13. Die Verfolgung

Im Morgengrauen werde ich wach und höre Motorengeräusche. Ich setze mich auf und lausche gebannt. Das sind keine Flugzeuge, das sind Lastwagen. Sie halten vor unserem Haus. Das Schlagen von Wagentüren, Stiefeltritte auf dem Pflaster, gedämpftes Rufen, Männerstimmen. Jemand hämmert an eine Tür. Erschrocken und gleichzeitig neugierig stehe ich auf und eile zum Fenster.

Vor dem Nachbarhaus steht ein Trupp Uniformierter. Ein Lastwagen mit geöffneter Plane wartet am Straßenrand. Die Haustür öffnet sich, und die Männer drängen ins Haus. Ich kenne die Nachbarn kaum. Ich weiß nur, dass sie Marcus heißen. Sie sind selten auf der Straße und nie in unserem Bunker. Jetzt geht alles ganz schnell.

Frau Marcus wird aus dem Haus geführt. Sie bettelt und fleht, und ich höre, dass sie weint. Der Uniformierte hält sie fest und gibt ihr einen Tritt. Die Frau fällt. Sie wird hochgezerrt und auf die Ladefläche des Lastwagens gehoben. Ihr Mann stolpert aus dem Haus. Er trägt Pantoffeln und einen offenen schwarzen Mantel. Einer der Männer schlägt ihm den Hut vom Kopf. Herr Marcus klettert mühsam auf den Wagen.

»Los, los, schneller!« Die Männer steigen ein, Türen werden zugeschlagen. Der Motor springt an und bläst eine Auspuffwolke in das Zwielicht des Morgens. Der Lastwagen entfernt sich. Der Hut des alten Mannes liegt zerknautscht im Rinnstein. Die Tür des Hauses steht weit offen.

Eine unheimliche Stille macht sich breit. Eine kalte, klebrige Angst kriecht meinen Rücken herauf. Ich muss zu meinen Eltern. Als ich meine Zimmertür öffne, fällt unsere Haustür ins Schloss. Vater war draußen. Er hat alles gesehen! Ich zittere vor Erregung. Ich höre leise Stimmen und erstarre. Mein Vater spricht mit meiner Mutter. Sie haben das gesehen und nichts dagegen unternommen?

Vom Straßenpflaster dringt das vertraute Geräusch klappernder Pferdehufe. Langsam und gemächlich biegt das blaue Fuhrwerk der Spedition Peters um die Ecke. Die Kutscher hocken auf dem Bock und rauchen. Ich erkenne sie wieder. Sie haben mich auf ihrem Wagen mitfahren lassen. Sie halten, steigen gemächlich ab und verschwinden in der offenen Tür. Möbelstücke, aufgerollte Teppiche und Bilder werden aufgeladen. Ich krieche zurück in mein Bett, auch wenn ich jetzt eigentlich aufstehen müsste.

 

Ich muss noch einmal eingeschlafen sein, tief und fest. Eine Hand legt sich auf meine Stirn. Davon werde ich wach.

»Wie geht es dir heute Morgen?«, fragt mein Vater besorgt.

»Es geht mir wieder gut, Papa«, sage ich beruhigend. »Das Fieber ist weg.«

»Dann raus aus den Federn, komm zum Frühstück!« Kaum ist er zur Tür hinaus, springe ich aus dem Bett und stürze ans Fenster. Auf der Straße ist es ruhig. Alles scheint wie immer. Das Haus gegenüber liegt dunkel verlassen im trüben Morgenlicht. Die Tür ist geschlossen. Das Pferdefuhrwerk ist verschwunden. Im Rinnstein liegt der Hut, schmutzig und verbeult. Es ist also wahr. Ich habe das alles nicht geträumt.

»Papa«, rufe ich die Treppe hinunter, »Papa!«

Er kommt zurück und stellt sich zu mir ans Fenster.

»Du hast doch heute Nacht zugesehen. Oder?«

Er unterbricht mich. Er weiß sofort, wovon ich spreche. »Das waren die letzten Juden in dieser Straße. Und es geht nicht, dass zwei alte Menschen allein so ein großes Haus bewohnen, während ausgebombte deutsche Volksgenossen keine Bleibe mehr haben.«

»Aber die Polizisten waren so … grob«, stottere ich.

Papas Hand liegt auf meiner Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Paula. Es hat alles seine Ordnung.«

»Ich mache mir ja gar keine Sorgen. Und ich weiß, wir haben schließlich Krieg. Aber …«

»Völlig richtig«, sagt Papa.

Doch das Bild von Frau Marcus schiebt sich in meinem Kopf immer wieder nach vorne.

Den Vormittag verbringe ich im Bett. Mir ist kalt. Manchmal nicke ich ein. Wenn ich erschrocken aufwache, kann ich mich nicht an den Traum erinnern.

Mein Blick fällt auf meinen alten Puppenwagen. Etwas lieblos habe ich ihn in eine Ecke gestellt. Brumms Beine hängen aus dem Wagen, und Mona liegt quer über dem Kissen auf dem Bauch. Ich lausche auf die Geräusche im Haus und auf der Straße. Mein Herz rast. Die Laken sind schweißnass. Mama hat mir Tee und Zwiebäcke hingestellt. Plötzlich halte ich es nicht mehr aus. Fluchtartig verlasse ich mein Zimmer und gehe in die Küche.

 

Mittags sitze ich mit Mama und Hans auf der Eckbank am Tisch. Es gibt Hühnersuppe mit Einlage. Dicke Fettaugen schwimmen darauf. Das frische Brot duftet, und Mama hat sogar richtige Butter aufgetrieben. Der Volksempfänger schweigt, und ich bin dafür dankbar. Mutter meint mit besorgtem Blick, dass mir frische Luft bestimmt guttun würde. Vielleicht ein kurzer Spaziergang zur Sonnenstraße?

»Ich sage das nicht ohne Hintergedanken. Ich habe ein paar Kleinigkeiten für Frau Weber, Gertrud, Eva und Theresa zusammengepackt. Bettwäsche, Handtücher, Töpfe, Geschirr. Du weißt schon: Sachen, die sie in unserem Haus gebrauchen können.«

Ich muss lächeln. Mama hat »unser Haus« gesagt. Sie hat es auch gemerkt.

»Ja, es ist schon komisch. Irgendwie ist es immer noch unser Haus. Ich habe nur gute Erinnerungen an die Zeit und denke gerne daran.«

Ich greife nach ihrer Hand. Unsere Blicke treffen sich. Sie hat recht. Wenn ich an die Sonnenstraße denke, kommt es mir so vor, als hätten wir damals viel mehr Zeit gehabt, als wäre alles viel langsamer passiert. Ruhiger. Ich sehe immer noch, wie sich die Vorhänge in der Küche sanft und leicht in der warmen Frühlingssonne bewegen, höre das bedächtige Ticken der Uhr. Damals? Ich habe tatsächlich »damals« gedacht. Jetzt scheint alles viel schneller zu gehen. So viele Dinge passieren, nehmen ihren Lauf. Zufällig wie Blitzeinschläge. Man kann sich nicht dagegenstemmen. Mama und ich seufzen gleichzeitig. Hans lässt den Löffel sinken und starrt uns überrascht an. Wir müssen lachen. Etwas verlegen. Als hätte er uns ertappt.

»Wenn ihr wollt und Mama mit dem Abwasch alleine zurechtkommt, gehe ich mit«, sagt Hans. »Wir nehmen den Bollerwagen. Ich könnte in unserem Garten nach dem Rechten sehen. Nur so. Ich meine, jemand muss sich ja kümmern.« Hans rührt in der Suppe und fischt nach Hühnerfleisch. »Schon komisch. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich das mal freiwillig tun werde.«

»Ach Kinder.« Mama klatscht in die Hände. »Wenn euer Vater uns so sähe. Er könnte uns für undankbar halten. Hier in der Salzstraße beginnt unser Weg in die neue Zeit. Die Zukunft gehört uns.«

Warum muss sie das so rausposaunen? Aber es stimmt ja. Ich spüre, wie Kraft und Zuversicht zurückkehren. Solche Dinge passieren nun mal. Es hat alles seine Ordnung, sagt Papa. Es ist das Normalste der Welt.

»Ich werde meinen Puppenwagen verschenken«, erwidere ich. »An Eva und Theresa. Und Mona und Brumm lege ich dazu. Meint ihr, sie werden Brumm liebhaben? Ihm fehlt schließlich ein Arm.«

»Na klar.« Hans schlürft genüsslich Suppe. »Wir erklären ihn zum Kriegshelden. Mir fällt da bestimmt eine erstklassige Geschichte ein.«

»Darüber macht man keine Witze«, erwidere ich. »Außerdem willst du doch nur von der wahren Geschichte ablenken. Wenn ich mich richtig erinnere, hast du ihn doch auf dem Gewissen.«

»Vielleicht, Schwesterchen. Aber nur, weil du ihn nicht loslassen wolltest.«

»Zankt nicht, Kinder. Ich packe die Sachen zusammen, und dann ab durch die Mitte mit euch. Und keine Sorge, Hans. Den Abwasch schaffe ich schon.«

 

»Nett von deinem Bruder, sich um den Garten zu kümmern. Meine Mutter kommt einfach nicht dazu. In ihrem Betrieb machen sie jetzt Doppelschichten. Sie ist immer so furchtbar müde.«

Ich liege auf meinem alten Bett und sehe durch das Fenster in der Gaube in den Himmel. Gertrud räumt ihren Wäscheschrank ein. Sie hat auch meinen alten Schreibtisch behalten. Herr Heitkamp hat die Platte abgeschliffen und gebeizt. Er sieht aus wie neu. Gertrud hat Bilder aufgehängt, und ein roter Teppich liegt auf den frisch gewachsten Hobeldielen.

»Ein eigenes Zimmer! Mensch, Paula, ich kann es immer noch nicht glauben. Eigentlich geht es uns doch verdammt gut.«

Als ich am Abend hinter Hans und dem rumpelnden Bollerwagen nach Hause gehe, fühle ich mich seltsam unbeschwert. Wir haben Eva und Theresa zu Bett gebracht. Sie sind mit Brumm und Mona im Arm eingeschlafen. Der Puppenwagen hat frische Bezüge bekommen und steht mitten in ihrem Zimmer. Alles scheint so leicht zu sein. Hier, mit Hans in der Dämmerung, auf dem Weg nach Hause.

 

Die Kartoffelferien beginnen in der nächsten Woche, und ich werde heute mit den Mädchen die vierzehntägige Fahrt ins BDM-Lager nach Nottuln planen. Es ist meine zweite Lagerfahrt, aber die erste, die ich als Schaftführerin vorbereite. Natürlich wird das keine Spazierfahrt, sondern wir werden zur Kartoffelernte und zu anderen Arbeiten eingesetzt. Trotzdem freuen wir uns auf die Fahrt. Sie bedeutet für viele der Mädchen, weg von zu Hause zu sein, gemütlich auf Stroh in der Bodenkammer schlafen zu können, zu quatschen und zu reden bis spät in die Nacht – wenn einem nicht vorher vor Müdigkeit die Augen zufallen. Die Arbeit nimmt man dabei einfach in Kauf. Und die Verpflegung ist besser als der Einheitsbrei zu Hause.

In Gedanken gehe ich noch einmal die Dinge durch, die ich heute Nachmittag besprechen möchte.

Da sehe ich Franziska und Werner, wie sie Händchen haltend den Zwinger betreten. Es versetzt mir einen Stich. So schnell haben die beiden sich gefunden? Ich gebe mir einen Ruck. Die kann mir nicht weh tun, die nicht! Ich werde mir nichts anmerken lassen! Mit ausdrucksloser Miene betrete ich das Gebäude. Meine Kehle ist wie ausgetrocknet. Ich gehe nach hinten in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken.

Als ich zurückkomme und die Tür unseres Gruppenraumes öffne, höre ich schon Franziskas Stimme. Sie spricht lang und gedehnt, damit alle es hören. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich gar keine Lust, mit Paula als Schaftführerin zu fahren. Man kann ihr nicht vertrauen.« Sie sitzt dabei auf ihrem Stuhl, die Arme trotzig über der Brust verschränkt, die Knie übereinandergeschlagen.

Es wird sofort still, als ich eintrete. Die Blicke der Mädchen wandern zwischen Franziska und mir hin und her. Sie wissen von Werner und mir. Und dass Franziska sich Werner geangelt hat, hat ja eben jeder sehen können. Ich atme tief ein und tue, als hätte ich nichts gehört, klappe mein Dienstbuch auf und trage die Anwesenden ein.

»Was meinst du damit, Franziska? Wieso kann man Paula nicht vertrauen?«, fragt Gertrud. Sie ist wütend von ihrem Stuhl aufgestanden.

Ich sehe zu Franziska. Sie hat sich verändert. Ist es ihr Verliebtsein, das sie erwachsener und hübscher aussehen lässt? Ihr Busen zeichnet sich selbst unter der langweiligen BDM-Bluse deutlich ab. Die Wangen sind leicht gerötet, die von langen Wimpern umschatteten Augen leuchten geradezu. Ihre vollen roten Lippen sehen aus, als hätte sie Lippenstift aufgetragen.

Sie hat Lippenstift aufgetragen!

»Franziska, wisch dir sofort die Schmiere aus dem Gesicht. Eine deutsche Frau schminkt sich nicht.«

Franziska sieht mich erstaunt an. Mit Widerstand von mir hat sie wohl nicht gerechnet. Während sie sich mit einem Taschentuch den Lippenstift abwischt, antwortet sie Gertrud und lässt mich dabei nicht aus den Augen. »Frag sie doch selbst, Gertrud. Frag sie nach Werner oder besser noch: Frag sie nach den Swingheinis.«

Unmerklich zucke ich zusammen. Aber ich bringe es fertig, völlig ungerührt zu sagen: »Das mit der Schminke zieht eine Verwarnung nach sich, Franziska. Für die Stunde am Samstag bereitest du ein Referat vor. Thema: Warum eine deutsche Frau sich nicht schminkt.«

Danach ist kein Triumph mehr in ihren Augen. Sie kocht vor Wut. Doch das ist mir egal. Und ich kann es mir nicht verkneifen, noch hinzuzufügen: »Ach übrigens, wenn du mit mir als Schaftführerin nicht fahren willst, dann bleib doch einfach zu Hause. Ich hätte nichts dagegen.« Und zu den anderen gewandt, sage ich: »Jetzt würde ich gerne über die Fahrt sprechen …«

Nach der Stunde bleibt Franziska auf ihrem Stuhl sitzen.

Gertrud steht in der Tür. »Kommst du, Paula?«

Ich schüttele den Kopf und gebe ihr zu verstehen, dass sie gehen soll.

Franziska ist ernst und ruhig. Sie lehnt sich zurück und schaut mich mit wachsamem Blick an. Ihre Augen strahlen eine Kälte aus, die ich an ihr bisher noch nicht wahrgenommen habe. Ich warte schweigend, was sie als Nächstes tun oder sagen wird. Innerlich gehe ich in Deckung.

»Nur damit das klar ist: Lass deine Finger von Werner«, zischt sie mich an.

Ich erwidere kühl ihren Blick. »Warum gehst du nicht nach Hause, Franziska? Der Heimabend ist vorbei.«

Sie steht auf und kommt auf mich zu. Ich kann ihren Atem spüren. »Du benimmst dich wie eine Jüdin, Paula.«

Da höre ich mich sagen: »Raus hier!« Ich lausche voller Verwunderung meiner eigenen schneidenden Stimme.

 

Am Abend stehe ich im Badezimmer vor dem großen Spiegel. Er ist an den Seiten geschliffen, und ein Lüster spiegelt sich darin mit tausend Lichtern. Ein Mädchen mit langen blonden Haaren und träumerischem Blick schaut mich an. Ich werde wegen Werner keine Tränen vergießen, das nehme ich mir fest vor. Soll er doch glücklich werden mit Franziska!

Franziska. Wie erwachsen sie aussah. Es geht mir nicht aus dem Kopf. Und wie kindlich ich aussehe. Diese braven Zöpfe. Dieser artige Mittelscheitel. Dieses unschuldige Kleinmädchengesicht. Was wäre, wenn ich mir die Haare kurz schneiden ließe? Gerade und kurz, wie ein Junge. Sähe ich dann reifer aus als Franziska? Interessanter? Sogar ernsthafter? Ich stelle mir schon Mamas Erstaunen vor. »Wo sind deine Zöpfe geblieben? Wie konntest du nur?« Vielleicht gefällt es ihr aber auch. Wer weiß das schon.

Aber mein Vater wäre garantiert entsetzt. Tatsächlich liegen bei einigen Friseuren Fotos aus, wie der Führer sich deutsche Köpfe wünscht. Und Papa ist da eher altmodisch. Aber ich will das nicht mehr. Ich bin kein harmloses Zopf-Lieschen, sondern modern, mit eigenwilligem Haarschnitt. Und sich die Lippen schminken – das kann nicht nur Franziska!

Ich schaue noch eine Weile in den Spiegel, halte meine langen Haare hoch und stelle mir kurze Haare vor. Ich lächle mein neues Spiegelbild an und strecke mir selbst die Zunge raus. Dann male ich mir das entgeisterte Gesicht meines Vaters aus und muss unwillkürlich grinsen. Vor mich hinträllernd verlasse ich das Badezimmer.

Oben am Treppenabsatz bleibe ich stehen. Papas Zimmertür ist angelehnt, Licht fällt in den dunklen Flur, und ich höre undeutlich seine Stimme. Neugierig schleiche ich die Treppe hinunter. Die Stimme wird deutlicher, er telefoniert.

»Der Gertrudenhof wird als Sammelstelle für die Münsteraner Juden und die aus dem Umland eingerichtet. Das ist bereits entschieden.« Er holt tief Luft und spricht mit klarer Kommandostimme in den Hörer: »Jetzt hören Sie mir gut zu, und schreiben Sie mit. Erstens: Der Transport findet am 13. Dezember statt. Am Abend vorher, gegen zweiundzwanzig Uhr, müssen alle namentlich erfasst sein. Dann transportieren wir sie in Omnibussen zum Bahnhof und verladen sie in die Züge. Das wird wohl einige Zeit in Anspruch nehmen. Der Zug fährt am 13. Dezember planmäßig gegen Viertel nach zehn Uhr Richtung Bielefeld.

Zweitens: Mitnehmen dürfen sie 50 Reichsmark, einen Koffer mit persönlichen Gegenständen, vollständige Kleidung, Bettzeug und Decke, Verpflegung für drei Wochen, Essgeschirr.

Drittens: Wertpapiere, Devisen, Silber, Platin, Gold, mit Ausnahme des Eheringes, Messer, Gabel und Rasierzeug sind abzugeben. Sie sorgen dafür, dass das Gepäck darauf durchsucht wird.

Viertens: Die Juden tragen die Fahrtkosten nach Riga selbst, das sind 55 Reichsmark pro Person.«

Er wird anscheinend unterbrochen. Einen Moment schweigt er, dann spricht er weiter. »Ja, genau. Am Güterbahnhof. Die Transportnummern stehen mit Kreide jeweils auf den Wagen. Ich werde bei der Verladung dabei sein, keine Sorge.«

Papa hat schon oft davon gesprochen, dass Münster bald judenfrei sein wird. Auch von Arbeitslagern war die Rede. Aber dass er selbst die Transporte organisiert, habe ich nicht geahnt. Ich lausche weiter, fürchte mich allerdings vor dem, was noch kommen könnte.

Der andere sagt etwas. Mein Vater antwortet: »Nein, nein, viel zu aufwendig. Je Waggon ein Eimer sollte genügen.« Wieder eine Pause. »Gut, das wäre dann alles. Wir sehen uns morgen.« Er legt den Hörer auf die Gabel.

 

Am nächsten Morgen gehe ich nicht sofort hinunter. Ich setze mich auf die oberste Treppenstufe und lausche auf die vertrauten Geräusche in der Küche. Mama klappert mit dem Geschirr. Papa bespricht mit Hans, wann und wo sie Holz für den Ofen beschaffen können. Der Volksempfänger spielt Schlager. Heinz Müller singt: »So schön wie heute …« Alles ist gut, alles ist wie immer. So hätte ich es gern.

Mein Vater räuspert sich: »Ich werde heute nicht abgeholt. Ein Spaziergang ab und zu wird mir nicht schaden.« Mama lacht und sagt etwas.

In diesem Moment steht mein Entschluss fest: Ich werde ihm nachschleichen. Ich werde versuchen, herauszufinden, was mit dem Swingjungen passiert ist. Ich muss wissen, was mein Vater damit zu tun hat.

Nach einem kurzen »Guten Morgen« in der Küche und einer Scheibe Brot täusche ich Eile vor.

»Oh, schon so spät«, murmle ich und verlasse vor meinem Vater das Haus. Ich suche mir einen Hauseingang, von dem aus ich unsere Tür im Auge behalten kann. Die Aufregung lässt meine Hände zittern. Ein wenig fühle ich mich wie dieser Emil, aus Kästners Emil und die Detektive. Hans hat mir die Stelle vorgelesen, wo Emil dem Mann mit dem steifen Hut in die Straßenbahn bis hin zum Hotel Kreid am Nollendorfplatz folgt. Er erzählt mir immer, wie es mit Emil und seinem geklauten Geld weitergeht. Allerdings ist Emil nicht allein, er bekommt Unterstützung von Pony Hütchen, dem Jungen mit der Hupe, Gustav und vielen anderen Kindern.

Ich jedoch bin allein und habe ein ungutes Gefühl bei dem, was ich hier tue. Ich bespitzle meinen eigenen Vater. Doch jetzt gibt es kein Zurück mehr.

 

Die Jacke über die Schultern geworfen, ziehe ich mir die Kapuze tief in die Stirn. Mit dem Tornister darunter und den schlackernden Ärmeln sehe ich wahrscheinlich aus wie die Tochter des Glöckners von Notre-Dame. In dem Aufzug wird mein Vater mich bestimmt nicht erkennen. Ich muss Abstand halten und mich immer wieder in Hauseingänge verdrücken. Auf keinen Fall darf er mich erwischen!

Er tritt aus der Haustür und wirft einen prüfenden Blick in den regnerisch grauen Himmel. Er hält einen Moment inne, richtet mit der rechten Hand seinen linken Lederhandschuh. Uniform und Stiefel hat er angezogen, trägt aber keinen Mantel. Zu meiner Überraschung wendet er sich in die Telgter Straße. Der kürzeste Weg zu seiner Dienststelle führt eigentlich über den Servatiiplatz und die Wolbecker Straße. Ich folge ihm. Er scheint keine Eile zu haben. Fast hat es den Anschein, dass er spazieren geht. Die Uniform macht ihn größer, als er in Wirklichkeit ist. Sein Gang ist federnd, auch jetzt, als er nur bummelt.

Auf der Mauritzstraße ragen die Ruinen anklagend in die Luft. Die Straßen sind längst frei geräumt, und zwischen den Schuttbergen steht ein Bagger. Arbeiter stapeln Steine oder schleppen Balken. Manche Fassaden stehen noch, aber man kann durch die kaputten Dächer in den Himmel sehen. Die Menschen, die hier überlebt haben, mussten die Stadt verlassen und leben jetzt in Notquartieren auf dem Land.

Mein Vater geht auf die Bauarbeiter zu und grüßt mit erhobenem rechtem Arm. Er sagt etwas zu ihnen, und die Arbeiter lachen. Er verlässt die Baustelle und biegt in die Eisenbahnstraße ein. Vor dem Schaufenster einer Buchhandlung bleibt er erneut stehen. Sein Blick schweift über die Auslage. Nordische Märchen- und Heldensagen sind dekoriert mit Dolchen und Hakenkreuzfahnen.

Heute hat er es wirklich nicht eilig. Einer Frau, die neben ihm steht, fällt ein Handschuh auf den Gehweg. Er bückt sich und überreicht ihn ihr lächelnd. Dann sieht er auf seine Armbanduhr und beschleunigt seinen Schritt

Er betritt das Haus in der Gutenbergstraße. Ich verberge mich wieder in einem Hauseingang. Das klotzige Bauwerk liegt schräg gegenüber. Alle Fenster sind verschlossen und vergittert. Und über mir wölbt sich der weite graue Himmel. Worauf warte ich hier eigentlich? Ich lausche, ich beobachte, ich phantasiere … Aber nichts Ungewöhnliches geschieht. Doch ich will noch bleiben, weiter geduldig warten. Jedes Gefühl für Zeit geht dabei verloren.

Plötzlich zucke ich zusammen. Im Keller des Hauses gegenüber wird ein Fenster schräg gestellt.

»Man bekommt ja hier keine Luft«, sagt eine fremde Stimme.

»Du hast recht. Hier stinkt es wirklich bestialisch.« Das ist doch die Stimme meines Vaters! Was macht er dort unten im Keller? Sein Büro ist doch im ersten Stock. Ich will unbedingt wissen, was da unten vor sich geht. Aber selbst wenn ich den Hals lang mache: Ich kann nichts sehen. Die Stimmen entfernen sich. Alles ist wieder ruhig. Ein schwarzes Auto fährt vor. Dieses Mal steigt niemand aus. Die Tür des Hauses öffnet sich weit. Zwei Uniformierte treten hinaus. Sie schleppen ein Bündel Mensch zum Auto. Die Haare sind abrasiert, das Gesicht blutig, verquollen. Ich erkenne ihn trotzdem.

Mein Vater verlässt nach ihnen das Gebäude, und ich höre, dass er etwas zu den beiden Männern sagt. Doch ich verstehe nicht, was. Ich sehe nur, dass sie den Jungen nicht mehr ganz so grob anfassen, Papa reicht ihm sogar ein Taschentuch. Er hat mir doch versprochen, dass sie dem Jungen nichts tun! Ein ernstes Wörtchen wollten sie mit ihm reden, mehr nicht. Dass sie ihn verprügelt haben, damit hat er garantiert nichts zu tun!

Der Geschmack von Schuld brennt trotzdem auf meiner Zunge. Ich schäme mich. Natürlich ist der Junge ein Abweichler, und jemand muss ihn auf den richtigen Kurs bringen. Dafür ist die Polizei schließlich da. Und trotzdem … Nicht so. Das kann nicht richtig sein. Das kann auch nicht nach dem Gesetz sein, wie mein Vater immer betont.

Wie betäubt laufe ich heim. Um mich herum geht das Leben weiter. Eine Mutter schimpft mit ihrem Kind, aus einem Gemüseladen dringt Stimmengewirr, irgendwo läuten Kirchenglocken, ein Auto hupt, ein Radfahrer fährt klingelnd vorbei.

 

In meinem Zimmer gehe ich ruhelos umher. Ich mag kein Licht machen, nicht nur wegen der Verdunklung. Ich möchte mich nicht im Spiegel sehen. Ich habe Angst, dass das blasse Gesicht des Jungen sich darüber legt. Dass es mich so verunstaltet ansieht. Ich schaue aus dem Fenster, als könnte ich dort in dem ruhigen Dämmerlicht eine Erklärung für das alles finden. Mein Blick schweift in Richtung Geheimbriefkasten – und ich kneife meine Augen zusammen.

Ist das dort nicht Herr Berning? Der Mann in der beigen Jacke verschwindet zwischen den Bäumen. Außerdem versperren mir jetzt Häuser die Sicht. Aber ich könnte schwören, dass er es war: die gleiche Statur, der leicht hinkende Gang.

Was tut er da? Ist er etwa der »geheime Bote«?