8. Ein neues Zimmer

Es ist endlich Dienstag, und kurz vor siebzehn Uhr laufe ich los. Das nasskalte graue Wetter kriecht mir unter die Jacke. Es dämmert, und außer mir scheint niemand Lust auf einen Spaziergang zu haben. Mir ist das nur recht. An der Böschung des Löschteichs schaue ich mich um – die Luft ist rein.

Mathilda erwartet mich. Sie ist blass und müde, die Augen dunkel. Und traurig sieht sie aus. Wir umarmen uns.

»Da bist du ja endlich«, sagt Mathilda. Ich ziehe sie etwas tiefer ins Gebüsch. Versteckt zwischen den Zweigen setzen wir uns auf zwei dicke Steine.

»Du hast geschrieben, dass etwas passiert ist. Ich habe mir große Sorgen gemacht. Erzähl, erzähl!«

»Das ist … nicht so leicht«, stottert sie und sieht auf unsere ineinander verschränkten Finger.

Ich spüre ihr Zittern. Sie weint und kramt nach einem Taschentuch.

»Es ist … es geht um meine Mutter. Sie haben sie geschlagen. Sie war im Gefängnis.«

Mein Atem stockt. »Sie haben sie geschlagen? Aber warum denn? Wie geht es deiner Mutter?«

Nun bricht es aus Mathilda heraus: »Sie spricht kaum noch, schweigt in sich hinein, malt nicht mehr, sie ist gar nicht mehr bei uns.« Mathilda befreit ihre Hände und verbirgt ihr Gesicht darin.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, halte sie stattdessen einfach fest und streiche ihr beruhigend über den Arm.

»Weißt du, Paula, wir wollten fort. Wir wollten Deutschland verlassen und nach Amerika ausreisen. Aber alles ist schiefgelaufen, und jetzt muss Mama sich verstecken.«

»Was erzählst du denn da! Ihr wolltet weg? Aber warum denn?« Ich bin erschrocken, kann nicht verstehen, wie man gerade jetzt, wo doch eine neue Zeit beginnt, Deutschland verlassen kann.

»Paula! Wann begreifst du es endlich? Meine Mutter ist Jüdin. Papa sagt, wir haben schon viel zu lange gewartet. Aber da waren Haus und Klinik, und Mama wollte zunächst nicht weg. Hier sei ihr Zuhause, sagte sie. Papas Arbeit, meine Ausbildung, unsere Verwandten, die Freunde, unsere Pferde … Zum Schluss hatte sie nur noch Angst.«

Und dann vertraut Mathilda mir die Odyssee ihrer Mutter an. Und mit einem Mal bin ich mir nicht sicher, ob ich das alles wissen will …

 

Mathildas Vater hatte falsche Papiere besorgt. Legal kamen sie nicht mehr aus Deutschland heraus. Seine Frau reiste jetzt als Arierin. In einer kleinen Stadt an der holländischen Küste warteten Helfer, die sie nach England bringen sollten. Das zu organisieren hatte viel Zeit und Geld gekostet. Eigentlich hatten die Schuberts gemeinsam reisen wollen. Dr. Schubert wollte seine Frau nicht aus den Augen lassen.

Aus der gemeinsamen Abreise wurde nichts. Dr. Schuberts Schwester aus Köln erkrankte schwer und ließ nach ihm schicken. Mathildas Mutter wollte und konnte nicht länger warten, also sollte sie vorausfahren und in Holland im Versteck warten. Doch bereits auf dem Bahnhof von Breda wurde ihr beim Umsteigen die Handtasche mit allen Papieren aus der Hand gerissen. Völlig in Panik rief sie laut um Hilfe. Doch da war nur ein deutscher Offizier auf dem gleichen Bahnsteig. Die Tasche konnte er ihr nicht wiederbeschaffen. Der Dieb war zu schnell.

Er nahm sie mit, um ihr zu helfen, und fragte nach ihrem Namen. Doch als Frau Schubert stotterte, sich verhaspelte, sich in Widersprüche verstrickte und zum Schluss nur noch schwieg, wurde er misstrauisch. Ihr Koffer wurde durchsucht, und als man ihren Schmuck fand, und in ihrer Unterwäsche auch noch 2000 Reichsmark da wurde sie inhaftiert.

Man steckte sie in eine kleine, schmutzige Zelle in Einzelhaft, mit einem Eimer statt Toilette, und sie bekam kaum etwas zu essen. Sie schwieg weiter, deshalb wurde sie geschlagen. Als sie die Schläge nicht mehr ertrug, nannte sie schließlich ihren Namen und Wohnort, und einer ihrer Peiniger horchte auf. Er fragte nach, ob sie die Frau jenes berühmten Arztes Dr. Schubert sei. Und weil dieser Offizier Dr. Schubert kannte, ja seine Frau ihm sogar das Leben verdankte, benachrichtigte er ihn und wies ihn an, Mathildas Mutter abzuholen.

Ihr Zustand war furchtbar: Sie war verletzt, verstört und voller Angst. Sie musste sich in Münster melden und darf nun den Wohnort nicht mehr verlassen.

»Und jetzt versteckt Mama sich auf dem Land. Wir werden ihr bald folgen, um immer in ihrer Nähe sein, bis wir alle fliehen können.«

Mathilda sieht mich an, wartet darauf, dass ich etwas sage. Aber ich weiß nicht was, denn alle Worte sind falsch. Ich weiß nur, dass wir uns vielleicht nicht mehr wiedersehen. Tränen rollen mir über die Wangen.

In diesem Moment höre ich ein Rascheln von Blättern dicht neben uns und das hektische Hecheln eines Hundes. Ein braun-weißer Münsterländer schnüffelt herum, bellt und knurrt. Ich zucke zusammen, denn ich habe Angst vor Hunden. Ich erkenne das Tier und erstarre – es ist Arno, der Hund von Franziska. Nein, die darf uns hier nicht sehen! Niemand darf mich hier mit Mathilda sehen, aber vor allem nicht Franziska. Schließlich habe ich ihr vor ein paar Tagen erzählt, dass ich Mathilda nicht mehr treffe.

»Ruhig«, flüstere ich. Ich überwinde meine Angst, greife Arno mit der einen Hand am Halsband und streichele ihn. Dann ziehe ich den Hund schnell aus dem Gebüsch. Oben am Weg steht nicht Franziska, sondern ihre jüngere Schwester Sophia. Gott sei Dank!

»Ach, du bist es, Paula. Danke. Der wilde Kerl ist mir einfach weggelaufen«, ruft Sophia lachend.

»Das hab ich mir schon gedacht. Musst du ihn heute spazieren führen?« Ich übergebe ihr den Hund. Ich hoffe nur, dass sie Mathilda nicht gesehen hat und keine Fragen stellt.

»Was machst du denn bei dieser Dunkelheit da unten am Löschteich?«, fragt sie neugierig und versucht, an mir vorbei die Böschung hinunterzuschauen. Ich verstelle ihr die Sicht und lege einen Finger auf die Lippen.

»Psst«, sage ich verschwörerisch und hoffe, dass meine Stimme meine Angst nicht verrät. »Du darfst es aber nicht weitersagen …«

Sophia lacht, lässt sich auf mein Spiel ein und flüstert: »Ich weiß schon, du triffst dich mit einem Jungen. Na, dann will ich euch nicht länger stören.« Sie dreht sich um und geht. Ich warte noch eine Weile, bevor ich zu Mathilda zurückkehre.

Mathilda ist bereits aufgesprungen. »Ich muss jetzt gehen«, sagt sie, »ich will nicht, dass Papa sich auch noch um mich Sorgen macht.«

Sie nimmt meine Hände in ihre. Sie sind ganz warm und ihr Griff ist fest.

»Paula, ich muss noch etwas wissen, bevor ich gehe.« Sie holt tief Luft. »Glaubst du, wir können Freundinnen bleiben? Ich möchte es so gern. Ich möchte wissen, wie es dir geht, was du erlebst, ob du Werner heiraten wirst …« Sie lacht leise. Es ist mittlerweile so dunkel, dass ich ihr Gesicht kaum noch erkennen kann.

»Ich und Werner heiraten? Natürlich werden wir Freundinnen bleiben! Verlässt du mich nicht, verlass ich dich auch nicht. Für mich gilt das jetzt mehr denn je«, sage ich ernst. »Aber wenn du Münster verlässt und nicht mehr zum Briefkasten kommst …«

»Da ist jemand, der uns hilft. Ich kann dir nicht sagen, wer es ist. Ich werde dir auch nicht schreiben, wo wir wohnen. Je weniger du weißt, umso besser für alle. Dieser Jemand würde für mich zum Briefkasten kommen, deine Briefe holen und meine bringen. Bitte, sag ja! Und bitte, schreib mir weiter!« Ihre Stimme klingt flehentlich.

»Du kannst dich auf mich verlassen«, sage ich.

Wir nehmen uns in den Arm, ganz fest. Dann dreht Mathilda sich um und geht. Ich schaue ihr nach, bis die Dunkelheit sie verschluckt.

 

Langsam mache ich mich auf den Heimweg. Vorsichtig bewege ich mich auf der dunklen Promenade, um nicht in einen der Bombentrichter oder über einen umgestürzten Baum zu fallen. Immer wieder geht mir Mathildas Geschichte durch den Kopf. Aus Mathildas Sicht ist ihrer Mutter furchtbares Unrecht geschehen. Aber weiß Mathilda über alles Bescheid, was ihre Eltern tun? Mein Vater sagt, wer nichts Unrechts tut, muss auch keine Angst haben. Was also ist richtig? Und gleichzeitig bin ich furchtbar traurig. Werde ich Mathilda und ihre Eltern jemals wiedersehen?

Ich beginne ein magisches Spiel: Wenn ich es schaffe, mit geschlossenen Augen zehn Schritte zu machen, ohne zu stürzen, dann wird alles gutgehen. Ich schließe die Augen, setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Eins, zwei, drei, ich zähle stumm … acht, neun, zehn. Mir ist nichts passiert, dann wird Mathilda auch nichts geschehen.

Aber das ist doch Quatsch, was ich hier mache. Ich versuche es trotzdem ein zweites Mal. Alles wird gut. Das sind doch nur Kinderspiele, sage ich mir. Nur noch ein drittes Mal, dann sehe ich zu, dass ich nach Hause komme. Meine Eltern warten sicher schon ungeduldig, denn eigentlich wollten wir heute Abend gemeinsam die letzten Umzugskisten packen und mit einem Glas Sekt von der Sonnenstraße Abschied nehmen. Papa hat zwei Flaschen Sekt organisieren können.

»Eine beim Auszug und eine für den Einzug«, hat er lächelnd gesagt. »Und du darfst ein kleines Schlückchen mittrinken, meine Prinzessin.«

Morgen ziehen wir in unsere Villa!

Aber ich wälze mich im Bett und starre an die Wand. Irgendwo da draußen in der dunklen Nacht ist Mathilda. Und das Dunkel ist plötzlich viel schwärzer geworden. Ich mag auch die Augen nicht schließen. Ich fürchte mich vor den Bildern.

 

Als wir am nächsten Tag aus der Schule kommen, steht das blau lackierte Pferdefuhrwerk der Spedition Peters vor der Haustür. Zwei zottelige Kaltblüter warten geduldig, dass der Wagen beladen wird. Ich streichle ihre verfransten Mähnen. Der warme Atem, der aus ihren Nüstern strömt, streift meine Arme. Ein vertrauter Geruch schlägt mir entgegen. Sofort muss ich an Astra und Mozart denken, an die Ausritte und Reitstunden und daran, dass ich schon lange nicht mehr auf Bernings Hof war. Herr Berning hat mich eingeladen zu kommen, wann immer ich will. Aber will ich ohne Mathilda überhaupt noch reiten? Trotzdem könnte ich Herrn Berning mal wieder besuchen.

»Ihr zwei habt Glück, dass wir nicht viel mitnehmen«, flüstere ich einem der beiden Pferde ins Ohr, »dann müsst ihr auch nicht so stark ziehen.«

Mein Vater kommt gerade aus dem Haus und trägt ein merkwürdig flaches Paket in den Armen.

»Was ist das denn?«, frage ich neugierig.

»Das ist eine Überraschung und wird erst im neuen Haus verraten. Ihr werdet staunen«, antwortet er geheimnisvoll und stellt das behutsam in Decken eingehüllte Paket auf den Wagen. »So, jetzt ab ins Haus und helfen.«

Er hakt mich unter wie eine junge Dame und begleitet mich in die Küche. Dort haben wir gestern alles, was wir mitnehmen wollen, zusammengestellt. Zwei Männer der Spedition tragen bereits Kisten und Möbel und wuchten sie auf die Ladefläche.

»Freust du dich schon?«, fragt mein Vater.

»Und wie!«, rufe ich. »Ich bin so gespannt auf mein neues Zimmer.«

Ein letzter Gang durchs alte Haus, und los geht’s.

»Darf ich vorne auf dem Kutschbock mitfahren?«, frage ich einen der Männer.

Er lässt mich neben sich sitzen und die Zügel halten. Wir fahren los. Ganz langsam und gemütlich ziehen die kräftigen Pferde den voll beladenen Wagen durch die Straßen.

»Brr!« Das Fuhrwerk hält vor unserem neuen Haus. Meine Mutter und mein Vater haben es schon von innen gesehen, aber Hans und ich noch nicht. Um die Wette rennen wir über den Kiesweg, den Treppenaufgang hinauf und durch die weit geöffnete Haustür in die Eingangshalle.

»Du brauchst gar nicht so zu rennen«, rufe ich Hans hinterher, der bereits die Treppe hochsprintet, »das Zimmer unterm Dach ist schon vergeben.«

»Das wollen wir doch mal sehen«, brüllt er und nimmt drei Stufen auf einmal.

Ich laufe ihm nach, denn ich habe noch keinen Blick für die anderen Räume, ich möchte erst mein Zimmer sehen.

Oben kommt mir Hans schon entgegen und zieht einen Flunsch. »Das Zimmer kannste behalten«, mault er, und gleich sehe ich, was er meint: Das Zimmer ist riesengroß, hell und eher weiblich eingerichtet. Eine hohe Stuckdecke, bunt eingefasst mit Rosen und Ranken, wölbt sich über mir wie aus einer anderen Welt. Sie wirkt weit und zauberhaft in diesem hellen Sonnenlicht.

Meine Mutter hat für mich einen großen Spiegel besorgt und am Schrank anbringen lassen. Ich ziehe mich gerne schick an oder flechte meine Haare. Da ist so ein Spiegel wunderbar. In der Mitte des Zimmers steht ein außergewöhnlich geschnitztes Bett. Wer sich das wohl ausgedacht hat? Ein Bett, so groß wie ein Schiff mit dunklem Blattwerk am Kopfende. Ich tanze durch den Raum, über dunkle Dielen und weiche Teppiche. Das alles ist wie ein Traum.

Mama steht im Türrahmen und sieht mir lächelnd zu. »Na? Hab ich dir zu viel versprochen?«, fragt sie, und ich schmiege mich in ihre Arme. Doch sie schiebt mich auf Armlänge von sich und sagt: »So, jetzt komm wieder mit nach unten. Die Wagen müssen ausgepackt werden, und Papa hat ja noch eine Überraschung für uns.«

 

Mein Vater erwartet uns im Salon. Das flache Paket liegt vor ihm auf dem Tisch. Er öffnet die zweite Sektflasche. Heute bekommt auch Hans einen Schluck.

»Auf unser neues Zuhause«, sagt mein Vater und sieht uns stolz an. »Ich muss nicht sagen, wem wir es zu verdanken haben, dass wir in dieses wunderschöne Heim einziehen dürfen …« Er steht aufrecht, den dankbaren Blick auf das Bild des Führers gerichtet.

Vorsichtig packt er nun das Paket aus und hält uns ein Gemälde hin. Es zeigt das Bildnis eines Mannes mit Malerkappe, dunklen Locken und einem buschigen Schnurrbart.

»Kennt ihr den Maler dieses Bildes?« Er erwartet offenbar keine Antwort, denn mit glänzenden Augen fährt er fort: »Das ist Rembrandt. Ein Selbstporträt. Ich habe es günstig bei einer Versteigerung ergattern können. Ist das nicht sagenhaft?«