|43|DRITTES KAPITEL

 

Jonathan Harkers Tagebuch

(Fortsetzung)

 

Als ich zu der Erkenntnis gekommen war, ein Gefangener zu sein, ergriff mich eine Art Raserei. Ich rannte die Stiegen hoch und runter, probierte jede Tür und spähte zu jedem Fenster hinaus, das mir erreichbar war, aber bald überkam mich das Bewusstsein meiner vollkommenen Hilflosigkeit. Wenn ich jetzt nach ein paar Stunden zurückblicke, so scheint es mir, dass ich wirklich verrückt gewesen sein muss, denn ich habe mich wie eine Ratte in der Falle benommen. Nachdem ich dann aber meine verzweifelte Lage eingesehen hatte, setzte ich mich ruhig nieder – so ruhig, wie ich nur je etwas in meinem Leben getan habe – und sann darüber nach, was nun am besten zu tun wäre. Darüber denke ich immer noch nach, und bis jetzt bin ich noch zu keinem Resultat gekommen. Eines aber weiß ich gewiss: Es wäre vollkommen widersinnig, mir vor dem Grafen von meinen Plänen etwas anmerken zu lassen. Er weiß recht wohl, dass er mich gefangen hält, und da er selbst es tut und seine eigenen Beweggründe dafür haben wird, würde er mir höchstens Schwierigkeiten in den Weg legen, wenn ich ihm etwas von meinen Absichten sagen würde. Soweit ich es bis jetzt beurteilen kann, ist es das Beste, ich lasse nichts von meinen Erfahrungen und Befürchtungen verlauten und halte die Augen offen. Ich werde entweder wie ein kleines Kind von meiner Angst getäuscht oder ich befinde mich in einer verzweifelten Klemme. Ist Letzteres der Fall, so muss ich unbedingt meinen ganzen Verstand daransetzen, wieder herauszukommen.

Kaum war ich zu diesem Entschluss gelangt, da hörte ich, wie sich unten die schwere Tür schloss: Der Graf war wieder zurück. |44|Da er aber nicht zu mir in die Bibliothek kam, ging ich leise in mein Zimmer und traf ihn gerade an, wie er mein Bett in Ordnung brachte. Das war nun sehr merkwürdig, aber es bestätigte mir nur, was ich schon die ganze Zeit vermutet hatte: dass es nämlich gar keine Dienstboten im Hause gab! Als ich ihn dann später durch eine Türspalte das Dinner auftragen sah, war ich meiner Sache sicher, denn wenn er diese häuslichen Verrichtungen alle selbst besorgt, so steht doch außer Zweifel, dass er eben niemanden dafür hat. Ein jäher Schreck durchfuhr mich, denn wenn niemand sonst im Hause war, dann musste der Graf selbst auch das Fuhrwerk gelenkt haben, das mich hierhergebracht hatte. Ein scheußlicher Gedanke, denn hatte er nicht auch Gewalt über die Wölfe gehabt und ihnen mit einem Wink seiner Hand Ruhe befohlen? Warum hatten die Leute in Bistritz und meine Reisegefährten eine so lebhafte Sorge um mich gehabt? Was bedeutete es, dass man mir das Kruzifix, Knoblauch, wilde Rosen und Ebereschenzweige schenkte? Wie dankbar bin ich der guten alten Frau, die mir den Rosenkranz um den Hals gehängt hat; es ist ein Trost und eine Stärkung für mich, ihn zu berühren. Seltsam, dieses Ding, welches ich bisher mit einer gewissen Missachtung als götzendienerisches Symbol zu betrachten gewohnt war, bringt mir nun Hilfe in meiner Einsamkeit und Not. Liegt das an der Beschaffenheit des Dinges selbst oder ist es nur das Medium, das eine trostreiche Erinnerung an das Mitgefühl der Geberin wachruft? Später einmal, wenn es mir noch möglich sein sollte, muss ich diese Sache eingehend studieren und mir Aufklärung darüber verschaffen. Vorerst gilt es, alles auszukundschaften, was den Grafen Dracula betrifft und was mir das Verständnis seines Wesens ermöglichen kann. Heute Abend muss er mir Rede und Antwort stehen, wenn ich das Gespräch auf diese Dinge lenke. Allerdings heißt es, äußerst vorsichtig sein, um seinen Verdacht nicht zu wecken.

 

|45|Mitternacht

Ich habe ein sehr langes Gespräch mit dem Grafen geführt. Ich fragte ihn einiges über die Geschichte seines Geschlechtes und Transsilvaniens, und er wurde bei diesem Thema auffallend warm. Seine Erzählungen von Personen, Ereignissen und insbesondere Schlachten waren so lebhaft, dass man hätte glauben können, er hätte alles selbst erlebt. Er erklärte dies so: Der ganze Stolz eines Bojaren besteht im Ruhm seines Hauses und seines Namens – ihr Ruhm ist sein Ruhm, ihr Schicksal ist sein Schicksal. Wann immer der Graf von seinem Geschlecht erzählte, sagte er »wir«, und auch von sich selbst redete er im Plural, ganz wie ein König. Ich bedauere, dass ich hier nicht alles genau so niederlegen kann, wie er es erzählte, denn es war äußerst faszinierend. Die ganze Geschichte seines Landes schien er vor mir aufzurollen. Er sprach immer erregter und ging im Zimmer umher, wobei er seinen langen, weißen Schnurrbart strich und seine starken Hände auf verschiedene Gegenstände legte, als wolle er sie zerdrücken. Eines aber, was mir besonders im Gedächtnis haften blieb, möchte ich so wörtlich wie möglich wiedergeben; es enthüllt mehr als alles andere die Geschichte seines Geschlechtes:

»Wir Szekler sind zurecht stolz, denn in unseren Adern fließt das Blut so manches tapferen Volkes, das wie ein Löwe um die Macht gekämpft hat. Hierher, in den Wirbel der europäischen Rassen trug der ugrische Stamm von Island den wilden Kampfgeist herunter, den Wotan und Thor ihm eingepflanzt hatten. Sie überschwemmten als gefürchtete Berserker die Küsten Europas, und die von Asien und Afrika dazu, sodass die Völker dachten, ein Heer von Werwölfen wäre über sie hereingebrochen. Als sie in dieses Land kamen, trafen sie mit den Hunnen zusammen, deren grausame Kriegslust wie eine lodernde Fackel über die Erde gefegt war, und von denen die sterbenden Nationen sich erzählten, sie wären Nachkommen jener Hexen, die einst, aus dem Skythenland vertrieben, sich in der Steppe mit Teufeln gepaart hätten. |46|Welche Narren, welche Narren! Welcher Teufel, welche Hexe wäre je so mächtig gewesen wie Attila, dessen Blut auch in diesen Adern kreist?« Er streckte seine Arme aus. »Ist es da ein Wunder, dass wir ein Stamm von Eroberern, dass wir stolz sind? Wo wir die Horden der Magyaren, der Lombarden, der Awaren, der Bulgaren und der Türken, die zu Tausenden gegen unsere Grenzen brandeten, zurückgetrieben haben? Ist es verwunderlich, dass, als Arpad1 mit seinen Legionen das ungarische Land überschwemmte, er nur bis an unsere Grenzen kam, wo er auf uns traf und die Honfoglalás ein Ende hatte?2

Als die Flut der Ungarn weiter nach Osten schwappte, sahen die siegreichen Magyaren uns Szekler als Verwandte, und uns ward für Jahrhunderte der Schutz der Grenze gegen die Türken anvertraut – was keine leichte Aufgabe war, denn, wie der Türke sagt: ›Das Wasser schläft, aber der Feind schläft nie!‹ Niemand unter den Vier Nationen**nahm das blutige Schwert freudiger auf als wir, niemand eilte geschwinder zur Standarte des Königs, wenn zu den Waffen gerufen wurde! Dann kam die große Schmach unseres Volkes, die Schmach von Cassova. Wer war es, der als Woiwode die Donau überschritt und die Türken auf eigenem Boden schlug, als die Banner der Walachen und Magyaren vor dem Halbmond in den Staub sanken? Wer anders als einer meines Geschlechtes, ein Dracula! Als er jedoch gefallen war, da verkaufte sein eigener unwürdiger Bruder das Volk an die Türken zu schmachvoller Knechtschaft. Dann aber war es wieder jener Geist des ersten Dracula, der einen Späteren seines Geschlechts über den breiten Strom gehen und ins Land der Türken einfallen ließ, immer und immer wieder. Wurde er auch zurückgetrieben, wurde sein Heer auch vernichtet und kehrte er auch als Einziger zurück, so griff er dennoch wieder an, denn er wusste, dass nur er allein den Sieg erzwingen konnte. Manche behaupteten, er hätte nur an |47|sich gedacht! Pah, wozu taugen Bauern denn ohne einen Herren? Wie soll denn ein Feldzug gelingen, ohne einen Kopf und ein Herz, ihn zu führen? Nun, als wir nach der Schlacht von Mohács3 das ungarische Joch abschüttelten, da waren wieder wir aus dem Blute der Dracula die Anführer, denn unser stolzer Geist konnte das Bewusstsein nicht ertragen, unfrei zu sein. Ja, junger Herr, die Szekler und die Draculas als ihr Herzblut, ihr Hirn und ihr Schwert können sich einer Vergangenheit rühmen, an die diese Emporkömmlinge von Romanows oder Habsburgern niemals heranreichen werden! – Aber heute sind die kriegerischen Zeiten vorbei. Blut ist ein zu kostbares Ding in diesen Tagen des ehrlosen Friedens, und der Ruhm großer Geschlechter ist nur noch ein Märchen, das man sich erzählt …«

Darüber war schon fast wieder der Morgen angebrochen, und wir gingen zu Bett. (Anm.: Das Tagebuch ähnelt erschreckend den Erzählungen aus »Tausendundeiner Nacht«, denn immer bricht es mit dem ersten Hahnenschrei ab. Ganz ähnlich auch wie der Geist von Hamlets Vater.)

 

12. Mai

Ich will mit Tatsachen beginnen, reinen, nackten Tatsachen, die durch Bücher und Zahlen belegt sind und an denen nicht gezweifelt werden kann. Ich darf sie nicht mit eigenen Beobachtungen und Erfahrungen vermischen. Als der Graf am letzten Abend aus seinem Zimmer kam, begann er mich sofort über juristische Dinge auszufragen und über die Schritte, die er zur Ausführung seiner Absicht zu tun habe. Ich hatte den ganzen Tag fleißig über den Büchern verbracht und war, um nicht unbeschäftigt zu sein, auf die Idee gekommen, einiges zu wiederholen, was mir bei der Prüfung in Lincoln’s Inn4 vorgelegt worden war. |48|Es lag eine eigene Methode in den Fragen des Grafen, und ich werde deshalb versuchen, sie möglichst der Reihe nach wiederzugeben; vielleicht sind mir diese Notizen irgendwo und irgendwann von Nutzen.

Zuerst fragte er mich, ob es in England gestattet sei, zwei oder mehr Sachwalter für seine Geschäfte zu haben. Ich sagte ihm, er könne ein ganzes Dutzend anstellen, wenn es ihm beliebe, aber dass es nicht sehr klug wäre, mehr als einen Advokaten in seiner Angelegenheit zu engagieren, denn es könne doch immer nur einer wirklich tätig sein, und ein Wechsel würde seinen Interessen direkt zuwiderlaufen. Er schien mich vollkommen zu verstehen und fragte weiter, ob es wohl dann zweckmäßig wäre, einen Anwalt für Geldsachen und einen anderen für Auswärtiges zu bestellen, falls irgendwo in größerer Entfernung ein lokales Eingreifen nötig wäre. Ich bat ihn, sich klarer auszudrücken, damit ich ihn nicht aufgrund eines Missverständnisses falsch berate. Er sagte darauf:

»Ich will es durch ein Beispiel illustrieren. Unser gemeinsamer Freund, Mr. Peter Hawkins, kauft von seinem Büro im Schatten Ihrer herrlichen Kathedrale von Exeter mit Ihrer freundlichen Mithilfe für mich ein Grundstück in London. Gut. Sie können nun einwerfen, dass ich auch einen Anwalt hätte nehmen können, der in London selbst wohnt; ich muss Ihnen aber offen gestehen, dass mir daran gelegen war, dass mein Bevollmächtigter durch absolut nichts anderes geleitet werden sollte als durch meine speziellen Wünsche. Und weil es ja nicht ausgeschlossen ist, dass ein Londoner Advokat seine oder seiner Freunde Interessen im Auge hat, beschloss ich, mir einen Anwalt aus der weiteren Umgebung von London zu wählen, dessen Tätigkeit sich allein nach meinen Interessen richtet. Nun nehmen wir einmal an, ich wollte Güter per Schiff nach Newcastle, Durham, Harwich oder Dover transportieren lassen – was bei der Ausdehnung meiner Geschäfte nicht ausgeschlossen ist. Wäre es da nicht besser, meine Angelegenheiten durch einen am betreffenden Ort ansässigen |49|Agenten besorgen zu lassen?« Ich erwiderte, dass die Sache ohne Zweifel ihre guten Seiten hätte, aber auch, dass wir Advokaten einen Interessenverband bildeten, wobei einer für den anderen die Erledigung lokaler Angelegenheiten übernimmt. Für seinen Zweck würde es daher genügen, seinen Anwalt einfach mit der Sache zu beauftragen; die betreffenden Wünsche würden dann auf dem genannten Wege erfüllt.

»Ganz recht«, antwortete er, »aber ich habe in England doch wohl auch die Freiheit, meine Geschäfte gänzlich alleine zu führen, nicht wahr?«

»Allerdings«, entgegnete ich »Auf diese Weise agieren bevorzugt Geschäftsleute, die die Kenntnis der Gesamtheit ihrer Unternehmungen keiner anderen Person anvertrauen wollen.«

»Gut«, sagte er und erkundigte sich dann weiter nach der Art, wie man am besten Schiffstransporte organisiere und welche Formalitäten zu erfüllen wären. Er erwog die Schwierigkeiten, auf die sein Unternehmen eventuell stoßen könnte, und wie solchen am vorteilhaftesten zu begegnen wäre. Ich klärte ihn nach meinem besten Wissen über alle diese Dinge auf und gewann schließlich den Eindruck, dass er selbst einen vorzüglichen Advokaten abgegeben hätte, denn es gab nichts, woran er nicht gedacht, was er nicht in den Kreis seiner Erwägungen mit einbezogen hätte. Dafür, dass er noch nie in meinem Land gewesen und offenbar wenig mit derartigen Geschäftsangelegenheiten zu tun gehabt hatte, waren seine Kenntnisse und sein Scharfsinn geradezu erstaunlich. Als er sich über alles, was er wissen wollte, hinreichend informiert zu haben schien und ich meine Angaben anhand der verfügbaren Bücher so gut wie möglich überprüft hatte, stand er plötzlich auf und fragte:

»Haben Sie seit Ihrem ersten Brief noch einmal an unseren Freund Mr. Peter Hawkins geschrieben, oder an jemand anderen?« Mit einer gewissen Verbitterung antwortete ich, dass dies noch nicht geschehen wäre, da ich zur Absendung von Briefen bisher noch keine Gelegenheit gehabt hätte.

|50|»Dann schreiben Sie gleich jetzt, mein junger Freund«, sagte er, indem er seine Hand schwer auf meine Schulter legte. »Schreiben Sie an unseren Freund und an wen Sie wollen und teilen Sie mit, dass Sie wenigstens noch einen Monat hier zu verweilen gedenken.«

»Wollen Sie denn ganz sicher, dass ich noch so lange bleibe?«, fragte ich, und es überlief mich kalt bei diesem Gedanken.

»Ich wünsche es nicht nur, ich würde es Ihnen sogar übelnehmen, wenn Sie früher fortwollten. Wenn Ihr Vorgesetzter und, wenn Sie wollen, Arbeitgeber jemanden zu seiner Vertretung schickt, so glaube ich doch wohl, dass in erster Linie meine Bedürfnisse berücksichtigt werden. Schließlich bin ich kein knauseriger Klient, nicht wahr?«

Was konnte ich da anderes tun als zustimmen? Schließlich war es Mr. Hawkins’ Geschäft, nicht meines, und ich musste als sein Vertreter an ihn denken, nicht an mich. Außerdem lag in Draculas Augen und in seinem Benehmen etwas, was mich daran erinnerte, dass ich sein Gefangener war und dass mir ja doch keine Wahl blieb. Der Graf erkannte seinen Sieg in meiner zustimmenden Verbeugung und in der Erregung meiner Gesichtszüge, denn er fuhr in seiner verbindlichen, aber keinen Widerspruch duldenden Art fort:

»Ich bitte Sie, lieber junger Freund, in Ihren Briefen nur Geschäftliches zu berühren. Ansonsten wird es Ihren Freunden ohne Zweifel lieb sein zu erfahren, dass es Ihnen gutgeht und dass Sie sich darauf freuen, sie bald wiederzusehen. Ist es nicht so?« Während er dies sagte, gab er mir drei Briefbogen und drei Kuverts. Sie waren von feinstem, fast durchsichtigen Überseepapier. Ich sah auf die Briefbogen und dann auf ihn und bemerkte sein ruhiges Lächeln, das die spitzen weißen, über die Unterlippe ragenden Eckzähne entblößte. Mir wurde klar, dass ich aufpassen muss, denn er wird alles lesen, was ich schreibe. Ich beschloss daher, Mr. Hawkins und Mina nur einige förmliche Zeilen zu schreiben, insgeheim aber den beiden auch noch ausführliche |51|Briefe zu schicken. An Mina konnte ich zudem in Kurzschrift schreiben, was den Grafen vor ein Rätsel stellen dürfte, sollte der Brief dennoch in seine Hände fallen. Als ich meine zwei offiziellen Briefe fertig hatte, saß ich eine Weile still und las in einem Buch, während der Graf mehrere Schreiben verfasste, für die er häufig die vor ihm liegenden Bücher konsultierte. Dann nahm er meine beiden Briefe und legte sie zu den seinen. Nachdem er das Schreibzeug wieder in Ordnung gebracht hatte, verließ er das Zimmer, und ich benutzte rasch die Gelegenheit, nach den Adressen seiner Briefe zu sehen, die umgekehrt auf dem Tisch lagen. Ich machte mir kein schlechtes Gewissen aus diesem Vertrauensbruch, denn unter den gegebenen Umständen hielt ich alles für erlaubt, wodurch ich mich vielleicht retten konnte. Der eine war an Mr. Samuel F. Billington, No. 7, The Crescent, Whitby, der andere an Herrn Leutner, Varna, gerichtet; der dritte trug die Adresse: Coutts & Co., London, der vierte die der Bankiers Kloppstock & Billreuth, Budapest. Der zweite und der vierte Brief waren noch nicht geschlossen. Eben wollte ich nach ihrem Inhalt sehen, da bemerkte ich, dass sich die Türklinke bewegte. Rasch ließ ich mich auf meinen Stuhl zurückfallen, nachdem ich gerade noch Zeit gehabt hatte, die Briefe wieder in ihre ursprüngliche Ordnung zu bringen und mein Buch zu ergreifen. Schon trat der Graf ins Zimmer, einen weiteren Brief in der Hand. Er nahm die anderen Briefe vom Tisch, verschloss sie sorgfältig und wandte sich dann an mich:

»Ich hoffe, Sie werden es mir nicht verübeln, aber ich habe heute Abend in dringenden Privatangelegenheiten zu tun. Sie werden, denke ich, alles finden, was Sie brauchen.« An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte nach einer kurzen Pause:

»Lassen Sie sich raten, lieber junger Freund – nein, lassen Sie sich lieber in allem Ernst davor warnen, in einem anderen Teil der Burg zu schlafen, falls Sie die Absicht haben, einmal diese Räume zu verlassen. Die Burg ist alt und hat eine seltsame Vergangenheit; schlechte Träume haben die, welche sich unvorsichtig verhalten. |52|Also seien Sie gewarnt! Sollte Sie irgendwann der Schlaf übermannen, so eilen Sie sofort in Ihr Zimmer oder in eines dieser Gemächer, dann ist Ihre Ruhe gesichert. Sind Sie aber unvorsichtig in dieser Beziehung, dann …« Er schloss seine Rede in unheimlicher Weise, indem er seine Hände rieb, als würde er sich waschen. Ich verstand ihn vollkommen, aber ich zweifelte daran, dass irgendein Traum scheußlicher sein konnte als dieses unnatürliche, grauenhafte Netz von Geheimnissen, das sich um mich zusammenzuziehen scheint.

 

Später am selben Abend

Ich bestätige meine oben stehenden letzten Worte, denn jetzt kann kein Zweifel mehr bestehen. Ich werde mich aber nicht fürchten, woanders zu nächtigen, wenn nur er nicht dort ist. Den Rosenkranz habe ich jetzt über meinem Bett aufgehängt, und dort soll er bleiben – ich hoffe, dass mein Schlaf so freier von Träumen ist.

Als der Graf mich verlassen hatte, zog ich mich zunächst in mein Zimmer zurück. Nach einer kleinen Weile aber, als ich keinen Laut mehr hörte, verließ ich es wieder und ging die steinernen Stufen bis zu dem Raum hinauf, von dem aus man einen Ausblick nach Süden hat. Ich musste dringend ein paar Atemzüge frischer Luft bekommen, und wäre es auch nur die der Nacht über der Burg. Die weite Ebene schien mir ein Bild der Freiheit, die mir unerreichbar ist – ein schmerzlicher Gegensatz zur dunklen Enge des Burghofes. Wann immer ich auf diesen hinuntersah, hatte ich tatsächlich das Gefühl, ein Gefangener zu sein. Ich fühle, dass diese Nachtexistenz mir schadet, dass sie meine Nerven angreift. Ich erschrecke vor meinem eigenen Schatten und habe die schrecklichsten Gesichte – Gott weiß, dass an diesem verwünschten Ort Grund zu jeglicher Sorge gegeben ist. Ich sah also hinaus in die von sanftem, gelblichem Mondschein durchflutete, wundervolle Weite. In dem ungewissen Licht verschwammen die Umrisse der fernen Hügel, und die |53|Schatten in den Tälern und Schluchten waren von samtartiger Schwärze. Der Anblick dieser Schönheit gab mir Mut, und mit jedem Atemzug sog ich Frieden und Trost ein. Als ich mich darauf aber leicht aus dem Fenster lehnte, wurde mein Blick durch etwas gefesselt, das sich ein Stockwerk tiefer, links von mir bewegte; nach der Lage der Zimmer mussten sich hier die Fenster des Grafen befinden. Das Fenster, an dem ich stand, war groß und ebenso tief wie die dicken Mauern. Auch hatte es einen steinernen Pfosten und war, obgleich verwittert, dennoch ganz gut erhalten. Ich versteckte mich also hinter dem Mauerwerk und spähte angestrengt hinaus.

Das Erste, was ich bemerkte, war der Kopf des Grafen, der sich aus dem Fenster reckte. Zwar konnte ich das Gesicht nicht sehen, aber ich erkannte den Nacken und die Bewegungen des Rückens und der Arme. Der letzte Zweifel schwand schließlich, als ich die Hände erkannte, die zu studieren ich ja schon reichlich Gelegenheit gehabt hatte. Zuerst blickte ich nur voller Interesse hinaus, beinahe belustigt, denn es ist eigenartig, welche Kleinigkeiten einen Gefangenen interessieren und belustigen können. Aber diese Gefühle verwandelten sich in Abscheu und Entsetzen, als ich sah, wie sich der ganze Körper aus dem Fenster zwängte und, mit dem Kopf nach unten, an der Burgmauer über den fürchterlichen Abgrund hinunterkletterte. Der Mantel umflatterte die Gestalt wie ein Paar großer Flügel. Zuerst wollte ich meinen Augen nicht trauen, ich dachte, es wäre eine Täuschung durch das Mondlicht oder irgendein Schattenspiel. Dann aber sah ich genauer hin: Nein, es war kein Irrtum möglich. Ich sah deutlich, wie sich seine Finger und Zehen in die Mauerritzen krallten, denen die Zeit den Mörtel herausgewaschen hatte. Er kletterte, indem er sich die kleinste Unebenheit zunutze machte, mit so beträchtlicher Geschwindigkeit abwärts wie eine Eidechse, die eine Mauer hinunterläuft.

Was ist das für ein Mensch, oder vielmehr, was ist das für eine Kreatur, die sich hier in Menschengestalt verbirgt? Das Entsetzen |54|vor diesem schrecklichen Ort überwältigt mich, ich fühle es, ich bin in Angst, in schrecklicher Angst, und ich sehe keinen Ausweg. Ich bin von Gefahren umgeben, die ich mir gar nicht vorstellen kann …

 

15. Mai

Erneut habe ich den Grafen auf Eidechsenart die Burg verlassen sehen. Er stieg schräg hinunter, wohl hundert Fuß tief und etwas nach links. Dann verschwand er in einer Höhle oder einem Fenster. Als sein Kopf nicht mehr sichtbar war, lehnte ich mich hinaus, um mehr zu sehen, aber ohne Erfolg – die Entfernung war zu groß, um aus meinem Blickwinkel noch etwas zu erkennen. Ich wusste aber, dass er die Burg verlassen hatte, und wollte diese Gelegenheit auszunutzen, um mehr herauszufinden, als mir bis jetzt gelungen war. Daher ging ich in mein Zimmer zurück, holte meine Lampe und probierte auf meiner Etage eine Tür nach der anderen. Sie alle waren, wie ich es nicht anders erwartet hatte, verschlossen, und die Schlösser waren verhältnismäßig neu. Daraufhin stieg ich die Steintreppe hinunter und gelangte in die große Halle, durch die ich in die Burg eingetreten war. Hier vermochte ich zwar die Riegel des Tores zurückzuschieben und die Ketten auszuhängen, aber das Tor war verschlossen und der Schlüssel fehlte. Er muss im Gemach des Grafen sein, es gilt also aufzupassen, wann dessen Tür einmal unverschlossen ist, sodass ich den Torschlüssel von dort holen und entfliehen kann. Ich unternahm dann eine gründliche Untersuchung der verschiedenen Treppen und Gänge, wobei ich jede Tür, auf die ich traf, zu öffnen versuchte. Einige kleine, an die Halle angrenzende Zimmer waren tatsächlich offen, aber es war nichts in ihnen zu finden als altes Mobiliar, grau, verstaubt und von Motten zerfressen. Schließlich entdeckte ich am Ende einer Treppe doch noch eine Tür, die zwar verschlossen war, die aber unter meinem Druck etwas nachzugeben schien. Ich versuchte es stärker und fand, dass sie nicht eigentlich verschlossen war; der Widerstand rührte daher, dass |55|die Türangeln sich gesenkt hatten und der Türflügel am Boden klemmte. Das war nun eine Gelegenheit, wie sie sich so schnell nicht wieder bieten mochte; ich nahm also meine ganze Kraft zusammen, und es gelang mir, die Tür zumindest so weit zu öffnen, dass ich hindurchschlüpfen konnte. Ich befand mich darauf in dem Flügel der Burg, der sich rechts von den mir bekannten Räumen hinzog, aber ein Stockwerk tiefer. Aus dem Fenster blickend erkannte ich, dass diese Zimmerreihe den südlichen Teil der Burg bilden musste. Das letzte Zimmer hatte Fenster nach Süden und Westen, nach beiden Richtungen hin blickte man jedoch in einen tiefen Abgrund. Die Burg ist offenbar auf einer Felszunge errichtet und von drei Seiten aus unzugänglich. In diesem Raum, wohin weder Schleudern noch Bogen oder Feldschlangen5 reichten, waren große Fenster angebracht; das Zimmer, das gegen keinen feindlichen Angriff gesichert werden musste, war licht und schön. Nach Westen hin dehnte sich ein weites Tal, und fern, ganz fern erhoben sich gezackte Felswälle, Gipfel an Gipfel. Die steilen Wände waren bewachsen mit Bergesche und Dorngestrüpp, deren Wurzeln sich in den Spalten und Rissen des Gesteins festklammerten. Hier war ich offenbar in dem vor langen Zeiten von Damen bewohnten Teil der Burg, denn die Möbel waren weit bequemer, als ich sie bisher gesehen hatte. Die Fenster waren ohne Vorhänge, und das gelbe Mondlicht flutete so hell durch die kristallklaren Scheiben, dass man sogar Farben erkennen konnte. Zugleich machte es den Staub, der über allem lag, weniger sichtbar und verwischte die Spuren der Zeit und der Motten einigermaßen. Mein Licht schien in dem glänzenden Mondschein nur schwach zu leuchten, aber ich war froh, dass ich es hatte, denn es lag eine schreckliche Einsamkeit über dem Raum, die mir das Herz zusammenzog. Allerdings war es mir hier immer noch wohler als allein in meinem eigenen Zimmer, das mir |56|durch die Gegenwart des Grafen verleidet worden war. Meine nervöse Erregung legte sich allmählich, und mich ergriff eine wohltuende Ruhe. So sitze ich nun an einem kleinen Eichentisch, an dem vor langen Zeiten vielleicht manche hübsche Dame mit vielen Gedanken und vielem Erröten unbeholfen einen Liebesbrief buchstabierte, und schreibe stenografisch in mein Tagebuch alles, was mir seit meiner letzten Eintragung passiert ist. Wir leben also wirklich im neunzehnten Jahrhundert? Wenn mich meine Sinne nicht trügen, so haben die vergangenen Jahrhunderte immer noch eine Macht, die auch unsere Modernität nicht zu besiegen vermag.

 

Später, am Morgen des 16. Mai

Gott schütze meinen Verstand, das ist alles, was ich noch sagen kann. Sicherheit und Sicherheitsgefühl sind für mich vergangene Dinge. Solange ich hier noch lebe, hoffe ich nur eines: dass ich nicht wahnsinnig werde – wenn ich es nicht schon bin. Bin ich aber noch bei Sinnen, dann ist der Gedanke geeignet, einen verrückt zu machen, dass von all den scheußlichen Dingen, die an diesem verhassten Ort spuken, der Graf noch lange nicht das schrecklichste ist. Nur bei ihm finde ich wohl Schutz, und sei es auch nur so lange, wie ich seinen Zwecken diene. Großer Gott, gnädiger Gott! Lass mich Ruhe bewahren, denn sonst ist der Wahnsinn mein Los. Einige Dinge, die mich bisher verwirrt hatten, erscheinen mir nun in einem neuen Licht. So hatte ich bis heute nicht verstanden, was Shakespeare meinte, wenn er Hamlet sagen ließ:

»Schreibtafel her, ich muss mir’s niederschreiben.

Dass einer lächeln kann, und immer lächeln,

Und doch ein Schurke sein …«6

|57|Aber jetzt, da ich mich fühle, als ginge mein Gehirn aus den Fugen, als hätte mich ein vernichtender Schlag getroffen, greife auch ich wieder zu meinem Tagebuch. Die strikte Gewohnheit, pünktlich meine Eintragungen zu machen, soll meine Angst etwas abschwächen.

Des Grafen mysteriöse Warnung hatte mich schon erschreckt, als er sie aussprach; noch mehr erschreckt sie mich jetzt, wenn ich daran denke, dass der Graf mich wohl in Zukunft in noch strengerem Gewahrsam halten wird. Ich werde mich hüten, noch einmal an seinen Worten zu zweifeln.

Als ich gestern mein Tagebuch beendet und Buch und Stift wieder in meine Tasche gesteckt hatte, überkam mich eine bleierne Müdigkeit. Die Warnung des Grafen fiel mir zwar ein, aber ich hatte Freude daran, ihr nicht zu entsprechen – es war der mit dem Gefühl der Schläfrigkeit oft verbundene Starrsinn, der mich so handeln ließ. Das sanfte Mondlicht wirkte beruhigend auf mich ein, und die weite Aussicht täuschte mir wohltuend die Freiheit vor. Ich beschloss daher, in dieser Nacht nicht zu meinen düsteren Gemächern zurückzukehren, sondern hier zu schlafen, wo vor Zeiten wohl die Burgfrauen gesessen und gesungen haben mochten, dem Müßiggang ergeben, während sie mit sehnsuchtsvoller Brust die Heimkehr ihrer Männer erwarteten, die draußen in grausamen Kriegen kämpften. Ich zog mir also einen großen Lehnstuhl aus einem Winkel hervor und stellte ihn so, dass ich liegend die herrliche Aussicht nach Süden und Osten genießen konnte; dann richtete ich mich, ohne an Weiteres zu denken und mich um den dicken Staub zu kümmern, zum Schlafen ein.

Ich vermute, dass ich auch wirklich eingeschlafen bin. Nein, ich hoffe es vielmehr, aber ich fürchte, es war doch nicht der Fall, denn das, was nun folgte, war so wirklich, so erschreckend lebendig, dass ich jetzt im vollen Morgenlicht nicht glauben kann, das alles nur geträumt zu haben.

Ich war plötzlich nicht mehr allein. Das Zimmer war dasselbe, |58|völlig unverändert, genauso wie ich es betreten hatte. Ich konnte auf dem Boden sogar die Fußspuren erkennen, die ich selbst in der langjährigen Staubschicht hinterlassen hatte. Aber im klaren Mondlicht standen mir auf einmal drei junge Frauen gegenüber, ihrer Kleidung und ihrer Haltung nach vornehme Damen. Als ich sie bemerkte, glaubte ich zunächst zu träumen, denn obwohl der Mond in ihrem Rücken stand, warfen sie keinen Schatten. Sie näherten sich, betrachteten mich eine Weile und flüsterten dann miteinander. Zwei von ihnen waren dunkelhaarig und hatten ausgeprägte Gesichtszüge, die entfernt an den Grafen erinnerten, sowie große und durchdringende Augen, die im fahlen Mondlicht beinahe rot aussahen. Die Dritte war wunderschön, so schön, wie man es sich nur vorstellen kann, mit dichten, goldenen Locken und Augen wie hellen Saphiren. Ich meinte, ihr Gesicht schon einmal gesehen zu haben, und zwar in einem Albtraum, aber es wollte mir nicht einfallen, wann und in welchem Zusammenhang dies gewesen sein mochte. Alle drei hatten blendend weiße Zähne, die wie Perlen zwischen dem Rubinrot ihrer sinnlichen Lippen hervorglänzten. Bei alldem hatten sie etwas an sich, das mir Unbehagen verursachte; es zog mich zu ihnen hin, und dennoch fürchtete ich mich. Mein Herz überkam ein verwerfliches aber brennendes Verlangen, von ihren roten Lippen geküsst zu werden … Nur ungern schreibe ich dies hier nieder, da Mina diese Zeilen vielleicht einmal lesen und Schmerz darüber empfinden könnte, aber es ist die Wahrheit. Die drei flüsterten miteinander, und dann lachten sie ein silbernes, klangvolles Lachen, das aber so hart war, dass man unmöglich glauben konnte, diese metallischen Klänge kämen von zarten menschlichen Lippen. Es war wie das unerträgliche, schrille Sirren, das Wassergläser hervorbringen, wenn man ihren Rand reibt. Das schöne Mädchen schüttelte kokett ihre Locken, und die beiden anderen drängten sie an mich heran. Eine der Dunklen sagte:

»Nun los, du bist die Erste, wir schließen uns dann an. Du hast das Recht anzufangen!« Die andere fügte hinzu:

|59|»Er ist jung und stark, das gibt Küsse für uns alle.« Ich lag still und blinzelte nur unter meinen Lidern hervor, halb in Todesangst, halb in verzückter Erwartung. Das schöne Mädchen kam zu mir heran und beugte sich über mich, bis ich ihren Atem fühlte. Er war süß, honigsüß, und jagte mir dieselben Schauer durch die Adern wie ihr Lachen. Aber dennoch war da zugleich etwas anderes, Bitteres, leicht Abstoßendes, was mich anwehte und mich an den Geruch von Blut erinnerte.

Ich fürchtete mich, die Augen zu öffnen, konnte aber durch die halb geschlossenen Lider sehr gut sehen. Das schöne Mädchen ging vor mir auf die Knie und beugte sich mit schelmischer Häme über mich. Ihre vorsätzliche Wollust war anziehend und abstoßend zugleich, als sie ihren Nacken beugte, leckte sie sich ihre Lippen wie ein Tier, sodass ich im Licht des Mondes die Feuchtigkeit auf ihrem roten Mund, ihrer Zunge und ihren weißen Zähnen erglänzen sah. Immer tiefer beugte sie sich herab, streifte meinen Mund und mein Kinn, um sich meinem Hals zu nähern, an dem ich gleich darauf ihren heißen Atem verspürte. Dann hielt sie inne, und ich konnte buchstäblich hören, wie ihre Zunge über ihre Lippen und ihre Zähne strich. Ich spürte, dass ich eine Gänsehaut bekam, ganz wie es passiert, wenn eine Hand, die einen kitzeln will, näher kommt, und immer näher … Dann fühlte ich die zarte, zitternde Berührung ihrer weichen Lippen auf der überempfindlichen Haut meiner Kehle, worauf mich die harten Spitzen zweier scharfer Eckzähne leicht berührten, um auf meiner Haut zu verharren. Ich schloss die Augen in schlaffer Verzückung und wartete – wartete mit klopfendem Herzen.

Auf einmal durchfuhr mich blitzartig eine ganz andere Empfindung: Ich spürte die Nähe des Grafen, und ich wusste zugleich, dass er vor Wut raste. Unwillkürlich öffnete ich die Augen und erblickte tatsächlich seine Hand, die den schlanken Nacken der Schönen gepackt hatte und sie mit Riesenkräften von mir wegriss. Ihre blauen Augen sprühten wütende Funken, ihre weißen Zähne knirschten, und ihre Wangen glühten vor Leidenschaft. |60|Aber erst der Graf! Nie zuvor hätte ich mir einen solchen Furor vorstellen können, er war der reinste Höllendämon! Aus seinen Augen schossen Flammen, die so rot waren, als ob die Glut des Höllenfeuers hinter ihnen loderte. Sein Gesicht hingegen war totenbleich, seine Züge hart wie Stahl. Die dicken Augenbrauen, die sich über der Nase trafen, wirkten wie ein Block aus weißglühendem Metall. Mit einer fürchterlichen Armbewegung schleuderte er das Mädchen von sich und fuhr zu den anderen beiden herum mit Gesten, als ob er sie zurücktreiben wollte. Es waren dieselben gebieterischen Armbewegungen, wie er sie den Wölfen gegenüber angewandt hatte. Mit einer Stimme, die, obgleich leise und fast geflüstert, dennoch die Luft zu durchschneiden und an den Wänden widerzuhallen schien, sagte er:

»Wie könnt ihr es wagen, ihn anzurühren? Wie könnt ihr es wagen, eure Augen auf ihn zu werfen, wo ich es verboten habe? Zurück, sage ich euch! Dieser Mann gehört mir! Wehe, ihr mischt euch noch einmal ein, dann bekommt ihr es mit mir zu tun!« Das schöne Mädchen wandte sich mit einem derben, koketten Lachen zu ihm:

»Du selbst hast doch nie geliebt, und du wirst nie lieben!« Sogleich stimmten die beiden anderen Frauen in ihr Lachen ein, und es erschallte ein so trauriges, hartes, seelenloses Lachen, dass mir fast die Sinne schwanden – es klang wie das Lachen von Teufeln. Der Graf aber sah mich aufmerksam an, dann drehte er sich um und flüsterte ihnen zu:

»Doch, auch ich kann lieben, ihr selbst solltet euch noch daran erinnern können, nicht wahr? Nun, ich verspreche euch, wenn ich mit ihm fertig bin, könnt ihr mit ihm machen, was ihr wollt. Jetzt aber geht, fort mit euch! Ich muss ihn aufwecken, es gibt viel zu tun!«

»Sollen wir denn heute Nacht gar nichts bekommen?«, entgegnete eine von ihnen mit einem dunklen Lachen, während sie auf ein Bündel wies, das der Graf auf den Boden geworfen hatte und das sich bewegte, als enthielte es etwas Lebendiges. Statt einer |61|Antwort nickte er nur. Eine der Frauen sprang auf das Bündel zu und öffnete es. Wenn meine Ohren mich nicht täuschten, so vernahm ich das Keuchen und leise Wimmern eines halb erstickten Kindes. Die anderen beiden Frauen drängten hinzu, während ich vor Entsetzen erstarrte. Als ich im nächsten Moment jedoch wieder zu ihnen herübersah, waren sie mitsamt dem fürchterlichen Bündel verschwunden. Es befand sich keine Tür in ihrer Nähe, und an mir konnten sie nicht vorbeigekommen sein, ohne dass ich es bemerkt hätte – sie schienen einfach in den Strahlen des Mondes zerflossen und durch das Fenster entwichen zu sein, denn ich konnte außen noch einen kurzen Augenblick ihre unbestimmten, schattenhaften Umrisse erkennen, bevor diese sich vollkommen auflösten.

Dann überwältigte mich das Grauen, und ich verlor das Bewusstsein.