11. Die Brosche

Schon wieder im Kino. Sonst bin ich dort fast nie und jetzt zwei Mal hintereinander!

»Ruhe!«, brüllt eine Stimme in das Halbdunkel des Kinosaals. Es summt wie in einem Bienenkorb. Die mittleren Reihen sind reserviert für die HJ und den BDM. Neben mir sitzt Klara, die es nicht lassen kann, mit Hedwig zu tuscheln. Heute wird uns in einer Sondervorstellung der Film Jud Süß* gezeigt. Wir haben alle von dem Film gehört. Er läuft seit einem Jahr in den Kinos. Mein Vater fand ihn grandios.

Der Vorhang öffnet sich, eine Fanfare ertönt und wir sehen eine Landkarte: Württemberg 1783.

Der Herzog Karl Alexander schwört auf die Verfassung, dass in allen Dingen »nach der alten württembergischen Treue und Redlichkeit« verfahren werden soll. Aber bereits kurze Zeit später will der Herzog eine Garde, eine Oper und ein Ballett. Das Parlament lehnt die Wünsche des Herzogs ab.

Da holt er den Frankfurter Juden Süß Oppenheimer an seinen Hof in Stuttgart. Heimlich wie ein Dieb schleicht sich Oppenheimer in die Stadt, und es gelingt ihm, das Geld für den Herzog zusammenzukratzen. Doch nur mit brutalen Methoden: Er erhebt Steuern, Zölle und Brückengelder. Die Württemberger murren, aber kleine Rebellionen werden mit grausamer Schärfe niedergeschlagen. So wird der Schmied Hans Bogner gehängt, weil er, von Oppenheimer und seinen Helfern in seiner Existenz bedroht und bis zum Äußersten gereizt, Gewalt mit Gewalt beantwortet.

»Rache für den Schmied. Nieder mit dem Juden!« In den Reihen vor mir springen Hitlerjungen von ihren Sitzen, brüllen und recken die Fäuste.

Es wird spannend! Doch Süß Oppenheimer sorgt weiter dafür, dass der Herzog sich bereichern kann. Der Herzog ist mit ihm zufrieden und gestattet den Juden, sich im Land frei zu bewegen und sich in den Städten niederzulassen. Eine Horde von Juden, bärtige, schmutzige Männer mit verschlagenen, gierigen Gesichtern, in langen, verdreckten Mänteln, zieht singend in Stuttgart ein. »Ich mache die Tür für euch auf«, hatte Jud Süß ihnen versprochen. »In Samt und Seide sollt ihr gehen.« Und er zeigt dabei ein gemeines Grinsen.

»Vertreibt sie!« – »Raus mit den Juden!« Im Kino wird es laut.

Ich stöhne vor Wut. Wie sich diese Juden den Zugang zur Stadt erschleichen und sich dort einrichten! Wie Ungeziefer. So zeigt es der Film.

Süß Oppenheimer will immer mehr in seiner Habgier. Er will Dorothea, die Tochter des Fürstenberaters Sturm, heiraten. Doch Dorothea ist mit Faber verlobt. Süß lässt ihren Vater unter einem Vorwand ins Gefängnis werfen. Als die ausgeplünderten Bürger und Bauern beginnen, Widerstand zu leisten, löst der Herzog einfach das Parlament auf. Er folgt dem Rat des Juden und macht sich mit einem Staatsstreich zum absoluten Herrscher. Die Juden finanzieren diesen Bürgerkrieg, den der Herzog gegen das Volk führt.

Im Kino brandet Protest auf. »Aufhören, das ist unerträglich.« – »Nein, weiter, weiter.« – »Wir wollen sehen, wie weit sie es treiben!«

Bisher hatte das Volk gezögert, aber jetzt wird zum Aufstand aufgerufen. Faber tritt einem geheimen Orden bei und wird verhaftet. Er wird auf Befehl Oppenheimers gefoltert, weil er seine Mitverschwörer nicht verraten will. In ihrer Angst eilt Dorothea zu dem Juden Süß. Sie hört die Schreie des Gefolterten, wird von Oppenheimer in das Schlafzimmer gedrängt und auf das Bett geworfen. Dorothea bittet ihn, sie nicht anzurühren. Jud Süß sagt grinsend: »Unser Gott ist der Gott der Rache. Auge um Auge.«

Ich spüre, wie sich Klaras Finger in meinen Unterarm krallen. Sie schluchzt. Im Kino ist es still. Alle scheinen die Luft anzuhalten. Einer schreit: »Jude! Dreckskerl!«

Ich will aufspringen, will so etwas Widerliches nicht mit ansehen. Klara hält sich die Hände vor das Gesicht.

Faber kommt frei. Aber zu welchem Preis? Nur wenige Stunden nach seiner Freilassung zieht er seine junge Frau als Leiche aus dem Neckar. Faber trägt Dorothea auf dem Arm vor das Haus Oppenheimers. Eine wütende Menschenmenge folgt ihm. »Jude!«, schreit Faber. »Der Jude hat sie auf dem Gewissen!«

Jetzt bricht der Aufstand los. »Totschlagen. Den Sünder totschlagen.« Die Menge zerschlägt die Tür und stürmt in das Haus. Jud Süß, schon zur Flucht bereit, wird verhaftet. Der Herzog hat die Stadt verlassen, damit Jud Süß bei seinem Staatsstreich freie Hand hätte. Ein Schlaganfall wirft ihn um, und sein Tod macht alle Vergünstigungen für die Juden ungültig. Süß wird der Prozess gemacht. Die Richter verurteilen ihn zum Tode. Er winselt um sein Leben. Aber es gibt keine Gnade. Die Zunft der Schmiede baut einen Galgen, höher als alle Galgen zuvor. Und innerhalb eines Monats müssen alle Juden das Land verlassen.

»Richtig so! Sie müssen weg!«, schreit jemand in das Dunkel. Im Kino liegt eine Stimmung, die jeden Moment explodieren kann. Schreie und lautes Durcheinander. »Jawohl, aufhängen und vertreiben. Das sollten wir mit diesem Pack machen! Weg mit den Juden!«

Auf dem Heimweg gehen wir schweigend nebeneinanderher. Klara hält sich immer noch an mir fest. Nein! Mit Juden will keiner etwas zu tun haben. Nach diesem Film nicht mehr, bestimmt nicht. Wir kommen am Kanonengraben vorbei. Ich zucke zusammen.

»Ist was?« Klara klammert noch mehr.

Mein Vater kommt an diesem Abend spät nach Hause. »Wie war der Film?«, fragt er.

»Schrecklich!«

»Ja, so sind sie, ausnahmslos alle.« Er betont das »ausnahmslos alle« und schaut mich dabei eindringlich an. Ich erwidere seinen Blick und nicke ernst.

Ich helfe meiner Mutter beim Abwasch, und Hans sitzt vor dem Volksempfänger. Mit Mama kann ich nicht über den Film reden. Sie sagt, sie will diese schrecklichen Sachen nicht hören. Sie hat Jud Süß vor ein paar Monaten mit Papa gesehen und ist aus dem Kino gelaufen.

»Der Jude ist immer nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Der Deutsche kann als Idealist für die Idee sterben. Beim Juden zählt nur der eigene Vorteil und das eigene Überleben. Ich weiß, es ist vielleicht ein fürchterlicher Vergleich, aber so handeln nur Tiere.« Das sagt Papa ruhig und sachlich, während er seinen Eintopf löffelt und sich mit der weißen Serviette den Mund abwischt.

Das Radio meldet Feindeinflüge, und schon bald danach ertönt der Voralarm. Es ist inzwischen zehn Uhr abends. Ich bin hundemüde, und der Film geht mir nicht aus dem Kopf. Es ist der erste Alarm in unserem neuen Haus. Ein großer Raum in unserem Keller ist als Luftschutzkeller eingerichtet. Er ist geräumiger und heller als in der Sonnenstraße, aber längst nicht so gemütlich. Es gibt keine Betten, und ich kann auch nicht mehr mit Papa an einem Tisch sitzen. Wir hocken nebeneinander auf Holzbänken. Es kommen Leute aus der Nachbarschaft zu uns. Und wir haben einen Luftschutzwart. Die Nachbarn grüßen mit »Heil Hitler!« und packen ihre Koffer in die Regale. Dann verkriechen sie sich in Mäntel und Decken. Es wird nicht viel geredet.

Die Gasmasken glotzen mich mit ihren riesigen Augenhöhlen und aufgestülpten Rüsseln an wie Ungeheuer. Sie liegen in einem Schränkchen an der Tür und sind aus schwarzem Gummi. Sie stinken widerlich. Immer wieder warte ich auf das Sirenensignal für den Gasalarm, der zum Glück auch heute nicht ertönt. Dann müssten wir die Masken nämlich über den Kopf ziehen.

Meine Mutter sitzt zwischen Hans und mir und hält uns im Arm. Mein Vater hat sich neben mich gesetzt. Auf den Knien hält er eine Tasche mit unseren wichtigen Papieren. Opa Bröker, der Luftschutzwart, steht an der Tür und behält alles im Auge. Er ist ein freundlicher alter Mann, der mit dem Stahlhelm auf dem Kopf ziemlich wichtig aussieht. Draußen beginnt die Flak zu schießen.

 

Nach einer Weile stößt mein Vater mich an. »Ich habe etwas für dich. Es ist jetzt vielleicht nicht ganz der richtige Moment, aber ich bin so gespannt, wie du es findest.« Er lächelt mich an, kramt in seiner Manteltasche. Meine Mutter und Hans rücken näher. Papa holt ein kleines Päckchen hervor, um das ein rotes Geschenkband gewickelt ist.

Ich habe schon immer gerne Geschenke ausgepackt. Langsam und behutsam löse ich die rote Schleife. Juwelier Dörrie steht in goldenen Buchstaben auf dem Kästchen. Vorsichtig öffne ich den Deckel. Das Innere ist mit dunkelblauem Samt ausgeschlagen. Das spärliche Bunkerlicht fällt auf ein wunderbar schimmerndes Schmuckstück. Es ist ein silberner Schmetterling, der einen hellen goldgelben Bernstein einfasst.

Mir bleibt fast das Herz stehen. Ich nehme die Brosche und lege sie mir in die geöffnete Hand. Meine Finger zittern. Im Bernstein ist eine Spinne eingeschlossen.

»Oh«, sagt Hans, »Juwelen für die Prinzessin.«

»Freust du dich nicht?«, fragt mein Vater unsicher. »Oder hast du Angst vor Spinnen?«

»Nein, nein. Sie ist wunderschön. Sieh nur, wie warm der Stein leuchtet, und sieh nur diese Spinne. Ich glaube, ich habe so eine Brosche schon mal gesehen. Woher hast du sie, Papa?« Ich kann nicht anders. Ich muss fragen.

Er lächelt. »Der Schmetterling ist mir zugeflogen. Einfach so.«

Ich schließe meine Hand zu einer Faust. Wie kann das sein? Diese Brosche hat Mathilda gehört. Zugeflogen?

»Aber ein Schmetterling aus Silber, ein Bernstein mit einer eingeschlossenen Spinne, das ist bestimmt selten. Verrate mir doch bitte, woher du sie hast.«

Ich reiße mich zusammen, spreche langsam, obschon meine Unruhe immer stärker wird.

Mein Vater sieht mich überrascht, aber auch enttäuscht an. »Ich habe gedacht, du fällst mir vor Freude um den Hals. Ich sah sie bei Dörrie in der Auslage, und ich dachte, sie gefällt dir.«

»Ich kenne das Mädchen, das sie getragen hat.«

»Was du nicht sagst. Kenne ich sie auch?«

Ja, Papa, antworte ich im Stillen. Du hast sie gekannt. Aber jetzt willst du sie nicht mehr kennen.

Doch das sage ich nicht, presse nur die Lippen aufeinander. Mein Kinn zittert. Ich will nicht weinen.

»Aber Kind«, mischt meine Mutter sich ein, »freust du dich denn gar nicht? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

»Ich weiß nicht, Mama. Vielleicht bin ich einfach zu müde. Es passiert so viel in letzter Zeit.«

Mein Vater legt seinen Arm um mich und hält mich an der Schulter fest. »Es ist gut, Mädchen. Vielleicht war es doch der falsche Moment. Versuche, zu schlafen. Ich glaube, die Tommys haben es heute nicht auf uns abgesehen. Du wirst sehen, es wird alles gut.«

Ich bin erleichtert, dass ich nicht mehr über die Brosche reden muss. Und doch, es tut mir leid. Papa wollte mir eine Freude machen, aber wie kann ich mich über Mathildas Brosche freuen? Ich kuschele mich an ihn und schließe die Augen. Das Geschenk halte ich umklammert, es ist und bleibt Mathildas Brosche.

Ich schrecke hoch. Ein dumpfes Krachen, danach spüre ich die Vibrationen des Kellerfußbodens. Erschrocken sehe ich mich um. Jemand schreit auf. Mein Vater hält mich immer noch fest im Arm. Das Licht flackert, geht aus und wieder an. Es schwimmt Staub in der Luft. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, wo ich bin. Ich muss eingeschlafen sein und habe geträumt.

Im Traum hatte mein Vater zwei Gesichter. Eines war das, das ich kenne. Es war das Gesicht, das mich jetzt besorgt ansieht. Doch ich konnte genau sehen: Er hatte noch ein Gesicht, es lag im Dunkeln. Nur undeutlich sah ich es im Profil.

Später putze ich mir die Zähne, versuche mir den Traum aus dem Gesicht zu waschen und bürste vor dem Spiegel lange meine Haare. Ich muss unentwegt an die Brosche denken und an Mathilda. Zu gerne wüsste ich, durch welchen Zufall sie in die Hände meines Vaters gekommen ist.

 

Am nächsten Morgen flicht meine Mutter mir die Zöpfe und sagt, dass die Brosche gut zu meiner Bluse passen würde.

»Mama, das ist eine besondere Brosche, und ich werde sie zu besonderen Anlässen tragen«, sage ich. Aber in Wirklichkeit bin ich der Meinung, dass sie mir nicht gehört und dass ich sie Mathilda zurückgeben muss.

»Du würdest Papa eine Freude machen. Bereite ihm keinen unnötigen Kummer. Das hat er wirklich nicht verdient«, flüstert Mama so nah – und doch ist sie auf einmal ganz fern.

Als ich später zum Frühstück in die Küche komme, wird es still. Meine Eltern haben sich leise unterhalten, und Hans kaut missmutig auf seinem Butterbrot herum. Er wirft mir einen unsicheren Blick zu und lächelt nicht wie sonst. Alle schweigen.

»Guten Morgen«, murmle ich und setze mich auf die Eckbank. Mein Vater sieht grau und müde aus. In seinen Augen liegt ein trauriger Glanz. Ist das sein unbekanntes Gesicht? Das, von dem ich gestern in der Nacht geträumt habe? Oder ist es die Enttäuschung, weil ich nicht gejubelt habe. Jetzt fällt mir auf, dass sogar der Volksempfänger schweigt. Mein Vater trägt seine Uniform und die Hakenkreuzbinde am Oberarm.

»Sag mal, was ist nun mit der Brosche? Deine Freude hielt sich ja gestern in Grenzen. Ich habe es auf deine Müdigkeit geschoben, aber wie ich sehe, trägst du sie heute nicht. Gefällt sie dir nicht?«, fragt er.

Da nehme ich meinen ganzen Mut zusammen. Wenn ich jetzt nicht frage, werde ich es nie tun. »Papa, die Brosche gefällt mir, aber ich weiß, dass sie Mathilda gehört hat, meiner Freundin.«

Seine Augen verraten mir, dass ich den richtigen Moment erwischt habe. Jetzt nicht aufhören!

»Es ist nicht nur die Brosche. Der Umzug in dieses Haus, die neuen Möbel, das kostbare Bild. Das war doch alles furchtbar teuer. Sind wir auf einmal so reich geworden?«

Papa scheint wirklich überrascht. »Dass die Brosche Mathilda gehört hat, wusste ich nicht. Vielleicht haben Schuberts sie verkauft, was weiß ich.« Er steht auf, wendet sich zum Fenster.

Hans hat längst aufgehört zu kauen und hört nur noch zu. Mama wäscht das Geschirr ab. Sie lauscht.

»Und was das Haus und die Möbel betrifft, will ich versuchen, es zu erklären«, sagt Papa. »Diese Dinge stammen von Menschen, die in die Arbeitslager umgesiedelt wurden, weil wir die Wohnungen für die ausgebombten Familien brauchen. Das alles ist völlig legal. Und es ist nichts verkehrt daran, wenn ich uns ein Stück vom Kuchen abschneide und diesen Leuten für ein paar Mark Sachen abkaufe, die sie nicht mitnehmen können oder die für sie wertlos geworden sind. Sie können das Geld gut gebrauchen. Und du lebst doch gerne in diesem Haus, oder?«

»Heißt das, die Menschen, die vorher in diesem Haus gewohnt haben, haben für all das nur ein paar Mark bekommen?« Meine Stimme klingt gepresst und ungläubig.

»Genug jetzt!« Papa wird zornig. »Ich will davon nichts mehr hören. Diese Leute haben genug bekommen. Du hast Jud Süß gesehen. Du weißt, was das für Ungeheuer sind. Und deine Mathilda ist schließlich Jüdin. Und jetzt Schluss mit diesem Thema.«

»Halbjüdin«, entgegne ich trotzig.

Papa schweigt einen Moment, atmet tief ein und beugt sich ganz nah zu mir herunter. Sein vor Wut gerötetes Gesicht schwebt direkt vor meinem. Ich zucke zurück und will mich abwenden.

»Hier geblieben«, sagt er. »Ich will, dass du mir glaubst. Sonst nichts. Jüdin oder Halbjüdin, gehopst wie gesprungen. Begreif es endlich!«

Das ist nicht meine Brosche!, würde ich am liebsten schreien. Ich werde sie Mathilda zurückgeben! Aber ich sollte mich verziehen, bevor er richtig wütend wird.

Ach, und ich weiß ja gar nicht, ob ich Mathilda je wiedersehe. Ich denke an die Bomben, die uns gestern Nacht verfehlten, an Schuberts verlassene Villa, an Mathildas verprügelte Mutter, an die bedrohliche Stimmung nach Jud Süß. Nichts scheint mehr sicher.

Ich ziehe meine Jacke an. Was kann ich tun? Eine gute Schaftführerin hat immer einen zweiten Plan, denke ich, während ich die Haustür hinter mir zuziehe. Ich hab’s: Ich werde die Brosche in unseren Geheimbriefkasten legen. Sie wird ihren Weg zu Mathilda zurückfinden. Irgendwie. Ich schaue mich um. Der Bombeneinschlag der vergangenen Nacht hat einen tiefen Krater in die Blumenrabatten des Servatiiplatzes gerissen. Bäume sind umgestürzt, die Fahrbahn ist aufgerissen, und Wasserleitungen sind geplatzt. Überall sind Arbeiter mit Reparaturen beschäftigt.

Unsere Nachbarin, Frau Schneider, kommt aus dem Haus und weiß, dass weitere Bomben in der Nähe des Zwingers und des Gefängnisses eingeschlagen sind. Auch die Promenade am Coerdeplatz sei getroffen worden. Sie hat gehört, dass die Flak ein Flugzeug abgeschossen hat und es über dem Dyckburger Wäldchen abgestürzt ist. Hans, der inzwischen neben mir steht, will sich am liebsten sofort auf den Weg machen, auch wenn Mama die Flak- und Bombensplitter, die er von seinen Ausflügen mitbringt, nicht im Haus haben will.

Ich weiß meinen Weg. Ich will zum Geheimbriefkasten. Ich gehe in die Klosterstraße. Unser Luftschutzwart wohnt dort, und von seinen Wohnungsfenstern aus kann man den Feuerlöschteich sehen, neben dem der Briefkasten ist. Er sitzt oft am Fenster, und ich habe mir angewöhnt, zu ihm hinaufzuwinken. Er glaubt bestimmt, dass ich den Weg in die Promenade abkürze, wenn ich im Gebüsch am Teich verschwinde. Ich taste mit meinen Fingern in der Baumritze und ziehe einen gefalteten Umschlag heraus. Es ist mein Brief an Mathilda vom Umzugstag. So viele Tage sind vergangen. Der Brief hat es nicht zu Mathilda geschafft. Ich hocke auf dem großen Stein und suche in meinem Tornister nach Stift und Zettel.

 

Stell dir vor, ich habe deinen Schmetterling mit der kleinen Spinne. Ich wollte sie hier für dich verstecken. Doch nach den Bombenangriffen der vergangenen Nacht ist mir das zu unsicher. Was soll ich tun? Ich warte auf eine Nachricht. Ich verlass dich nicht. Dein Fundevogel.