7. Musik

Die Tür fällt hinter Hans und mir ins Schloss. Auf der Hörsterstraße sind Menschen in Gruppen und einzeln unterwegs. Die Uniformierten sind deutlich in der Mehrzahl. An der Lotharinger Straße trennen wir uns. Hans geht zum Hochbunker. Dort trifft sich die HJ und der Bollerwagentrupp, der, von Werner angeführt, das Ende der Marschkolonne zum Coerdeplatz bilden wird. Ich winke Hedwig und Franziska zu, die auf der anderen Straßenseite auf mich warten. Wir haken uns ein und gehen nebeneinander zum Zwinger. Zu dritt nehmen wir fast die ganze Breite des Gehweges ein. Hedwig pfeift Lili Marleen.

»Muss das jetzt sein?«, frage ich Hedwig. »Die Leute gucken schon.«

»Franziska ist verliebt«, singt Hedwig im Takt von Lili Marleen. Franziska bleibt so abrupt stehen, dass unsere verhakten Arme auseinanderfliegen.

»Bin ich nicht«, wehrt sie zornig ab.

»Bist du doch! Ich habe gesehen, wie du seinen Namen immer wieder auf das Löschblatt geschrieben hast. Und du hast Herzen … Auah!«

Franziska hat Hedwig am Arm gepackt. »Jetzt hör mal gut zu«, zischt sie. »Du machst die Klappe immer auf, wenn es verkehrt ist. Das geht niemanden was an, also halt deinen vorlauten Mund, sonst prügle ich dich windelweich.«

»Lass mich los! Ich werde auch die Klappe halten. Außerdem sind in den doch alle verliebt.«

»Ich bin aber nicht alle«, sagt Franziska, stapft wütend an uns vorbei und biegt nach rechts in die Promenade ein. Fackeln weisen uns den Weg.

Ich halte Hedwig am Arm zurück. »Spinnst du? Musste das ausgerechnet heute sein?«

Hedwig tippt sich an die Stirn und schickt Franziska einen spöttischen Blick hinterher.

Plötzlich sind Johanna und Gertrud hinter uns und begrüßen uns fröhlich. »Seht nur, der Zwinger. Sieht das nicht toll aus?«

Ich halte Hedwig immer noch fest. »Damit spaßt man nicht. Und mit Franziska schon gar nicht. Jetzt reiß dich zusammen.«

»Was ist los? Habt ihr euch gestritten?«, fragt Gertrud und deutet auf Franziska, die sich ohne ein Wort in der Marschkolonne einreiht. Emmy, Klara, Maria und Line warten schon am Zwinger.

»Ach nichts«, sage ich zu Gertrud, »Kinderkram.« Ich bleibe beherrscht, weil ich deutlich zeigen will, dass ich dieses blöde Gerede bei einer solchen Feier wie heute unpassend, ja störend finde.

 

Ein Trompetensignal ertönt, und die große Trommel schlägt monoton den Takt. Das Stimmengewirr, vereinzeltes Lachen und Rufe verstummen. Ich nehme Haltung an. Meine Augen liegen auf meiner Schaft, die sich, gerade noch tuschelnd und herumalbernd, stramm in zwei Reihen formiert. Ich trage stolz meine frisch gestärkte und gebügelte Uniform. Meine Mutter hat mir die Haare um den Kopf geflochten und Blumen hineingesteckt. Befehle zum Sammeln und Ausrichten ertönen.

Die Menge gerät in Bewegung, und dann ist es für einen Moment ganz still. Die Reihen stehen fest und geschlossen. Der Musikzug marschiert voran. Es zittern die morschen Knochen der Welt vor dem roten Krieg. Wir haben den Schrecken gebrochen … Die Reihen der HJ und des BDM folgen. Dann kommen je eine Abteilung des Arbeitsdienstes und der Schutzpolizei. Am Ende des Zuges geht der Bollerwagentrupp. Fackelträger des Jungvolkes bilden ein Spalier bis zum Coerdeplatz.

Der Schatten der Marschkolonne wird auf die Mauern des Zwingers geworfen, ein gespenstischer Tanz. Im Gleichtakt der Marschmusik hallen unsere Schritte auf dem Asphalt und verschmelzen zu einem einzigen mächtigen Tritt. Ein kühler Wind weht, ich fröstele. Ein Schauer kriecht mir über den Rücken. Aber nicht vom Wind.

»Jetzt sieht uns der Führer zu. Ich weiß es ganz sicher. Führer, wir folgen dir.« Das flüstert Klara mit leuchtenden Augen.

Es ist feierlich und ernst, merkwürdig und unheimlich: das Hämmern der Schritte, die flatternden Fahnen, der zuckende Widerschein der Fackeln auf den Gesichtern und die Lieder, deren Melodien begeisternd und zugleich melancholisch klingen. »Für die Fahne wollen wir sterben …«, singen die Fackelträger.

Ja, ich spüre, es geht um mein Leben, und es geht um Leben und Tod. Ich will dazugehören und am Straßenrand zusehen. Mitmachen, mittendrin sein. Ich will die gleiche Uniform tragen, die Lieder singen. Ja, ich will. Eine Andacht hat mich im Dämmerlicht ergriffen und lässt mein Herz schlagen. »Deutschland, heiliges Wort …« Ich sehe Ergriffenheit, aber auch Härte in ihren Mienen. Wir stehen zusammen, wir greifen durch. Das alles ist Deutschland. Dafür leben wir.

 

Auf dem Coerdeplatz öffnet sich die Menschenmenge zu einem Halbrund. Unter dem Balkon des Polizeipräsidenten ist eine Abteilung der Polizei mit Fackeln in der Hand angetreten. Die Männer tragen Karabiner an der Schulter. Die Sturmriemen ihrer Kappen sind festgeschnallt. Der Polizeipräsident hält den rechten Arm in Augenhöhe nach oben gestreckt. Die flache Hand zeigt hinauf, präzise und zackig.

»Heil Hitler!« Die Hakenkreuzfahnen flattern im Wind. So muss es sein.

Neben dem Präsidenten stehen der Gauleiter und der Bürgermeister. Meinen Vater sehe ich in der zweiten Reihe hinter dem Gauleiter. Befehle werden gegeben. Ich versammele mich mit dem BDM-Chor unter dem Balkon. Wir singen, und die Lieder erklingen in der sich langsam herabsenkenden Dunkelheit. Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen … Die Fackeln zaubern Schattenspiele auf die Wände der umstehenden Häuser. Eine würdige Kulisse. Heute wollen wir marschieren, einen neuen Marsch probieren … Die Lieblingslieder des Führers. Wir beenden unseren Gesang, stehen nun reglos. Ich halte den Atem an. Die gespannte Stille öffnet den Weg für die nun folgenden Worte.

»Ein Volk ist auferstanden!«, ruft Mennecke in die Menge. »Der deutsche Mensch hat sich gefunden. Ein stolzes, ein starkes Reich, so groß und so erhaben. Die Banner wehen, die Trommeln dröhnen, die Pfeifen jubilieren, und aus unserer Kehle klingt es auf, das Lied der deutschen Revolution.«

Die Menge antwortet, laute »Sieg Heil«-Rufe sind zu hören.

Der Polizeipräsident fährt fort: »Wir haben die Aufgabe, euch, all diese jungen Menschen zu Kämpfern zu erziehen, eurem Leben Sinn zu geben im Geiste des Führers. Uns ist vom Schicksal der Befehl erteilt: Was euch nicht gegeben wurde, müsst ihr euch durch eisernen Zusammenhalt erstreiten. Ihr dürft in jedem Augenblick eures Lebens nur an eines denken: an die Notwendigkeit der völkischen Geschlossenheit.«

Beifall brandet auf. Der Polizeipräsident grüßt mit erhobenem Arm.

Ein Trommelwirbel, und Werner zieht an der Seite des Bollerwagentrupps in die Mitte des Platzes. Seine Stimme schwillt an. »Wir verbrennen noch einmal den Schund, der sich in unserer Mitte jahrzehnte- und jahrhundertelang ansammeln konnte. Wir geloben noch einmal und umso entschlossener: Alles Schrifttum, in dem jüdischer Geist Niederschlag gefunden hat, muss restlos vernichtet werden. Dadurch wird der Weg frei für wirklich deutsche Dichter und Denker. Wir sind die Berufenen, wir sind die Herrenmenschen, die aufräumen dürfen und müssen. Das ist das eherne Gesetz, das der Führer ausgibt. Er ruft uns! Der Führer ruft uns zu seinem Dienst!«

»Führer, wir folgen dir!« Wir rufen es mit einer Stimme, und sie hallt hundertfach zu uns zurück. »Führer, wir folgen dir!«

Die Hitlerjungen kippen die Bücher auf einen Haufen, gießen Petroleum darüber. Schon lodern die Flammen.

»Und das alles«, ruft Werner, »tun wir in anständiger Gesinnung, sauber und deutsch, aber auch mit dem Willen zu eiserner Härte. Der Führer zeigt uns den Weg. Führer, wir folgen dir.«

Und wir alle antworten wieder mit einer Stimme: »Führer, wir folgen dir!« Und als wolle auch er mittun, bricht jetzt der Mond hervor, eine helle Scheibe, und wirft sein klares Licht über uns.

Der Gauleiter tritt vor: »Volksgenossen! Wir müssen wachsam sein, unermüdlich beobachten, damit wir die Intrigen und Verschwörungen unserer versteckten Feinde im Keime ersticken können. Das ist unsere Aufgabe, unsere heilige Aufgabe. Der Polizeipräsident wird diese Aufgabe erfüllen. Auf Befehl des Führers geht er nach Riga, um in vorderster Front den Feind zu vernichten.«

Wir jubeln, klatschen, werfen ihm Worte und bewundernde Gesten zu. Ja, so sehen Führer aus. Mennecke ist einer, der Gauleiter auch. Und auch Werner.

»Brüder, reicht die Hand zum Bunde …« Aus dunklen Kehlen steigen die Töne, wie es die Feierlichkeit des Augenblicks verlangt. Das Feuer knackt. Ein Buch wölbt sich in der Glut, als wolle es sich gegen das Verbrennen wehren – um dann doch rasch in sich zusammenzufallen.

Einige Jungen stochern in der Glut und freuen sich über die gelungene Aktion. Werner ist dabei und mein Bruder Hans.

»Uff«, sagt Hedwig. »Das nimmste mit in die Ewigkeit.«

Mit Fackeln ziehen wir weiter durch die Straßen des Kreuzviertels, am Buddenturm vorbei bis zum Hindenburgplatz. Der Polizeipräsident begleitet uns im offenen Wagen. Lieder und tiefes Schweigen, das nur vom Geräusch einheitlicher Schritte unterbrochen wird, wechseln sich ab.

Der Abend breitet sich über uns. Der Himmel wölbt sich mit tausend Sternen, eine Sternschnuppe saust durch die schwarzblaue Nacht, und meine guten Wünsche gelten dem Führer. Eine zweite Sternschnuppe widme ich Mathilda! Wie schön wäre es, wenn wir das hier gemeinsam erleben könnten. Während ich noch in Gedanken bei Mathilda bin, legt sich auf einmal eine Hand auf meine Schulter.

»Hallo, Paula.« Werners blaue Augen sehen mich an. »Du siehst sehr hübsch aus heute Abend.«

»Du warst großartig, Werner«, antworte ich und sehe ihm dabei fest in die Augen.

Wir wechseln nur diese wenigen Worte, dann wendet Werner sich wieder ab. Ich sehe ihm nach, wie er mit aufrechtem, sicherem Gang zu Polizeipräsident Mennecke geht und nach dem Hitlergruß mit ihm spricht. Der traut sich was! Und wie gut er aussieht: groß, schlank, muskulös, das blonde Haar sauber gescheitelt. Eine lange Strähne fällt ihm in die Stirn. Ich sehe, dass die Mädchen ihn anstarren. Keine Frage, er ist der Schwarm vieler. Und doch, er dreht sich um und seine Augen suchen – mich?

Langsam werde ich nervös. Von ihm zu träumen, ihn mit den Augen zu suchen, für ihn zu schwärmen ist das eine. Aber was ist, wenn er sich wirklich für mich interessiert? Mein Herz klopft wie verrückt, als er auf mich zukommt. Meint er wirklich mich, oder ist es einfach nur die besondere, geheimnisvolle Stimmung dieser Nacht, die ihn etwas Kühnes tun lässt?

Er sagt leise Worte zu mir. Ich bin furchtbar nervös, bei dem Stimmengewirr, das uns umgibt, verstehe ich ihn kaum.

»Morgen?«, frage ich nach.

»Ja, wenn du magst, morgen um vier?«

Wenn ich mag? Was für eine Frage! Mein Herz rast. Wenn heute Nacht Alarm kommt, ist mir das egal, ich kann sowieso nicht schlafen. Ich spüre eine Sehnsucht in mir, die ich nicht erklären kann. Die Glocken des Domes beginnen zu läuten, und sie klingen wie die Verheißung einer glücklichen Zukunft. Es sind die letzten Töne dieser Nacht, die sich auf dem Nachhauseweg rabenschwarz über mir ausbreitet. Der Mond hat sich verzogen, ich öffne die Haustür und taste mich ins Haus. »Morgen«, flüstere ich, »morgen um vier.«

 

»Bodennebel«, sagt Hans beim Frühstück und will sein Wissen zeigen. »Die Engländer können wegen Bodennebel nachts nicht starten.«

»Ja, aber jetzt ist es doch sonnig und klar«, erwidere ich.

»Ach, Schwesterchen«, spottet Hans, »gerade weil es jetzt so sonnig und klar ist, würde unsere Flak die feindlichen Flugzeuge doch sofort erkennen. Und – bumm – würden sie abgeschossen. Nee, bei so einem Wetter kommen die tagsüber nicht.«

Heute ist mir alles egal. Bomben hin, Flugzeuge her. Wann ist es vier Uhr?

 

Ich treffe mich mit Werner am Lambertibrunnen. Er ist auf die Sekunde pünktlich – das lernt man bei der HJ. Wir radeln in den Boniburger Wald und legen die Fahrräder ins Gras. Es ist sonnig, aber dabei kühl und windig. Wir gehen nebeneinander, folgen einem kleinen Wildbach, dessen klares Wasser sich vorbei an glitschigen Steinen und abgebrochenen Ästen murmelnd seinen Weg sucht. Der Wind rauscht in den Baumwipfeln und streicht über mein Gesicht. Unsere Schritte sind im gleichen Takt. Wie beim Marschieren, denke ich und muss grinsen. Ein Ast, ich stolpere, und Werner fängt mich auf. Wir erreichen schließlich eine kleine Lichtung, sonnendurchflutet inmitten der dunklen uralten Bäume, übersät mit bunten Herbstblumen.

»Dieser Wind!«, sage ich. Einer muss ja das Gespräch beginnen. Ich frage ihn nach seiner Meinung, warum wir jetzt so lange keine Alarme hatten, und tue, als wäre Hans’ Bodennebelwissen mein eigenes.

»Da machst du dir aber erstaunlich kluge Gedanken«, sagt er und sieht mich von der Seite an. »Dabei musst du dir den Kopf doch nicht über solche militärischen Dinge zerbrechen.« Und dann erzählt er mir von der Unbesiegbarkeit unseres Heeres, der unschlagbaren Luftwaffe, die es den Tommys* schon zeigen wird. »Ich wünschte, ich wäre endlich alt genug, um Soldat zu werden«, schließt er.

Ich sehe ihn bewundernd an und stottere so etwas wie: »Aber dann muss ich mir ja furchtbare Sorgen machen, wenn du an der Front bist.«

Er lächelt mich an, seine blauen Augen ruhen auf mir. »Würdest du dich denn um mich sorgen?«

»Ja, natürlich würde ich das!«, stoße ich hervor und nehme mutig seine Hand in meine. Ich spüre seine Wärme und die Kraft, die dabei auf mich überzugehen scheint.

Und dann fragt er mich etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet habe. »Paula, du bist ein hübsches Mädchen, und ich mag dich. Aber ich muss wissen, was an dem Gequatsche von Franziska dran ist. Bist du wirklich mit dieser Halbjüdin Mathilda befreundet?«

Es trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Franziska, diese dämliche Zicke. Geht die mit diesem blöden Gerede überall hausieren? Dabei habe ich ihr doch klar und deutlich gesagt, dass ich Mathilda nicht mehr treffe. Ich bin stinksauer auf sie und darf es nicht zeigen. Und Werner will jetzt eine Antwort!

»Paula? Ist alles in Ordnung? Du bist so blass geworden! Ich wollte dich nicht erschrecken, dir nichts unterstellen. Ich habe Franziska gleich gesagt, dass sie spinnt. Du würdest so etwas nie tun. Schaftführerin beim BDM und dann eine Jüdin zur Freundin! Würdest du nicht, oder?«

»Nein«, flüstere ich, »würde ich ganz sicher nicht.«

 

Laub raschelt unter unseren Füßen. Wir nähern uns langsam wieder unseren Rädern. Mein Herz klopft laut. »Hast du noch etwas Zeit? Ich zeige dir etwas, was unser Volk von innen unterwandert. Das ist das Nächste, wogegen meine Gruppe vorgehen wird. Es ist nicht weit von hier.« Ich lasse alle Bedenken sausen. Werner weiht mich in etwas Geheimes ein, eine bevorstehende Aktion!

Wir verlassen das Wäldchen und fahren nach Handorf. Werner erzählt mir, dass wir uns eine kleine Scheune in der Nähe des Freibades Sudmühle ansehen werden. Um diese Zeit ist dort nichts mehr los. Werner fährt neben mir, und ich spüre, dass er mich lange ansieht. Schließlich fragt er: »Weißt du, was Swingheinis* sind oder Swings, wie sie sich selber nennen?«

»Nein. Woher sollte ich? Swingheinis?« Ich kenne nur diese flotte Tanzmusik. Peter Kreuder und sein Orchester mit Goodbye Johnny oder Oskar Joost und sein Herr Ober, zwei Mokka. Aber Swing, das ist doch etwas Amerikanisches.

»Diese Swingheinis sind vulgär und zeigen deutlich ihre Abneigung gegen das Neue Deutschland. Aber du siehst es ja gleich selbst.«

Am Schwimmbad lehnen wir unsere Fahrräder an das Kassenhäuschen. Ein leichter Chlorgeruch liegt in der Luft. In der Ferne kläfft ein Hund. Werner legt einen Finger auf seine Lippen. Er nimmt meine Hand und führt mich an der Außenmauer des Schwimmbads entlang zu einem Weg, der sich durch eine Wiese schlängelt und in ein Wäldchen führt. Unter den Bäumen ist es schon richtig dunkel. Wir rutschen eine Böschung hinab und schleichen auf eine alte Scheune zu. Werner schaut sich immer wieder um. Er führt mich zu einem Fenster, aus dem schummriges Licht nach draußen dringt – und Musik!

»Was ist das?«, flüstere ich.

»Ein Swingklub. Hör dir doch nur diese furchtbare Negermusik an! Und wie abartig die sich benehmen.«

Ich sage es nicht laut, aber mir gefällt die Musik. Sie hat Schwung, Rhythmus, ist ganz anders als die Marschmusik und die Lieder, die ich kenne.

Wir schauen durch ein Fenster. Vielleicht zwanzig Jungen und Mädchen tanzen miteinander, Röcke fliegen, und Körper reiben sich mit verdrehten Bewegungen aneinander. Die jungen Männer tragen Anzüge mit breiten Revers, Krawatten oder Halstücher in den schrillsten Farben und Schuhe mit aufgedoppelten Sohlen. Ihr Haar ist lang und mit Pomade nach hinten frisiert. Sie tragen Hüte, entweder tief in die Stirn gezogen oder in den Nacken geschoben. Die Haare mancher Mädchen sind lang, und sie tragen sie offen. Andere haben kurzgeschnittene Bubiköpfe. Sie rauchen und trinken aus offenen Flaschen Wein, Sekt oder Bier. Die sehen so ganz anders aus als die Hitlerjugend. Als sich an der Eingangstür einige junge Leute mit »Swing Heil« begrüßen, platzt Werner fast der Kragen.

»Hast du das gehört?«, flüstert er. »Die machen sich lustig über unseren Führer. Den Laden werden wir hochgehen lassen und die Bande aufmischen. Mal sehen, ob die dann auch noch so gute Laune haben.«

Wir schleichen zu unseren Rädern zurück. Ein Saxophon-Solo durchdringt die Nacht und setzt sich in meinem Kopf fest.

 

Meine Eltern warten schon auf mich. Sie sitzen beide am Küchentisch, meine Mutter mit dem neuesten Heft Die Mode und mein Vater mit dem Münsterischen Anzeiger. Es riecht gut nach Pfeifentabak und Pfefferminztee.

»Na, Prinzessin, wie war’s? Habt ihr einen schönen Abend gehabt?«, fragt mein Vater augenzwinkernd.

Ich gebe ihm einen Kuss. »Ja, Papa. Werner ist wirklich nett. Wir sind mit den Rädern herumgefahren.«

»Einfach so?« Papa sieht mich über den Zeitungsrand an. »Das kann ich mir bei Werner gar nicht vorstellen. Der hat doch immer was vor.«

Da durchzuckt es mich. Jetzt muss ich ja reden. Oder?

Aber ich will keine Petze sein.

»Na, was ist?« Mein Vater klopft mir auf die Schulter.

Da rede ich: »Papa, ich glaube, Werner plant eine Aktion gegen Swingheinis. Er hat mir in Sudmühle einen Tanzschuppen gezeigt, in dem sich Jungs und Mädchen ziemlich ausgelassen vergnügten. Sie tanzten zu Swingmusik, rauchten und tranken und machten sich über den Führer lustig.«

Papa lässt die Zeitung sinken.

»Soso. Swingheinis, dieses Gesindel treibt sich also ganz offen in Sudmühle herum?«

»Nein, nicht auf offener Straße, sondern in einer alten Scheune gleich hinter dem Wäldchen am Schwimmbad. Werner beobachtet sie schon länger.«

»Hat Werner dir gesagt, dass du mit mir darüber reden sollst?«

»Nein, er hat mich in sein Vertrauen gezogen und mich gebeten, zu schweigen. Er will mit der HJ die Sache selbst in die Hand nehmen.«

»Gut«, sagt er. »Ich glaube allerdings, ich muss mich trotzdem kümmern.«