14. Der geheime Bote

Noch zwei Tage bis zu den Ferien und dem ersehnten Landeinsatz in Nottuln. In der Schule knarren die Treppen, das Bohnerwachs lässt das Holz glänzen. Die Klasse liegt im Schatten eines Kastanienbaums, der schwer ist von Früchten und sie nach und nach abwirft. Lust auf Unterricht hat niemand mehr so kurz vor den Ferien. Darum freuen wir uns, dass Fräulein Nottebaum uns in der letzten Stunde im Musikunterricht Schuberts Unvollendete auf dem Grammophon vorspielt.

Schwere Töne erfüllen den Musiksaal, ein dunkles, sich nach unten neigendes Motiv. Ich mag den ersten Satz am liebsten, wegen des Düsteren und Geheimnisvollen, das sich dahinter zu verbergen scheint. Aber dann kommt der Schwung wieder, flüstert, wispert, hebt seine Stimme, als stelle er eine Frage. Unbeholfen, fast zärtlich singen die leise gestrichenen Geigen dazu, um dann wieder vom Orchester übertönt und in die Tiefe gezogen zu werden.

Ich möchte immer hier sitzen bleiben und der Musik lauschen. Es sind die hellen, schmeichelnden Töne, die das Dunkel zerschneiden, Verborgenes aufblitzen lassen und sich anfühlen wie Augenblicke einer Erlösung. Ich schaue mich um, möchte meine Begeisterung mit anderen teilen. Lauschen sie wie ich? Vorne am Grammophon sitzt Fräulein Nottebaum, die Augen geschlossen. Sie wiegt den Kopf leicht im Rhythmus der Musik, und mit den Händen schwingt sie einen imaginären Taktstock. In der Klasse ist es still, alle hören auf die Musik, hängen ihren Gedanken nach oder kritzeln Strichmännchen auf die Blätter in ihren Heften.

Emmy und Franziska schauen in Fräulein Nottebaums Richtung, tuscheln miteinander und grinsen. Sie machen sich mit Gesten über ihr Versunkensein lustig, aber ich weiß genau, sie würden nie etwas Boshaftes über sie sagen. Fräulein Nottebaum ist die einzige Lehrerin, die wir alle uneingeschränkt mögen.

Neben mir sitzt Gertrud, ebenfalls mit geschlossenen Augen. Ihr Mund ist leicht geöffnet, und plötzlich dringen leise Schnarchgeräusche an mein Ohr. Meine Andacht ist dahin, und trotzdem machen die Töne meine Gedanken leichter … Habe ich wirklich gestern Abend Herrn Berning in der Promenade gesehen? Hat das Dämmerlicht meinen Augen einen Streich gespielt? Ich werde auf jeden Fall heute noch zum Geheimbriefkasten schleichen. Wenn meine Briefe weg sind, ist das der Beweis, dass er der Bote ist.

Wundern würde es mich nicht. Immerhin hat er den Schuberts Astra und Mozart abgekauft. Er ist es auch gewesen, der mir gesagt hat, wie froh er über Mathildas und meine Freundschaft ist.

Die letzten Töne der Sinfonie verklingen. Fräulein Nottebaum öffnet die Augen und lächelt uns an.

»Schon erstaunlich«, sagt sie, »dass so ein vollendetes Kunstwerk den Titel Unvollendete trägt, nicht wahr?« Sie blickt jede von uns an. »Nun wünsche ich euch aber erst einmal eine schöne Zeit, und nach den Ferien besprechen wir dieses Werk ausführlich.«

 

»Hast du gut geschlafen?« Ich verlasse gemeinsam mit Gertrud die Schule und lege ihr vertraulich eine Hand auf die Schulter. »Das nächste Mal schnarchst du bitte etwas leiser.«

Erschrocken sieht sie mich an. »Hat die Nottebaum etwa was gemerkt?«

Ich muss über Gertruds Gesichtsausdruck lachen. »Da mach dir mal keine Sorgen. Die war doch selbst völlig weggetreten.« Wir gehen noch ein Stück Weg gemeinsam.

»Sag mal«, beginnt Gertrud zögernd. »Was hat Franziska eigentlich neulich gemeint?« Ich weiß genau, was sie wissen will, lasse sie aber ein bisschen zappeln.

»Was meinst du?«

»Na, dass man dir nicht vertrauen könnte. Und dann das mit Werner und den Swings …«

Soll ich Gertrud einfach alles erzählen? Ich möchte so gerne jemanden haben, mit dem ich reden, dem ich alles anvertrauen kann. In solchen Augenblicken fühle ich mich unglaublich einsam.

»Nun, was ist jetzt?« Gertrud drängt.

»Ach, das. Das war nichts. Du kennst doch Franziska. Die muss sich doch immer wichtig tun. Erst recht, wenn es um Werner geht.«

In diesem Moment spüre ich, wie sehr Mathilda mir fehlt. Mathilda, mit der ich immer über alles reden konnte. Und jetzt bin ich allein und Mathilda wahrscheinlich auch. Briefe sind eben doch kein Ersatz. Was hat Mathilda mal gesagt? »Bei uns beiden ist eins und eins mehr als zwei. Es ist drei und vier und fünf.« Und sie hat mich dabei lachend in den Arm genommen.

Ich sehe Gertrud an, dass sie von meiner Antwort enttäuscht ist.

»Ehrlich, Gertrud. Das ist eine Sache zwischen Franziska und mir. Nichts Wichtiges.« Dabei sehe ich ihr direkt in die Augen und hoffe, dass sie meine Lüge schluckt.

Wir verabschieden uns bis zum nächsten Tag in der Schule. Ich schließe unser Gartentor, schaue Gertrud durch die Gitterstäbe hinterher, bis sie hinter der nächsten Biegung verschwunden ist. Dann mache ich mich auf den Weg zum Geheimbriefkasten. Die Mittagssonne verwandelt die herbstlich gefärbten Blätter der Linden in einen bunten Baldachin, der sich wie ein schützendes Dach über mir wölbt. Wie schön wäre es, wenn keine Bombe, keine Granate dieses Dach durchdringen könnte.

Ich balanciere über entwurzelte Baumstämme und schließe mit mir selbst Wetten ab: Wenn ich es schaffe, auf drei Baumstämmen nacheinander zu balancieren, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, hat jemand die Briefe für Mathilda abgeholt. Mit solchen Kinderspielchen erreiche ich schließlich den Löschteich. Viele Menschen sind bei diesem schönen Wetter unterwegs, aber niemand scheint mich zu beachten, wie ich zum Teich hinunterlaufe, mich in die Büsche schlage und schließlich den Baum erreiche.

Ich halte kurz an, schließe die Augen und flüstere: »Bitte, bitte, lass die Briefe weg sein.« Langsam gehe ich in die Knie, nehme den Stein beiseite und – muss mich zusammenreißen, dass ich nicht laut juble! Meine Briefe sind weg, und es ist ein Umschlag hinterlegt. Berning! Er war es! Jetzt bin ich sicher, dass ich mich gestern nicht getäuscht habe. Am liebsten würde ich den Brief sofort öffnen, aber ich zügle meine Neugier und stecke ihn in die Jackentasche. Sorgfältig schließe ich den Geheimbriefkasten und tarne den Stein mit Laub. Auf dem Heimweg pfeife ich ein Motiv aus Schuberts Unvollendete. Für mein Gepfeife ernte ich missbilligende Blicke, aber das ist mir egal.

Zu Hause wartet meine Mutter schon ungeduldig mit dem Essen.

»Ich komme sofort«, rufe ich, »bringe nur noch rasch meinen Tornister nach oben!«

Ich stürme die Treppe hinauf in mein Zimmer, schließe die Tür und öffne aufgeregt zitternd den grauen Umschlag. Ein Blatt fällt mir entgegen, einseitig beschrieben mit fliehender Schrift. Offensichtlich war Mathilda in Eile. Die Hauptsache ist, dass ich ein Lebenszeichen von ihr in den Händen halte.

 

Lieber Fundevogel, lese ich, unser »geheimer Bote« hat mir gerade deine Briefe gebracht, über die ich mich unglaublich freue! Ich kann sie jetzt auf die Schnelle nicht lesen, denn er muss weiter, und so will ich dir wenigstens einen kurzen Gruß schicken. Das Wichtigste ist: Wir leben und wir sind zusammen. Noch haben wir die Hoffnung, dass alles gut wird und wir dieses Land bald verlassen können. Fundevogel, ich denke viel an dich und vermisse dich sehr! Pass gut auf dich auf, und wenn du mal wieder zu unserem gemeinsamen Freund fährst, grüße ihn und meine beiden Lieblinge von mir. Dein Lenchen.

 

Der Brief macht mich glücklich. Mathilda lebt, und sie hat die Hoffnung noch nicht verloren. Gleichzeitig kommen mir Zweifel, ob Berning der Bote ist. Warum soll ich ihn grüßen, wenn er es gewesen ist, der die Briefe überbracht hat?

Am nächsten Nachmittag radele ich los, die Warendorfer Straße entlang. Mein Vater hat schon ganz früh das Haus verlassen und wird mir heute sicherlich nicht begegnen. Meine Mutter trifft sich mit der Frauenschaft, und Hans treibt sich garantiert mit seinen Freunden im Dyckburger Wäldchen herum auf der Suche nach Flugzeugwrackteilen.

Ich biege in den Weg zum Gestüt. Rechts und links sind die Felder bereits abgeerntet. Eines wird gerade gepflügt. Dahinter liegt Bernings Pferdekoppel. Das Land ist so weit, ruhig und schön, als gäbe es keinen Krieg und keine Bomben. Mir kommen die Tränen bei dem Gedanken an vergangene Nachmittage mit Mathilda.

Herr Berning steht vor dem Stall mit einer Mistgabel in der Hand und schaut mir freundlich entgegen. Auf dem Hof parkt ein schwarzes Auto. Der Fahrer lehnt neben der geöffneten Tür, stützt sich auf das Reserverad und raucht lässig eine Zigarette. Ich erkenne ihn wieder. Es ist der Chauffeur des jungen Mädchens. Er hat seine Mütze über den Seitenspiegel gehängt und schaut zu uns herüber.

»Schön, dich zu sehen«, sagt Herr Berning und lächelt mich an. »Möchtest du Astra und Mozart besuchen?«

»Ja«, sage ich, und am liebsten würde ich ihm um den Hals fallen. Ihm, der Mathilda ebenso sehr mag wie ich und der der Einzige ist, mit dem ich über Mathilda sprechen kann. Doch stattdessen ergreife ich seine dargebotene Hand.

»Darf ich Sie etwas fragen?« Unsicher sehe ich ihn an. Berning lehnt die Mistgabel an die Wand und wirft einen kurzen Blick in Richtung Auto.

»Komm, ich begleite dich zu Astra und Mozart«, sagt er leise, während wir in das Halbdunkel des Stallgebäudes gehen. »Sieh mal, wie sehr die beiden sich freuen!« Tatsächlich schauen Astra und Mozart neugierig in meine Richtung und schnauben leicht, als ich ihnen sanft über den Kopf streichele.

»Hallo, ihr beiden«, begrüße ich sie. »Wie geht es euch?« Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich nicht daran gedacht habe, etwas für sie einzustecken. Also sammle ich etwas Heu vom Boden und halte es ihnen entgegen.

»Was willst du mich fragen?« Herr Berning hat seinen linken Fuß auf einen Strohballen gesetzt und stützt seine gekreuzten Unterarme auf das Knie. So ist er fast auf Augenhöhe mit mir. Seine krausen Haare und die buschigen Augenbrauen zeichnen sich vor dem hereinfallenden Licht des Fensters ab. Seine warmen grauen Augen sagen mir, dass ich keine Angst haben muss und ihm vertrauen kann. Ich spüre es einfach. Er ist offen, ehrlich, und er hat Mathilda immer fürsorglich und liebevoll behandelt. Nie habe ich ihn schlecht über Juden reden hören, keine abfällige Bemerkung, keine Grobheiten.

»In der Schubert-Villa wohnen jetzt andere«, sage ich unvermittelt.

»Ja«, antwortet Herr Berning, und seine Stimme klingt traurig. »Sie vertreiben sie aus ihren Häusern und heften ihnen Sterne an.« Doch dann lächelt er wieder aufmunternd. »Das war aber gerade keine Frage.«

Da sprudelt es aus mir heraus. Ich erzähle ihm vom Geheimbriefkasten, von den Briefen, die so lange nicht abgeholt wurden, welche Sorgen ich mir um Mathilda mache. Davon, dass ich gestern endlich ein Lebenszeichen von Mathilda erhalten habe.

Und dann wage ich zu sagen: »Aber das wissen Sie sicher alles, nicht wahr?« Ich blicke ihn aufmerksam an, möchte sehen, wie er reagiert. Ich bin so sicher, dass er der Bote ist und mir mehr über Mathilda erzählen kann. Und Herr Berning erwidert meinen Blick, leichtes Erstaunen lese ich darin. Habe ich mich geirrt?

Seine Stimme ist klar und fest, als er sagt: »Verrenne dich nicht in deinen Vermutungen. Ich freue mich einfach nur für Mathilda, dass du zu ihr hältst und dich sorgst. Euer Geheimbriefkasten ist eine wunderbare Idee, den Kontakt zu halten. Aber ich rate dir, sei sehr vorsichtig.« Er hält kurz inne und wirft einen Blick in Richtung Stalltür. »Ich habe von Menschen gehört, die Familien wie den Schuberts eine Zuflucht bieten oder ihnen zur Flucht verhelfen. Ich habe aber auch erfahren, was mit ihnen passiert, wenn sie entdeckt werden.« Er legt seinen Arm um meine Schulter, als wolle er mich vor etwas Schlimmem beschützen. »Du musst gut auf dich aufpassen und darfst keine Spuren hinterlassen. Dein Vater ist Polizist, und er würde dein Tun niemals gutheißen. Deine Familie aber ist der einzige Schutz, den du hast. Das darfst du nie vergessen. So, und jetzt fahr nach Hause, bevor es dunkel wird.«

Wir gehen gemeinsam Richtung Stallausgang. Ich bin enttäuscht und doch froh, dass ich hier war, denn Herr Berning ist ein ganz besonderer Mensch.

»Ich würde dir gerne etwas mehr Hoffnung machen, aber das kann ich nicht. Alles, was wir brauchen, ist Zeit, Mut und Geduld«, sagt er zum Abschied. Beim Hinausgehen fällt mein Blick auf eine beige Jacke, die an einem Haken im Stall hängt …

Der schwarze Wagen ist inzwischen verschwunden. Etwas ratlos verlasse ich den Hof. Aber was genau habe ich eigentlich erwartet? Dass Berning mich zu Mathilda bringt und ich sie wiedersehe?

 

»Hast du vergessen, dass ihr morgen fahrt? Und du hast noch nichts gepackt!«, ruft mir meine Mutter aus der Küche zu, als ich nach Hause komme. Ihre Stimme klingt gereizt.

»Ach, das geht doch ruck, zuck. In den Affen passt eh nicht viel rein«, antworte ich. Der »Affe« ist mein mit Fell bezogener Rucksack.

»Dann hol ihn mal vom Dachboden runter. Ich helfe dir gleich.«

Ich laufe die Stufen hoch, ziehe mit der dafür vorgesehenen Stange die Dachluke auf und die Holztreppe herunter. Die Federn entspannen sich mit einem zittrigen Sirren. Vorsichtig steige ich die wackelige Stiege hinauf. Auf dem Dachboden stehen nur ein paar Umzugskisten, Koffer und Taschen. Sonst liegt der Staub dick auf den unbehandelten, rauen Bodendielen. Spinnweben verfangen sich zwischen den Dachsparren. An der linken Kopfseite ist ein kleines Dachlukenfenster. Es ist so verschmutzt, dass kaum Licht hereindringen kann. Ein ungemütlicher Ort. Schnell suche ich in den Kartons nach dem Rucksack und klettere die wackelige Treppe wieder hinunter.

Zügig ist alles verstaut. Auf der Fahrt tragen wir die Uniform; die Kleidung für die Feldarbeit und Wäsche zum Wechseln packe ich ein. Das Essgeschirr zurre ich auf dem Rucksackfell durch vier Lederösen mit Riemchen fest, die Feldflasche hänge ich an. Jetzt fehlt nur noch der Brotbeutel mit Verpflegung für die Fahrt und Besteck. Fertig. Dafür brauche ich Mamas Hilfe nun wirklich nicht mehr.

 

In dieser Nacht gibt es keinen Alarm, und so trudeln alle am nächsten Morgen nach und nach ausgeschlafen und mit bester Laune am Bahnhof ein. Mein Vater lässt es sich nicht nehmen, mich zu begleiten. Ein wenig mulmig wird es mir beim Abschied schon. Es ist Krieg, und wer weiß, was in zwei Wochen alles passieren kann.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagt er zum Abschied: »Mach dir keine Sorgen, Prinzessin. Uns wird nichts passieren. Und du bist auf dem Land erst recht in Sicherheit.« Dann nimmt er mich kurz in den Arm, wendet sich Richtung Ausgang und geht.

Wir sind nicht die Einzigen, die heute zu einem Landeinsatz fahren, und so ist der Bahnhof voll mit BDM-Mädeln und Hitlerjungen. Soldaten mischen sich darunter und einige Reisende in Zivil. Es ist eng und laut, und ich bahne mir den Weg zu unserem Abfahrtsgleis. Gertrud, Hedwig und einige andere warten bereits unter der Uhr. Es können nicht alle mitfahren. Franziska bleibt zu meiner stillen Freude zu Hause. In vier Minuten muss die Mädelschaft angetreten sein, und ich hoffe, ich kann in diesem Durcheinander dafür sorgen, dass wir alle beisammenbleiben. Die Mädels sind pünktlich, der Zug ist es nicht. Mit zehn Minuten Verspätung fährt er schließlich fauchend und zischend ein. Es riecht rußig nach verbrannter Kohle.

Der Schaffner weist uns zwei Abteile dritter Klasse zu, und wir machen es uns auf den harten Holzbänken, so gut es geht, bequem. Die Lok fährt an und nimmt schnaufend ihren Weg bergauf durch die herbstlichen Baumberge. In Nottuln angekommen, wartet bereits der Knecht des Hofes mit einem Leiterwagen mit Pferdegespann auf uns und bringt uns zu einem hoch gelegenen Hof, ziemlich weit außerhalb des Ortes. Kein Nachbarhaus ist zu sehen.

Sonnenblumen stehen im Garten, bunte Astern und Dahlien leuchten uns entgegen. Die Zweige der Apfelbäume biegen sich unter der Last der Früchte, und die Pflaumen hängen dick und blau im Geäst. Ich schmecke schon den Pflaumenkuchen. Ein Paradies! Die Bäuerin, Frau Schulze-Dickhoff, begrüßt uns heiter und führt uns zu einer Bodenkammer. Hier ist fein säuberlich Stroh aufgeschüttet, Bettlaken sind darüber gespannt. Dicke braune Decken liegen zusammengefaltet für jeden am Fußende. Die Sonne scheint durch ein kleines Dachfenster.

»Richtig gemütlich ist es hier«, schwärmt Gertrud und belegt die Strohmatratze neben meiner.

»Zieht euch um«, ruft Frau Schulze-Dickhoff in breitem Plattdeutsch, »dann kommt runter. Ich zeige euch den Hof.«

Die Mahlzeiten werden an einem langen Tisch auf der Tenne eingenommen. Hier gibt es auch eine abgetrennte Waschmöglichkeit. Das Plumpsklo ist hinter dem Haus.

»Und wenn ihr nachts mal müsst, geht einfach in den Kuhstall.«

Die Bäuerin beendet ihren Rundgang und bringt uns zu ihrem Mann auf die Kartoffelfelder. Die Ernte ist bereits in vollem Gange. Jede bekommt einen Drahtkorb in die Hand, und los geht’s. Anfangs singen wir noch Lieder, die uns gerade in den Kopf kommen, dreistimmig sogar. Doch gegen Mittag verstummt unser Gesang, und wir klauben schon müde die Kartoffeln aus den Furchen. Das Essen wird aufs Feld gebracht: Kartoffelbrei, helles Brot mit Schinken und Birnenkompott!

»So was Leckeres hab ich schon ewig nicht mehr gegessen«, schwärmt Hedwig und langt ordentlich zu.

»Das kommt von der Arbeit an der frischen Luft«, sagt Bauer Schulze-Dickhoff.

 

Kartoffeln aufsammeln, Obst ernten, Garten umgraben, Hecken beschneiden, Tiere versorgen, putzen, waschen und, und, und … Abends sitzen wir entweder vor der Tenne oder in der Bodenkammer. Der Ausblick ist grandios. Wir sehen, wie die Flugzeuge über das verdunkelte Münster hinwegfliegen, wie andere ihre Bombenlast über dem Ruhrgebiet abwerfen. Wir schimpfen auf die Engländer und begrüßen jubelnd das Flakfeuer, das wie Feuerwerk in den dunklen Nächten leuchtet. Hier auf dem Hof fühlen wir uns sicher.

Gertrud und ich reden abends noch lange miteinander. Es ist uns egal, wenn die anderen ständig »Ruhe!« rufen und uns mit Socken oder sonstigen Kleidungsstücken bewerfen, damit wir endlich die Klappe halten. Und eines Nachmittags, als wir beide zur Gartenarbeit eingeteilt und unter uns sind, will ich ihr von Mathilda erzählen.

»Kannst du etwas für dich behalten?«, frage ich und behalte sie genau im Auge.

Gertrud sieht mich neugierig an. »Na, klar. Das weißt du doch.«

»Ja, aber du musst es mir hoch und heilig schwören. Ich bestehe darauf.«

»Ich schwöre!«

»Bei allem, was dir lieb ist.«

»Ich schwöre, ich schwöre. Jetzt mach es doch nicht so spannend!«

»Kannst du dich noch an meine ehemalige Freundin Mathilda Schubert erinnern?«, frage ich vorsichtig. Wenn Gertrud jetzt über die Juden herzieht, rede ich einfach nicht weiter.

»Mathilda Schubert? Natürlich kann ich mich an die erinnern. Ich mochte sie. Stimmt es, dass ihre Mutter Jüdin ist? Franziska hat mal so etwas erzählt …«

Ich entdecke keine Ablehnung, keinen Abscheu in ihrem Gesicht. Und da erzähle ich ihr, dass ich immer noch mit Mathilda befreundet bin, dass sie sich verstecken muss, und ich rede sogar von unserem Geheimbriefkasten. Wo er ist, verrate ich allerdings nicht. Und auch meine Vermutung, dass Herr Berning der geheime Bote ist, erwähne ich nicht.

Ihre Augen werden groß und größer. »Das ist aber ganz schön starker Tobak. Du weißt schon, dass so etwas gefährlich ist und deinem Vater gar nicht gefallen würde? Vom Führer mal ganz zu schweigen …«

Soll das eine versteckte Drohung sein? Jetzt bekomme ich doch etwas Angst. »Du behältst es aber für dich?«, frage ich zaghaft.

»Klar. Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen.«

Und nun erzähle ich ihr auch noch von dem Swingjungen und was Franziska damit gemeint hat, dass sie mir nicht mehr vertrauen könne.

»Ich hätte an deiner Stelle genauso gehandelt«, beruhigt Gertrud mich. »Und Werner müsste das doch verstehen, dass du deinem Vater gegenüber nicht schweigen durftest.«

»Für ihn ist es ja wirklich dumm gelaufen«, sage ich. »Aber ganz ehrlich, seit ich gesehen habe, wie sie den Swingjungen in der Gutenbergstraße zugerichtet haben, weiß ich nicht, wer mir mehr leid tut. Der ist so alt wie wir, vielleicht ein Jahr älter.«

»Wer zu den Swingheinis gehört, der weiß, was er tut, und der muss immer damit rechnen, erwischt zu werden. Mach dir mal keinen Kopf, dass er deinetwegen verprügelt wurde. Das ist es doch, was dich bedrückt?« Gertrud sieht mich fragend an.

Ich nicke. Ja, das ist auch etwas, was mich bedrückt, und es tut gut, endlich mit jemandem darüber sprechen zu können!

 

Unser Landeinsatz endet mit einem riesigen Kartoffelfeuer. Am Samstagabend rösten wir Kartoffeln in der Glut, singen zu Marias Gitarrenklängen und bedauern zutiefst, dass diese zwei Wochen so schnell vergangen sind.