16. Die Entscheidung

Das fahle Dezemberlicht fällt in hellen Streifen auf die zugefrorenen Pfützen. Die vergangene Nacht war bitterkalt. Jetzt verirren sich Schneeflocken im Morgenlicht. Es ist grau und düster. Eigentlich Kerzenzeit. Schöne Zeit.

Mathilda hat geschrieben. Aufgeregt nehme ich den Brief aus dem Versteck und schiebe ihn in meinen Ärmel. Wie gerne würde ich ihn sofort lesen. Aber wo? Auf dem Schulweg? Auf der Promenade? Nein, viel zu gefährlich. In der Schule schiebe ich ihn erst in meine linke Socke und dann unter den Träger meines Unterhemdes. Schließlich landet er im Bündchen unter dem Gummizug meines Rockes.

»Hast du Flöhe?« Gertrud sieht mich merkwürdig an und grinst.

Ich sage nichts. Später lese ich.

 

Ich habe solche Angst.

Wir haben keine Papiere, kein Zuhause, kein Essen. Sie behandeln uns wie Vieh. Weg von hier, das ist unser einziger Gedanke.

Aber wohin?

Wir hören von Transporten.

Es gibt Gerüchte:

Sie werfen Kinder in offene Gruben.

Andere werden erschossen.

Die Transporte in den Osten gehen in den sicheren Tod.

Wir werden sterben.

Ich würde so gerne leben!

Und ich habe solche Angst.

Dein Lenchen

 

Du warst eine gute Freundin. Danke für die Brosche. Ich nehme sie mit. Sie wird mich begleiten.

 

Es ist der 13. Dezember, acht Uhr abends. Erst habe ich auf meinem Bett gelegen, die Rosen an der Stuckdecke angestarrt und an die Brosche an Mathildas Brust gedacht. Ich habe geweint, aber jetzt sind meine Gedanken klar. Hans hat sich mit seiner Taschenlampe und Pünktchen und Anton unter die Bettdecke verzogen. Meine Mutter sitzt bei ihrer Schneiderin und rädelt Schnittbogenmuster auf Packpapier. Kragenlose Kleider sind im Augenblick wohl ein absolutes Muss. Ich bin in ihr Ankleidezimmer geschlichen und habe ihren besten Ausgehmantel vom Bügel genommen. Er ist dunkel und bodenlang. Ich trage einen ihrer Hüte dazu. Vor dem Spiegel zupfe ich mir die Fransen meines Ponys in die Stirn. Etwas Rouge, etwas Lippenstift, nicht zu viel. Ein Hauch nur, und schon macht es aus mir eine erwachsene Frau.

 

Wo mein Vater ist, weiß ich.

 

Sanft fällt die Tür hinter mir ins Schloss. Ich schiebe mein Fahrrad durch Nebenstraßen über die Promenade, am Hörster Friedhof und am Hohenstaufen vorbei auf den Schulhof der Mauritzschule. Die Nacht ist pechschwarz. Die Luft ist feucht und kalt. Ich ziehe den Schal fest um die untere Hälfte meines Gesichtes. Mein Atem haucht Nebel. Es riecht nach Schnee.

Ich stehe versteckt in den Büschen an der Straße. Vor mir liegt die große Kreuzung. Links von mir ist der Gertrudenhof und gegenüber das große Finanzgebäude mit seinem Glockenturm.

Meine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit. Meine Ohren nehmen gedämpfte Geräusche wahr. Ich atme in meinen Schal. Ich will mich nicht verraten.

An der Straßenecke stehen vier Möbelwagen der Spedition Peters. Sie sind blau lackiert. Ich erkenne meinen Umzugswagen. Die Pferde schütteln ihre blonden Mähnen und schnauben. Ihr Atem dampft, und sie scharren mit den Hufen. Sie sind unruhig. Die Kutscher stehen zusammen und rauchen. Aus der Warendorfer Straße kommen Fahrzeuge mit abgeblendeten Scheinwerfern auf die Kreuzung. Es sind kleine Omnibusse. Vielleicht acht oder zehn. Sie parken in einer langen Reihe, und die Fahrer öffnen die Türen zum Bürgersteig.

Aus der Schaltzentrale der Ordnungspolizei, kommt ein Trupp Uniformierter. Sie marschieren auf die Kreuzung zu und bilden ein Spalier. Sie haben Knüppel in den Händen und warten. Sie sind es gewohnt zu warten: auf den Vorgesetzten, auf einen Befehl, auf einen Becher Kaffee, auf die nächste Zigarette, auf die Ablösung. Warten, Ruhe, warten.

Ich darf mir nichts anmerken lassen, kann vor Aufregung kaum mehr ruhig stehen. Da erkenne ich meinen Vater. Er ist mitten zwischen den Uniformierten. Auch er trägt Reithosen und Schaftstiefel. Seine Hände hält er auf dem Rücken verschränkt. Auf einem offenen Lastwagen flammt ein Scheinwerfer auf. Die Schatten der Uniformierten werden an die Fassade des Finanzamtes geworfen. Mattes, gelbes Licht leuchtet die Kreuzung aus.

Eine Trillerpfeife ertönt. Jetzt geht es los. Ich zucke zusammen. Die Tür zum Kinosaal wird aufgerissen.

»Raus! Raus! Raus!« In einer langen Reihe stolpern Menschen auf die Straße. Gedränge und Geschiebe. Die Uniformierten bilden ein Spalier und treiben sie mit Knüppeln zwischen sich her wie Vieh. Die Menschen tragen Koffer, Rucksäcke, Pakete. Frauen klappern mit Kochtöpfen, drücken warmes Bettzeug an sich, Kinder schreien kurz auf, klammern sich an Röcke und Hosenbeine.

Ich kann keine Gesichter erkennen, sehe nicht, ob sie alt oder jung sind. Nur Röcke und Kopftücher, Hüte und Mützen tanzen vor meinen Augen, auch eine weiße Pudelmütze.

Gelb blitzen Judensterne auf. Darunter Nummern. Transportnummern? Wer sich nicht beeilt, bekommt Schläge. Wer etwas verliert und sich danach bückt, bekommt einen Tritt in den Hintern. Einige der Uniformierten genießen offenbar ihre Überlegenheit. Sie feixen, wenn jemand versucht, sich zu ducken, um wegzutauchen unter den Hieben. Doch die meisten wirken stumpf, schlagen zu und treten. Ihre Gesichter ohne Emotion. Sie tun nur das, was man ihnen befohlen hat.

Die Menschenreihe wird an den Umzugswagen entlanggedrängt. Nur das Gepäck soll auf die leeren Ladeflächen. Die Jüngeren helfen den Älteren, aber auch da setzt es Hiebe und bissige Bemerkungen.

Dann zu den Bussen. Die vielen Menschen werden in die viel zu kleinen Busse geschoben, gepresst, gequetscht.

Wo ist Mathilda? Wie ich mich auch recke und strecke, ich kann immer nur einen Bus im Auge behalten. Ist Mathildas Mutter unter diesen Menschen? Muss Mathilda ihre Mutter begleiten? Oder werden Halbjuden verschont? Ich tröste mich immer wieder mit einem solchen Gedanken. Aber Mathildas Brief klang anders.

Ich will die Gesichter der Menschen erkennen, um vielleicht Mathilda zu entdecken. Es ist unmöglich. Die Gestalten bleiben schemenhaft, werfen nicht einmal mehr Schatten, als wäre er ihnen schon geraubt worden in der Schwärze dieser gespenstischen Nacht.

Dann muss ich eben zum Güterbahnhof. Ich will vor den Bussen dort sein. Vielleicht kann ich dort näher heran.

Hals über Kopf mache ich mich auf den Weg mit weitem, wehendem Mantel. Der Güterbahnhof liegt zwischen zwei Tunneln. Auf dem Weg ist kein Mensch zu sehen. Ich trete in die Pedalen, bis ich japse. Mein Herz schlägt zum Zerspringen. Räder müssen rollen für den Sieg steht in großen weißen Buchstaben an einer Wand. Hinter dem ersten Tunnel biege ich nach links auf das Kopfsteinpflaster der breiten Verladestraße.

Am Ende der Straße stehen Schuppen. Der Platz zwischen den Gleisen ist überdacht. Eine riesige, offene, leere Halle. Funzelige Lampen hinter verdreckten Drahtgittern spenden spärliches Licht. Mein Fahrrad lehne ich an einen Pfeiler. Im Tunnel höre ich schon Motorengeräusche. Sie kommen!

 

Auf den Schienen steht ein Güterzug, die Waggons mit offenen Türen. Stumm und schwarz lauert die Lokomotive. Niemand ist zu sehen.

In der Mitte der Halle entdecke ich ein Bahnwärterhäuschen. Es ist offen. Ich schlüpfe hinein und ziehe leise die Tür hinter mir zu. Sie knarrt. Ich ducke und kauere mich unter das Fensterbrett und versuche, immer noch atemlos, draußen irgendetwas mitzubekommen. Mittlerweile fällt Schnee.

Die Uniformierten treffen als Erste ein. Sie springen von ihren Fahrzeugen und bilden eine undurchdringliche Mauer. Jetzt kommen die Busse. Die Bremsen knirschen. Sie halten direkt vor den Abteiltüren. Die Türen fliegen auf.

»In die Züge! Alles in die Züge! Achtet auf die Nummern.« An den Waggons hängen Tafeln, auf denen Nach Riga steht. Darunter sind die Transportnummern vermerkt. Ich kann in einige Gesichter sehen: erschrocken, blass, eingefallen. Aber ich kann Mathilda nirgends entdecken. Auch ihre Mutter nicht. Schließlich, als hätte sich die Dunkelheit noch tiefer über uns gelegt, vermag ich nur noch Uniformierte von Geprügelten zu unterscheiden. Die Masse hat ihr Gesicht verloren.

Ich höre unterdrücktes Schluchzen, von den Flüchen der Wachmannschaften unterbrochen. Die Menschen verteilen sich, die Türen werden geschlossen. Dunkel und stumm stiert der Zug in die Nacht. Von den Pferdewagen der Spedition werden die Gepäckstücke in die hinteren Waggons verladen. Die Motoren der Mannschaftswagen tuckern. Die Fahrer geben Gas. Männer mit geschulterten Gewehren bleiben neben den Gleisen zurück. Sie bewachen den Zug. Sie sind überall.

Ich kämpfe mit meinen Tränen und versuche doch leise zu sein. Dann presse ich den Schal auf meinen Mund.

Und plötzlich die Erkenntnis: Ich sitze in der Falle. Die Tür zu meinem Versteck öffnet sich knarrend. Eine große, massige Gestalt steht im Türrahmen. Der Mann trägt einen Mantel und eine schwarze Eisenbahnermütze auf dem Kopf. Das spärliche Licht einer Taschenlampe wandert durch den Raum. Mein Blick folgt dem Lichtkegel. Ein schäbiger Schreibtisch steht an einer Wand, überall Stühle. An der Wand hängt ein Foto des Führers. Er blickt streng.

Da trifft mich der Strahl der Lampe.

»Wen haben wir denn da?«, fragt eine tiefe Stimme. Angst schnürt mir die Kehle zu. »Gehörst du zu denen da draußen?« Die Stimme kommt näher. Der Mann riecht nach Öl. Eine kräftige, schwielige Hand mit schmutzigen Fingernägeln hält die Lampe. Die andere Hand packt mich, zieht mich hoch. Der Blick des Mannes huscht über meinen Mantel.

»Hast du ihn abgerissen?«, fragt er.

»Nein, nein«, stottere ich, »ich hab keinen Stern abgerissen, aber …«

»Was aber?«, unterbricht er mich und packt mich fester. »Gehörst du dazu oder nicht?«

»Nein«, sage ich und fühle mich schlecht dabei. Warum habe ich das gesagt? Ich gehöre doch zu Mathilda. »Mein Vater ist der Polizist da«, füge ich unsicher an. »Aber er weiß nicht, dass ich hier bin.«

»Dann schnüffelst du also hinter ihm her?« Der Mann lacht rau auf. Plötzlich verändert sich sein Gesicht. »Auch gut«, murmelt er, »endlich mal eine, die nicht kalt zuschaut.« Er lässt mich los. Gott sei Dank.

Sofort lausche ich wieder nach draußen. Was passiert da? Was machen die mit all den Juden?

»Alfons?« Eine andere Stimme kommt von der Tür. »Alles in Ordnung bei dir? Führst du Selbstgespräche?«

»Ja, genau«, ruft der Mann zur Tür hin. Seine wachen Augen sehen mich an. Er schiebt die Schirmmütze in den Nacken. »Häng die hinteren Waggons ab. Die bleiben hier«, sagt er zu dem Unsichtbaren. »Und dann mach für heute Feierabend!«

Knarrend wird die Tür zugezogen.

Der Mann steht auf und kramt in seiner Umhängetasche. »Du sitzt ganz schön in der Patsche, Mädchen.«

»Tun Sie mir nichts, bitte. Verraten Sie mich nicht.«

»Tun? Warum sollte ich dir etwas tun?« Er schraubt eine Thermoskanne auf und gießt eine dampfende Flüssigkeit in einen Becher. Es riecht sofort nach Muckefuck*. Er streckt seinen Arm aus. »Trink, Mädchen. Wird dir guttun.«

Ich hasse kaum etwas so sehr wie Muckefuck. Aber jetzt greife ich dankbar nach dem Becher. Er wärmt meine gefrorenen Finger. Ich schlürfe vorsichtig. »Sie verraten mich nicht?«

»An wen? An die da draußen? Ich?« Er verzieht verächtlich den Mund, hält eine Tabakspfeife in der Faust und stopft sie bedächtig. »Das sind Lumpen. Man beschmutzt sich, wenn man sich mit denen einlässt. Auch wenn das dein Vater ist.« Er betrachtet seine Fingernägel. Ein Feuerzeug flammt auf. Er zieht an seiner Pfeife. Es riecht nicht mehr nach Muckefuck.

»Ich habe nichts Unrechtes getan. Ehrlich. Ich habe überhaupt nichts getan, nur jemanden gesucht.« Meine Stimme hat keine Kraft mehr.

»Mädchen, red nicht so viel. Du kennst mich doch gar nicht.« Er lächelt. »Der Zug fährt erst morgen früh, kurz nach zehn. Vorher kommst du hier nicht weg, also bleibst du einfach hier, klar?«

Ich ducke mich und nicke.

Stunde um Stunde vergeht. Der Mond steht so ruhig am Himmel, als wäre nichts geschehen. Hin und wieder schieben sich Wolken davor. Wie spät ist es? Ich müsste nach Hause.

Aber ich hocke in meiner Ecke, und die hocken in ihren Waggons, wahrscheinlich eng zusammengepfercht. Mein Fuß schläft ein. Ich bewege mich trotzdem nicht. Ob die da drüben schlafen können?

Warten. Warten. Ich blase die Backen auf, dann werde ich oft ruhiger. Ich nicke ein, schlafe zwei Stunden, vielleicht drei. Das Geräusch eines knarrenden Stuhles weckt mich.

Der Morgen beginnt mit Geräuschen, vereinzelten Stimmen im düsteren Morgengrauen. Stiefelabsätze knallen. Ein Hammer schlägt auf Metall. Wasser rauscht in einen Kessel. Kurze Kommandos sind zu hören.

»Irgendwelche Vorkommnisse?« Das ist die Stimme meines Vaters direkt vor meinem Fenster, nur durch die Bretterwand von mir getrennt.

»Alles ruhig, Herr Major.«

»Ist er da drin?«

»Der Stellwerker? Ja. Er schläft. Soll ich ihn wecken?«

»Lassen Sie nur. Wenn die Lok unter Dampf steht, ist es früh genug.«

»Noch zwei Stunden, Herr Major.«

»Gut. Noch zwei Stunden. Sorgen Sie dafür, dass in den Waggons kein Geschrei und Gezeter aufkommt.«

»Jawohl, wird gemacht, Herr Major.«

Schritte entfernen sich. Der Eisenbahner sitzt auf seinem Stuhl und blickt zu mir herunter. Er legt seinen Zeigefinger auf die Lippen. Seine andere Hand bedeutet mir, ganz ruhig zu bleiben.

Ein Lastwagen fährt draußen vor. Wieder Stimmen und lautes Rufen. Vorsichtig hebe ich meinen Kopf und blicke hinaus.

Vor einem Lastwagen versammeln sich Wachleute. Aus einer Gulaschkanone wird Essen ausgegeben. Der Eisenbahner geht auch hinaus. Nach einer Weile kommt er zurück und hält mir sein Essgeschirr hin. Suppe. Ein Kanten Brot. Wurst. Und richtiger Kaffee. Ich schüttele den Kopf. Wie kann man jetzt an Essen denken.

»Du musst«, sagt der Mann. »Wenigstens den Kaffee. Du siehst furchtbar aus.«

»Wie lange braucht der Zug bis Riga?«, frage ich mit fast tonloser Stimme. Ich nehme einen Schluck. Er hält mir ein Stück Brot hin. Ich esse auch das.

»Drei Tage vielleicht. In Bielefeld und Osnabrück werden noch mehr Waggons angehängt. Deswegen vielleicht noch länger.« Dann schweigen wir wieder.

»Und die Waggons mit dem Gepäck mussten Sie abhängen?« Meine Stimme zittert, so wütend und so durcheinander bin ich. Dann hatte Mathilda recht. Sie werfen sie in die Grube … Wir fahren in den Tod.

»Bleib vom Fenster weg.« Er erhebt sich bedächtig. »Ich gehe jetzt zum Stellwerk. Bewege dich hier nicht fort. Hier bist du sicher. Wenn der Zug gefahren ist, wartest du noch ein paar Minuten. Dann gehst du.«

»Danke«, sage ich.

»Wofür?«, fragt der Mann und öffnet die Tür einen Spalt.

Da höre ich gedämpft aus einem der Waggons eine dunkle, immer stärker ansteigende Männerstimme.

»Sei du bei uns!« Immer lauter schallt es über den ganzen Bahnhof: »Sei du bei uns!«

»Klappe!« Einer rennt hin, schlägt mit dem Gewehrkolben gegen die betreffende Tür. »Klappe oder es knallt! Kapiert?«

Die Stimme verstummt. Doch obschon jetzt Schweigen herrscht, hallt die Stimme noch nach. Sie bleibt über der Halle hängen, als sänge der Mann immer weiter: Sei du bei uns!

Ein Arbeiter geht mit einer Ölkanne am Zug entlang. Mit dem Hammer schlägt er gegen die Achsen und überprüft die Schläuche zwischen den Waggons. Die Lok steht unter Dampf.

Der Lokführer sieht den Bahnsteig entlang und scherzt mit den Polizisten. Die lachen. Die lachen einfach! Dann setzt sich der Zug in Bewegung. Er schnauft, die Räder greifen, es quietscht und ruckt. Der Zug verlässt den Bahnhof.

 

Die Waggons mit dem Gepäck bleiben auf den Gleisen stehen.

 

Mein Fahrrad ist weg. Ich versuche mir vorzustellen, dass ein Polizist damit fröhlich pfeifend, vielleicht auch müde gähnend, durch die Stadt radelt. Mir ist kalt. Ich gehe zu Fuß. Der Mantel meiner Mutter schlottert um meine Knie, und ich schlage den Mantelkragen hoch. Über der Stadt liegt Nebel oder Schneeluft, eine graue Glocke, die alles zu erdrücken droht.

Müde und trostlos trotte ich weiter. Eine Lokomotive rattert über die Unterführung und gibt ein gellendes Signal. Es dröhnt und donnert. Die Schienen rumpeln, und die Tunnelwände scheinen zu beben.

Vor dem Hauptbahnhof stehen Männer mit harten Augen, die Hände in Manteltaschen vergraben, Lederkoffer zwischen den Füßen, und warten auf Droschken oder Straßenbahnen. Feldgrau gekleidete Soldaten mit Marschgepäck kreuzen meinen Weg. Ich mache ihnen Platz. Einer stolpert anzüglich grinsend auf mich zu. Er ist klein, breitschultrig und betrunken. Ein anderer hält ihn am Kragen und zieht ihn von mir weg.

Vor unserem Haus zögere ich. Es liegt ruhig und still. Frauen mit Taschen in beiden Händen und kleinen Kindern im Schlepptau gehen an mir vorbei. Es ist Samstag. Markttag. Ich müsste in der Schule sein. Meine Mutter ist bestimmt auf dem Wochenmarkt am Dom.

»Pass doch auf, Fräulein. Schläfst du im Stehen? Also wirklich.« Die Frau wirft mir einen ärgerlichen Blick zu. Sie hat mich angerempelt.

Ich sehe nicht hin. Schlafen? Ich bin todmüde. Wie erschlagen. Aber wie könnte ich jetzt einfach ins Bett kriechen, mich wohlig einkuscheln und einschlafen? Ein Auto fährt vorbei. Zwei Jungen kommen die Straße herunter. Sie werfen sich einen Lederball zu.

In Vaters Arbeitszimmer ist ein Flügel des großen Doppelfensters geöffnet. Die Vorhänge sind zugezogen und bauschen sich im Wind. Frau Weber ist zum Reinemachen da. Sie reißt immer die Fenster auf.

 

Hinter mir klackt die Haustür leise ins Schloss. In der Küche klappern Töpfe. Die Tür zu Vaters Arbeitszimmer ist einen Spaltweit geöffnet. Es ist wohlig warm im Flur, und es riecht nach Zigarrenrauch.

Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Frau Weber steckt ihren Kopf durch die Küchentür und wischt sich erschrocken die Hände an der Kittelschürze ab.

»Mein Gott, Kind!«

Die soll jetzt bloß den Mund halten. Ich lege einen Zeigfinger auf meine Lippen: »Pssst!«

Meine Hand tastet nach dem Treppengeländer. Leise, auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem, ziehe ich mich am polierten Geländer hinauf in mein Zimmer. Hoffentlich knarrt meine Tür nicht. Ich blicke mich um und horche nach unten.

Da trifft mich etwas Hartes. Direkt über dem Ohr. Augenblicklich verliere ich die Kontrolle über meine Beine. Es ist, als reiße mich ein Strudel hinunter. Ich falle und knalle mit dem Ellenbogen voran in den Spiegel. Schwarze Flecken, Lichtblitze. Glas splittert. Ich knie schwankend auf dem Boden. Etwas Warmes läuft über mein Gesicht. Meine Hände tasten danach, und ich entdecke Blut an meinen Fingern.

Wieder schlägt mir eine Hand ins Gesicht. Ich werde hochgerissen – und blicke in die Augen meines Vaters. Seine Fäuste halten mich am Mantelrevers. Er lässt nicht zu, dass ich wegsacke. Er hält mich, schüttelt mich, zwingt mich auf die Füße. Seine Lippen bewegen sich. Sagt er etwas zu mir? In meinem Kopf ist nur dumpfes Rauschen. Meine Hände greifen nach ihm und versuchen, sich festzuhalten. Es ist, als ob ich bei ihm Schutz suche – vor ihm selbst. Doch er stößt mich zurück und hält mich mit ausgestreckten Armen auf Abstand.

»Mein Gott«, höre ich ihn aufstöhnen. Dann sofort: »Zieh dich um! Raus aus Mutters Sachen!«

Er lässt mich los, ich taumele gegen den Schrank. Mein Vater steht in der Tür. Er trägt seine Uniform. Seine Hand liegt auf dem Türgriff. Eine Haarsträhne ist ihm ins Gesicht gefallen. Er streicht sie weg.

»Zehn Minuten«, sagt er. »Dann trittst du an – vor meinem Schreibtisch.«

Schwere Stiefel dröhnen auf der Treppe. Jetzt bin ich alleine. Eine dunkle Woge von Müdigkeit erfasst mich. Doch ich raffe mich auf. Mamas Mantel ist ruiniert. Ich ziehe ihn aus, lege ihn auf das Bett und setze mich. Zehn Minuten, hat er gesagt. Was will er? Weiß er alles? Weiß er, dass ich weiß? Oder hat er nur gemerkt, dass ich in der Nacht weg war?

Aber dann wäre Mama nicht einfach so zum Markt gegangen.

Ich drücke mir ein Taschentuch auf den pochenden Schnitt in meiner Stirn. Frau Weber ist in der Küche. Sie muss mir jetzt helfen. Wenn nur meine Mutter hier wäre. Ich krame in meinem Schrank und wühle einen Pullover hervor. Mir ist so kalt.

Langsam gehe ich die Treppe hinunter, eine Hand auf dem Handlauf, den Kopf voller Fragen. Die Tür zum Arbeitszimmer steht weit offen. Ich sehe den Schreibtisch. Wuchtig, dunkel, leer und blitzblank.

Vater sehe ich nicht. Frau Weber zieht mich ohne ein Wort in die Küche. Sie nimmt ein Geschirrtuch, macht es feucht und tupft vorsichtig mein Gesicht ab. Sie deutet wortlos auf das Waschbecken. Ich lasse das Wasser aus dem Kran laufen und halte meine Hände darunter. Die Kälte weckt mich. Frau Weber kramt in einer Schrankschublade und bringt Verbandsstoff, ein Fläschchen Jod und Pflaster zum Vorschein. Sie schneidet etwas Mull zu, träufelt die braune Tinktur darauf. Sie macht das schnell und geschickt. Ohne ein Wort und ohne mich anzusehen. Sie befestigt das Stück Verband mit dem Pflaster auf meiner Stirn. Es brennt. Ein beißender Geruch schießt mir in die Nase. Meine Augen tränen. Ich sehe aus dem Fenster. Verschwommen wie durch einen Schleier erkenne ich im Garten mein Fahrrad. Er war es also.

 

Ich starre auf den Fußboden. Die Teppichfransen liegen artig gekämmt auf dem Parkett. Aus der Grünanlage am Servatiiplatz dringen die Stimmen von Jungen zu uns. Sie spielen Ball. Es hallt dumpf.

»Du hast dein Fahrrad wiedergefunden?« Vaters Stimme klingt ruhig. Der Spott ist nicht zu überhören.

Ich nicke.

»Sieh mich an.« Mir bleibt nicht anderes übrig. Ich hebe den Kopf und öffne die Augen.

»Und?« Vater sitzt am Schreibtisch. Die Uniformjacke ist bis zum letzten Knopf zugeknöpft. Seine Hände liegen auf der grünen Schreibunterlage. Die Tischlampe brennt. Meine Augen suchen das hölzerne Lineal. Es ist nicht da. Vater steht auf und kommt um den Schreibtisch herum. Er hebt mit der Hand mein Kinn und betrachtet das Pflaster über meiner Augenbraue. Die Schnittwunde pocht unter dem Pflaster.

»Das sieht schlimmer aus, als es ist.« Er gibt mir einen leichten Klaps auf die Wange.

Ich zucke zurück.

»Na, na«, sagt Vater mit sanfter Stimme. »Tut mir leid. Mir sind da wohl die Nerven durchgegangen. Es kommt nicht wieder vor.«

Ich verziehe den Mund zu einem gequälten Lächeln.

»Nein, nein«, sagt er, ohne den einschmeichelnden Tonfall seiner Stimme auch nur im Geringsten zu ändern. »Dass du mich richtig verstehst: Ich war unbeherrscht. Undiszipliniert. Das ist immer ein Fehler. Aber das bedeutet nicht, dass ich dich nicht mehr schlagen werde. Das liegt ganz bei dir. Steh gerade und sieh mich an.«

Vater geht zum Schreibtisch zurück, tritt zum Fenster, schließt es und zieht die Vorhänge zu. Die Stimmen im Park verstummen. Das Radio in der Küche spielt Schlagermusik. Die große Uhr über der Tür tickt. Ich halte meine Hände immer noch auf dem Rücken. Meine Fingernägel krallen sich in meine Handballen.

Bitte, denke ich, bitte mach, dass Mama kommt. Mach, dass es vorbei ist. Vater sitzt aufrecht am Schreibtisch. Jetzt liegt auch das Lineal auf der Schreibunterlage. Der Polizeimajor Laurenz bittet zum Verhör.

»Lass uns wie Erwachsene miteinander reden.« Vater schiebt seinen Oberkörper gegen die Tischkante und faltet die Hände. »Du antwortest nicht auf die einfachsten Fragen. Das Fragenstellen gehört übrigens zu meiner Arbeit. Du solltest mir antworten. Auf jede Frage, die ich dir stelle, erwarte ich eine Antwort. Keine Lügen, keine Ausflüchte. Für gewöhnlich verschwende ich keine Zeit. Willst du antworten?« Ich schüttele stumm mit zusammengepressten Lippen den Kopf.

Er runzelt die Stirn, öffnet eine Schreibtischschublade und holt eine graue Kladde hervor. Er schlägt sie auf.

»Ich werde dir jetzt unsere Dienstanweisung vorlesen. Sie heißt: Klärung staats- oder reichsfeindlicher Sachverhalte. Die Maßnahmen bestehen aus einfachster Verpflegung, also Wasser und Brot, hartes Lager, Haft in der Dunkelzelle, Schlafentzug, Verabreichung von Stockhieben. Wobei bei mehr als zwanzig Stockhieben ein Arzt hinzugezogen werden muss.« Er lässt die Kladde zuklappen und fügt hinzu: »Siehst du, es ist alles geregelt. Und es ist meine verdammte Pflicht, Fragen zu stellen.« Die Kladde verschwindet in der Schublade.

»Aber Papa. Ich bin doch …!«

Krachend schlägt seine Faust auf den Tisch. Er springt auf, und sein Stuhl fällt um. »Ich habe dir jede Einmischung in meine Arbeit verboten. Ich habe dir den Umgang mit dieser Jüdin verboten. Du hast dich nicht daran gehalten. Aber wir werden das jetzt hier und heute ein für alle Mal klären.«

Er kneift die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und sagt mit scharfer, schneidender Stimme: »Es geht um mehr in unserem Reich als nur um uns. Und bei unserer großen Sache hat jeder das Seine dazu beizutragen, auch du. Das ist ein Befehl.« Seine Stimme wird ruhiger, aber dafür glasklar: »Ich möchte von dir wissen, wo die Schuberts sind. Die Jüdin, die Halbjüdin und dieser feine Doktor. Wo sind sie?«

Mathilda war nicht auf dem Transport. Er weiß nicht, wo sie ist. Eine unglaubliche Last fällt von mir ab. Nein, mein Herz tut regelrecht einen Sprung. Ich könnte ihn umarmen, küssen. Er weiß gar nicht, was er mir da mitgeteilt hat. Aber der große Fragensteller kann keine Gedanken lesen. Das ist auch gut so.

»Ich weiß es nicht, Papa. Ich weiß wirklich nicht, wo die Schuberts sind.«

»Stell dir vor, das glaube ich dir sogar. Sonst wärst du ja gestern Nacht nicht am Güterbahnhof gewesen.« Er sagt das nachdenklich, fast mürrisch. Begreift er, dass er gerade einen Fehler gemacht hat, indem er mir verraten hat, dass sie nicht dabei waren? Er hat sich verplappert. Mathilda lebt. Wovor soll ich denn jetzt noch Angst haben?

»Aber du hast Nachrichten von ihnen. Von wem bekommst du sie? Wer hilft den Schuberts?«

»Ich weiß es nicht, ehrlich.«

»Du lügst. Du deckst Volksverräter. Ist dir das überhaupt klar? Das ist ein Verbrechen.«

Jetzt begreife ich, dass er nicht lockerlassen wird.

Die Angst ist wieder zurück. Sie kriecht mir unendlich langsam den Rücken hoch. Und doch, es ist eine andere Angst. Es ist die Angst um mich selbst. Er will etwas von mir. Er bedroht mich.

Aber die Angst schärft auch meine Sinne. Sie ist ein guter Ratgeber. Ich werde auf der Hut sein. Ich werde eisern schweigen.

»Paula«, seine Stimme klingt auf einmal wieder sanft. »Es geht doch um unsere Volksgemeinschaft. Du hast einen Eid auf den Führer geschworen. Wir sind im Krieg, Paula. Die Soldaten an der Front und wir hier in der Heimat. Wir kämpfen für eine gemeinsame Sache. Das schweißt uns zusammen. Paula, es ist deine Pflicht, mir die Wahrheit zu sagen.«

Ich will gar nichts sagen. Ich will, dass Mama nach Hause kommt. Ich will ihm auch nicht mehr zuhören. Ich will, dass das alles hier aufhört.

»Du verprügelst Menschen«, sage ich. Ich bin selbst erschrocken über die Schärfe in meiner Stimme. »Du stiehlst und du organisierst Transporte in den Tod.«

»Du wagst es?« Seine Stimme ist dunkel, alle Sanftheit ist in diesem Augenblick daraus verschwunden. »In meinem Haus wagst du es, mir so zu antworten?«

Er baut sich vor mir auf. Riesig. Die Hände in die Taille gestemmt, ist er über mir.

»Dein Haus? Das gehört doch alles anderen Menschen. Die Bücher, die Bilder, die Möbel, Mathildas Brosche. Alles gestohlen.«

Ich balle die Fäuste. Ich weiß nicht, wohin mit meiner Enttäuschung.

Da ist es: Vaters anderes, unbekanntes Gesicht, das ich im Traum gesehen habe.

Und das soll mein Vater sein? Ich bin so verwirrt.

 

Schläge prasseln auf mich nieder. Schläge mit dem Lineal. Sie treffen mich am Rücken, an den Beinen. Ich klammere mich an einen Stuhl und höre mich schreien. Mein Vater schlägt weiter. Der Stuhl kippt um, meine Beine knicken ein wie Streichhölzer. Mein Vater tobt. Ich versuche, meinen Kopf zu schützen, mache mich klein und rolle mich zusammen.

Er schlägt jetzt gezielter.

Ich zähle die Schläge.

Was hat er vorhin gesagt? Bei zwanzig Schlägen wird ein Arzt hinzugezogen? So steht es in seinem grauen Heft. Alles nach Plan, alles geregelt.

»Erich, hör auf! Du schlägst unsere Tochter tot!« Wie durch einen Nebel höre ich Mutters Stimme. Sie beugt sich zu mir herunter, will mich schützen. Doch Vater stößt sie weg, lässt es nicht zu.

»Misch dich nicht ein! Sie bekommt nur das, was sie verdient!«

Ich versuche mit letzter Kraft, mich aufzurichten. Da trifft mich ein Schlag an der Schläfe, und alles wird schwarz.

 

Ich erwache wie aus einem langen Traum. Einige Sekunden lang habe ich Herzklopfen, Angst. Mir ist heiß, und gleichzeitig friere ich. Wenn nur dieses Zittern nicht wäre. Mein Mund ist trocken, und die Zunge klebt mir am Gaumen. Ich wage es kaum zu atmen. Jede Bewegung schmerzt. Wo bin ich?

Trübes Licht fällt durch eine vergitterte Luke in den Raum. Staubflocken tanzen träge darin, schweben herab. Regen prasselt, und Wasser rauscht gurgelnd in eine Rinne. Grelle Blitze zucken und werfen kurze, gespenstische Schatten. Es donnert. Über mir sind grobe, dicke Balken und schräge Wände, die sich hoch über mir treffen. Ich starre hinauf.

Das ist das Dach unseres neuen Hauses. Im Licht der Blitze kann ich das wellenförmige Muster der dunkelroten Dachpfannen erkennen. In der Mitte steht der riesige Kamin. Die schwarzen Schornsteinklappen sind wie leere Augenhöhlen. Ja, ich bin auf dem Dachboden. Mein Vater hat mich hier hochgeschleppt und auf die nackten Holzdielen geworfen. Meine Hände tasten raue, ungehobelte Bretter. Die Bodenluke ist geschlossen, die Treppe liegt zusammengeschoben neben mir. Ich bin gefangen. Der Wind bläst eisig herein.

Ich versuche, mich aufzurichten. Es geht nicht. Mein Rücken tut höllisch weh, in meinem Kopf pocht und hämmert es, das Blut pulsiert durch die steifen, geschwollenen Beine. Unbeholfen taste ich mein Gesicht ab, ein Auge ist zugeschwollen. Mit den Schmerzen kommt die Erinnerung zurück, und mit der Erinnerung packt mich die grausige Kälte. Wenn jetzt die Bomber kämen? Würden meine Eltern mich holen und in den Keller bringen? Oder hasst Vater mich jetzt so sehr, dass er mich hier oben ließe? Würde Mama etwas unternehmen? Wird Hans nach mir fragen? Was hat mein Vater überhaupt mit mir vor? Meine Augen gewöhnen sich an das Dunkel, aber die Fragen hören nicht auf zu brennen.

 

Die Giebelwand bildet ein spitzes Dreieck. An ihrem Fuß sind Kisten gestapelt. Koffer liegen in einem Haufen unsortiert übereinander. Mittendrin steht unser altes Wohnzimmersofa. Eine Decke liegt darauf. Daneben steht ein Eimer. Je Waggon ein Eimer sollte genügen … Ich richte mich auf und suche in den Kisten nach einer Decke und finde tatsächlich den Überwurf, der in der Sonnenstraße über dem alten Wohnzimmersofa lag. Ich wickele mich darin ein und lehne mich gegen den Kamin. Der Regen lässt nach. Blitz und Donner entfernen sich. Es wird ruhig.

Unter mir höre ich ein Rumoren und Poltern. Es dringt durch die Kaminklappen. Möbel werden verrückt. Gedämpfte Stimmen sprechen. Dann ist es wieder still.

Ich versuche, mich zu orientieren. Unter mir ist mein Zimmer. Ich brauche nicht viel Phantasie, um mir vorzustellen, was dort passiert. Mein Vater stellt es auf den Kopf, er durchwühlt meine Sachen. Mir wird heiß und kalt.

Warum habe ich Mathildas Briefe nicht besser versteckt? Ich hätte sie vernichten sollen. Wenn er sie findet? Er wird sie finden. Soll er doch. Soll er sie lesen. Ich verschränke meine Arme vor der Brust, halte mein Ohr an die Kaminklappe und lausche angestrengt. Mit wem spricht er? Es ist nur ein undeutliches Raunen, ein raues Auflachen. Und dann wird wieder etwas auf den Boden geworfen, ausgekippt. Meine Bücher? Der Inhalt meiner Schubladen? Mir wird langsam klar, dass mein Vater alleine ist. Er spricht mit sich, während er mein Reich zerstört. Ich lausche und bin auf einmal sehr müde.

 

Knarrend wird die Bodenluke geöffnet, die Treppe hinuntergezogen. Er steigt die Leiter hoch. Unwillkürlich ducke ich mich. Er steht mit dem Rücken zum Licht, das vom Flur durch die Luke auf den Dachboden fällt.

»Paula.« Seine Stimme klingt versöhnlich.

Doch sofort erkenne ich ihn wieder, diesen falschen Ton, der mich überreden, mich auf seine Seite ziehen soll. »Paula, ich will dir noch eine letzte Chance geben, die allerletzte.« Papier knistert in seiner Hand. »Ich habe die Briefe gefunden. Du hattest immer Kontakt zu Mathilda. Ich habe sie gelesen. Das scheint ja alles ganz harmlos. Aber sie ist und bleibt eine Jüdin. Noch kann ich dich schützen. Und das will ich. Nur musst du mir erzählen, was du weißt. Wer hat dir die Briefe gebracht? Wo ist euer geheimer Briefkasten, von dem in den Briefen die Rede ist? Wer hat den Schuberts geholfen, und wo verstecken sie sich?«

Er geht in die Knie und hockt sich zu mir auf den Bretterboden. Seine Hand zupft an der Decke. Ich ziehe meine Beine unter das Kinn und halte meine Füße fest. Er soll mich nicht berühren.

»Paula. Sei nicht dumm, Mädchen. Erzähle mir alles. Dann wird niemand etwas von deinem Verhalten erfahren. Du gehst zur Schule, zum BDM, und alles ist wie früher. Wir sind doch eine Familie. Mama, Hans, du und ich. Denkst du daran überhaupt nicht mehr?«

»Wo ist Mama? Warum kommt sie nicht?«

»Ich habe Mama gebeten, sich rauszuhalten. Das hier geht nur uns beide an. Also, was ist?«

»Und wenn ich nichts erzähle? Wenn ich nichts weiß?«

»Wenn du schweigst, bist du eine Volksverräterin und nicht mehr meine Tochter.«

Er weicht einen kleinen Schritt zurück. Sein Rücken wird straff.

Und wieder diese falsche Stimme. »Je schneller du es dir von der Seele redest, desto besser, glaube deinem Vater.«

Ich schweige und drehe mich weg.

Seine Stimme wird scharf. »Wie du willst. Ich gebe dir ein paar Stunden zum Nachdenken. Vielleicht hilft dir die Zeit hier oben. Wenn ich das nächste Mal komme, möchte ich alles hören. Das ist ein Ultimatum. Nur wenn du sprichst, wirst du verschont.« Er steigt, ohne mich anzuschauen, die Treppe hinunter und schließt die Luke.

Meine Augen starren voller Furcht in das Dunkel. Was verlangt er da von mir? Womit genau droht er mir?

Ich muss bitter lachen. Wen oder was soll ich eigentlich verraten? Ich kenne weder Schuberts Aufenthaltsort, noch weiß ich, wer der Bote ist. Vielleicht Berning. Dabei denke ich an die beige Jacke, die ich in der Nähe des Geheimbriefkastens und im Stall bei Berning gesehen habe. Aber ich bin doch nicht sicher. Das ist doch nur eine vage Vermutung. Das ist alles, was ich weiß. Ich weiß wirklich nicht mehr. Am liebsten würde ich es laut herausschreien. Sollen es doch alle hören.

Aber was, wenn sie mich jetzt auch in die Gutenbergstraße bringen oder wer weiß wohin? Dahin, wo man schreit, wo man mit blutigem Gesicht herauskommt.

Nein, ich sage nichts, auch nichts von den kleinen, vagen Vermutungen. Auch nichts von dem Briefkasten. Sie würden sonst dem Boten auflauern und ihn so lange verhören, bis er sie zu Mathilda führt. Das darf nicht geschehen! Die Entscheidung ist für mich klar. Ich verrate niemanden. Ich sage kein Wort.

Papa hat sich für den Führer entschieden und ist sein treuer Handlanger geworden. Alles, was er tut, geschieht aus Überzeugung, wie er sagt. Er hat sich gegen mich entschieden, nicht umgekehrt.

Was hat er mit mir vor? Will er, dass ich alles verliere? Auch Mama und Hans? Ich habe sie doch so lieb!

Und unser Haus, den BDM, meine Schule? Muss ich das alles hinter mir lassen? Trotzdem! Ich kann nicht. Ich sage nichts.

Lange lausche ich in die unendliche Stille dieser Nacht, sage sie laut auf, die Litanei all der Dinge, die ich verlasse. Und antworte immer: »Ich sage nichts.« Trotzdem lausche ich, als würde mir da von irgendwoher ein rettender Hinweis kommen. Aber ich höre nur meine Angst. Was, wenn sie mich wie die Juden in einen Waggon stecken und abtransportieren? Wenn sie mich in die Gutenbergstraße zerren? Wie den Swingjungen, der so übel zugerichtet war?

Da richte ich mich dabei langsam auf und höre mich plötzlich in diese große Stille hinein sagen: »Unter diesem Dach kann ich nicht mehr leben.«

Ich wiederhole es dreimal. Es ist ein Gelöbnis. Es ist ein Versprechen. Und dabei weiß ich jetzt genau, in welche Leere ich mich hineinbegebe, wenn ich schweige. Doch einen Weg zurück gibt es nicht.

Und dann packt mich auf einmal ein anderer Schmerz, ein tiefer, heftiger Schmerz.

Mein Vater, er ist doch mein Vater. Erst flüstere ich es ganz leise in das Dunkel, dann möchte ich es in die Nacht hinein schreien. Ich hab ihn lieb. Wie ist er zu diesem kalten, herzlosen Mann geworden? Wie kann er solche Dinge tun? Ich schreie es in das Dunkel. Ich heule es laut in die Nacht.

Und ich bekomme keine Antwort auf meine Fragen.

 

Die Luke öffnet sich. Er stellt sich sofort über mich, beide Beine rechts und links von mir in den Boden gepflanzt. Genauso hat er gestanden, als die Schläge auf mich herabprasselten. Ich muss zu ihm hinaufschauen. Er stellt mir die gleichen Fragen wie vor einigen Stunden. Beherrscht. Erbarmungslos. Kalt. »Wie hast du dich entschieden?«

Ich schweige.

»Dann musst du jetzt dein Zuhause verlassen.«

Ich nicke.

Er packt mich, bindet mir ein Tuch vor die Augen. Er zurrt das Tuch ganz fest. Ich sehe nichts, bekomme kaum mehr Luft. Er zerrt mich die schmale Stiege hinunter, die Treppe hinab, nach draußen. An Weglaufen ist nicht zu denken. Seine Hände halten mich umklammert und schleifen mich weiter. Wo ist Mama? Wo Hans? Warum helfen sie mir nicht? Ich will rufen, aber die Stimme versagt mir. Werde ich sie je wiedersehen?

Die Winterkälte draußen beißt in mein noch wundes Gesicht. Eine Wagentür wird aufgerissen, und ich werde hineingestoßen. Ich versuche, meine Furcht in den Griff zu bekommen, und denke an Mathilda. Doch das Einzige, was mir jetzt einfällt, ist ihre Angst vor den schwarzen Wagen, mit denen wehrlose Menschen abgeholt werden. Jetzt begreife ich.

 

Das Auto fährt los. Wenn ich doch etwas sehen könnte! Ich versuche, das verdammte Tuch abzureißen.

»Lass das!«

Ich gehorche und lausche auf Geräusche. Wohin fährt er mich? Ich versuche, die Fahrgeräusche zu entziffern. Bremst der Wagen? Er fährt lange geradeaus, bremst, biegt links ab. Wenn wir zur Gutenbergstraße fahren, müsste das Auto bald angekommen sein. Aber wir fahren und fahren.

Ich frage: »Wo sind wir?«

Er schweigt. Ich höre nur diese verdammte Stille um mich herum, die einzig vom Motorengeräusch überlagert wird.

»Hallo, ist da wer?«, frage ich. »Fährt jemand mit?« Ich taste nach rechts und links. Es ist niemand da außer uns beiden.

»Papa«, sage ich, aber zu leise.

Wir verlassen die gepflasterte Straße, fahren über Schotter. Ich höre, wie die Steinchen hochschleudern. Dann biegt der Wagen in eine weite Rechtskurve, bremst scharf und hält. Die Tür wird aufgerissen. Ich werde herausgezogen und eine Treppe hochgezerrt. Türen schlagen. Um mich herum fremde Stimmen. Getuschel. Türenschlagen.

Männerstimmen? Frauenstimmen?

Man setzt mich auf einen Stuhl. Um mich herum geschäftiges Treiben. Befehle werden erteilt. Hastige Zurufe.

Dann geht eine Tür zu. Stille.

Bin ich allein? Was haben sie mit mir vor?

Holen sie mich gleich ab? Wohin?

Ich habe solche Angst.