15. Wie ein Filmstar

Am nächsten Tag bringt uns der Zug zurück nach Münster. Bei einem Halt bahnt sich ein einbeiniger Soldat auf Krücken einen Weg durch die drangvolle Enge des Abteils. Ein Zweiter folgt ihm. Er trägt das Gepäck und hat einen Kopfverband. Gertrud steht sofort auf und ich mit ihr. Dankbar lächelnd nehmen die Soldaten unsere Plätze ein. Wir stehen im Gang. Die Luft ist stickig. Es riecht nach Gemüse, nach Kartoffeln, nach Hamsterware. Schweißgeruch hängt in der Luft. Es ist warm. Die Heizung bullert auf vollen Touren. Gertrud zieht das Fenster herunter. Ihre Haare flattern im kühlen Fahrtwind.

Von links ruft eine Frauenstimme: »He, wollt ihr, dass wir uns den Tod holen? Fenster zu!« Die Frau hat einen riesigen Rucksack auf ihrem Schoß.

»Was ist Ihnen denn lieber? Auf der Stelle zu ersticken oder langsam zu erfrieren? Lasst das Fenster auf!«, antwortet eine andere.

Gertrud sieht mich an. Wir müssen grinsen. Wir schieben das Fenster wieder hoch, lassen es aber unauffällig einen Fingerbreit offen.

 

Der einbeinige Soldat kratzt sich an seinem Beinstumpf und zündet sich eine Zigarette an. Er klopft die Asche von der feldgrauen Jacke. Unsere Blicke begegnen sich. Er versucht ein Lächeln. Ich werfe einen verstohlenen Blick auf die beiden. Ihre Gesichter sind jung, blass und schmal. Sie schweigen. Der Einbeinige gähnt laut und lange und mit offenem Mund. Etwas an ihm erinnert mich an Werner.

»Ob sie auf dem Weg nach Hause sind?«, frage ich Gertrud leise. Sie weiß erst gar nicht, wovon ich rede, bis ich mit dem Kopf unauffällig auf die beiden deute.

»Sicher. Für die ist der Krieg vorbei«, antwortet sie.

»Weißt du, was komisch ist? Dass ich in den vergangenen Wochen kaum an den Krieg gedacht habe. Es war so friedlich bei Schulze-Dickhoffs. Viel Arbeit, keine Alarme, genug zu essen …«

Ich sehe, dass Gertrud schluckt und ihren Blick abwendet.

Draußen vor dem Fenster zieht die Landschaft vorbei. Felder, Wiesen, Wallhecken, Bäume – alles ist bunt, in den Farben des Herbstes. Hin und wieder stehen Kühe hinter Zäunen und schauen uns gemächlich kauend hinterher. Der Zug rattert und poltert über Weichen und legt sich ächzend in langgestreckte Kurven. Er pfeift, wenn er Bahnübergänge überquert. Vor den Schranken wartet manchmal ein Trecker, oft sind die Straßen einfach leer.

Über allem hängt fahles Sonnenlicht. Kein gutes Wetter. Es könnte Regen geben. Mein Herz rumpelt im Takt des Zuges. Wir fahren durch Mecklenbeck. Der Zug wird langsamer. Rechts liegt das Stadion, und links passieren wir den Güterbahnhof. Gertruds Unterarm ruht auf dem Fenstergriff. Ihr Kopf stützt sich auf den Arm. Ihre Augen sind feucht. Sie hat geweint, und ich habe es nicht bemerkt.

»Was ist, Gertrud? Habe ich etwas Falsches gesagt?«

»Nein, nein, hast du nicht. Aber anders als du muss ich immerzu an den Krieg denken. Im Sommer haben wir vor den Trümmern unseres Hauses gestanden. Das Dach war weg. Der Giebel lag auf der Straße, und oben stand mein verkohlter Puppenwagen. Wir hatten nichts mehr. Nur noch das, was wir am Leibe trugen. Und was ist, wenn ich gleich in die Sonnenstraße komme und sehe, dass das Haus wieder zerbombt ist? Und Mama liegt unter den Trümmern?«

Sie schluckt wieder. »Ich weiß, dass es nicht so sein wird, denn das hätte ich erfahren. Nottuln ist schließlich nicht aus der Welt.« Sie senkt die Stimme. »Ich habe Angst vor jeder Nacht, wenn die Flieger kommen.«

Ich lege meinen Arm um Gertrud, und sie schmiegt sich hinein. Der Zug holpert über Weichen, wird langsamer.

Angst vor der Nacht? Mathilda hat mir mal gesagt, dass sie Angst vor jedem Tag hat. Schließt ihre Angst die Nacht mit ein? Hat Mathilda am Tag und in der Nacht Angst? Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Wir werden sofort hinaus auf den Bahnsteig gedrängt.

Vor dem Gebäude treten die Mädchen in Zweierreihen an, und nach einem kräftigen »Heil Hitler!« trennen wir uns.

Gertrud wird von ihrer Mutter abgeholt, und sie lacht glücklich und befreit. Mich holt niemand ab, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Es sind nur fünf Minuten zu Fuß, und Mama und Hans sind zu Hause, als ich die Haustür öffne.

»Hallo, meine Große.« Meine Mutter läuft mir entgegen, nimmt mich in den Arm und schaut mich an: »Gut siehst du aus. Nach viel frischer Landluft und genug zu essen.«

»Das kann man wohl sagen«, schwärme ich, und mit einem Blick auf Hans reibe ich mir den Bauch. »Aber seht mal, ich habe euch etwas mitgebracht.« Ich ziehe aus meinem »Affen« einen Beutel mit Kartoffeln, Äpfeln, Pflaumen, je einem kleinen Stück Butter und Speck. »Das hat jede von uns bekommen.«

»Großzügig«, sagt Mama.

»Lecker«, schnauft Hans und streckt schon seine Hand aus. Er macht sich mit einer Handvoll Pflaumen aus dem Staub.

»Lass ihn laufen«, sagt Mama, als ich hinter ihm her will. »Für einen Pflaumenkuchen für Oma und Opa reicht es noch. Wir müssen die restlichen Pflaumen nur gut verstecken.« Mama und ich müssen lachen, denn das Versteck für Essbares, das Hans nicht findet, müsste schon auf dem Mond oder noch weiter weg sein.

»Wann holt ihr Oma und Opa?«, frage ich. Beinahe hätte ich die Fahrt meiner Eltern nach Berlin vergessen!

»Nächsten Samstag. Und am Sonntag fahren wir. Ich bin schon so aufgeregt.« Mama strahlt mich an.

»Das glaube ich. Ich wäre auch aufgeregt, wenn ich mitfahren dürfte.« Ich setze mit Absicht meinen Schmollmund auf.

»Jetzt komm, Paula. Wir haben doch schon darüber gesprochen. Erstens müsst ihr in die Schule, und zweitens haben wir in Berlin viele Termine …«

»Ja, ja, ich weiß – und wenn der Krieg vorbei ist …«

»Genau. Komm, ich zeig dir was.« Meine Mutter zieht mich die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer. Und da hängt es auf einem Bügel an ihrem Kleiderschrank: das Kleid aus dem Modejournal, mit schmaler Taille, an den Hüften gerafft und – mit Fledermausärmeln! Ein Traum!

»Woher hast du denn den Stoff?«

»Papa hat ihn mir besorgt«, antwortet sie. »In meiner Frauenschaft habe ich eine Schneiderin aufgetan, Frau Engel. Ein wirklicher Engel, nein, eher eine Künstlerin, wie du siehst.« Meine Mutter fächert die Ärmel auseinander. »Papa hat auch noch andere Stoffe mitgebracht. Für dich können wir einen Hosenrock und eine Bluse nähen lassen.« Sie macht eine kleine Pause. »Vielleicht eine Bluse, dass du endlich einmal die Brosche trägst.«

»Ja«, stottere ich, »das wäre sicher eine gute Gelegenheit. Aber jetzt fahrt ihr erst einmal nach Berlin.« Auch wenn ich Papa enttäusche, ich bleibe bei meiner Meinung, die Brosche gehört Mathilda.

Am Samstag fahren meine Eltern nach Warendorf, um Oma und Opa abzuholen. Sie sind noch nicht wieder zurück, als am frühen Nachmittag ein neuer Fliegeralarm ertönt. Ich sitze mit Hans vor dem Radio. Wir hören von schweren Bombenangriffen auf Hamburg. Und ausgerechnet heute wird Münster wieder angeflogen!

»Hoffentlich sind Mama und Papa jetzt nicht gerade mit Oma und Opa auf der Straße zwischen Warendorf und Münster unterwegs«, rufe ich und renne mit Hans in den Keller.

Wir haben noch unsere Hausschuhe an, obwohl festes Schuhwerk und warme Kleidung angeordnet sind. Nur die für solche Fälle gepackten Taschen haben wir noch greifen können. Opa Bröker runzelt die Stirn, als er unsere Aufmachung sieht, sagt aber nichts. Er ist unbegreiflicherweise immer schon vor uns im Keller und wacht wie üblich an der Tür. Manchmal frage ich mich, wie er das hinbekommt.

»Wie kann der schneller sein als wir, die wir in diesem Haus wohnen?«, flüstere ich Hans zu.

»Vielleicht hat er einen direkten Draht zu den Tommys. Die funken ihn immer an, wenn sie in London losfliegen«, flachst Hans. »Oder er bleibt einfach immer im Keller.«

»Quatschkopf.« Ich stoße ihm meinen Ellenbogen in die Rippen. »Hör mal.« Ich zeige auf Opa Bröker. Der erklärt nämlich gerade einem kleinen Mädchen, das vor Angst zittert: »Wenn du die Bomben pfeifen hörst, dann schlagen sie nicht bei dir ein, sondern weiter weg.«

»Das ist ja wirklich beruhigend«, raune ich, »dann trifft es Gott sei Dank nur andere.« Trotzdem lausche ich ganz genau auf das pfeifende Geräusch. Gleichzeitig denke ich an Gertrud, die bestimmt in der Sonnenstraße im Keller sitzt und wahnsinnige Angst hat. Und wo mag Mathilda jetzt sein?

Hans verzieht sich unter eine Decke und lehnt sich an mich. Ich lege meinen Arm um ihn, wie Mama es tun würde, und er schüttelt ihn nicht ab. Die alte Frau Meisner ist mit uns im Keller. Sie bringt immer ihren Wellensittich im Vogelbauer mit und erzählt ihm Geschichten. Herr Heiming von gegenüber läuft auf und ab. Auch wenn Opa Bröker ihn mit strenger Stimme auffordert, sich zu setzen. Er kann einfach nicht stillhalten. Er nimmt zwar kurz Platz, setzt dann aber seine Wanderung fort. Irgendwann lässt Opa Bröker ihn einfach laufen. Ich wünschte, unsere Eltern wären schon da …

 

Nach drei Stunden ist endlich Entwarnung, und wir können wieder nach oben gehen. Papa und Mama sind immer noch nicht angekommen. Allmählich werden wir unruhig. Hans und ich laufen immer wieder auf die Straße, um nachzuschauen. Als ob sie davon schneller kämen.

»Wo bleiben sie bloß?« Hans’ Stimme zittert ein wenig.

Eine weitere Stunde vergeht, und es ist stockdunkel. Ich sehe, dass Hans mit den Tränen kämpft. Möglichst unauffällig wischt er sie mit dem Handrücken weg. Obwohl ich auch am liebsten vor Sorge aufheulen würde, muss ich doch einen klaren Kopf behalten. Schließlich bin ich die Große!

»Pass auf, es wird alles gut«, tröste ich ihn und will selbst daran glauben. Wir gehen zurück ins Haus, setzen uns ans Küchenfenster und starren nach draußen. Und dann biegt endlich ein Auto in die Straße ein, die Lichter blenden uns. Ich stürze noch vor Hans die Treppe hinunter – und falle Mama in die Arme.

»Endlich! Euch ist nichts passiert. Mensch, bin ich froh!« Jetzt steigen auch Oma und Opa umständlich aus dem Auto aus.

Am nächsten Tag bringen wir unsere Eltern zum Bahnhof.

 

Mit Oma und Opa läuft das Leben in fast gewohnten Bahnen. Mit den beiden kommen Heiterkeit und Unbeschwertheit zurück. Es ist beinahe wie früher, als ich noch bei Papa auf dem Schoß saß und er mir Geschichten vorlas.

Mein Großvater sitzt im Hemd und mit Hosenträgern im Herrenzimmer an Vaters aufgeräumtem Schreibtisch, trinkt noch einen Cognac und raucht Papas Zigarren. Gelegentlich macht er Witze über den dicken »Reichsjägermeister«, wie er Hermann Göring nennt. Der hat nämlich versprochen, Meier zu heißen, sollte jemals ein feindliches Flugzeug über deutschem Boden erscheinen.

Hans ermahnt ihn in gespielter Verzweiflung: »Opa, hör mit deinen Witzen auf. Nicht alle verstehen das.«

Ich sitze lieber mit Oma in der Küche und blättere in Mamas Modezeitschriften, die verstreut auf der Eckbank liegen. Oma backt Plätzchen. Einmal schaut sie mir über die Schulter und zeigt auf ein Foto, das eine junge Frau in einem schmal geschnittenen Kostüm mit doppelter Knopfreihe, kleinem runden Kragen und einem Bubikopf zeigt.

»Da, guck mal!« Ihr Blick wandert zwischen mir und dem Foto hin und her. »Das könnte dir auch stehen.«

»Was meinst du, Oma? Das Kostüm, die Pumps oder die Frisur?«

»Mal ehrlich, weder das Kostüm noch die Pumps passen zu deinen braven Zöpfen.«

»Also der Haarschnitt?«, frage ich und erinnere mich daran, wie ich neulich abends nach meiner Auseinandersetzung mit Franziska vor dem Badezimmerspiegel stand, mir die Haare mit beiden Händen hoch hielt und mich so um vieles interessanter fand als mit meinen biederen Zöpfen.

»Aber stell dir vor, was Mama sagen würde …«, seufze ich.

»Deine Mutter? Da mach dir mal keine Gedanken. Die war in deinem Alter für manche Überraschung gut.« Und als wäre das ihr Stichwort, erzählt sie mir Geschichtchen und Geschichten aus Mamas Kindheit, aber auch aus ihrer eigenen. Dabei backt sie weiter unermüdlich ihre Plätzchen und streichelt mir hin und wieder über den Kopf. Sie hört erst auf zu erzählen, als die Dämmerung sich langsam in die Küche schleicht und Hans durch die Tür schaut und fragt: »Gibt es bald Abendbrot?«

»Du meine Güte, da erzähle ich und erzähle und merke gar nicht, wie die Zeit vergeht.« Oma lacht. Ach, ich könnte ihr noch viel länger zuhören.

Dann verschwindet sie kurz im Herrenzimmer und kommt mit Opas Portemonnaie zurück. Sie drückt mir einen Geldschein in die Hand. »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, sagt sie. »Du bist kein kleines Mädchen mehr, und wenn du deine Zöpfe loswerden willst, solltest du nicht zögern.«

 

Am nächsten Tag gehe ich nach der Schule ohne Umwege zum Friseurgeschäft Börding in der Warendorfer Straße. Eine Weile trödle ich vor dem Schaufenster herum, denn ich traue mich nicht hinein.

An Pflegeprodukten scheint noch kein Mangel zu herrschen, denn das Fenster ist mit Seife, Shampoo und Chlorodont-Zahncreme üppig dekoriert. Hier hängen keine Bilder von Frauen mit deutschen Frisuren, sondern ein Plakat verspricht: Rasier dich ohne Qual – mit Punktal. Ich muss grinsen und betrete endlich das Geschäft.

Eine Friseuse führt mich zu einem der dicken, ledernen Stühle und drückt mich hinein. Sie bindet mir einen rosafarbenen Umhang um, der mich vollkommen einhüllt – auch meine leicht zitternden Hände.

»Was kann ich für dich tun?«, fragt sie. Sie steht hinter mir, hält meine beiden Zöpfe hoch und sieht mich in dem riesigen Spiegel vor uns an.

»Kurz«, sage ich, versuche mit fester Stimme zu sprechen und deute auf ein Foto an der Wand, auf der eine junge Frau mit leicht gelocktem, kinnkurzem Haar für Haarspray wirbt.

»Kindchen, die Dame dort hat morgens mindestens zwei Stunden Zeit, sich so herzurichten. Danach geht sie auf dem Prinzipalmarkt spazieren und nicht Kartoffeln aufklauben. Und außerdem, du willst doch nicht so eine Judenfrisur, einen Bubikopf, oder?« Ihr Gesicht ist direkt neben meinem. Eine Augenbraue hat sie spöttisch hochgezogen. »Bubikopf geht wirklich nicht.«

»Nein, nein«, antworte ich entsetzt, »das habe ich nicht gemeint.«

»Dann können wir das Ganze schon entspannter angehen.« Sie ist sichtlich zufrieden. »Ich mach dir einen Vorschlag: Ich schneide dir die Haare erst mal schulterlang. Dann kannst du sie beim nächsten Landeinsatz hinten zusammenbinden und siehst fast aus wie die andern. Und wenn du mit deinem Liebsten ausgehst, machst du dir mit der Brennschere Locken. Dann wirken sie kurz und du siehst fast aus wie die da auf dem Plakat.«

Bevor ich antworten kann, löst sie meine Zöpfe. Mit flinken Fingern flicht sie einen einzelnen Zopf, der mir auf dem Rücken liegt. Ein letzter fragender Blick in den Spiegel – dann schneidet sie mit einem Ruck den ganzen Zopf in Schulterhöhe ab. Wie eine Trophäe hält sie ihn hoch und legt ihn auf die Spiegelablage.

»Den kannst du gleich mitnehmen«, sagt sie und beginnt mit dem eigentlichen Haarschnitt. Die Stirnhaare schneidet sie fransig, kraust sie zu kleinen Löckchen und fasst die Deckhaare zu einer Nackenrolle zusammen.

Ich halte meine Augen geschlossen und öffne sie erst, als die Friseuse mir den Umhang abnimmt. Ich traue meinen Augen kaum. Ich sehe – ganz anders aus, fast wie die Frauen in Mamas Modeheften!

»Kein Bubikopf«, sie lacht verschmitzt, als ich ihr das Geld reiche, »der wäre viel, viel kürzer und – ehrlich gesagt – viel zu gewagt.« Sie zwinkert mir zu und wünscht mir viel Glück.

 

Eine Stunde später stehe ich in unserer Küche. Opa ist begeistert, und Oma nimmt mich in den Arm. »Da schau an. Jetzt bist du eine richtige junge Dame!«

»Du spinnst«, ruft Hans. »Warte mal ab, was Mama und Papa sagen. Das gibt mächtig Ärger!«

Auch in der Schule erregt meine Frisur Aufmerksamkeit! Fräulein Steinbrede sieht mich entgeistert an, sagt aber nichts. Fräulein Nottebaum nimmt meinen Haarschnitt zum Anlass, den Unterricht über Schuberts Unvollendete zu unterbrechen und über die Musik der zwanziger Jahre zu sprechen. Jazz, Ragtime, Swing und Josephine Baker als Inbegriff des Unerhörten. Ganz anders reagieren die Mädchen beim BDM.

»Du traust dich ja was«, sagt Hedwig fast neidisch. »Haben deine Eltern dir das erlaubt?«

»Nein, aber Oma. Die hat mir sogar das Geld geschenkt. Meine Eltern sind in Berlin. Die wissen noch nichts«, antworte ich. Und beim Gedanken an deren Rückkehr wird mir doch ein wenig mulmig …

 

»Was ist denn mit dir passiert?« Das sind die ersten Worte meiner Mutter, als sie das Haus betreten hat. Entsetzt sieht sie mich an. »Wo sind deine Zöpfe geblieben?«

»Sieht das nicht toll aus?« Oma stellt sich schützend neben mich. »Ich habe es ihr erlaubt. Nein, ich habe ihr sogar zugeraten. Und ihr erzählt, wie du früher warst.« Oma lacht verschmitzt. »So sieht sie doch viel erwachsener und hübscher aus.«

»Aber die Zeiten haben sich geändert«, sagt Mama nur.

Mein Vater sieht mich kurz an und kneift die Lippen zusammen.

Oma schiebt die beiden mit sanfter Gewalt ins Esszimmer, wo ich vorher den Tisch festlich gedeckt habe. »Jetzt setzt euch erst mal hin und erzählt. Wir sind schon so gespannt! Ihr verreist und dann mäkelt ihr nur an uns hier herum. Ich habe auch eine Kleinigkeit gekocht.«

Wir setzen uns und Mama sprudelt los. Sie erzählt von den Festmärschen, den prächtigen Bällen. »An einem Abend waren wir sogar zu einer Operettenaufführung geladen. Das war ein Erlebnis, sage ich euch.«

Mein Vater spricht während der ganzen Mahlzeit nicht, aber ich spüre seine Blicke auf mir. Er sieht mich an, als wäre ich eine fremde Person.

Er erzählt dann von der Zuversicht, die der Führer ausstrahlt. Davon, dass sich etwas Neues, etwas Großartiges entwickelt. »Das ist in Berlin deutlich zu spüren – während ich hier in meinem eigenen Haus Dinge sehe, die ich nicht tolerieren kann und die nicht passen.« Er wirft sein Besteck neben den Teller. Es klirrt, und braune Soße bekleckert das weiße Tischtuch.

Ich zucke zusammen und erröte. Mein Blick klebt auf dem Tischtuch, und ich weiß, dass das letzte Wort zu meiner neuen Frisur noch nicht gesprochen ist. Mama hüstelt, und Oma sagt: »Ach Gott, jetzt seid mal nicht so. Sie ist schließlich fast schon groß.«

»Das sehe ich anders«, sagt mein Vater mit schneidender Stimme.

Am nächsten Tag fährt er Oma und Opa zurück. Oma nimmt mich zum Abschied in den Arm und flüstert mir leise ins Ohr: »Dein Vater beruhigt sich bald wieder. Es wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird.«

Oma irrt sich. In den kommenden Tagen spricht Papa kein Wort, behandelt mich wie Luft. Sogar Mamas Versuch, ihn mit meiner neuen Frisur zu versöhnen, scheitert kläglich. Ich stehe an der Tür und lausche, wie sie streiten.

»Erich, du übertreibst. Sie ist so hübsch. Wie die Mädchen in der Hauptstadt. Sie ist doch kein Kind mehr.«

Die Antwort meines Vaters höre ich nicht. Hans kommt um die Ecke.

»Ah, wen haben wir denn da? Der Lauscher an der Wand … oder wie geht das Sprichwort?« Er stellt mit seinen Händen eine Schere dar, die einen Zopf abschneidet.

»Du kannst so gemein sein.« Mit Tränen in den Augen renne ich die Treppe hoch.

Zwei, drei Abende später ruft mein Vater mich in sein Arbeitszimmer. Er sitzt hinter seinem mächtigen Schreibtisch und raucht Zigarre. Wie immer liegt alles an seinem Platz: Tintenfass, Löschpapierroller, Stifthalter, Aschenbecher. Doch das Lineal hält er in der Hand. Ich zucke zusammen. Mir klopft das Herz bis zum Hals.

Er steht auf und sagt müde: »Setz dich, Paula. Ich habe mit dir zu reden.« Und er drückt mich in einen der großen Sessel direkt am Fenster. Es ist einer von diesen Sesseln, in denen man versinkt und aus denen eine Flucht unmöglich ist. Papa selbst bleibt stehen und sieht auf mich herunter.

»Ich weiß nicht, was in deinem Kopf vorgeht.« Seine Stimme ist leise und gefasst. »Erst deine Extratouren mit dieser Halbjüdin, dann deine großartige Idee mit der Büchersammelaktion, und jetzt das.« Er deutet auf meinen Kopf.

»Papa, ich …«

»Ich bin noch nicht fertig!«, unterbricht er mich barsch. »Ich habe es dir schon einmal gesagt: Überlege dir gut, wo du hingehörst. Du bist die Tochter eines Polizeimajors und Parteigenossen, und da hast du nichts Besseres zu tun, als knutschend hinter der Servatiikirche zu stehen?« Seine Augen drücken Enttäuschung aus. »Woher ich das weiß, möchtest du wohl gerne wissen? Mensch, Paula! Diese Stadt ist so klein, da ist man bei den Leuten schnell unten durch. Und dann lässt du dir, ohne uns zu fragen, auch noch die Haare abschneiden! Was kommt als Nächstes? Lippenstift? Schminke? Ein Balg?«

Papa dreht eine Runde, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Das Lineal hat er endlich weggelegt. »Ich erkenne dich nicht mehr wieder, Paula. Du bist eigensinnig und undankbar. Was ist nur aus meiner lieben Prinzessin geworden?«

»Papa, ich bin nicht …«

»Ich will jetzt nichts hören.« Er strafft seine Schultern und spricht mit Kommandostimme weiter. »Zwei Wochen Hausarrest und einige zusätzliche Dienste bei der Essensausgabe im Hohenstaufen bringen dich vielleicht auf andere Gedanken. Und jetzt geh mir aus den Augen!« Das Hohenstaufen ist ein Restaurant in unserer Nähe.

Meine Hand liegt auf der Türklinke. Ich beiß mir auf die Lippen.

Er ruft mich noch einmal zurück. »Noch etwas: Wenn du es nicht schaffst, die Brosche, die ich dir geschenkt habe, zu tragen, nur weil sie vielleicht deiner jüdischen Freundin gehört hat, dann gib sie mir zurück. Ich tausche sie gegen ein Schmuckstück für Mama.«

Auch das noch. Morgen, auf dem Schulweg, wollte ich sie in den Geheimbriefkasten legen. Jetzt erst recht! Obwohl ich schon bei dem Gedanken daran zittere. Papa sage ich dann, ich hätte sie verloren. Ein Donnerwetter mehr, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.

Ich schleiche nach oben in mein Zimmer und setze mich an meinen Schreibtisch.

 

Liebes Lenchen. Stell dir vor, meine Zöpfe sind ab … einfach so. Ich sehe aus wie … ein Filmstar! Würdest du mich wiedererkennen? Mein Vater hat jedenfalls einen Riesenkrach geschlagen. Ich gebe dir die Brosche zurück. Er verlangt, dass ich sie trage. Aber sie gehört dir. Ab und zu besuche ich unsere Lieblinge. Eigentlich geht es uns gut. Es ist nur so, dass ich dich schrecklich vermisse und so gerne wüsste, wo du bist und ob es dir gutgeht. Ich denke oft an dich.

Dein Fundevogel