9. Tausend Sterne

»Der erste Traum in einem neuen Haus geht immer in Erfüllung«, sagt mein Vater am Frühstückstisch. Lächelnd schneidet er eine Scheibe vom frischgebackenen Sonntagsstuten ab und legt sie mir auf den Teller. Dann nimmt er das Messer und köpft sein Ei. Wir haben jetzt zierliche Eierbecher aus weißem Porzellan. Es gibt Butter und selbstgemachte Marmelade, Leberwurst und Käse. Mama hat alles auf Tellern aus geschliffenem Glas angerichtet. Auf dem Tisch steht eine Vase mit frischen Blumen.

»Und?« Mein Vater sieht mich an und greift nach der Zeitung. »Möchtest du, dass dein Traum in Erfüllung geht?«

»Ich kann mich an keinen Traum erinnern! Ist das ein schlechtes Zeichen?« Ich habe nämlich nach dem Glas Sekt wunderbar geschlafen – tief und scheinbar traumlos.

»Nein«, sagt Mama und lacht, »wenn man seinen Traum nicht erinnert, ist alles möglich.«

Hans grinst. »Die träumt doch nur von Werner.«

»Quatsch!« Ich verdrehe die Augen. Mein Bruder kann manchmal so richtig blöd sein.

»Komm, Schwesterchen, gib’s zu! Du träumst davon, dass Werner dich ins Kino einlädt.«

»Schlaumeier. Das hat er schon längst.«

Mama guckt, als würde sie die Hochzeitsglocken läuten hören.

»So, so«, brummt mein Vater, »mit Werner ins Kino? Und unsere Erlaubnis brauchst du dazu nicht?«

»Ach Papa, das ist ganz harmlos.«

»Ich finde, Paula hat es verdient.« Mama zwinkert mir zu. »Meinst du nicht auch, Erich?«

»Na ja. Gegen diesen Werner ist nun wirklich nichts einzuwenden. Aber ich bestehe darauf, dass er dich nach dem Kino sofort nach Hause bringt.« Papa faltet die Zeitung zusammen. »Ich habe sowieso noch ein Wörtchen mit ihm zu reden. Wann soll es denn losgehen?«

»Morgen. Wir gehen in Auf Wiedersehen, Franziska

Hans prustet los: »Ausgerechnet. Das ist doch bestimmt eine Schnulze. Werner muss dich ja richtig gernhaben.«

Papa klatscht seine gefaltete Zeitung Hans um die Ohren. Dabei schmunzelt er. »Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich gern habe, wenn du heute den Garten in der Sonnenstraße herrichtest, damit dort jemand einziehen kann. Kinnebrock erwartet dich, mein Sohn.« Hans geht in Deckung, taucht ab wie ein Boxer und lacht.

 

Wir verbringen den Vormittag damit, unser Haus einzuräumen. Papa hat jetzt ein großes Arbeitszimmer, und sein wuchtiger Schreibtisch hat einen Platz vor der hohen Bücherwand. Auf der blankpolierten Tischplatte stehen ein Telefon und die Tischleuchte mit dem grünen Schirm. Von der Straße dringt Sonnenlicht herein und wirft den Schatten einer großblättrigen Zimmerpflanze über die dunklen Eichenmöbel, die Tapeten und Teppiche. In einer Ecke am Fenster stehen zwei bequeme Sessel an einem Schachtisch. Der Raum ist ruhig, warm und eindrucksvoll. Papa steht auf der Leiter und mustert die vielen fremden Bücher.

Eine Schiebetür trennt den Raum vom Wohnzimmer. Mama räumt ihr gutes Porzellan in eine Glasvitrine, während ich den Flügel poliere. Stolz betrachtet sie die Tapeten des Salons, wie sie das Wohnzimmer jetzt nennt. Sie sind aus feinstem Stoff und tragen ein bordeauxfarbenes Rosenmuster auf beige-goldenem Untergrund. Wir sind jetzt vornehm!

Dann darf ich endlich meine Kisten auspacken. Gertrud ist gekommen und hilft mir. Durch das geöffnete Fenster weht der modrige Geruch verbrannter Blätter. Die Luft ist lau. Ausgelassene Stimmen dringen in mein Zimmer. Wenn ich mich weit genug hinauslehne und nach rechts schaue, kann ich hinter einer Häuserecke den Feuerlöschteich erahnen. Über der Promenade wölbt sich dort eine wuchtige Baumkrone. Ich bilde mir ein, dass das der Baum mit unserm Geheimbriefkasten ist.

Im ganzen Haus rumort es. Kisten werden geschoben und Möbel umgestellt. Frauen aus unserer Nachbarschaft in der Sonnenstraße sind gekommen und helfen Mama, Gardinen aufzuhängen, Tischwäsche zu stapeln, Handtücher zu falten. Aufgeregte Stimmen schwirren durchs Haus. Herrlich, diese Stuckdecken. Großartig, diese Aussicht. Und die Tapeten sind ja ein Gedicht!

Frau Weber, Gertruds Mutter, ist eine Spur aufgeregter als die anderen Nachbarinnen. Zwischen duftendem Bohnenkaffee und Sekt erzählt Mama mir, dass die Webers in unser Häuschen an der Sonnenstraße einziehen werden. Mein Vater hat das so eingefädelt. Gertrud soll jetzt mein früheres Zimmer bekommen. Gertruds Vater ist in Polen in einem Polizeibataillon in der Nähe von Warschau. Als Gertrud mit ihrer Familie im Sommer ausgebombt wurde, hatte ihr Vater Urlaub, Fronturlaub. Ich fand ihn recht gut gelaunt für einen Mann, der aus dem Krieg kam und jetzt in den Trümmern seines Hauses nach letzten Habseligkeiten suchen musste.

Mein Vater half ihm damals, und dann saßen sie in der Küche und tranken Bier aus der Flasche. Sie unterhielten sich leise. Hans verscheuchten sie mehr als einmal. Sie wollten keine neugierigen Zuhörer. Auf mich machten sie den Eindruck von Männern, die etwas von ihrer Arbeit verstehen. Worte fielen: »Maßnahmen«, »Aktionen«, »Sonderbehandlung«. Papa sprach von der Schwere der Aufgabe, die die Männer in Polen zu erfüllen hätten. Und er sagte, dass man den Kameraden den Rücken freihalten müsse. Die beiden verstanden sich. Das sah ich sofort. Herr Weber rauchte. Seine linke Hand spielte mit dem Bügelverschluss der Bierflasche. Pinkus Mueller stand auf dem Etikett.

Schreiner Heitkamp hat heute einen Helfer mitgebracht. Es ist ein französischer Kriegsgefangener, der, so sagt Herr Heitkamp mit einem gewissen Stolz in der Stimme, ein wahrer Künstler in seinem Fach sei. Sie bauen Regale in unseren Keller. Herr Kinnebrock und Papa laden die letzten Kisten vom Laster. Herr Kinnebrock ist jetzt auch bei der Polizei. Sie haben eine Kompanie zusammengestellt, die ausschließlich aus Gastwirten und Weltkriegsveteranen besteht.

»Nichts für ungut«, sagt Herr Kinnebrock grinsend und drückt sich die Schirmmütze in den Nacken. »Wir kennen unsere Pappenheimer.« Nichts für ungut ist Kinnebrocks Lieblingssatz. Mein Vater behandelt Kinnebrock mit großem Respekt. Er ist ein »alter Kämpfer«, der im Weltkrieg nicht nur die Schlachten auf den Feldern Frankreichs überstanden hat, sondern auch später als Freikorpskämpfer im Ruhrgebiet war.

»Treu, deutsch und zuverlässig, das ist unser Herr Kinnebrock«, sagt Papa.

»Nichts für ungut«, erwidert der und haut seine mächtige Pranke auf Hans’ Schulter. »Einen tüchtigen Jungen hast du, Erich. Dem geht die Gartenarbeit wirklich leicht von der Hand. Mal sehen, was er vom Kistenschleppen hält.« Und dann stoßen sie mit Herrn Heitkamp und dem Kriegsgefangenen auf die alten Zeiten und das neue Deutschland an, während Hans leise fluchend die Kisten vom Lastwagen lädt.

Ich wische mir die schmutzigen Hände an meiner Schürze ab und atme tief die würzige Herbstluft ein.

»Schön habt ihr es«, sagt Gertrud. Sie liegt auf meinem Bett, die Hände im Nacken, und bewundert die Rosen an meiner Zimmerdecke. Dann springt sie auf und nimmt vorsichtig das Buch mit der Signatur des Führers: »Das muss wieder einen Ehrenplatz haben.«

Ich nicke und stelle es auf ein Bücherbrett. Da springt es einem richtig ins Auge. Später, als Gertrud gegangen ist, setze ich mich an meinen neuen Schreibtisch, einen Sekretär mit vielen kleinen Fächern und Schublädchen. Herr Heitkamp hat das Kirschbaumfunier blank poliert und einige Zierleisten ausgebessert. Er hat mich auf ein Geheimfach aufmerksam gemacht, das im Aufsatz hinter einem versteckten Türchen verborgen ist.

Ein gutes Versteck für Mathildas Briefe, obwohl mir ein inneres Gefühl sagt, ich sollte sie besser verbrennen. Doch sie sind das Einzige, was ich von ihr habe. Ich muss endlich wieder an Mathilda schreiben.

 

Lenchen! Ich bin so glücklich. Wir sind umgezogen. Ich habe unglaublich viel Platz in meinem neuen Zimmer. Unser Haus würde Dir gefallen, aber – was machst Du? Und wo bist Du? Du fehlst mir, und ich mache mir Sorgen um Dich.

Stell dir vor, ich werde mit Werner ins Kino gehen. Ob er sich traut? Du weißt schon! Schreibe mir! Bitte bald. Dein Fundevogel

 

Ich bringe den Brief zum Geheimbriefkasten. Meine Hand liegt vielleicht einen Moment zu lang auf der borkigen Rinde des Baumes. Anders kann ich mir meine plötzliche Traurigkeit nicht erklären. Glücklich und zufrieden müsste ich jetzt eigentlich nach Hause gehen, mich auf mein Bett legen, träumen und mich aufs Kino freuen. Aber ich spüre, wie mich auf einmal ein Gefühl der Hilflosigkeit gefangen hält. Was ist los mit mir? Ist das wegen Mathilda? Oder wegen dieser ganzen Heimlichtuerei?

Wie von selbst beginne ich zu laufen. Ich laufe in der Dämmerung auf der Promenade, an Mathildas früherem Haus und an den zerstörten Häusern der Sonnenstraße vorbei und weiter bis zum Zwinger …

»Komm! Ein Wettrennen. Einmal um die Promenade. Nur wir beide.« Hans ist auf einmal neben mir. Wie vom Himmel gefallen steht er da. Ich bin froh, dass mein Bruder mich aus den trüben Gedanken holt. Mühelos und mit federnden Schritten läuft er neben mir her.

Auf einmal verändert er die Stimme: »Willkommen bei den Olympischen Spielen!« Er ist Reporter und Läufer zugleich. »Es geht um die Ehre. Es geht um den Sieg. Es geht um Gold für Deutschland.« Seine Stimme tönt wie aus dem Lautsprecher.

Der Coerdeplatz liegt längst hinter uns. Am Kreuztor überqueren wir die Hermann-Göring-Straße. Der Mond hängt dick und fett über den Bäumen. Eine laue Nacht senkt sich über die Dächer der Stadt herab. Ich bekomme Seitenstiche. Weiter!

»Sehen Sie den überragenden Alfred Dompert. Den großartigen deutschen Langstreckenspezialisten. Den Mann mit der Pferdelunge.«

Vor uns liegt der Hindenburgplatz. Mein Herz schlägt jetzt rasend. Mein Atem geht nur noch stoßweise. Keine Spur von Pferdelunge!

»Bist verflixt schnell, Schwesterchen«, keucht jetzt sogar mein Bruder. Entweder will er mich auf den Arm nehmen, oder ich habe ihn gleich besiegt. Am Kanonengraben begreife ich, dass Hans mit mir spielt.

»Und jetzt der unvergleichliche Endspurt des Helden der Promenade. Alfred Dompert läuft alle in Grund und Boden!«

Rechts von mir sehe ich den weißen Giebel der Schubert-Villa im Mondlicht. Eine Runde haben wir geschafft! Jeder meiner Atemzüge sticht. Ich glaube, mir wird bald schwarz vor Augen. Aber ich setze tapfer Schritt vor Schritt.

»Der sensationelle Alfred Dompert läuft auf der Zielgeraden ein. Schnell wie ein Windhund, elegant wie eine Gazelle.«

Noch zweihundert, noch hundert Meter, noch zehn. Meine Knie sind weich, meine Beine schwer.

Hans reckt die Arme in die Luft. »Sieger! Sieger! So sehen echte Sieger aus.« Als ich eine kleine Ewigkeit nach ihm an unserem Ausgangspunkt ankomme, klopft er mir auf die Schulter. »Mensch, Schwesterchen«, japst er, »das machen wir morgen gleich noch mal.«

Ich bin vollkommen außer Puste. Aber es hat gutgetan. Ich sehe Hans an. Sein Kopf ist rot. Vor meinen Augen tanzen tausend Sterne. »Gütiger Himmel. Nie wieder, Hans! Nein, nie wieder.«

 

Am nächsten Morgen fühle ich mich ausgeruht und ausgeschlafen und freue mich auf den Nachmittag. Meine Mutter trällert in der Küche Schlagermelodien, und Hans schenkt mir wieder das strahlende Lächeln des Siegers. Er erkundigt sich nach meinem Befinden.

»Mensch, Hans. Du siehst ja unheimlich fertig aus«, necke ich ihn und streichele ihm aufmunternd seine borstigen Haare.

»Dass du noch lebst!« Er gibt es mir zurück. »Ein wahres Wunder.«

Nach dem Mittagessen gebe ich Mama einen Kuss und schnappe meine Tasche.

Ich gehe mit Werner ins Kino. Was für ein Gefühl! Ich schwebe die Treppe hinunter. Die Prinzessin verlässt das Schloss. Irgendwo in der Stadt wartet der Prinz. Hätte ich doch nur eine Kutsche. Nein, ein Pferd. Astra oder Mozart. Dann würde ich anspannen lassen.

Mein Drahtesel tut es aber auch. Am Kanonengraben richte ich mich im Sattel auf und mache einen langen Hals, um über den Zaun bei Schuberts schauen zu können. Die weiße Gartenbank steht auf der Terrasse, und niemand hat sich die Mühe gemacht, das gefallene Laub zu harken. Ein verlassenes Schloss, vernachlässigt, traurig und ohne Leben. Es versetzt mir einen Stich. Wohin sind sie bloß? Ich schwöre, in dieser Woche werde ich zu Berning fahren, den vertrauten Stallgeruch einatmen und Astra und Mozart besuchen. Vielleicht weiß er ja etwas über Mathilda. Egal, was passiert – ich werde es tun!

 

Ausgerechnet auf dem Weg zum Kino gibt es einen Voralarm. Ich überlege, ob ich umkehren soll. Ich weiß, dass meine Mutter sich Sorgen macht, wenn wir bei Angriffen in der Stadt sind.

Sie hat mir geholfen, die Zöpfe besonders schön zu flechten, und mir viel Spaß gewünscht. Ich habe versucht, meine Aufgeregtheit hinter Albernheiten zu verstecken. Mama hat mein Gesicht in beide Hände genommen und mir einen Kuss auf die Stirn gedrückt.

Ich denke, dass ich großes Glück habe mit meinen Eltern.

Frau Weber bewacht ihre Tochter wie ein Schießhund. Sie duldet noch nicht mal, dass Gertrud abends im HJ-Heim bleibt. »Wenn Mutter mich beim Herumknutschen erwischt, bin ich tot.« Gertrud lehnte im Türrahmen zu meinem alten Zimmer in der Sonnenstraße, als sie das sagte. Ich half ihr beim Einräumen. Wir sortierten ihre Kleider.

»Wie hältst du das aus?«, fragte ich, während ich vor der geöffneten Schublade meiner alten Kommode kniete und damit beschäftigt war, Gertruds Ringelsöckchen paarweise auf links zu drehen und ineinanderzustopfen.

Gertrud hielt mir zehn Finger unter die Nase. »Die Zehn Gebote« reichen manchmal nicht, sagte sie und zeigte mir ihren Daumen zusätzlich. »Das Elfte Gebot für solche Fälle heißt nämlich: Du sollst dich nicht erwischen lassen.« Und sie lachte laut auf.

Genau daran muss ich jetzt denken, als ich in die Ludgeristraße einbiege. Rechts von mir eiert die Straßenbahn quietschend über die Gleise. Die mit Eisen beschlagenen Räder eines Fuhrwerks rumpeln über das Kopfsteinpflaster. Der Kutscher schnalzt, das Pferd spitzt die Ohren und steht sofort still. Eine Windböe packt meine Haare …

 

Ich sehe Werner schon von weitem. Er steht unter dem Filmplakat. Die großartige Schauspielerin Marianne Hoppe – sie spielt die Franziska – schaut verträumt in die Ferne, während ihr Filmpartner Hans Söhnker – er stellt den Wochenschaureporter Michael dar – sie in den Armen hält. In großen, geschwungenen Buchstaben zieht sich der Filmtitel quer über das Plakat. Werner fährt sich nachdenklich mit der Hand über das Kinn. Dann zupft er an den Ärmeln seiner Jacke herum.

Mein Gott, denke ich, der ist ja aufgeregter als ich.

Werner geht zur Straßenecke und betrachtet die Auslagen des Hemdengeschäftes. Immer wieder schielt er die Straße hinunter. Aber ich stehe auf der anderen Straßenseite und drücke mich an das Fenster der Bäckerei. Die Bürgersteige sind schmal, und Menschen drängen sich an mir vorbei. Vor dem Capitol hat sich eine Schlange gebildet. Werner sieht auf seine Armbanduhr und reiht sich ein.

Wir sind beide zu früh. Als ich mich neben ihn schmuggle, schaut er erschrocken hoch. Er gibt mir artig die Hand und stammelt so etwas wie: »Schön, dass du da bist, bin auch gerade erst gekommen.« Richtig steif!

Ich muss mich dafür auf die Zehenspitzen stellen, aber ich schlinge meinen Arm um seinen Hals und ziehe ihn zu mir herunter. Dann küsse ich ihn auf die Wange – und habe dabei furchtbares Herzklopfen. Ich bin über meinen eigenen Mut erstaunt.

Werner hat deutlich zu viel Rasierwasser in sein Gesicht geschüttet. Er riecht, als hätte er darin gebadet. Aber ich lächle nur erhaben – eben ganz Prinzessin.

»Gut siehst du aus«, sagt er, nimmt meine Hand und lässt sie nicht mehr los.

Die Wochenschau finde ich immer wieder grandios. Sie beginnt mit Fanfaren und Trommelwirbeln. Die feste, siegesgewisse Stimme des Sprechers berichtet vom unaufhaltsamen Vormarsch unserer siegreichen Truppen in Russland. Unsere Panzerarmeen marschieren auf Leningrad zu. Marschmusik untermalt die Szene. Die Stadt ist bereits eingeschlossen und abgeriegelt. Deutsche Flugzeuge stürzen sich auf die brennende bolschewistische Stadt. Die Wehrmacht ist auch in der Ukraine erfolgreich. Wir sehen Bilder unserer lachenden Soldaten, hemdsärmelig und braungebrannt. Sie winken in die Kamera. Es wird lauter im Kino. Die Hitlerjungen beklatschen die Kampfszenen. Werner springt auf und jubelt. Die Musik verebbt, und er lässt sich zurückfallen in den Kinosessel.

Der Kommentator verliest nun eine Polizeiverordnung zur Kennzeichnung der Juden. Alle Juden ab dem sechsten Lebensjahr müssen ab Mitte September auf der linken Seite der Kleidung in Brusthöhe einen handtellergroßen, sechszackigen gelben Stern tragen. Darauf muss das Wort »Jude« stehen.

Das hat Papa also mit den »Maßnahmen« gemeint, die ergriffen werden, damit man die Juden erkennt! Ein hoher Polizeioffizier in SS*-Uniform gibt vor der Wochenschau-Kamera eine Begründung dazu ab. Er sagt, im Ostfeldzug habe der deutsche Soldat den Juden in seiner ganzen Widerwärtigkeit und Grausamkeit kennengelernt. Deshalb fordern der deutsche Soldat und das gesamte deutsche Volk zu Recht, dass den Juden in der Heimat die Möglichkeit genommen werden müsse, sich zu verstecken. Es wird unruhig im Saal. Der Film soll endlich beginnen!

Als es dann losgeht, sinke ich tief in den roten Kinosessel und lege wie zufällig meine Hand auf die Holzlehne.

»Regengespräche«, sagt die Film-Franziska, und als der Sensationsreporter Michael ihr antwortet: »Ja, Regen und Herbstblätter, dass sieht so nach Abschied aus. Dabei fangen wir doch erst an …«, da nimmt Werner meine Hand.

Vom restlichen Film bekomme ich nun nicht mehr viel mit …

 

Nach dem Film möchte ich noch nicht nach Hause, und wir schlendern durch die Stadt. Auf der Straße sehen wir viele Jungen, lachend und mit einem Koffer am Arm. Jetzt wird der Jahrgang 1922 zum Heer eingezogen. Werner sagt: »Bei dem Tempo bin ich in zwei Jahren dran.« Ich drücke seine Hand etwas fester und denke, dass der Krieg bis dahin längst vorbei sein wird.

Im Deutsche-Familien-Kaufhaus hängt ein Schild mit der Aufschrift, dass Juden unerwünscht sind.

»Wenn die Juden jetzt diese Sterne tragen müssen«, sagt Werner, »können sie sich endlich nicht mehr verstecken.«

Ich denke an Mathilda und bin erschrocken. Doch ich darf mir nichts anmerken lassen. Schnell lenke ich ab.

»Übrigens, mein Vater möchte mit dir sprechen.«

Werner sieht mich erstaunt an. »Was will er denn?«

»Na ja, wohl dein Ehrenwort verlangen, dass du mich heile zu Hause ablieferst«, sage ich lachend. Ich spüre, wie Werners Hand in meiner zuckt.

Franziska erkenne ich in der Menge sofort. Sie geht einige Meter vor uns. Sie trägt einen blauen Rock und eine Jacke, die sehr eng geschnitten ist und ihre Figur betont.

»Sieh mal«, sagt Werner, »da ist Franziska.«

Unsere Hände lösen sich.

»Franziska!«, ruft er. Ihr offenes Haar fließt ihr in weichen Wellen über den Rücken. Ich glaube, ich würde sie allein an der Art erkennen, wie sie ihre Hüften bewegt. Sie bleibt stehen und schenkt uns ein strahlendes Lächeln.

»Wie die Turteltäubchen«, sagt sie, und es klingt ein wenig ironisch. Werner grinst breit. Ich sage nur verlegen ja. Etwas anderes fällt mir nicht ein.

Aber Franziska sieht mich noch nicht mal an. Sie hat nur Augen für Werner.

Endlich sagt sie: »Ich muss weiter. Viel Spaß noch, und pass gut auf dich auf, Paula.« Was sollte das denn?

Werner zuckt mit den Schultern und nimmt meine Hand. »Komm, ich lade dich ins Café Kleimann an der Lambertikirche ein.«

»Prima«, antworte ich, »etwas Süßes ist jetzt genau das Richtige.«

An der Servatiikirche zieht Werner mich in das Halbdunkel des Portals und näher zu sich. Ich zittere, und er küsst mich. Sein Mund ist so weich. Ich könnte versinken. Der Kuchen ist vergessen.

Papa erwartet uns an der Haustür. Ich verabschiede mich von Werner, und er bedankt sich bei mir. Ich schlüpfe hinein und luge durch die Gardine. Vom Küchenfenster aus sehe ich Papa und Werner, in ein Gespräch vertieft, die Straße hinuntergehen.

 

Am Montag sind sie dann überall: die Judensterne. Ein Mann eilt an mir vorbei. Mit seiner Aktentasche versucht er den Stern zu verbergen, doch es gelingt ihm nicht.

Was ist mit Mathilda? Wie mag es ihr jetzt gehen? Warum meldet sie sich nicht? Sie ist nur Halbjüdin. Sie trägt diesen Stern wohl nicht. Oder doch? Hoffentlich meldet sie sich bald.

In der folgenden Nacht träume ich von ihr. Im Traum läuft sie schreiend davon. Wovor sie flieht, kann ich nicht erkennen. »Mathilda!«, rufe ich. Doch mein Ruf verhallt in der Schwärze der Nacht. Vielleicht ist Mathilda in Not, während ich mit einem Jungen händchenhaltend im Kino sitze. Ich habe Angst um sie. Ich muss etwas tun.