12. Die Verhaftung

Am nächsten Tag helfe ich bei der Altmetall-Sammlung. Jedes Stückchen Metall ist jetzt kostbar, es wird gesammelt und eingeschmolzen. Alles wird wiederverwertet, das meiste in der Rüstungsindustrie. Wir sammeln auch Knochen, aus denen Leim hergestellt wird. Die Ausbeute ist heute sehr gering. Gertrud hat von irgendwoher einen Radreifen von einem alten Kutschwagen ergattert. Das ist die Krönung unserer heutigen Sammlung. Alle Gegenstände von Wert sind längst abgeliefert oder beschlagnahmt. Selbst Schokolade ist nicht mehr in Stanniolpapier eingewickelt.

Auf meinem Heimweg durch die Promenade sehe ich eine Gruppe von Jungvolk-Pimpfen*, die sich unter einer großen Linde aufgeregt zusammendrängen. Hans ist dabei, und in ihrer Mitte entdecke ich Werner. Ich will gerade in die nächste Seitenstraße einbiegen, da erkenne ich, dass sie jemanden in ihrer Mitte eingekeilt haben und herumschubsen. Norbert! Das ist Norbert Steinkamp! Fast hätte ich ihn ohne seine Brille nicht wiedererkannt. Norbert blutet aus der Nase. Die Pimpfe johlen und krakeelen und verspotten Norbert. Werner schreit ihn an und stößt ihn mit Fäusten. Ich bin jetzt so nah, dass ich hören kann, was sie sagen.

»Du wagst es, du Klugscheißer?« Werner hält Norbert am Kragen gepackt und schlägt ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. »Was hast du dir dabei gedacht?«

»Aber ich hab’s nicht so gemeint.« Norbert jammert kläglich.

»Nicht so gemeint?« Werners Stimme steigert sich, wird hart und roh. »Du machst Witze über den Führer und denkst dir nichts dabei?«

»Hau dem Krüppel noch eine rein!«, schreit jemand. Klatsch! Norbert bekommt eine Ohrfeige. Klatsch! Und noch eine. Ich bin jetzt so nahe, dass ich hören kann, wie Norberts Brille unter Werners Stiefeln knackend zerbricht. Entsetzt beobachte ich Werners Gesicht. Er sieht nicht einmal wütend aus. Er grinst nur und spielt seine Überlegenheit aus.

Ich schiebe und boxe mich durch das Rudel, bis ich vor Werner stehe und ihn anbrülle: »Was fällt dir ein? Hör sofort auf. So viele gegen einen, und das findest du in Ordnung?«

»Misch dich hier nicht ein, Paula«, sagt Werner. »Das ist nichts für Mädchen.«

Was hat er da gesagt? Ich bin so wütend, dass ich keine Angst mehr verspüre. Vor all den Zuschauern helfe ich Norbert auf die Beine und ziehe ihn aus der Meute. Mein Zorn von eben ist verflogen, stattdessen ist mir plötzlich eiskalt. Wie kann ein Mensch einmal lieb und zärtlich und im nächsten Moment brutal und gemein sein? Norbert heult. Der Rotz läuft ihm aus der Nase. Er hält sich an meiner Hand, und ich bringe ihn zur Sonnenstraße.

 

Zu Hause erwartet mich Hans bereits in der Küche. Er guckt verlegen vor sich hin und murmelt etwas, das ich nicht verstehe.

»Was ist mit dir los, Hans? Feindsender hören, verbotene Bücher lesen und wehrlose Jungs verkloppen?« Ich versuche, ruhig zu bleiben.

»Ich konnte mich da nicht raushalten. Werner hat mich gezwungen«, sagt Hans kleinlaut.

»Wie kann der dich zwingen? Das ist doch verrückt.«

»Werner ist unser Anführer …« Hans fängt plötzlich an zu lachen.

»Ihm hat der Witz nicht gefallen, den Norbert erzählt hat.« »Es ging also nur um einen Witz?« Ich platze gleich vor Wut.

»Ich glaube«, sagt Hans nachdenklich, »es ging gar nicht um Norbert. Werner ist schon seit ein paar Tagen ständig schlecht gelaunt. Er wollte einfach nur Dampf ablassen. Norbert war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort – und hat den falschen Witz erzählt.«

»Aber was für einen Witz denn?« Ich presse die Lippen aufeinander.

Hans rückt näher und ist jetzt ganz nah an meinem Ohr. »Du hast doch mitgekriegt, dass der Stellvertreter des Führers, Rudolf Hess*, mit dem Flugzeug nach England abgehauen ist.«

»Auf den Witz bin ich jetzt aber gespannt.«

»Also, Rudolf Hess springt mit dem Fallschirm ab. Die Engländer schnappen ihn und können kaum glauben, wen sie da erwischt haben. Sie bringen Hess zu Churchill*, ihrem Premierminister. Churchill sitzt in seinem Landhaus vor dem Kamin, trinkt Whiskey und schaut sich Hess an. »Soso«, sagt er. »Sie sind also der Verrückte.« »Nein«, antwortet Hess. »Ich bin nur der Stellvertreter.« Hans platzt vor Lachen, und auch ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen.

»Lass das bloß nicht Papa hören.«

»Aber geschmunzelt hast du schon. Ich kenne da übrigens noch einen. Hermann Göring*, Joseph Goebbels* und …«

»Hans, hör auf! Bitte.«

 

Vereinzelte Sonnenstrahlen versuchen, ein Loch in den Vorhang aus dichten grauen Wolken zu bohren. Es ist frisch, kühler als in den vergangenen Tagen. Der Wind weht an den Häusermauern entlang und bläst aus verschiedenen Richtungen kommend Blätter durch die Straße. Ein rot gefärbtes Ahornblatt landet in meiner Hand.

»Weißt du, dass man sich etwas wünschen darf, wenn man so ein Blatt fängt?« Das hat mich Mathilda einmal gefragt. Ein Jahr muss das her sein. Und was soll ich mir wünschen? Dass Mathilda mir endlich schreibt? Dass es ihr gutgeht? Meine Gedanken springen. Eigentlich müsste ich nämlich den BDM-Heimabend vorbereiten. Aber jetzt bin ich auf dem Weg zu Bernings Hof. Vorher fahre ich noch an der Schubert-Villa vorbei.

Ich bremse mein Fahrrad hinter einem geparkten Lastwagen ab. Das Gartentor der Villa ist weit geöffnet. Im ersten Stock weht aus einem Fenster der Gardinenvorhang im Wind. Mein Herz tut einen Sprung. Sie sind zurück! Alles ist wieder gut!

Hastig stelle ich das Fahrrad an den Zaun. Aus dem Garten sind Stimmen zu hören, fremde Männerstimmen. Ich achte nicht darauf und stürme zur Eingangstür. Ich drücke den Klingelknopf und zucke zurück. Dr. Schleebusch, Tierarzt steht auf dem Messingschild. Es ist neu und blank poliert. Die Türglocke spielt eine Melodie und mischt sich in das Gekläffe eines Hundes.

»Nanu, Besuch so früh am Nachmittag«, sagt eine freundliche Stimme. Ein großer Mann in einem grauen Regenmantel steht hinter mir. Seine dunklen Augen sehen mich fragend an.

»Ich, ich …«, kommt es stotternd über meine Lippen.

»Nun«, sagt der Mann, »hast du dich in der Haustür geirrt?«

»Nein, ich will zu Mathilda. Sie wohnt hier. Sie war wohl verreist.«

»Mathilda?« Der Mann beugt sich leicht zu mir herunter. Er mustert mich aufmerksam. »Verreist? Ich kenne keine Mathilda.« Er geht an mir vorbei und schließt die Tür auf. Auf der Schwelle dreht er sich um. »Du scheinst etwas durcheinanderzubringen, Mädchen.« Er zögert. »Wie heißt du?«

»Paula. Paula Laurenz«, sage ich. »Mein Vater ist bei der Polizei.«

Der Mann lacht. »Das scheint dir aber nicht wirklich zu helfen. Ich bin Dr. Schleebusch, Tierarzt. Das steht da auf dem Schild.« Er stößt die Tür auf. Im Flur riecht es scharf nach Reinigungsmitteln. Ein bunter Kinderball liegt vor der Treppe.

»Georg? Georg, bist du da?«, ruft eine Stimme von oben. »Warum klingelst du denn?« Ein fleckiges Etwas purzelt freudig bellend die Treppe hinunter und zieht beißend am Regenmantel des Mannes. Dann stutzt der Hund und sieht mich an. Er knurrt leise. So etwas Hässliches habe ich noch nie gesehen. Seine Nase ist vollkommen plattgedrückt. Ein spitzer Zahn ragt aus dem Mundwinkel. Speichel tropft aus seinem Maul. Ein kräftiger Körper ruht auf unglaublich kurzen Beinen. An seinem dicken Hintern zuckt ein Stummelschwänzchen. Ich glaube, er hat nur ein Ohr.

»Das ist Bella. Eine wahre Schönheit, nicht wahr? Eine Promenadenmischung, wie sie im Buche steht.« Bella knurrt immer noch. »Aus, Bella! Ganz ruhig. Das ist Paula. Ihr Vater ist bei der Polizei.« Der Hund setzt sich auf seinen Hintern und fiept. Er hat wirklich nur ein Ohr.

Auf dem Treppenabsatz erscheint eine Frau. Sie ist jung und unglaublich schön. Sie trägt ein Kopftuch und hält eine Vase in der Hand. »Oh. Du hast Besuch mitgebracht.«

Der Mann macht eine ausladende Bewegung mit der Hand. »Das ist Paula. Ihr Vater …«

»Ja, ja«, unterbreche ich ihn. »Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Ich bin irgendwie durcheinander.«

»Was ist mit deinem Vater? Mein Mann ist Tierarzt. Ich weiß nicht, ob er dir helfen kann, wenn du durcheinander bist.«

Herr Schleebusch lacht. »Siehst du, Paula. Du verwirrst uns. Meine Frau, den Hund und mich. Und nur weil du dich in der Tür geirrt hast.« Er sieht seine Frau an und zwinkert ihr zu. »Ihr Vater ist bei der Polizei.«

»Ich habe mich nicht in der Tür geirrt«, sage ich mutig. »Hier hat Mathilda gewohnt.«

»Vielleicht kommst du einen Moment herein«, sagt die Frau und schenkt mir ein Lächeln. »Ich muss mich für Georg entschuldigen. Er ist manchmal wirklich ein ungehobelter Klotz.« Sie gibt mir die Hand und zieht mich sanft in den Flur. »Komm nur rein. Ich habe Tee auf dem Herd.«

»Nein, nein. Es ist alles mein Fehler. Ich dachte nur, Mathilda ist wieder zurück.« Meine Stimme wird ganz klein. Ich muss tatsächlich weinen. Herr Schleebusch hat seinen Mantel ausgezogen und über das Treppengeländer gelegt. Bella reißt jetzt an seinem Hosenbein herum.

Die Frau nimmt mich mit in den Wohnraum und drückt mich in einen Sessel. Dabei will ich gar nicht hier sein. Georg Schleebusch kommt mit einem Tablett herein. Er gibt mir eine Tasse Tee. Dann steht er in der Terrassentür. Eine Hand in der Hosentasche vergraben, raucht er eine Zigarette. Der Kräutertee ist heiß und süß. Vorsichtig nippe ich daran und nehme einen kleinen Schluck.

Verstohlen wische ich mir die Tränen aus den Augen. Die Frau sieht mich besorgt an.

»Deine Freundin hat hier gewohnt?«, fragt sie mit weicher Stimme.

»Ja«, sage ich und deute zum Kamin. »Das Pferd auf dem Bild ist Astra, ihr Pferd. Nein, eigentlich ist es das Pferd ihrer Mutter. Sie ist Malerin.« Fast wäre mir herausgerutscht, dass sie Jüdin ist. Die Frau sieht zu ihrem Mann hinüber.

»Wir wissen nichts von den Leuten, die hier gewohnt haben. Aber das Bild gefällt uns. Georg mag Pferde. Nicht wahr, Georg?«

»Ja«, sagt Herr Schleebusch und zieht an der Zigarette. »Wir haben das Haus so gekauft. Die Bank sagte uns, dass die Vorbesitzer – ich glaube sie hießen Schubert – aus familiären Gründen verkaufen mussten. Das Haus war weiß Gott kein Schnäppchen. Aber es ist jede Mark wert. Wir sind seit ein paar Tagen hier und richten uns langsam ein.«

»Herr Schubert ist auch Arzt«, sage ich, »aber ein richtiger.«

»Oh, vielen Dank.« Trotz meiner Unverschämtheit lächelt Herr Schleebusch mich an.

Seine Frau sagt: »Wieso hast du Mathilda denn aus den Augen verloren? Ich meine, sie könnte dir doch wenigstens schreiben.«

»Ich weiß auch nicht. Es kam alles so plötzlich. Und als ich eben sah, dass jemand im Haus ist, dachte ich, alles ist wieder gut.« Ich trinke noch einen Schluck Tee. Er ist jetzt lauwarm.

Die Frau scheint noch etwas sagen zu wollen. Ich sehe, dass Herr Schleebusch unmerklich mit dem Kopf schüttelt. Sie bringen mich zur Tür. Bella ist nicht mehr zu sehen.

Sie schauen mir nach. Ich nicke ihnen kurz zu und gehe, ohne zu zögern, zu meinem Fahrrad.

Ich will nun auf dem kürzesten Weg nach Handorf. Mit Herrn Berning kann ich reden. Ob er etwas von den Schuberts weiß?

 

Hinter der Eisenbahnunterführung muss ich bremsen und vom Rad steigen. Von einem Pferdefuhrwerk werden Kohlensäcke abgeladen und vor ein Kellerfenster auf den Gehweg geschüttet. Ein alter Mann schaufelt Kohlen. Eine Frau in einer Kittelschürze steht auf einem Besen gestützt daneben und bewacht den Kohlenberg und den Mann. Sie hat eine Hand fest auf ihre breiten Hüften gestemmt und hält in der anderen Hand einen Besen, die Borsten gegen den Himmel gestreckt. Fast sieht sie aus wie ein Soldat, der Wache steht.

Es beginnt zu nieseln. Gleich wird es regnen, und die Frau kann nichts dagegen tun, außer dem fluchenden Alten Beine zu machen. Ich muss laut auflachen – und fast gleichzeitig entdecke ich meinen Vater auf der anderen Straßenseite.

Er trägt Uniform und betrachtet die Obstkisten eines Gemüsegeschäftes. Er scheint es nicht eilig zu haben. Und dann sieht er plötzlich in meine Richtung. Was, wenn er mich gesehen hat? Er weiß genau, dass das hier die Straße zum Reiterhof ist.

Ich ducke mich und fummele an meinen Strümpfen herum. Als ich wieder aufsehe, ist er verschwunden. Hat er mich nun gesehen oder nicht?

Es regnet jetzt heftiger. Ich muss ihm zuvorkommen. Ich werde zur Gutenbergstraße fahren und so tun, als wollte ich ihn besuchen. Er mag das eigentlich nicht. Aber mir fällt nichts Besseres ein. Heftiger Regen prasselt auf den Asphalt. Der alte Mann und die Frau in der Kittelschürze verziehen sich in einen Torbogen, ihre Kohlen keinen Moment aus den Augen lassend. Eng an die Hauswände gedrückt, schiebe ich mein Fahrrad bis zur Gutenbergstraße.

Vor dem Haus stehen zwei Männer in schwarzen Uniformen im überdachten Eingang auf der Treppe. Der eine ist groß und kräftig, der andere eher klein und dicklich. Sie scheinen auf jemanden zu warten. Am anderen Ende der Straße taucht jetzt mein Vater auf. Wegen des Regens geht er sehr schnell und zieht den Kopf in den hochgeschlagenen Mantelkragen. Ich drücke mich in einen Hauseingang. Die beiden Männer treten auf den Gehweg, schlagen die Hacken zusammen und grüßen mit erhobenem Arm. Mein Vater erwidert den Gruß, und sie schütteln sich die Hände. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Der Kleine sieht auf seine Armbanduhr und zuckt mit den Achseln. Vater klopft ihm auf die Schulter, dann deutet er auf einen Wagen, der die Einfahrt zum Hof blockiert. Der kleine Mann macht eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. Mein Vater betritt die Gestapoleitstelle.

Ein schwarzes Auto fährt an mir vorbei und bremst scharf vor dem Eingang. Der große Mann reißt die hintere Tür des Wagens auf.

»Los, raus!«, höre ich ihn rufen.

Ein Bündel fliegt aus dem Wagen und landet auf dem Pflaster. Der kleine Dicke zerrt es hoch, und ich kann erkennen, dass es ein Mensch ist, ein blasser Junge in einem auffälligen Anzug, dem die langen Haare wirr im Gesicht kleben. Ich glaube, ich habe ihn schon einmal gesehen … Er trägt Handschellen und blutet aus der Nase. Die beiden greifen ihm unter die Arme und zerren ihn die Treppe hinauf. Bei den Swings habe ich ihn gesehen. Sein Kopf knallt dumpf gegen die Tür. Der Dicke lacht. Im ersten Stock geht in einem Fenster das Licht an – im Büro meines Vaters.

Werners wütende und abweisende Stimme klingt mir im Ohr. Plötzlich verstehe ich: Er weiß irgendwoher, dass ich meinem Vater von den Swings erzählt habe. Dabei wollte er das gerne selber in die Hand nehmen. Werner sieht mich als Verräterin!

Der kalte Regen schlägt mir ins Gesicht. Das macht das Ganze fast erträglicher, denn ich schäme mich. Meine Füße werden kalt, der Regen dringt durch meine Jacke. Das schwarze Auto ist verschwunden. Nichts regt sich mehr. Ich warte noch einen Moment, raffe mich dann auf und gehe am Polizeipräsidium vorbei. Nichts, was drinnen vorgeht, ist von draußen zu erahnen. Das Einzige, was ich durch die Fenster sehe, sind Männer, die vor Aktenbergen an ihren Schreibtischen sitzen und im gelben Licht der Tischleuchten in Kaffeetassen rühren. Ich habe es nicht mehr eilig. Über mir ist nur der schwarze Himmel, und unter mir glänzt der nasse, dunkle Asphalt. Langsam schiebe ich mein Fahrrad neben mir her.

Vor der Unterführung an der Warendorfer Straße steht nur noch der alte Mann im Torbogen und stützt sich auf seine Kohlenschaufel. Er raucht eine Zigarette. Der Regen fällt auf den Kohlehaufen und spült schmutzige Rinnsale auf das Pflaster. Sie sehen aus wie Tränenbäche. Die Stimme der Frau quillt aus dem Kellerfenster und will wissen, wann es endlich weitergeht. Ich bin durcheinander und wütend und trete nach einem Kohlenstück. Es knallt an die Tunnelmauer, und zugleich spüre ich einen stechenden Schmerz in meinen Zehen. Mein Fahrrad rutscht mir aus der Hand und fällt um. Der Mann ruft mir etwas zu. Es hört sich an wie: »Finger weg von meinen Kohlen!« Ich beachte ihn nicht und höre auch nicht auf das Gezeter der Frau im Keller. Sie sind so weit weg.

 

»Wo kommst du her?« Meine Mutter klingt mehr besorgt als wütend. »Und wie siehst du denn aus? Du bist ja pitschnass.« Sie hat mich erwischt, als ich versuchte, die Treppe hochzuschleichen.

»Mir ist kalt. Außerdem ist mir schlecht. Und mein Fuß tut weh.«

Mama lässt mir ein Bad ein und bringt mich nach dem Baden ins Bett. Ich besitze jetzt einen flauschigen, dunkelblauen Bademantel mit Kapuze. Wenn man sich in so einen Mantel einkuscheln kann, ist das Frieren fast gemütlich. Mama bringt mir Tee und steckt mir eine Wärmflasche unter die Bettdecke. Ich bin müde und erschöpft und schlafe den Rest des Tages. Im Halbschlaf spüre ich, dass Mama zwischendurch meine Stirn fühlt. Aber sie lässt mich schlafen.

Verräterin! Dieses Wort will mir nicht aus dem Kopf. Ebenso wenig wie das Geräusch, das der Kopf des Jungen machte, als er gegen die Tür stieß.

Abends bringt meine Mutter mir Suppe, und später schaut Papa nach mir. »Hallo, du Schlafmütze. Was machst du für Sachen?« Ich erzähle ihm, dass mich der Regen überrascht hat und ich mich nirgendwo unterstellen konnte. Es ist nicht einmal eine Ausrede. Alles andere verschweige ich.

»Ja, ja, der Regen«, sagt er. »Der kam ganz plötzlich. Fast hätte es mich auch erwischt.« Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Du hast Fieber. Schlaf dich aus.«

Papa hat mich offenbar nicht gesehen und den Jungen wohl auch nicht.

Er bleibt in der Tür stehen: »Wir haben heute einen dieser Burschen erwischt, die du mit Werner beobachtest hast. Ich glaube, wir werden bald das ganze Rattennest ausheben.«

Ich erschrecke, weil er also doch von dem verhafteten Jungen weiß, und setze mich aufrecht.

»Was hast du eigentlich mit Werner neulich Abend besprochen? Du weißt schon, als ich mit ihm im Kino war.«

Papa kommt zurück und setzt sich auf mein Bett. »Hast du Ärger deswegen?«

»Ich glaube, Werner hält mich für eine Petze, weil ich mit dir über die Swingheinis geredet habe. Und sie haben Norbert vermöbelt, weil der einen Witz über den Führer gemacht hat.«

»Das sieht ihm ähnlich. Und natürlich ist meine Tochter keine Petze.« Er kneift mir leicht in die Backen. »Aber es geht nicht, dass Werner einen Privatkrieg führt. Er muss sich an die Gesetze halten, wie jeder andere auch. Nur so können wir unsere Maßnahmen geordnet und diszipliniert durchführen. Soll ich mir den Burschen mal vorknöpfen?«

»Nein, Papa. Bitte nicht. Was passiert mit dem Jungen, den ihr erwischt habt?«

»Nun ja, wir werden ihm klarmachen, dass er gegen Gesetze verstoßen hat. Aber ihm wird schon nicht allzu viel passieren. Wir reden ein ernstes Wörtchen mit ihm. Mit ihm und seinen Kumpanen.« Papa steht auf und sieht sich in meinem Zimmer um. »Frau Weber wird Mutter demnächst hier im Haus zur Hand gehen. Sei so nett und sorge dafür, dass dein Zimmer aufgeräumt ist, wenn sie kommt. Und kümmere dich doch etwas mehr um Gertrud. Die Familie hat es nicht leicht, aber sie sollen spüren, dass sie einen sicheren Platz in unserer Volksgemeinschaft haben. Wir müssen Härte zeigen gegenüber Abweichlern und subversiven Elementen – und Hilfsbereitschaft gegenüber Volksgenossen. Und jetzt schlaf gut, meine Prinzessin.«

Ich bin ganz die folgsame Tochter. Müde schließe ich die Augen.

»Wie ging denn der Witz über den Führer?«, fragt er plötzlich.

»Ich habe keine Ahnung. Ehrlich!« Dumm ist nur, dass ich dabei lachen muss.

»Na ja«, sagt Papa, »scheint ja kein schlechter Witz gewesen zu sein.«

 

Ich falle in einen unruhigen, fiebrigen Schlaf. Ich träume von Mathilda. Sie hockt auf einem Koffer, allein und verloren in einer Straße. Dunkle, unförmige Häuser stehen wie schwarze Riesen um sie herum. Sie rücken auf Mathilda zu. Mit Schattenhänden greifen sie nach ihr. Mathilda steht mittendrin, ganz klein. Ihr altes Haus schwebt im Hintergrund, mit seinem Türmchen, in dem Mathilda ihr Zimmer hatte. Aber jetzt sieht es aus wie ein großer, gemeiner Riese, der grinsend die Faust hebt, die Faust so groß wie eine Baumkrone. Mathilda schreit, aber es kommt keine Antwort. Nichts. Alles färbt sich undurchdringlich tiefschwarz. Mathilda schreit in die Leere. Angst und würgende Laute kommen aus ihrer Kehle. Wie eine schwarze Blase steigt der Schrei in den Himmel. Mathilda nimmt ihren Koffer und geht zwischen den drohenden Häuserreihen und bizarren Bäumen hindurch. Ihr einziger Schutz ist ein viel zu großer schwarzer Mantel, umgehängt gegen die Kälte der Welt. Sie entfernt sich, und ihr Schatten schrumpft langsam zu einem winzig kleinen Punkt in der Ferne.

Erschrocken fahre ich hoch. Die Nacht ist tiefschwarz und stumm. Ich spüre das schweißnasse Laken unter mir. Ich friere und zittere am ganzen Körper. Ich springe auf. Licht darf ich wegen der Verdunkelung nicht machen. Mit trockener Kehle öffne ich das Dachfenster, will Luft schnappen. Der Sternenhimmel ist klar und weit. Der Mond scheint freundlich auf das Dächermeer der Stadt. Alles wirkt ruhig. Da ist keine Bedrohung. Alles ist ungetrübt und friedlich. Ich atme tief ein, will dieses Bild aufsaugen und es bei mir behalten. Ich will es auch zu Mathilda schicken. Ich schaue noch lange in den Sternenhimmel. Ich weiß, dass es viel zu hell und klar ist. Das sind die Nächte, in denen die Bomber kommen. Doch heute bleibt es ruhig, und ich versuche, wieder einzuschlafen.