1. Der Geheimbriefkasten

Ja, die Unterschrift ist von ihm! Adolf Hitler, im August 1941. Der Führer persönlich! Ich hab jetzt noch Herzklopfen. Wie alle zugeschaut haben – mit glänzenden Augen! Das muss ich unbedingt Mathilda zeigen. Und natürlich meinen Eltern und Hans, einfach allen! Ich umfahre die von Bomben zerstörte Hörsterstraße, erreiche endlich unser Haus in der Sonnenstraße und stelle mein Fahrrad an die Hauswand.

Meine Mutter reißt die Haustür auf, und mein Vater steht lächelnd hinter ihr im Türrahmen.

»Erzähl, Paula!«, bestürmt Mama mich gleich. »Wie war es? Wir sind so stolz auf dich, mein Kind.«

Der Nachmittag war so aufregend! Wo soll ich bloß anfangen?

Die holzvertäfelte Aula der Annette-Schule war heute ganz besonders feierlich geschmückt. An der Stirnseite hingen zwei entrollte Hakenkreuzfahnen von der verzierten Stuckdecke bis zum Boden. Das Rednerpodest schmückte ein mit Blumen umkränzter Reichsadler, und um Türen und Fenster wanden sich Efeugirlanden. Die Aula ist auch die Turnhalle der Schule. Immer liegt ein leicht süßlicher Schweißgeruch in der Luft. Dann sind die Mädelschaften* einmarschiert, alle in blauen Röcken und weißen Blusen, die schwarzen Halstücher ordentlich geknotet. Wie wir gestrahlt haben!

»Nun erzähl doch endlich!« Meine Mutter lässt nicht locker und reißt mich aus meinen Gedanken.

»Festlich war es, Mama. Wir haben uns so zusammengehörig gefühlt, und ich war stolz, dabei zu sein. Wie mit einer Stimme haben wir Die Fahne hoch gesungen, und der absolute Höhepunkt war, dass die Obergauführerin* eine Rede gehalten und mich zur Schaftführerin* ernannt hat.« Ich schaue erst Mutter, dann Vater an und lasse meine Worte wirken. »Sie sagte, der Führer brauche Mädchen wie mich, die ihm treu und zuverlässig folgen.«

Mama hat ganz leuchtende Augen, so sehr freut sie sich für mich.

Ich berichte mit klopfendem Herzen: »Dann hat sie gesagt, dass ich wohl bald Scharführerin* werde, wenn ich so weitermache.«

»Und das erzählst du so nebenher? Mensch, Mädchen. Unsere Prinzessin.« Mein Vater nimmt mich in den Arm und wirbelt mich lachend herum. Fast ist es so wie vor zwei oder drei Sommern, als wir ausgelassen auf den Promenadenwiesen herumtollten. Heute sind solche Momente selten geworden. Seine Arbeit beansprucht ihn stark.

»Jetzt kommt mal rein, ihr beiden!«, ruft meine Mutter. »Zur Feier des Tages gibt es Apfelkuchen mit Schlagsahne. Ich habe so etwas ja doch geahnt. Hans wartet schon in der Küche. Hoffentlich hat er uns noch etwas Kuchen übriggelassen.«

Der Tisch ist mit unserem Sonntagsgeschirr gedeckt. Zwiebelmuster. Das Hochzeitsgeschenk von Oma und Opa. Frisch gebrühter Bohnenkaffee dampft in den Tassen. Hans sitzt mit der Kuchengabel in der Hand auf der Eckbank.

»Sitz gerade, Junge«, sagt Papa und streicht ihm die Haare aus der Stirn.

Ich rutsche zu Hans auf die Eckbank. Die Tür zum Garten steht offen, und die Augustsonne lugt durch die Blätter der hohen Linde. Ich höre eine Drossel ganz laut schimpfen, so, als wolle sie sagen: Du hast noch etwas vergessen. Jetzt zeig es ihnen doch endlich.

»Ach ja, ich habe euch ja noch nicht alles erzählt«, sage ich und greife in meinen Tornister. »Seht mal, was ich hier habe. Für alle gab es ein Buchgeschenk, Mein Kampf*. Aber ich bin die Einzige, die ein Exemplar mit Widmung bekommen hat. Für Treue und Pflichterfüllung, Adolf Hitler. Der Führer hat persönlich unterschrieben.«

Ich halte ihnen mit glänzenden Augen das aufgeschlagene Buch hin.

»Die Obergauführerin hat es erst mal überall herumgezeigt, damit alle es sehen konnten. Dann hat sie es mir mit feierlicher Stimme übergeben. In dem Moment hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Allen stockte der Atem, und die anderen Mädchen haben ganz schön gestaunt. Einige hatten feuchte Augen. Das hättet ihr mal sehen sollen.«

»Du hast Mein Kampf vom Führer erhalten? Von Adolf Hitler signiert? Da kann man ja auch neidisch werden.« Meine Mutter staunt nur noch, berührt es ganz vorsichtig wie etwas Zerbrechliches.

Behutsam nehme ich das Buch zurück und streiche mit der Hand über die Buchstaben. Für Paula Laurenz. Kaum mag ich sie berühren.

»Es bekommt einen Ehrenplatz in deinem Zimmer«, sagt meine Mutter.

»Ich bin so stolz auf dich, meine Große.« Vater legt seinen Arm um meine Schulter. Voller Achtung betrachtet er das Buch mit der Widmung. »Aus dir wird noch was!«, sagt er ergriffen. »Ganz bestimmt.«

 

Ich beobachte meine Familie und mich im Spiegel am Küchenschrank. Meinen Vater, der mich immer noch im Arm hält, und meine Mutter, die Hans ein zweites Stück Kuchen auf den Teller legt. Ich sehe mich, mein glattes blondes Haar, geflochten zu zwei dicken Zöpfen. Meine Augen leuchten, und die Wangen sind leicht gerötet. Die Uniform lässt mich erwachsener aussehen. Ich bin zufrieden. Ich habe aber auch Glück. Alles geht mir leicht von der Hand. Sowohl in der Schule – ich besuche die neunte Klasse – als auch beim BDM*. Gerade bin ich zur Schaftführerin ernannt worden, und Scharführerin soll ich bald werden! Wer kann das mit fünfzehn Jahren von sich behaupten? In meiner Mädelschaft sind lauter nette Mädchen, mit denen ich viel unternehme und viel Spaß habe.

»Du wirst deinen Weg gehen, da bin ich sicher«, sagt mein Vater. »Und denk dran: In Deutschland sind neue Zeiten angebrochen. Und du kannst deinen Teil dazu beitragen. Welches Glück, dass wir den Führer haben.«

Unsere Blicke treffen sich im Spiegel. Mein Vater steht auf und streicht sich eine widerspenstige dunkelblonde Strähne aus der Stirn. Er steht aufrecht und reckt sein kräftiges Kinn. Seine für gewöhnlich leicht geröteten Wangen glühen jetzt, und er nickt mir kameradschaftlich zu. In solchen Momenten ist er immer ein bisschen theatralisch, und in Mamas Augen schimmern Tränen bei seinen Worten. Natürlich bin ich stolz auf meinen Vater, wenn ich ihn so wie jetzt in seiner braunen Uniform sehe: zackig, resolut und die Hakenkreuzbinde am Arm!

Meine Mutter drückt mich noch einmal: »Ich geh noch zu Leopolds, Mehl kaufen. Wir beide müssen noch Brot backen, Paula.« Sie steckt ihre blonden Haare zusammen, bindet das dunkelblaue Kopftuch um und schlüpft in ihre Strickjacke.

»Ich komme mit!«, ruft Hans. Ich muss lächeln. Ich wette, dass Hans auf eine Tüte Malzbonbons spekuliert.

Wir sind nur zwei Kinder. Hans, mein jüngerer Bruder, ist Fähnleinführer* beim Deutschen Jungvolk*. Er ist ein guter Sportler, und mit seinen zwölf Jahren ist er sich ganz sicher, was er will. Pfeifend verlässt er mit Mama die Küche.

Die Fahne hoch, summe ich mit. Ich mag das Lied, es gibt Kraft. Man weiß bei der Melodie sofort, in welche Richtung man marschieren soll.

Draußen auf der Straße hupt zweimal kurz ein Auto. »Ich muss zum Treffen der Ortsgruppenleiter«, sagt mein Vater. »Es geht um die Juden. Ein schwieriges Thema, aber wir werden dieses Problem in Münster bald gelöst haben.«

Er knöpft seine braune Uniformjacke zu, schnallt sich den Gürtel mit der blankgeputzten Schließe um und angelt sich die Schirmmütze von der Garderobe. Er ruft uns einen Gruß zu, dann fällt die Tür ins Schloss.

 

Ich mag unser Häuschen in der Sonnenstraße. Papa schimpft immer, dass es für unsere Familie viel zu klein sei. Ich finde das nicht und bin froh, dass es bei den Bombenangriffen im Sommer nicht beschädigt wurde.

Wenn ich an diese vier Tage und Nächte zurückdenke, wird mir jetzt noch angst und bange. Ununterbrochen heulte der Alarm, fielen die Bomben auf die Stadt nieder. Ein unheimliches Zischen und Pfeifen lag in der Luft. Wir haben die Explosionen gehört und das Zersplittern von Glas, das Brummen von Flugzeugmotoren und das Wummern der Flak*. Später haben wir gesehen, dass es ganz in unserer Nähe furchtbare Einschläge gegeben hat. Viele Häuser in unserer Straße, der Hörsterstraße und im Kreuzviertel wurden zerstört, aber unser Haus nicht. Scheiben gingen zu Bruch, und feiner Staub lag über allem. Tagelang roch es nach Qualm. Aber wir dürfen hier wohnen bleiben. Unser Haus ist fast unversehrt geblieben.

Vor dem Schlafengehen betrachte ich noch einmal die Widmung des Führers. Sein Buch mit seiner Signatur in meinem Zimmer. Wie sehr ich mich darüber freue! Dabei ist es doch nur selbstverständlich, was ich im BDM leiste. Nicht bloß, weil es meine Pflicht gegenüber meinem Vaterland ist, sondern auf das Herz kommt es an, auf die Liebe zum Führer.

 

Ich kuschle mich in mein Kopfkissen und ziehe mir das Federbett bis zum Kinn. Vor dem Einschlafen danke und bete ich wie jeden Abend für meine Familie, für unsere Ideen, unseren Führer und für Mathilda.

Mathilda Schubert ist meine Freundin seit der ersten Klasse. Und seit wir bei Fräulein Steinbrede, unserer Deutsch- und Biologielehrerin, das Märchen Fundevogel besprochen haben, ist der Spruch Verlässt du mich nicht, verlass ich dich auch nicht unser Freundschaftsversprechen. In unserer schönsten Schrift und mit Blumenranken verziert hat jede für die andere den Satz ins Poesiealbum geschrieben. Seitdem ist Mathilda »Lenchen« und ich bin der »Fundevogel«.

Damals ging Mathilda noch mit mir zur Annette-Schule in die Siebte. Im November vor zwei Jahren ist sie auf einmal nicht mehr in die Klasse gekommen. Zwei andere Mädchen, Luise Goldstein und Gerda Cohn, auch nicht. Aber die beiden sind Jüdinnen und durften nicht mehr mit uns gemeinsam lernen. Bei Mathilda ist das anders. Sie hat Privatunterricht. Ihre Eltern glauben, sie würde wegen der ständigen Arbeitsdienste, zu denen wir Schülerinnen herangezogen werden, zu viel Unterricht verpassen. Ich finde das schade, aber Freundinnen bleiben wir trotzdem. Wir sehen uns nicht mehr so oft, und deshalb sind uns unsere Treffen kostbarer und wichtiger geworden. Wir tauschen Geheimnisse aus, flüstern sie uns zu oder schreiben sie auf. Wir hecken Streiche aus, lachen und halten zusammen.

Seit einiger Zeit nimmt Mathilda mich mit zum Reiten zu Herrn Berning auf sein Gestüt. Ich gehe heimlich mit, denn meine Eltern dürfen es nicht wissen. Sie haben etwas dagegen, nicht nur, weil sie Reiten viel zu gefährlich finden. Ein Hobby für Reiche, sagen sie, hinterher kommst du noch und möchtest ein eigenes Pferd. Zeitverschwendung, so nennen sie es. Es gebe so viel wichtigere Dinge zu tun. Ich gehe trotzdem reiten, auch ohne Erlaubnis – aber mit riesigem Herzklopfen. Denn eigentlich habe ich keine Geheimnisse vor meinen Eltern. Die Reitstunden schweißen Mathilda und mich nur noch mehr zusammen. Dass meine Eltern das nicht verstehen!

Vielleicht haben sie etwas gegen Mathilda, weil die Schuberts so reich sind und Dinge besitzen, die wir uns niemals leisten könnten. Dabei sind sie überhaupt nicht angeberisch oder eingebildet. Mathildas Vater ist Medizinprofessor und leitet eine Privatklinik im Münsterland, in der sich auch viele Parteigrößen behandeln lassen. Dr. Schubert und seine Klinik sind weit bekannt, genau wie die Gastfreundschaft seines Hauses. Und dieses Haus am Kanonengraben ist wirklich prachtvoll. Im Vergleich zu unserem Häuschen in der Sonnenstraße ist es die reinste Villa. Ein schmiedeeiserner Zaun umgibt das Grundstück. Am Tor stehen rechts und links Säulen, auf denen steinerne Figuren hocken. Fünf Stufen steigt man zur Eingangstür aus dunklem, mit Schnitzereien versehenen Holz hinauf. Oben sind verzierte Glasfenster eingelassen. Hier tragen rechts und links zwei Steinsäulen einen darüberliegenden Balkon.

Als ich zum ersten Mal das Gebäude betrat, hielt ich den Atem an. Ich war überwältigt von den prächtig verzierten, geschwungenen Giebeln. In allen Räumen liegt dunkel glänzender Parkettboden, auf dem bunt schimmernde Teppiche ausgebreitet sind. Eine breite Flügeltür führt von der Eingangshalle geradeaus zu einem riesengroßen Esszimmer, an das sich die Bibliothek anschließt. Nach links geht man in den Salon, während rechter Hand eine geschwungene Treppe in die obere Etage führt. Die Fenster des Salons sind raumhoch und mit dunklem Holz umrahmt. Davor steht ein schwarzer Flügel. Bilder in schweren goldenen Rahmen zieren die Wände. Eines zeigt ein Pferd mit schwarzglänzendem Fell und wehender Mähne. Es ist so lebendig gezeichnet, dass man die Kraft und das Feuer dieses Tieres zu spüren glaubt.

»Das ist Astra, die Araberstute meiner Mutter«, erklärte mir Mathilda, als sie sah, dass ich mit offenem Mund vor dem Bild stehen blieb. »Sie hat es selbst gemalt.«

Durchquert man den Salon, erreicht man über eine große Terrasse und eine breite Treppe hinab einen weitläufigen, parkähnlichen Garten, der durch einen Zaun von der Promenade getrennt ist. Geht man die Treppe hinauf, gelangt man zu Mathildas Zimmer, den Schlafräumen der Eltern und zu den Badezimmern. Unter dem Dach befindet sich ein Atelier. Die großen Fenster zeigen nach Norden, so dass das Licht sich zu allen Tages- und Jahreszeiten schattenlos im Raum verteilt. Von hier oben hat man eine wunderbare Aussicht über die Dächer der Stadt, sieht die Kirchtürme von Ludgeri und Lamberti.

Mathildas Mutter ist Künstlerin und bemalt große Leinwände in bunten Farben. Sie malt Menschen mit violetten Gesichtern und einer dunklen Traurigkeit in den Augen. Wolken, die schwer und drohend über einer Stadt hängen. Und sie malt bunte Städte mit roten, wuchtigen Häusern, verschatteten Figuren, deren helles Lachen durchzogen wird von gespenstischer, wilder Angst. Wenn wir Lust haben, dürfen wir in dem Atelier malen. Dann tupfen wir Gelb, Rot und Orange auf kleine weiße Flächen. Ein Zauber geht von unseren Farben aus, die so ganz anders sind, als die, die Mathildas Mutter verwendet.

Ich liege in meinem Bett, und in meinem Kopf vermischen sich Bilder, Gesichter, Räume und Geräusche, und ich schlafe glücklich ein.

 

Am nächsten Tag wartet Mathilda nach der Schule an unserem Gartentörchen. Begeistert erzähle ich ihr von der gestrigen Feier, von meiner Ernennung zur Schaftführerin, und Mathilda freut sich riesig für mich und gratuliert mir. Sie ist nicht im BDM. Wenn ich sie danach frage, ihr sage, dass sie doch auch ihren Beitrag für den Führer und das ganze Land leisten muss, weicht sie mir aus. Sie sagt, sie will Ärztin werden, und ihre Eltern sind der Meinung, sie solle ihre Ausbildung vernünftig beenden. Dann könne sie viel mehr für das Land und die Menschen tun.

Jetzt hakt sie sich bei mir ein und flüstert geheimnisvoll: »Ich will dir etwas zeigen.« Ich lasse mich mitziehen. Weiter geht es die Promenade unter den Linden entlang, an der zerstörten Synagoge* vorbei bis zu einem kleinen Löschteich. Sie steigt mit mir bis an das schmale Ufer hinab. Immer wieder schaut sie nach rechts und links, doch niemand ist zu sehen. Dann bleibt sie hinter einem mächtigen Baum stehen, nimmt meine Hand und führt sie in einen Hohlraum, der sich auf der Rückseite des dicken Stammes gebildet hat. Verschwörerisch sieht sie mich an.

»Wir sehen uns nur noch so selten. Du bist entweder bei einem Arbeitseinsatz oder ich muss lernen. Das hier wird unser Geheimbriefkasten.« Bei dem letzten Satz wird ihre Stimme leise, und einen winzigen Moment lang legt sich ein Schatten um ihren Mund. »Wir können uns Briefe schreiben und sie hier in unser geheimes Versteck legen. Wir verabreden uns zum Beispiel zum Reiten, und deine Eltern werden es nie erfahren. Alles völlig geheim«, sagt sie und lächelt wieder.

Ich bin begeistert. Das ist eine gute Idee, richtig spannend!

»Du kannst mir dann ja auch mal was über Werner Reuter schreiben …«, sagt sie grinsend.

»Wie kommst du denn jetzt auf Werner?«, frage ich und tue ganz unschuldig.

»Glaubst du, ich hätte nicht gemerkt, dass du für ihn schwärmst? Ich bin deine beste Freundin, der kannst du nichts verheimlichen, auch wenn wir uns nur noch selten sehen.« Wir müssen beide lachen.

»Also«, fragt Mathilda noch einmal, »was hältst du davon? Wir schreiben uns, egal was passiert!«

»Ja, natürlich, wir schreiben uns. Und was soll denn schon passieren? Aber niemand darf die Briefe finden«, flüstere ich jetzt, als würden hundert Ohren uns belauschen. Ich schaue suchend über den Boden und entdecke einen glänzenden schwarzen Kieselstein. Er passt genau in das Loch.

»Jetzt kann es nicht reinregnen«, sage ich lachend, doch ich werde sofort wieder ernst. »Verlässt du mich nicht, verlass ich dich auch nicht.«

Wir stehen hier verborgen in der hellen Augustsonne, die die ersten herabwirbelnden Lindenblätter in ihrem Tanz auf die Erde bescheint, legen unsere Hände ineinander und erneuern unseren Schwur. Das Licht bricht sich in Mathildas Bernsteinbrosche, dunkel schimmert die im gelben Harz eingeschlossene Spinne. Ich schaue in Mathildas große tiefbraune Augen, zupfe verspielt an dem violetten Band, das heute ihre kastanienbraunen Locken zusammenhält und bemerke ein leichtes Zittern ihres Kinns, das sie aber sofort durch ihr breites Lächeln auffängt. Ein Geheimbriefkasten mit einer besten Freundin, das ist schon etwas Besonderes und eine richtig feierliche Angelegenheit.

Wir verabreden uns für übermorgen bei Berning, und während Mathilda die Promenade in Richtung Kanonengraben läuft, nehme ich den Weg durch die Stadt. Vor dem Rathaus am Prinzipalmarkt sind einige Marktstände aufgebaut. Blumen werden angeboten und Gemüse. Neugierige begutachten die Waren. Jede Gelegenheit, für den Winter vorzusorgen, wird wahrgenommen. Wer weiß, wie lange der Krieg noch dauern wird.