Epilog

 

»Er ist weg«, sagt eine Frauenstimme.

Die Augenbinde wird mir abgenommen. Mein Kopf sinkt nach vorne. Ich sehe dunkle Dielenbretter. Es ist diese Mischung aus großer Angst, dröhnendem Kopfschmerz und auf- und abschwellendem Brummen in meinen Ohren, die jeden Gedanken aus meinem Kopf fegt. Nein, ich kann nicht denken. Und was soll ich schon denken? Ich weiß doch gar nichts, vor allem nicht, wo ich bin. Und dann falle ich, stürze in das unendliche Dunkel des Fußbodens.

»Schwester Hedwig, schnell den Eimer!«, ruft eine fremde Stimme.

Mein Magen hat sich zusammengekrampft. Ich muss brechen. Ein Schwall warmer Flüssigkeit schießt aus meinem Mund. Es brennt in meinem Hals, und ein süßlicher Geruch steigt mir in die Nase. Ich versuche, etwas zu sagen.

Eine kühle Hand legt sich auf meine Stirn und drückt mich sanft zurück auf ein Kissen.

Wo bin ich? Ich will die Hand wegschieben. Es ist nicht Mamas Hand, das spüre ich. Sie könnte mir wehtun. Alles dreht sich. Ich schließe die Augen.

 

Als ich wach werde, ist mir so kalt. Ich rolle mich zusammen und ziehe die Knie unter mein Kinn. Jede Bewegung schmerzt. Ich trage ein Nachthemd aus Baumwolle. Es riecht frisch und sauber, und es kratzt.

Im Luftzug des geöffneten Fensters bauschen sich die weißen Vorhänge. Neben meinem Bett sitzt eine Nonne in ihrer Tracht. Sie hält die Hände im Schoß gefaltet und schläft, den Kopf zur Seite geneigt. Ihr Mund ist leicht geöffnet. Die Brille ist ihr auf die Nasenspitze gerutscht.

Ich sehe einen mit Schnitzwerk verzierten Schrank in der Ecke, ein Holzkreuz an der Wand, einen weißlackierten Tisch und darauf eine brennende Kerze. In einem schmucklosen Übertopf verblüht ein Alpenveilchen. Durch die Bogenfenster fällt das milchig weiße Licht des Morgens. Irgendwo kräht ein Hahn.

Wo bin ich? Wohin hat er mich gebracht?

In meiner Stirn pulst immer noch dieses hämmernde Dröhnen. Ich schließe die Augen, bis ich höre, dass die Tür sich öffnet und jemand das Zimmer betritt. Der Holzboden knarrt.

Sie sind zu dritt. Drei Nonnen in langen schwarzen Trachten, die hohen Kopfhauben zu Flügeln gewölbt. Ich sehe in fremde Gesichter. Fremde Augen. Ich höre die Worte so weit weg von mir.

»Ich bin Schwester Antonia. Geht es dir besser, Paula?«

Es fiept in meinen Ohren. Ich versuche zu antworten, aber es kommt nur ein Krächzen aus meiner Kehle. Es tut weh.

Die Nonne nimmt meine Hand. Sie fühlt meinen Puls. »Hab keine Angst. Hier bei uns bist du sicher.« Sie streicht mir sanft über den Handrücken.

Ich kann das nicht ertragen. Ich schüttele den Kopf und weise sie ab. Es riecht hier wie in der Turnhalle unserer Schule. Schweißig, abgestanden und fettig. Und dann plötzlich die Erkenntnis: Das bin ich, die so stinkt! Tränen laufen mir über mein geschwollenes Gesicht. Dabei will ich doch gar nicht weinen.

»Du musst versuchen aufzustehen. Wir wollen dich waschen. Ein warmes Kräuterbad wird dir guttun, getrocknete Kräuter aus unserem Garten«, flüstert jemand sanft.

Ich nicke und versuche, mich aufzurichten. Mein Haar klebt an meinem Kopf. Meine Lippe ist aufgeplatzt. Mühsam gelingt es mir, die Beine aus dem Bett zu bewegen. Langsam setze ich mich auf der Bettkante auf. Mein Rücken schmerzt. Ich spüre jeden Knochen, jede Muskelfaser. Sie heben mich in einen Rollstuhl. Sofort kommt das Zittern wieder. Ich will nicht mehr, dass es weh tut. Ich will, dass es aufhört.

Sie legen mir ein Kissen über den Schoß und fahren mich über einen langen, zugigen Flur. Mir ist schwindelig. Die Decken sind hoch, und auf dem Boden tanzen große, bunte Muster. Die Wände glänzen mir in einem verschwommenen Blau entgegen, Ölfarbe, an manchen Stellen abgeplatzt.

Im Waschraum lasse ich mich langsam in eine tiefe Zinkwanne gleiten. Mein Körper ist grün und blau, schorfig und blutig. Ich schäme mich und will alles verstecken. Bei jeder Berührung des Wassers mit einer Wunde zucke ich zusammen. Und trotzdem strecke ich mich wenig später wohlig aus, ich bin froh, dass ich mich unter der Schaumdecke verstecken kann. Es duftet nach Kamille und Heublumenwiese, und im warmen Wasser scheinen die Schmerzen davonzuschwimmen.

»Du hast schönes Haar.« Ich habe inzwischen herausgefunden, dass eine der Nonnen Angelika heißt. Sie wäscht mir den Kopf.

»Schwester Angelika«, mahnt die Schwester Oberin Antonia, »wir achten hier nicht auf Äußerlichkeiten.«

»Trotzdem«, raunt mir Schwester Angelika ins Ohr, »trotzdem gefällt mir deine Frisur. Sie ist so anders.«

Ich muss lächeln, meiner Oma hat sie auch gefallen.

Sie trocknen mich behutsam ab und streichen mir eine Salbe auf die Striemen, die nach Kamille riecht.

Mein Bett ist frisch bezogen. Ich schmiege mich in die Laken und schweige in mich hinein, presse meine Lippen fest aufeinander.

Sie schieben mir ein Tablett hin mit Milch und Brot. Ich will nicht.

Schwester Angelika tunkt das Brot in die Milch und hält es mir hin. Die Milch duftet nach Honig. Sie ist warm und tropft vom Brot in die Schale. Die Tropfen ziehen Kreise, wenn sie in die Milch fallen.

Dann fange ich langsam an zu essen, um plötzlich, ganz plötzlich, wie von einer übermächtigen Gier befallen, alles in mich hineinzustopfen. Rasch, schnell, schnell … Wenn mein Vater zurückkommt, nimmt er mir alles, schlägt mich, lässt mich hungrig liegen.

Ich schaue mich angstvoll um. Angelika legt ihre Hand auf meine. Ich werde ruhiger und esse langsamer, fast bedächtig kaue ich, schlucke und schluchze wieder. Ich weiß nicht, warum ich nicht aufhören kann zu weinen. Nur das Zittern wird weniger. Und die Gier ist einer großen Ruhe gewichen.

Tiefe, bleierne Müdigkeit befällt mich. Im Schlaf kann ich fliegen. Aber nicht so wie Nils Holgersson auf dem Rücken einer Wildgans. Ich höre im Traum Omas Stimme. Sie liest mir vor. Während ich fliege. Über die Promenade, die Sonnenstraße, die Schule, den Zwinger, die Gutenbergstraße, Schuberts Villa, den Güterbahnhof. Ich betrachte alles von oben, und wenn ich ganz hoch fliege, wird alles klein.

Mir fällt auf, dass ich nicht über das Haus in der Salzstraße fliege.

 

In meinen Nächten tobe ich herum. Mein Kissen liegt dann am Morgen irgendwo.

Meine Nachtwächterin, Schwester Angelika, sagt zur Oberin: »Es wird langsam besser. Bald ist es vorbei.«

Oft kribbelt meine Haut, und ich möchte kratzen. Schwester Angelika zeigt mir dann drohend den Zeigefinger. Sie scherzt und reicht mir einen großen Topf mit Ringelblumensalbe.

Die Nachtluft ist kalt. Wie feine Nadeln sticht sie in meine Lunge. Ich stehe am Fenster und sehe die Sterne. Irgendwo steht auch der Mond.

Ich kann meine Arme strecken, ohne dass es weh tut. Ich kann wieder tief atmen. Manchmal höre ich die Sirenen: Voralarm. Fliegeralarm. Entwarnung. Flak schießt. Blitze zucken über den Nachthimmel. Es macht mir immer noch Angst. Aber es ist aus der Ferne besser zu ertragen.

Hier gibt es keinen Volksempfänger. Keine »Goebbelsschnauze«, wie Hans immer lachend meinte.

Aber es gibt auch keinen Hans und keine Mama. Und meinen Vater auch nicht. Bald ist Weihnachten. Wie wird das sein ohne Familie? Wo sind Opa und Oma? Wo bin ich? Ich weiß eigentlich nur, wo ich nicht mehr bin. Doch ich mag nicht fragen, obwohl ich hier bestimmt fragen dürfte. Aber ich habe keine Stimme mehr.

Manchmal kritzele ich auf einen kleinen Zettel einen Wunsch. Wenn ich Durst habe oder hungrig bin. Manchmal ein Danke. Angelika sagt, dass ich bald in den großen Schlafsaal darf zu den anderen.

»Als der Junge am nächsten Morgen die Augen aufschlug, lag er auf einem richtigen Bett. Er blickte sich um und stellte erstaunt fest, dass er sich in einem großen Haus mit vier Wänden und einem Dach darüber befand. Da glaubte er wieder zu Hause zu sein und rechnete jeden Moment damit, dass die Mutter ihm das Frühstück bringen würde.«

Schwester Angelika sitzt neben mir am Bett und liest mit ihrer warmen Stimme laut vor. Sie liest mir aus Nils Holgersson vor. Sie hat sich mein Kopfkissen in den Nacken gestopft. Sie sagt, dass sie es so nicht mehr suchen muss, wenn ich nachts schreie und tobe.

»Ich habe kein anderes Buch gefunden«, behauptet sie. »Jedenfalls keins, was dir helfen könnte. – Du murmelst viel, wenn du schläfst. Du treibst dich auf Bahnhöfen herum und sprichst mit Mathilda. Du musst damit aufhören. Du musst sprechen, wenn du wach bist, und nachts schlafen.«

Ich schaue sie an und versuche, ihr mit meinem Blick zu sagen, dass ich nicht anders kann.

»Ja«, sagt Angelika ernst. »Und außerdem möchte ich mal wieder in meinem eigenen Bett schlafen.« Sie zwinkert mir zu. Sie steht auf und wirft mir das Kissen an den Kopf. Sie lacht dabei, und ich versuche es auch.

Langsam lerne ich den großen Schlafsaal kennen. Mein neues Zuhause: kleine weiße Tische mit gedrechselten Beinen, die jeweils zwischen zwei Betten stehen. Wohl dreißig weißlackierte, metallene Bettgestelle an der ganzen Wand entlang. Karierte Bettbezüge, dünne Matratzen, die nach Pferdehaar riechen. Zwischen den Betten kann man Vorhänge zuziehen, dann ist man für sich.

An der Stirnseite des Saales sind Fenster. Ich schaue von dort hinaus auf einen weitläufigen Bauernhof, der wohl zu diesem Haus gehört. Der Kamin raucht, der Misthaufen dampft, und aus einem Stall dringt das Muhen der Kühe. Ein Hund zerrt an seiner Kette. Dahinter liegt ein tiefer, dunkler Wald. Alles ist überzogen mit einer leichten, weißen Schneeschicht.

Ich atme die milde Winterluft tief ein. Das fast völlige Fehlen von Farbe tut gut. Das Dröhnen in meinem Kopf wird leiser. Meine Augen beruhigen sich. Ich schaffe es, auf einen Punkt zu schauen, ohne dass mir schwindelig wird. Aber ich kann immer noch nicht sprechen.

»Es hat ihr die Sprache verschlagen«, höre ich jemanden sagen.

Und nachts sind immer noch die Träume da, kriechen in mein Bett und überrollen mich: Papa, der mich schlägt, eine wuchtige Gestalt, die mit drohender Stimme von oben auf mich einhackt. Meine Angst vor Papa, meine Sehnsucht nach Papa. Ich schäme mich für ihn.

Wenn man aus einem bösen Traum erwacht, wo man schreiend floh, fasst man sich ans Knie. Man fühlt, ob das Bein noch da ist. Und die Füße. Man braucht sie doch, um wegzulaufen. Dreimal schon habe ich den ganzen Schlafsaal wachgeschrien.

Aber meistens herrscht hier Stille. So leise wie das Brot, das ich am Morgen in die Milch tunke. Doch auch das Leise tut weh. Es macht stumme Tränen. Ich denke viel an Mathilda. Sie lebt in meinen Träumen. Aber darüber legt sich immer wieder der Albtraum mit meinem Vater, der auf einmal so weit von mir entfernt ist.

Mein Vater hat mich verlassen, er hat mich einfach abgeschoben. Eine Stimme in mir begehrt auf. In den Nächten weine ich immer wieder um ihn.

Doch ich mache mir auch Sorgen um ihn: Wie kann ein Mensch so etwas tun? Ein Vater. Da muss doch etwas mit ihm passiert sein, etwas ganz Schlimmes. Tut ihm das nicht weh?

In solchen Augenblicken höre ich oft wie von Ferne die bellende Stimme des Führers.

Und dann ist alles wieder weg. Dann kann ich sogar ruhig an Mama denken. Warum hat sie mich weggegeben? Warum hat sie sich Papa nicht in den Weg gestellt? Sie ist doch meine Mutter. Und Hans, der ist nun wirklich kein Feigling, und der weiß, was er will. Ich fahre dabei mit dem Finger über meine Beine, sie baumeln aus dem Bett, und ich male Muster auf die Haut, unsichtbare Muster. Man sieht sie genauso wenig wie meine Erinnerungen an zu Hause.

In meinem Schlafsaal leben viele andere Mädchen. Sie sind jünger als ich. Manchmal sitzen sie auf meinem Bett, machen große Augen und starren mich an.

»Du bist doof«, sagt eine und streckt mir die Zunge heraus.

Na warte, denke ich. Du Mistkröte. Wenn ich wieder richtig kann, drehe ich dir den Hals um.

 

Am Morgen fällt Regen. Er geht in Schnee über. Der Wind kommt von Westen. Woher ich das weiß? Ich beobachte das Licht. Ich finde mich langsam wieder zurecht. Draußen heult der Hund an der Kette. Der Wind treibt Schneeflocken an das Fenster.

Flocken, Erinnerungsflocken, vor einem dunklen Hintergrund. Ich stelle die Bilder, die ich von Vater habe, in eine weit entfernte Ecke. Das hat er verdammt nochmal verdient.

Und immer wieder kommen die Fragen. Warum, warum, warum? Und: Wo bin ich hier, wohin führt das alles?

Ich frage Schwester Antonia, ich stelle ihr meine Fragen auf kleine Papierchen gekritzelt.

Sie antwortet mit einem seltsamen Satz: »Es gibt Zeiten, da gibt es auf viele Fragen keine Antwort. Und in solch einer Zeit leben wir.«

 

Mein Vater macht alles kaputt. Auch hier. Er ist schuld, dass ich meine Familie verloren habe.

»Mama«, schluchze ich, »Mama, komm doch wenigstens jetzt zu mir.« Aber alle sind weg, alle, die ich mal lieb hatte.

Der Hund an der Kette kann sich einfach nicht beruhigen. Er bellt und kläfft. Er jault. Er heult den Wald an. Und dahinter sehe ich Mamas Gesicht. Mama! Warum kann ich mich nicht beruhigen?

Sie hat mich doch auch verlassen, schreit es in mir. Sie hat sich doch gar nicht gewehrt. Sie hätte schreien müssen, die Zähne zeigen, wie eine Tigermutter aufheult und das Maul aufreißt, wenn ihr Kind in Not ist.

 

Am Morgen helfe ich Schwester Angelika beim Ankleiden der Kinder. Ich binde meiner kleinen »Mistkröte« die Schuhe zu. Sie nimmt mich in den Arm und schmatzt mir einen Kuss auf die Wange. Ich drücke sie ganz fest an mich und spüre so etwas wie Sehnsucht.

Später am Vormittag sitze ich vor Schwester Antonias großem, mächtigem Schreibtisch. Im Wandregal hinter ihr türmen sich Bücher. Ihre Ordnung ist kunterbunt, aber liebenswürdig.

Sie hat eine schmale Kladde aufgeschlagen und hält einen Schreibstift in der Hand. Ich rutsche tief in den Stuhl und fühle mich schlapp.

»Sitz gerade, Paula.« Ein strenger Blick zischt über den schmalen Rand ihrer Brille und nagelt mich an der Rückenlehne fest. »Wir haben viel für dich gebetet, Paula.« Sie macht eine Pause. Sie macht immer eine Pause, wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hat. Sie legt den Stift neben die Kladde und sieht mich an. »Wir wissen nicht, ob dir das geholfen hat. Aber wir haben auch über dich nachgedacht, und wir wollen dir einen Vorschlag machen: Du kannst hierbleiben, wenn du willst. Allerdings wirst du gegen deine Traurigkeit anarbeiten müssen. Erst in der Näherei, dann in der Küche. Du wirst dich um die Mädchen in deinem Schlafsaal kümmern. Du wirst aufrichtig sein und Anteil nehmen. Du wirst für sie da sein, ihnen zuhören, mit ihnen spielen und lernen. Manche von ihnen sind viel schlimmer dran als du. Die brauchen dich dringend.«

Ich will antworten, bewege meine Lippen, atme tief, dann immer schneller. Aber es kommt einfach kein Laut. Ich räuspere mich, will mit den Lippen, mit der Zunge Worte formen, aber meine Zunge versagt, der Atem stockt. Die Worte kommen nicht mehr! Wo sind sie? Tränen schießen stattdessen aus meinen Augen.

»Wir werden dich unterrichten. Wenn du deine Stimme wiedergefunden hast, werden wir dich auf unsere Schule schicken. Du wirst lernen und arbeiten. Das mit dem Beten überlassen wir dir.«

Erst war da nichts als Abwehr. Doch jetzt schleicht sich ganz langsam ein anderes, neues Gefühl an. Es schmeckt so fremd und rau. Ich bin frei. Für einen Augenblick sauge ich diese neue Freiheit tief in mich ein. Und ich weiß, dass sie ohne Drohungen und laute Worte auskommt. Ja, möchte ich rufen, ja! Stattdessen richte ich mich hoch auf in meinem Stuhl – und nicke.

Schwester Antonia lächelt. Sie weiß, dass ich begriffen habe.

»Mehr erwarten wir nicht von dir. Du hast ein Bett, Nahrung, Kleidung, und wir bieten dir sichere Wände und ein Dach über dem Kopf. Das ist viel in einer solchen Zeit. Alles andere wird sich finden.«

Sie klappt die Kladde zu und legt den Stift drauf. Dann steht sie auf und kommt um den Tisch herum auf mich zu.

»Übrigens, du hast Besuch«, sagt sie. »Es ist ein Junge. Er behauptet, dein Bruder zu sein. Wir haben ihn weggeschickt. Aber der Kerl ist stur, er sitzt da draußen und friert sich den Hintern ab. Adolf mag ihn nicht.«

Adolf? Ich mache wohl ein verdutztes Gesicht.

Schwester Antonia lacht: »So heißt unser alter Hofhund. Es macht Spaß, ihm das Bellen zu verbieten.«

Solche Witze hätte ich den Nonnen gar nicht zugetraut. Meine Hand fährt über meinen Mund, und ich halte mir die Nase zu. Ich muss prusten vor Lachen.

Schwester Antonia streichelt mir über den Kopf. »Ja, wir haben viel Spaß mit Adolf. Aber dein Bruder darf hier in der Uniform nicht rein. Ich dulde keine Stiefel, keine Koppelschlösser, kein Halstuch, keine Fahrtenmesser am Gürtel, vor allem keine braunen Hemden. Wenn er die Hand hebt zum ›Heil Hitler‹, hetze ich Adolf auf ihn. Geh mit ihm in den Stall. Da hängen Kittel. Er soll sich umziehen. Dann bring ihn in die Küche. Ich glaube nämlich, er hat Hunger.«

Ich muss lachen. Das kann nur Hans sein.

»Bleib einen Moment hier sitzen und denk über alles nach. Es ist nicht meine Art, viele Worte zu machen. Wenn dein Bruder gegessen hat und ihr miteinander geredet habt, soll er das Holz im Schuppen hacken. Sag ihm, dass es hier nichts umsonst gibt.«

 

Minuten später sitze ich mit Hans am großen Arbeitstisch in der Küche. Hans’ Lippen glänzen fettig. Er mampft Bratkartoffeln, Spiegeleier, Speck, Stippmilch und Pumpernickel mit Rübenkraut. Zwischendurch blickt er von seinem Teller auf und grinst schelmisch.

»So ein Festessen.« Eine Locke fällt ihm in die Stirn. Er streicht sie nicht weg.

Schwester Angelika hat Spaß an seinem Appetit.

»Das mit dem Holzhacken geht klar«, sagt Hans. Er streicht sich über den Bauch. Angelika bringt noch Muckefuck, kuhwarme Milch und Rosinenbrötchen.

»Alles von unserem Hof oder selbst gemacht«, sagt sie stolz.

Irgendwann nimmt Hans meine Hand und drückt sie leicht. »Weißt du noch, als wir um die Wette gerannt sind? Du und Alfred Dompert?« Er sieht mich aufmunternd an. Der Druck seiner Hand wird stärker. »Diese Promenade ist eine blöde Falle. Sie geht im Kreis und immer nur um die Stadt herum. Wir hätten zusammen weglaufen sollen. Ich denke oft darüber nach, aber heute ist es zu spät.«

Hans erzählt mir, dass er an dem Tag, als Vater mich schlug, zu Oma gefahren ist. Die schnappte sich Opa und den Regenschirm, und dann fuhren sie in die Stadt.

Hans berichtet weiter, dass Opa brüllte: »Himmel, Erich! Du weiß nicht mehr, was du tust!« Dann ist er mit Vater im Herrenzimmer verschwunden.

»Danach bestand Papa nicht mehr darauf, dich in ein Jugendstraflager zu stecken. Er war mit deiner Unterbringung hier einverstanden. Und Opa zwinkerte mir zu. Mama weinte nur noch. Sie wollte dich zurückhaben, zu Hause. Aber das war für Papa kein Thema. ›Ich will keinen Widerstand, vor allem nicht im eigenen Haus.‹ Und damit erstickte er jede Diskussion.«

Hans legt seinen Arm um mich. Ich schmiege mich hinein. Wie gut das tut!

»Es war Mamas Idee, dich hier ins Kloster zu bringen. Sie hat sich verändert. Sie ist wieder mehr so wie früher.« Das sagt er zögernd, doch ich weiß genau, was er meint. »Ich soll dir Grüße von ihr bestellen. Sie vermisst dich, aber Papa hat uns verboten, dich zu besuchen. Sie weiß genau, dass mir sein Verbot egal ist. Ich glaube, ihr ist es auch egal. Sie wird sicher bald kommen und dich besuchen. Und ich bin ja jetzt hier, Schwesterchen.« Er ist fast so ausgelassen wie früher, wenn wir zusammen gespielt und Quatsch gemacht haben.

Wie gut es tut, so etwas zu hören und von Hans in den Arm genommen zu werden.

 

Wenige Tage später sitze ich am Fenster und schaue auf Bäume und Wege. Es schneit nicht mehr, und der Hofhund ist ruhig.

Da kommt etwas Schwarzes herangekrochen. Ein Auto. Ein schwarzes Auto. O nein! Der Schrecken raubt mir fast den Atem. Es kriecht heran, das Monster, wie eine kräftige Spinne, die sich alles greift. Dann hält es unten vor unserem Eingang.

Ich recke mich aus dem Fenster. Kommen jetzt Männer, die mich holen? Hat Papa sie geschickt? Falls es so ist, werde ich wegrennen, mich verstecken. Er kriegt mich nicht. Nein, nie mehr. Meine Finger krallen sich an der hölzernen Fensterbank fest. Nein, die dürfen mich nicht holen!

Doch dann steigt nur ein einzelner Mann aus, einer in einem schwarzen Ledermantel. Einer allein macht mir keine Angst. Die, die einen bei Nacht abholen, kommen immer zu mehreren. Das hat Mathilda mir erzählt.

Der eine Mann trägt ein schmuckloses, braunes Päckchen in der Hand, einfaches Packpapier und eine geknotete Schnur.

Seine Faust schlägt gegen die Tür. Das kann ich bis oben hören. Warum benutzt der nicht die Glocke?

Soll ich vielleicht doch wegrennen, mich verstecken?

Da geht er schon wieder zurück zum Auto. Der Kies und der Schnee knirschen unter seinen Stiefeln. Kurz darauf fährt das Auto wieder ab, kriecht den verschneiten Weg hinunter. Ich schaue ihm lange nach, muss sicher sein, dass er wirklich weg ist.

 

Am Abend gibt mir eine der Nonnen das Päckchen. Es ist von meinem Vater.

Will er mich um Entschuldigung bitten? Will er wieder mit mir reden? Sind das jetzt vielleicht meine Glückstage? Erst Hans’ Besuch, dann ein Geschenk von Papa … Mit zitternden Fingern reiße ich das braune Packpapier auf, so aufgeregt bin ich.

Doch das »Geschenk« fällt mir vor Schreck fast aus der Hand. Es ist das Buch, das der Führer für mich signiert hatte. Und mein Vater hat einen Zettel beigelegt mit den Worten: Vergiss nicht, was wichtig und richtig ist!

Ich starre lange auf den Fetzen Papier. Ich kann es nicht glauben. Ist das alles, was mein Vater mir zu sagen hat? Vergiss nicht, was wichtig und richtig ist! Ist das wirklich alles?

Ich schäme mich für ihn. Ich schäme mich unglaublich. Seine Worte hören sich so an, als wäre für jeden selbstverständlich, was wichtig oder richtig ist. Als gäbe es nur eine Antwort.

Ich gehe ans offene Fenster und muss erst einmal tief durchatmen. Dann starre ich den Mond an, der heute Abend so gespenstisch klar am Himmel steht und sein warmes Licht ausstreut. Wichtig und richtig ist ganz bestimmt nicht das, was mein Vater dafür hält.

Ich schlage das Buch vorne auf, starre nur kurz auf die Signatur des Führers. Dann nehme ich ganz langsam diese eine Seite und reiße sie mit einem Ruck aus dem Buch heraus.

Dieses lose Blatt halte ich zwischen meinen zitternden Fingern und zerreiße es ganz schnell und mit Kraft in zehn, zwanzig, nein hundert Schnipsel, werfe die Schnipsel auf den Boden, werfe dazu Papas Zettel, trampele darauf herum und schreie so laut, dass man es bestimmt überall im Kloster hören kann: »Ich schäme mich für dich! Du und dein Führer – ihr seid Mörder!«