sich. Das bedeutet, dass ich mich setzen soll.

»Und jetzt zu dir, Fräulein.« Ich weiß plötzlich, dass er ab jetzt keinen Spaß mehr versteht. Etwas in meiner Brust schnürt sich zusammen. »Weißt du, was ich am wenigsten vertrage? Außer wenn dieser Bengel seiner Mutter auf der Nase herumtanzt?«

»Ja, Papa, ich …«

Er hebt die Hand. Ich soll schweigen.

»Du stinkst nach Pferdestall. Du belügst uns und stiehlst dich davon. Jeder tut seine Pflicht. Die Soldaten an der Front und wir in der Heimat. Nur die Prinzessin treibt sich herum und geht reiten, obschon wir es ihr verboten haben.«

»Papa, ich weiß, dass ich heute einen großen Fehler gemacht habe. Du wirst mich sicher dafür bestrafen. Aber ich konnte nicht anders. Es ging nicht so sehr ums Reiten. Ich kann Mathilda einfach nicht im Stich lassen.«

Papas Gesicht wird düster. Dann sagt er: »Meine Güte, wie dramatisch. Vielleicht überlegst du dir einmal, wo du hingehörst, auf welcher Seite du stehst.«

»Aber Papa …«

»Wir haben dir die Reiterei verboten. Das taugt alles nichts für eine Schaftführerin und auch nicht für die Tochter eines Polizisten und Parteigenossen, vor allem nicht mit dieser Mathilda und den Schubertpferden.«

»Papa, stell dir vor: Mathilda hat mir heute erzählt, dass ihre Mutter Jüdin ist. Mathilda ist Halbjüdin. Sie hat Angst. Sie fürchtet sich vor den schwarzen Autos.«

»So, so. Und hat sie dir sonst noch etwas anvertraut?«

»Mathilda sprach von den gelben Bänken auf der Promenade und fragte, ob ich weiß, was das zu bedeuten hat. Ich wusste es nicht.«

»Schwarze Autos, gelbe Bänke. Hast du keine anderen Sorgen?«

»Sie ist meine Freundin und ich …«

»Jetzt pass mal gut auf. Die gelben Bänke sind ausschließlich für Juden bestimmt. Ich zum Beispiel möchte nicht neben Juden sitzen, wenn ich mir die Sonne auf den Bauch scheinen lasse. Und Gelb ist eine Warnfarbe. Sie bedeutet so viel wie Achtung! Pest! Gelb ist die Farbe der Juden.«

»Und die Halbjuden? Sollen sie dann auf gestreiften Bänken sitzen?«

Vaters Faust fährt mit Wucht auf die Tischplatte.

»Es reicht! Du wirst dieses Mädchen nicht mehr treffen. Ab sofort ist Schluss damit. Und das ist kein Wunsch, sondern ein Befehl. Und gnade dir Gott, wenn du dich nicht daran hältst!«

Ich bin den Tränen nahe. Gerade noch habe ich mit Mathilda auf dem Steg am Bootshaus gesessen, und alles war so klar und einfach. Und jetzt sagt mein Vater, dass das alles vorbei sein muss. Er befiehlt, duldet keine Widerrede. Und mich fragt niemand. Wer will schon wissen, was ich will? Er lässt mir keine Wahl. Mein Kopf fühlt sich leer an.

Irgendwann sitzt Mama mit mir am Küchentisch. Wann mein Vater aufgestanden ist, ob er noch was gesagt hat, ich weiß es nicht. Mama sagt, dass er ein Machtwort sprechen musste und dass es zu meinem Besten sei. Mathilda sei Halbjüdin, ihre Mutter Jüdin, und mit solchen Leuten verkehre man besser nicht. Mama schaut mich eindringlich an. »Paula, dieses Deutschland ist deine Zukunft, dein Leben, deine Aufgabe. Vergiss die Jüdin. Sie tut dir nicht gut. Du bist Papas Prinzessin. Enttäusche ihn nicht und vor allem nicht unseren Führer.«

Ihre Stimme dringt wie durch einen schweren Vorhang zu mir.

»Du bist unser Kind, und wir sind für dich da.« Mama spricht vom BDM und meinen Aufgaben. Und sie sagt, dass der Führer eine Jugend will, an der nichts Schwaches, nichts Zärtliches ist. »Ich habe dir Badewasser eingelassen. Geh und wasch dir diesen Stallgeruch ab. Deine Reithose werde ich verbrennen.«

Ich liege dann eine ganze Weile im Waschzuber, seife mich ein und schrubbe mich. Später trockne ich mich ab und rubble dabei meine Haut ganz fest, bis sie fast krebsrot ist.

Auf dem Weg in mein Zimmer höre ich, wie meine Mutter in der Küche zu meinem Vater sagt:

»Es wird alles wieder gut. Paula weint nicht einmal.«

Ja, Mama, denke ich, ich kann nicht weinen. Dann setze ich mich auf die Bettkante und halte das Buch des Führers auf meinen Knien. Ich sehe mir seine Widmung und seine Unterschrift an. Und ich weiß plötzlich: Da ist der Führer, und da ist Mathilda. Und zwischen ihnen ist eine hohe Mauer.

Ob ich dem Führer schreibe? Ich kann ihm doch schreiben, dass er sich bei Mathilda vertan hat. Der Führer ist doch ein guter Mensch. Und ich kann ihm schreiben, dass Mathilda völlig in Ordnung ist. Das werde ich ihm schwören. Auf dem rosa Briefpapier, das Mathilda mir geschenkt hat. Und dann schreibt mir der Führer zurück. Er ist ein guter Führer. Dann wäre Papa auch wieder versöhnt, vielleicht sogar stolz auf meinen Mut.

Doch dann gibt es plötzlich Fliegeralarm. Ich höre schon das Motorengeräusch eines einzelnen, sehr tief fliegenden Bombers. Die Flak schießt, und ich habe Angst und renne nach unten. Im Keller zieht Mama mich an sich und legt ihren Arm um mich. Hans liegt auf dem Bett und blättert in den Karten seines neuen Quartetts. Die Flugzeuge der deutschen Luftwaffe. Papa sitzt auf seinem Stuhl am Tisch und liest in einer Zeitung. Er ist ganz ruhig. Vielleicht ist doch alles nicht so schlimm.