10. Du sollst nicht lügen

Pfarrer Burkhart ist heute von Kopf bis Fuß der freundliche, geduldige Lehrer. Er sitzt am Pult, hält sich mit beiden Händen an der Bibel fest und spricht über die Zehn Gebote. Seine randlose Brille rutscht wie immer auf die Nasenspitze, und seine wässerig hellblauen Augen wandern unermüdlich über die Tischreihen.

Seit den Sommerferien hat er es schwer in unserer Klasse. Der Bischof von Münster*, Graf von Galen, hatte offen von der Kanzel der Lambertikirche herab das Töten von Geisteskranken als Mord bezeichnet.

Gestapospitzel saßen im Gottesdienst und schrieben eifrig mit, was er predigte: »Wenn es jetzt zunächst auch nur arme, wehrlose Geisteskranke trifft, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben. Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher.«

Die Menschen in der Lambertikirche saßen atemlos und mit Herzklopfen. Was würde jetzt passieren? Der Führer soll getobt haben, heißt es, doch dem Löwen von Münster, wie der Bischof genannt wurde, passierte nichts. Nicht einmal, als er beim Polizeipräsidenten Anzeige wegen Mordes erstattete.

Ich lief, als ich davon gehört hatte, mit Herzklopfen nach Hause. Meine Mutter sagte: »Siehst du, der Führer ist gar nicht so.« Und als Mutter das dreimal wiederholt hatte, beruhigte ich mich langsam.

Die Predigten werden heimlich verbreitet. Britische Flieger werfen sie als Flugblätter ab, habe ich gehört. Das findet mein Vater ungeheuerlich! Er spricht von schweren Bestrafungen für jeden, der dabei erwischt wird, und fügt hinzu, dass alles genau nach Gesetzesvorgabe erfolge.

Und meine Mutter sagt: »Der Führer wird es wissen. Er ist ein guter Mensch.«

Franziska jedenfalls hat Pfarrer Burkhart offen den Krieg erklärt. Sie sagte ihm, wer gegen den Führer predige, habe nichts mehr zu lachen, auch wenn man ihn dieses eine Mal geschont habe. Und der Bischof sei schließlich Pfarrer Burkharts Vorgesetzter. Wir hielten den Atem an. Pfarrer Burkhart wurde zornig und wollte Franziska für den Rest der Stunde bestrafen und in der Ecke stehen lassen. Aber sie machte ihm klar, dass ihr Vater nicht irgendwer in der Partei sei. Der Pfarrer begriff schnell, und seitdem wandern seine Augen noch unruhiger über unsere Köpfe.

Auch in der Klasse hat sich seitdem etwas geändert. Einige zeigen jetzt offen ihr Desinteresse, ja, ihre Verachtung gegenüber dem Fach Religion. Sie malen, zeichnen, lachen und stören. Da hat Pfarrer Burkhart einen schweren Stand.

»Ich weiß«, sagt er heute, »ihr kennt sie alle, die Zehn Gebote. Wir sollten uns von Zeit zu Zeit auf sie besinnen. Sie helfen uns, das Gute vom Bösen zu unterscheiden.«

Er legt die Bibel aus den Händen und erhebt sich. Dann verschränkt er die Hände auf dem Rücken und wandert durch die Klasse.

»Wer nennt mir das erste Gebot?«

Nur wenige Mädchen hören zu. Einige dösen oder betrachten die Risse im Farbanstrich der Decke. Nur Anna, die sonst ganz still ist, ist aufmerksam dabei und meldet sich: »Du sollst keine fremden Götter neben mir haben.«

»Richtig«, lobt Pfarrer Burkhart. »Ich möchte, dass ihr euch etwas Zeit nehmt. Denkt darüber nach, was dieses Gebot mit uns heute zu tun hat. Ist es in unserem Leben von Bedeutung?«

Er streicht sich die Haare glatt und kratzt sorgfältig Kreideflecken aus dem Revers seiner Jacke. Nach einer Weile unterbricht er die Stille.

»Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut«, fährt der Pfarrer mit ruhiger, tiefer Stimme fort. »Nun, Gertrud. Was fällt dir dazu ein?«

Gertrud scheint so gelangweilt, dass sie Pfarrer Burkhart gar nicht hört. Ich stoße sie an. Überrascht horcht sie auf, kritzelt keine Strichmännchen mehr.

»Hast du meine Frage nicht verstanden?« Pfarrer Burkhart steht jetzt vor ihr.

Ich will ihr helfen und halte ihr die gespreizten Finger meiner Hände unter die Nase. Zehn, will ich sagen, das zehnte Gebot.

Doch Gertrud glotzt mich vollkommen verständnislos an. »Häh?«

»Die Zehn Gebote haben nicht an Bedeutung verloren, Gertrud«, sagt der Pfarrer streng und schaut Gertrud über die Brillengläser an. »Hast du sie etwa vergessen? Du solltest dir schon etwas mehr Mühe geben.«

Johanna meldet sich. Aber sie hilft Gertrud nicht aus der Patsche, sie bittet darum, zur Toilette gehen zu dürfen. Pfarrer Burkhart erlaubt es mit einer Handbewegung. Zu Gertrud sagt er, dass sie aufstehen solle, wenn er mit ihr redet. Gertrud erhebt sich schwerfällig und lustlos. Die Stuhlbeine schieben sich quietschend über den Holzboden.

»Das zehnte Gebot, Gertrud. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut.«

»Und wenn er kein Nächster ist?« Gertruds Stimme ist plötzlich klar und schneidend. Aus ihr spricht eine Entschlossenheit, die mich für einen Moment zusammenzucken lässt. »Was ist, wenn er Jude ist? Kann man einen Dieb bestehlen, der durch Raffgier und Zinswucher die Volksgemeinschaft schädigt?«

Pfarrer Burkhart zupft an seinem Priesterkragen. Er will scheinbar etwas entgegnen, aber er räuspert sich nur. Dann schaut er auf die Holzdielen und spitzt die Lippen. Er sucht nach einer passenden Antwort. Es wird still in der Klasse. Pfarrer Burkhart kramt in seiner Hosentasche und findet ein Stück Kreide. Er geht zur Tafel und betrachtet die Kreide in seinen Fingern. Aber er schweigt weiter. Ich seufze tief und laut in das Schweigen hinein. Mir ist unbehaglich.

»Ja, Paula, willst du uns etwas sagen?« Pfarrer Burkhart kommt auf mich zu.

Im gleichen Augenblick wird die Klassentür aufgerissen. Johanna stürzt herein.

»Schnell zum Fenster! Die Gestapo ist bei uns in der Schule!«

Bewegung kommt in die Klasse. Einige Mädchen stürmen zum Fenster. Stühle fallen um. Stimmengewirr erfüllt den Raum. Franziska steht hinter mir und macht einen langen Hals. Auf dem Schulhof steht ein Auto. Zwei Männer in schwarzen Mänteln haben Herrn Ackermann in ihre Mitte genommen. Einer hält ihn am Oberarm fest. Der andere trägt Ackermanns Aktentasche. Herr Ackermann schaut zu unseren Fenstern hoch. Ich habe das Gefühl, er sieht mich an. Er trägt eine helle Jacke. Seinen Hut hält er in der linken Hand. Er bückt sich und wird in den Wagen geschoben. Der Mann mit der Aktentasche setzt sich neben ihn. Die Tür schließt sich. Der andere Mann klettert auf den Fahrersitz hinter das Lenkrad.

»Meine Güte«, sage ich, »was hat der denn verbrochen?«

»Nun tu mal nicht so überrascht«, sagt Franziska. »Dass der sich um Kopf und Kragen redet, war doch von Anfang an klar.«

»Hast du was damit zu tun?«

Franziska sieht mich böse an. »Spinnst du? Ackermann ist garantiert nicht mein allerbester Freund. Aber ich würde niemals jemanden verpfeifen, nur weil mir seine Meinung nicht passt.« Lachend fügt sie hinzu: »Der hat doch bestimmt noch ganz andere Sachen auf dem Kerbholz. Oder denkst du, die machen wegen seines philosophischen Geschwätzes so ein Theater? Wie hast du ihn genannt? Einen harmlosen, schrulligen alten Mann? Aber scheinbar ist er doch alles andere als das.« Das Auto fährt vom Hof.

Ich habe plötzlich Herzklopfen und gehe, ohne mir etwas anmerken zu lassen, an meinen Platz zurück.

Pfarrer Burkhart, der mit der Kreide in der halb erhobenen Hand gewartet hat, setzt seinen Unterricht fort, als wäre nichts geschehen.

Ein Gefühl von Unwirklichkeit befällt mich. Und doch ist es eine Tatsache, dass Herr Ackermann am helllichten Tag in einem schwarzen Auto weggebracht wird. Ich setze mich auf meinen Stuhl und spüre dabei Franziskas Blick in meinem Rücken.

Gertrud beugt sich zu mir und flüstert: »Ehrlich, du kannst über Franziska denken, was du willst. Aber sie ist keine Petze.«

Ich krame in meinem Federmäppchen. Mir geht Herr Ackermanns Blick nicht aus dem Kopf. Er hat mich angeschaut, bevor sie ihn in das Auto verfrachtet haben.

Die Autos, die Angst verbreiten. Ach Mathilda. Ich habe dir nicht glauben wollen, habe über deine Angst gelacht.

 

»Ruhe in der Klasse«, ruft Fräulein Steinbrede. Sie hat die nächste Stunde, Herrn Ackermanns Stunde, übernommen. Der Stock in ihrer Hand wippt auf und ab. Die Haare hat sie akkurat und streng unter ihr schwarzes Netz geschoben. Die hellgraue Bluse ist unter dem Kinn geschlossen. Der dunkelgraue Rock reicht fast bis auf den Boden und verdeckt die geschnürten, schwarzen Stiefel.

»Ihr habt gesehen, wie es einem Volksfeind und Judenfreund ergehen kann. Ich weiß, dass einige von euch den alten Ackermann gemocht haben. Mich als Lehrerin enttäuscht das, denn wir Lehrer haben in diesen Zeiten die ganz besondere Aufgabe, euch vor Lügen zu bewahren.« Sie hebt mahnend den Zeigefinger. »Ihr dürft die Volksgemeinschaft nicht aus den Augen verlieren. Sie steht über allem. Wer nur auf sich selbst schaut, verliert die Bindung zu anderen und damit zur Gemeinschaft.«

Ich bin überhaupt nicht bei der Sache. Ausgerechnet heute wiederholt sie auch noch Grammatik! Obwohl das eigentlich im Deutschunterricht Stoff der fünften und sechsten Klasse ist, fragt sie uns immer wieder zwischendurch überraschend ab. Und wehe, man zögert bei der Antwort. Kommt eine Form nicht wie im Schlaf, heißt das: Eintrag in ihr gefürchtetes Notizbuch. Wir sitzen in unseren Bänken, alle ziehen den Kopf ein, wollen nicht, dass ihr Stock auf sie zeigt. Doch die Steinbrede ist unerbittlich, nähert sich unserem Tisch und zeigt auf – Johanna. Ich atme erleichtert auf.

»Konjugiere: Die brave Tochter hilft. 3. Pers. Indikativ: Präsens, Präteritum, Konjunktiv II: Präsens, Partizip II.« Sie redet so schnell, dass Johanna rot wird und stotternd beginnt: »Die … die brave Tochter hilft. Die brave Tochter half. Die brave Tochter … hm … hülfe? Partizip II, ge… ge-holfen.«

»Liebe Johanna, wenn du dir beim Helfen so viel Zeit lässt, wie du zum Konjugieren brauchst, könnte man dir beim Gehen die Schuhe besohlen.«

Alle lachen, und Johanna wird knallrot.

»Was gibt es da zu lachen? Glaubt ihr anderen, ihr könnt es besser?« Sofort wird es mucksmäuschenstill in der Klasse.

»Franziska, Futur I und II

»Die brave Tochter wird helfen. Die brave Tochter wird geholfen haben.« Das kommt wie aus der Pistole geschossen.

»Sehr gut, Franziska.« Und an Johanna gewandt: »Du kannst dich wieder setzen. Nimm dir ein Beispiel an Franziska.«

Die Steinbrede nimmt ihre Wanderung durch die Klasse wieder auf und bleibt vor mir stehen. »Schauen wir doch mal, ob du es besser kannst. Paula, dein Satz lautet: Der Jude lügt. Und setz noch ein immer dazu, dann ist es ganz richtig.« Ihre kleinen Augen funkeln mich an.

Ich stehe auf und beginne leise: »Der Jude lügt.«

»Lauter, wenn ich bitten darf, und das immer fehlt.« Fräulein Steinbrede wird ungeduldig. »Du hast doch keine Schwierigkeiten mit dem Satz?« In meinen Ohren klingt ihre Stimme jetzt scharf und boshaft.

»Der Jude lügt immer … Der Jude löge immer …« Ich kann mich nur schwer konzentrieren. Erst Ackermanns Verhaftung. War er wirklich ein Volksfeind? Und dann dieser schreckliche Satz. Ich muss an Mathilda denken! Ich habe ihr doch ewige Freundschaft geschworen.

»Der Jude …« Ich werde immer langsamer. Mathilda hat mich nie belogen. Wir haben uns immer alles erzählt. Und ihre Mutter? Reist mit gefälschten Papieren, versteckt sich. Natürlich ist das Betrug! Warum lässt Dr. Schubert sich nicht einfach scheiden und erspart Mathilda damit all die Schwierigkeiten, in denen sie jetzt steckt?

»Der Jude wird immer lügen.« Trotzig werfe ich die Sätze in die Klasse. Vor der Steinbrede knicke ich nicht ein. Doch im gleichen Moment überfällt mich eine tiefe Scham. Würde ich wollen, dass mein Vater meine Mutter verlässt? Papa, Mama, Hans und ich, wir gehören zusammen, egal was passiert.

»Der Jude wird immer gelogen haben.«

Fräulein Steinbredes Stimme ist unerbittlich. »Das war mir nicht flüssig genug, Paula. Reiß dich in Zukunft zusammen.«

 

Um drei Uhr gibt es einen Voralarm. Wir wollen gerade in unseren Keller, da wird schon wieder Entwarnung gegeben. Meine Mutter ist sehr beunruhigt, aber sie ist froh, dass Hans und ich bei ihr sind. Mein Vater ist dienstlich unterwegs.

Wir sind lange von Alarmen verschont geblieben. Aber alle wissen, dass das nicht so bleiben wird. Es gibt Gerüchte, dass die Tommys bald zu einem großen Schlag ausholen werden. Dass sie nur eine Atempause genommen haben, um eine neue Taktik auszuprobieren. Sie werfen zuerst Sprengbomben, die die Häuser beschädigen und die Dächer abdecken. Danach wirft eine zweite Angriffswelle Brandbomben. Die abgedeckten Häuser in den engen Straßen der Städte wirken wie riesige Kamine. Alles wird lichterloh in einer unvorstellbaren Hitze verbrennen. Der Teer auf den Straßen soll dabei flüssig werden, die Menschen gedemütigt und zermürbt.

Aber das wird ihnen nicht gelingen. Wir halten zum Führer. Die Frauen erzählen morgens, mittags und abends in den langen Warteschlangen vor den Läden von alldem. Manchmal frage ich mich, woher sie das alles wissen. In Zeitungen steht das nicht. Auch der Deutschlandsender berichtet nur von Siegen der Armeen. Und auf das Hören von Feindsendern steht Zuchthaus.

 

Meine Mutter sitzt im Salon über ihren Modezeitschriften. Ich erzähle ihr von Herrn Ackermanns Verhaftung.

»Wenn er nichts getan hat, dann hat er auch nichts zu befürchten«, sagt sie, ohne von ihrer Zeitschrift hochzuschauen. Sie klingt wie mein Vater. »Du kannst froh sein, dass die Gestapo ihre Augen und Ohren überall hat und euch vor Lehrern wie diesem Ackermann bewahrt«, fährt sie fort. Ihre Finger wandern über die Modefotos und bleiben an einem Abendkleid hängen. »Sieh nur. Das ist doch traumhaft. Was würde ich darum geben.«

»Bitte, Mama. Das meinst du doch jetzt nicht ernst. Herr Ackermann und Abendkleid!« Ich seufze tief.

Hans klappert in der Küche mit Geschirr. Er schiebt die Teller in einer Ecke des Tisches zusammen. Der Volksempfänger spielt Schlagermusik. Hans breitet seine Karte aus und sortiert die Fähnchen. Gleich kommen die neuesten Siegesmeldungen im Radio. Dann werden die Fähnchen Stück für Stück weitergeschoben – dahin, wo unser siegreiches Heer jetzt steht. Hans wartet … So wie es aussieht, bleibt der Abwasch mal wieder für mich zurück.

»Und Stoffe kriegt man auch nicht …«, murmelt Mama selbstvergessen vor sich hin.

»Ach Mama, deine Sorgen möchte ich haben.« Ich bin enttäuscht.

»Hast du Sorgen? Geht dir dieser … na, wie heißt er noch gleich? Geht dir der Lehrer nicht aus dem Kopf?« Sie schaut mich noch nicht mal an. Ihre Augen kleben an den Kleidern.

»Ackermann, Mama. Herr Ackermann ist doch nur ein alter Mann, der jahrzehntelang Lehrer war. Ein guter Lehrer! Auf seinen Unterricht habe ich mich immer gefreut. Ich verstehe nicht, warum man seinetwegen so ein Aufhebens macht.«

»Ich muss mir unbedingt eine Schneiderin besorgen. Ich werde mich mal bei meinen Frauen im Winterhilfswerk umhören. Wenn der Stoff nur nicht so knapp wäre. Es gibt kaum etwas zu kaufen. Dabei habe ich noch jede Menge Punkte auf meiner Kleiderkarte.«

Mama geht gar nicht auf mich ein. Ihr Modefimmel ist schon seltsam. Seit dem Umzug ins neue Haus verabscheut sie auf einmal Kopftücher. Sie trägt jetzt Hüte. Ihr neuer Wintermantel hat einen echten Pelzkragen. Und in der Küche wartet der Abwasch.

»Ich werde Hans mal Grüße von Frau Abwasch bestellen. Er hat lange nichts von ihr gehört.« Hans meckert sofort los, er versteht, dass ich einen Witz mache.

»Frau Abwasch? Wer ist denn diese Frau?«, fragt Mama gedankenverloren.

»Oh, verdammt«, kommt es aus der Küche. Ein Glas fällt um, Wasser rauscht in das Abwaschbecken und Besteck klappert.

»Hans?«, ruft Mutter. »Ist alles in Ordnung bei dir? Wer ist diese Frau?«

»Lass nur, Mama«, sage ich. »Sie hat einen guten Einfluss auf ihn. Er spült jetzt ab.« Hans hat sich die Hemdärmel aufgekrempelt und steht gebeugt über dem Spülbecken. Aus einem Einmachglas mit Schraubverschluss streut er Laugenpulver in das Spülwasser. Er geht zum Herd, nimmt den großen Kessel herunter und lässt das heiße Wasser in das Becken laufen. Vorsichtig prüft er mit dem Zeigefinger die Temperatur.

»Miese Erpresserin«, knurrt er mich an, als ich grinsend in die Küche komme. »Hilf mir mal, dann verrate ich dir auch etwas.« Er zwinkert mir verschwörerisch zu.

»Nö. Eigentlich sehe ich dir gerne bei der Arbeit zu.«

Hans füllt Wasser aus dem Wasserkran in den Kessel und stellt ihn auf die Herdplatte zurück. Unter dem Kesselboden zischt es. Wassertropfen tanzen dampfend über die Platte. Ich sehe Hans an, wie sehr er das alles hasst.

»Da entgeht dir aber etwas. Ehrlich.« Er sieht zur Wanduhr über der Tür. Ich nehme ein Trockentuch vom Handtuchhalter. Auf dem Tuch steht in Stickerei Sich regen bringt Segen.

»Na gut. Aber wehe, du legst mich rein«, sage ich.

Hans stiefelt durch die Küche und schließt die Tür. Beschwörend legt er den Finger auf seine Lippen. »Jetzt pass mal gut auf.«

Er geht zum Volksempfänger und stellt den Deutschlandsender ein.

»Ja, toll. Nachrichten und Frontberichte. Genau darauf habe ich mich gefreut.«

»Die Heeresgruppe Mitte unter Generalfeldmarschall Fedor von Bock ist zum entscheidenden Angriff auf Moskau angetreten«, ertönt es aus dem Radio. In der Stimme ist kein Zögern, kein Schwanken, der Tonfall ist klar und deutlich.

»Die 2. Panzerarmee unter Heinz Guderian steht vor Orel.« Der Sprecher betont jede Silbe. »Der Sieg der Deutschen Armee ist greifbar nahe.« Es knackt im Lautsprecher. »Hitler lügt.«

Es rauscht. Und die Stimme des Sprechers fährt fort. »Starke Verbände unter …« Jetzt knackt es wieder.

»Der Krieg ist für Deutschland verloren.« Das ist eine andere Stimme. »Hitler lügt!«

Ungläubig sehe ich meinen Bruder an.

»Hans, was ist das?«

»Radio. Nachrichten.« Hans grinst. »Das geht schon seit Tagen so. Ein Störsender, der auf der gleichen Wellenlänge wie der Deutschlandsender sendet.«

»Aber das ist doch verboten.«

»Warum, denkst du, habe ich die Tür zugemacht?« Hans dreht am Radio und stellt einen anderen Sender ein. Schlagermusik.

»Das ist kein Spaß, Hans.«

»Nein«, sagt er und feixt, »das ist kein Spaß.«

»Und – glaubst du das?«

»Was?«

»Dass Hitler lügt.«

»Quatsch. Die wollen uns nur fertigmachen. Verunsichern. Die sind neidisch.«

Minuten später geht die Tür auf. Mein Vater ist zurück.

»Nanu, habt ihr Geheimnisse?«

»Wir wollten Mama nicht stören. Sie studiert Modezeitschriften.«

»Sie sucht sich bestimmt ein Abendkleid für Berlin aus.«

»Berlin? Wir fahren nach Berlin?«, juble ich überrascht.

Mein Vater schüttelt den Kopf. »Eure Mutter und ich fahren im November nach Berlin, und wir werden dort so viele Termine wahrnehmen müssen, dass wir entschieden haben, ohne euch zu fahren. Ihr würdet nur im Hotelzimmer herumsitzen.«

»Würden wir nicht«, mault Hans. »Wir würden uns auf eigene Faust Berlin anschauen.«

Papa sieht Hans an und zieht die Stirn in Falten. »Papperlapapp! Oma und Opa werden in der Zeit hier wohnen, und im nächsten Sommer, wenn der Krieg vorbei ist, fahren wir alle gemeinsam nach Berlin. Versprochen. Und jetzt seht zu, dass das Spülwasser nicht kalt wird.«

Am Abend falle ich in mein weiches, warmes Bett und schließe die Augen. Ich bin todmüde, kann aber nicht einschlafen. So viele Gedanken gehen mir im Kopf herum. Ich starre die Wand an und zähle die Rosen an der Stuckdecke. Du sollst nicht lügen. Hitler lügt. Solche Sätze spuken in meinem Kopf. Ich denke an Werner, seinen Kuss spüre ich immer noch auf meinen Lippen. Im Licht der Nachttischlampe leuchtet das rosa Papier von Mathildas letztem Brief.