Nachwort

Die fremde Stimme am Telefon ist leise und stockend, aber gut verständlich. »Das waren Mörder damals – und mein Vater war einer von ihnen.«

»Können Sie mir bitte sagen, wer Sie sind?«, frage ich mit dem Hörer am Ohr.

»Ich bin heute eine alte Frau. Ich war fünfzehn, als ich es entdeckt habe, das war 1941, da habe ich gemerkt, was mein Vater tat.« Sie stößt mir diese Worte entgegen, ich kann sie erst nicht abwehren, aber dann will ich zuhören. Doch danach schweigt sie, als wartete sie. Worauf?

»Wer sind Sie?«, frage ich – immer wieder.

»Ich will lieber namenlos bleiben.«

 

Das war im Januar 2005, ein Jahr nachdem mein Buch Anton oder Die Zeit des unwerten Lebens herausgekommen war. Und dieses Buch hatte sie gelesen, die Anruferin. Es hatte ihr Mut gemacht, sich an mich zu wenden.

In späteren Telefonaten erzählte sie mir mehr Einzelheiten und bat: »Könnten Sie diese Geschichte aufschreiben? Bitte! Es gibt viel zu wenig Geschichten über die Kinder von Tätern, Geschichten, in denen ein Kind entdeckt, dass der Vater ein Verbrecher ist. Und es begehrt auf und wird stumm gemacht. So waren die Machthaber. Bitte schreiben Sie das alles auf.«

 

Wir trafen uns später in einem Café. Sie sagte mir ihren Namen. »Aber verraten Sie ihn bitte nie. Ich schäme mich so.« Und sie verbarg ihre Hände im Gesicht. Eine alte, groß gewachsene, hagere, vornehm gekleidete Dame, die allerdings bei genauem Hinsehen im Gesicht markante Spuren trug. Ihre Geschichte hatte sich ihr um die Augen und den Mund tief eingezeichnet.

Sie erzählte mir ihre Geschichte leise, mit flüsternder Stimme. Dazu zeigte sie mir Fotos von ihrem früheren und ihrem späteren Haus. Sie erzählte, berichtete und weinte immer wieder.

»Es hat mich nie verlassen. Das müssen Sie schreiben, dass es einen nie, nie verlässt.«

 

Kurze Zeit später las ich ihre Todesanzeige in der Zeitung. Es kam mir seltsam vor, dass sie, die Münster schon nach dem Krieg verlassen hatte, dort mit einer solchen Anzeige bedacht wurde.

Sie hatte mir berichtet, dass sie nach dem Krieg bei den Nonnen Abitur gemacht und danach Medizin studiert habe, dass sie Ärztin für Neurologie und Psychiatrie geworden sei, um vielleicht irgendwann einmal verstehen zu können, woher das alles komme: das Böse, das Schweigen, »und wie ein lieber Vater so etwas tun konnte und warum«.

Als wir uns trafen, war sie aus Altersgründen schon lange nicht mehr in ihrem Beruf.

»Stattdessen holt einen die Vergangenheit ein«, sagte sie.

»Und haben Sie es herausgefunden?«, fragte ich. »Woher das Böse kommt und warum ein Vater …?«

Erst nickte sie, dann schüttelte sie den Kopf. Eine genauere Antwort bekam ich nicht, nur weitere Erzählungen aus ihrem Leben. Danach musste sie immer ganz plötzlich und schnell nach Hause. Sie wollte wohl eine größere Nähe verhindern.

»Und Mathilda?«, fragte ich trotzdem bei einem nächsten Gespräch. »Wissen Sie, was aus Mathilda geworden ist?«

»Ja«, antwortete sie. »Mathilda konnte mit ihrem Vater in die USA fliehen, ihre Mutter wurde von den Nazis gefunden und abgeholt. Sie kam nie zurück, wurde wahrscheinlich in einem KZ ermordet.«

Sie holte tief Luft. »Mathilda und ich sind Freundinnen geblieben, Freundinnen ein Leben lang. Verlässt du mich nicht, verlass ich dich auch nicht.« Bei diesen Worten ging ein Strahlen über ihr Gesicht. »Diese Freundschaft war das Wichtigste in meinem Leben. Sie hat mich gehalten.«

 

Ich habe versucht, dieser Frau, die ungenannt bleiben wollte, mit meinem Text eine Stimme zu geben.

 

Elisabeth Zöller  im Juni 2011