|238|DREIZEHNTES KAPITEL

 

Dr. Sewards Tagebuch

(Fortsetzung)

 

Die Beerdigung war für den übernächsten Tag arrangiert, um Lucy gemeinsam mit ihrer Mutter zu Grabe zu tragen. Ich erledigte die leidigen Formalitäten, und der weltgewandte Bestattungsunternehmer sandte Leute, die ihm in dienstbarer Höflichkeit in nichts nachstanden. Sogar die Frau, die die Verstorbene wusch, sagte, als sie das Zimmer der Toten verließ, in vertraulicher, professionell-kollegialer Weise zu mir:

»Sie ist eine wunderschöne Leiche, Herr Doktor. Es ist eine wahre Auszeichnung, ihr den letzten Dienst zu erweisen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass sie unserem Unternehmen zur Ehre gereicht.«

Es fiel mir auf, dass sich van Helsing niemals allzu weit von der Toten entfernte, was ihm aufgrund der allgemein aus den Fugen geratenen Verhältnisse des Hauses auch nicht schwerfiel. Verwandte waren nicht anwesend, und da auch Arthur bereits am nächsten Tag zurück musste, um dem Begräbnis seines Vaters beizuwohnen, waren wir nicht in der Lage, irgendjemanden zu benachrichtigen und zum Begräbnis zu laden. Unter diesen Umständen unternahm ich es gemeinsam mit van Helsing, die hinterlassenen Papiere zu inspizieren. Er bestand dabei ausdrücklich darauf, Lucys Papiere höchstselbst durchzusehen. Ich fragte ihn nach dem Grund, denn ich fürchtete unnötige Verwicklungen, die aus seiner Unkenntnis der englischen Gesetze erwachsen könnten. Er aber antwortete:

»Ich weiß, ich weiß. Sie haben anscheinend vergessen, dass ich ebenso gut Rechtsanwalt bin wie Arzt. Allerdings ist unser Fall nichts für Juristen, das wissen Sie selbst am besten. Warum hätten |239|Sie sich sonst so sehr bemüht, eine gerichtliche Leichenschau zu vermeiden? Ich habe noch mehr zu vermeiden als diese. Es müssen noch andere Papiere vorhanden sein, solche wie diese hier.«

Während seiner Worte hatte er aus seinem Notizbuch das Schreiben hervorgeholt, das Lucy an der Brust getragen und das sie im Schlaf zerrissen hatte.

»Wenn Sie herausgefunden haben, wer der Anwalt der verstorbenen Mrs. Westenra ist, so versiegeln Sie alle ihre Papiere und schreiben Sie ihm noch heute Nacht! Ich selbst werde die ganze Nacht hier in diesem und in Lucys altem Zimmer verbringen und mich umsehen. Ich möchte nicht, dass ihre privaten Gedanken in die Hände von Fremden gelangen.«

Ich machte mich sofort an die mir übertragene Aufgabe und hatte nach einer halben Stunde den Namen und die Adresse von Mrs. Westenras Anwalt gefunden und sogleich auch an ihn geschrieben. Sämtliche Papiere der armen Frau waren in Ordnung, es fanden sich sogar detaillierte Wünsche hinsichtlich der Beerdigung. Kaum hatte ich den Brief versiegelt, da trat zu meinem Erstaunen van Helsing ein und sagte:

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Freund John? Ich bin nun frei und stehe zu Ihrer Verfügung.«

»Haben Sie denn gefunden, was Sie suchten?«, fragte ich, worauf er antwortete:

»Ich habe eigentlich nicht nach etwas Bestimmtem gesucht. Ich hoffte lediglich, irgendetwas zu finden, und habe wohl auch alles entdeckt, was vorhanden war – einige Briefe, ein paar Notizzettel und ein frisch begonnenes Tagebuch. Ich habe das alles an mich genommen und bitte Sie, gegenüber anderen nichts davon zu erwähnen. Ich werde morgen Abend den armen Bräutigam treffen und mit seiner Zustimmung dann einiges auswerten.«

Da wir beide nun alles Nötige erledigt hatten, sagte van Helsing zu mir:

|240|»Und nun, Freund John, denke ich, gehen wir zu Bett. Wir beide bedürfen des Schlafes und der Erholung. Morgen gibt es wieder viel zu tun, und heute Nacht werden wir nicht mehr benötigt. Leider!«

Bevor wir uns zu Ruhe begaben, sahen wir noch einmal nach der toten Lucy. Der Bestattungsunternehmer hatte tatsächlich sein Bestes geleistet, das Zimmer glich einer Trauerkapelle. Es war ein ganzer Garten wundervoller Blumen um die Verstorbene, der Tod war so wenig abstoßend gemacht wie irgend möglich. Das Ende des Leichentuches hatte man ihr über das Antlitz gelegt. Als der Professor sich über die Leiche beugte und das Tuch vorsichtig zurückschlug, waren wir beide erstaunt über die Schönheit, die sich uns darbot. Die dicken Wachskerzen gaben ausreichend Licht, uns erkennen zu lassen, dass all ihre Schönheit im Tode zurückgekehrt war. Die vergangenen Stunden hatten die ganze Lieblichkeit der Lebenden wiederhergestellt, und dass hier vor uns ein Leichnam lag, war kaum zu glauben.

Der Professor sah sehr ernst aus. Er hatte sie nicht so geliebt wie ich, und für Tränen hatte er eigentlich keinen Grund. Mit den Worten: »Warten Sie, bis ich wiederkomme!« verließ er das Zimmer. Bald darauf kam er mit einer Handvoll von wildem Knoblauch zurück, den er der Kiste entnommen hatte, die auf dem Gang abgestellt, aber noch nicht geöffnet worden war. Er mischte die Blüten unter die Blumen, die auf und um das Bett gelegt worden waren. Dann nahm er von seinem Hals ein kleines goldenes Kruzifix, das er direkt auf der Haut getragen hatte, und legte es auf den Mund der Toten. Schließlich zog er ihr das Laken übers Gesicht, und wir verließen das Zimmer.

Ich war gerade im Begriff, mich in meinem Raum auszukleiden, als van Helsing nach kurzem Anklopfen eintrat und zu sprechen begann:

»Morgen, bevor es Nacht wird, muss ich Sie bitten, mir einen Satz Seziermesser zu bringen.«

»Müssen wir wirklich eine Autopsie vornehmen?«, fragte ich. |241|»Ja und nein. Ich habe eine Operation vor, aber nicht so, wie

Sie denken. Zu Ihnen will ich davon sprechen, aber sagen Sie keinem Menschen ein Wort davon! Ich will ihr den Kopf abschneiden und das Herz herausnehmen. Aber, aber, Sie wollen ein Chirurg sein und zeigen sich schockiert? Ausgerechnet Sie, den ich mit fester Hand Operationen auf Leben und Tod vornehmen sah, dass die Kollegen schauderten! Allerdings, mein lieber Freund, darf ich nicht vergessen, dass Sie sie geliebt haben. Ich habe es auch nicht vergessen, denn ich werde die Operation selbst ausführen, und Sie sollen mir lediglich helfen. Ich würde es am liebsten noch heute Nacht tun, aber wegen Arthur geht das nicht. Er wird morgen nach der Beerdigung seines Vaters herkommen und Lucy sehen wollen. Dann aber, wenn sie für den nächsten Tag fertig aufgebahrt ist, wollen wir, Sie und ich, beginnen, sobald alles schläft. Wir werden den Sargdeckel aufschrauben und die Operation vornehmen. Anschließend werden wir wieder alles in Ordnung bringen, sodass niemand außer uns beiden etwas weiß.«

»Aber warum tun Sie das alles? Sie ist doch tot! Warum unnötigerweise noch den Leib verstümmeln? Wenn eine Sektion keinen Zweck hat und keinen Gewinn bringt, weder ihr selbst noch uns, weder der Wissenschaft noch dem medizinischen Können, warum sollten wir sie vornehmen? Ohne gute Gründe ist das eine Ungeheuerlichkeit!«

Anstelle einer Antwort legte er mir seine Hand auf die Schulter und sagte mit unendlicher Sanftheit:

»Freund John, Ihr blutendes Herz tut mir leid, und ich habe Sie nur noch umso lieber, weil es so blutet. Wenn ich es könnte, würde ich gerne das Leid auf mich nehmen, das Sie bedrückt. Es gibt Dinge, die Sie noch nicht wissen, aber bald wissen werden. Sie werden mir dankbar sein, wenn ich sie Ihnen eröffne, auch wenn es keine ergötzlichen Dinge sind. Mein lieber John, Sie sind nun schon seit einigen Jahren mein Freund: Erinnern Sie sich, dass ich jemals etwas ohne Grund getan hätte? Ich kann |242|irren, ich bin auch nur ein Mensch, aber ich glaube an das, was ich tue. Haben Sie mich nicht genau deshalb gerufen, als die große Not und Sorge hereinbrach? Ja, waren Sie nicht erstaunt oder vielmehr entsetzt, als ich Arthur seine sterbende Braut nicht küssen lassen wollte und ihn mit aller Kraft wegriss? Ja! Und Sie haben auch gesehen, wie sie mir mit ihren wundervollen Augen im Sterben noch dankte, mit ihrer schwachen Stimme, und wie sie meine alte, raue Hand küsste und mich segnete! Und hörten Sie nicht auch das feierliche Versprechen, das sie von mir empfing, sodass sie voller Frieden die Augen schloss? Nun, ich habe gute Gründe für das, was ich tun muss. Sie haben mir viele Jahre lang Ihr Vertrauen geschenkt, und Sie haben mir in den vergangenen Wochen geglaubt, als sich so seltsame Dinge ereigneten, dass Sie für Zweifel allen Grund gehabt hätten. Glauben Sie noch eine kleine Weile länger an mich, Freund John! Wenn sie mir nicht trauen können, so muss ich Ihnen alles offenbaren, was ich denke, und das wäre jetzt nicht gut. Die Arbeit muss in jedem Fall erledigt werden, und wenn ich mich an die Arbeit mache, ohne dass mein Freund an mich glaubt, so muss ich mit schwerem Herzen arbeiten und werde mich sehr verlassen fühlen, wo ich doch aller erdenklichen Hilfe und Aufmunterung bedarf.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann in feierlichem Ton fort: »Lieber John, die kommenden Tage werden uns seltsame, schreckliche Dinge bringen. Lassen Sie uns nicht zwei, sondern eins sein, damit unser Werk ein gutes Ende finde. Wollen Sie mir Ihr Vertrauen schenken?«

Ich reichte ihm die Hand und versprach es ihm. Dann hielt ich ihm die Tür auf und sah ihm nach, wie er in sein Zimmer ging und die Tür hinter sich abschloss. Während ich noch bewegungslos an meiner offenen Tür stand, sah ich eines der Zimmermädchen lautlos den Gang entlanghuschen und in Lucys Sterbezimmer verschwinden – das Mädchen wandte mir den Rücken zu und konnte mich nicht bemerken. Das berührte mich sehr, denn Anhänglichkeit ist etwas so Seltenes, dass wir denen |243|dankbar sind, die sie unaufgefordert unseren Lieben erweisen. Das gute Mädchen missachtete die Scheu, die ihr der Tod naturgemäß einflößen musste, und sie wollte wohl allein an der Bahre der geliebten Herrin wachen, damit die sterbliche Hülle nicht gänzlich verlassen ist, bis man sie zur ewigen Ruhe trägt.

Ich muss lange und tief geschlafen haben, denn es war heller Tag, als van Helsing in mein Zimmer trat und mich weckte. Er kam an mein Bett und sagte:

»Sie brauchen sich wegen der Messer doch nicht mehr zu bemühen; wir werden es nicht tun.«

»Warum nicht?«, fragte ich, denn seine Feierlichkeit gestern Abend hatte mich tief ergriffen.

»Weil es zu spät ist«, sagte er bedrückt, »oder zu früh. Sehen Sie!« Er hielt mir das goldene Kruzifix hin. »Das ist heute Nacht gestohlen worden.«

»Wie, gestohlen? Sie haben es doch noch?«, fragte ich verwundert.

»Weil ich es dem nichtswürdigen Geschöpf, das den Diebstahl begangen hat, wieder abgenommen habe, einem Frauenzimmer, das die Toten und die Lebenden gleichermaßen bestohlen hat. Ihre Strafe wird nicht ausbleiben, aber nicht ich werde sie bestrafen. Sie hat ja nicht gewusst, was sie tat, und nur deswegen, weil sie es nicht wusste, hat sie gestohlen. Nun heißt es wieder warten.«

Dann ging er fort und hinterließ mir ein neues Geheimnis, um darüber nachzugrübeln, ein neues Rätsel, um mir den Kopf daran zu zerbrechen.

Der Vormittag war schrecklich trostlos. Gegen Mittag kam der Anwalt, Mr. Marquand von der Kanzlei Wholeman, Sons, Marquand & Lidderdale. Er war sehr aufgeräumt und äußerte sich sehr anerkennend über unsere bisherige Tätigkeit, nahm uns aber die Sorgen um die weiteren Details ab. Während des Essens erzählte er, dass sich Mrs. Westenra schon seit geraumer Zeit auf einen raschen Tod infolge ihres Herzleidens gefasst gemacht und |244|deshalb alle ihre Angelegenheiten in peinlichste Ordnung gebracht habe. Er teilte uns auch mit, dass, mit Ausnahme eines kleinen, von Lucys Vater seinerzeit eingebrachten Vermögens, das nun, nachdem eine Verfügung hierüber fehlte, an entfernte Verwandte der Familie fiel, die ganze Hinterlassenschaft Arthur Holmwood gehöre. Nach diesen Eröffnungen fuhr er fort:

»Offen gesagt, wir haben unser Möglichstes getan, um eine derartige letztwillige Verfügung zu verhindern. Wir machten Mrs. Westenra auf gewisse Umstände aufmerksam, die ihre Tochter entweder vollkommen vermögenslos machen oder sie wenigstens in ihren Entschließungen bei der Auswahl eines Gatten beeinträchtigen könnten. Fast entzweiten wir uns mit Mrs. Westenra, sie fragte uns schon, ob wir ihre Wünsche erfüllen wollten oder nicht. Es blieb uns gar nichts anderes übrig, als ihren Vorstellungen zu entsprechen. Theoretisch hatten wir mit unseren Bedenken natürlich recht, in 99 von 100 Fällen hätten die Tatsachen das bestätigt. Jetzt muss ich aber zugeben, dass so, wie die Dinge nun liegen, jede andere Form der Verfügung die Ausführung ihrer letzten Wünsche unmöglich gemacht hätte. Denn da Mrs. Westenra vor ihrer Tochter starb, wäre zunächst diese in den Besitz des Erbes gekommen. Dann aber wäre das Vermögen in Ermangelung eines Testaments – und ein solches wäre im vorliegenden Falle eine vollständige Unmöglichkeit – nach dem Erbschaftsgesetz behandelt worden, Lord Godalming1 hätte also, so eng er auch mit der Familie verbunden war, nicht den geringsten Anspruch gehabt, und die Erben, entfernte Verwandte, hätten wohl kaum aus gutem Willen auf ihre Rechte zugunsten eines ihnen Unbekannten verzichtet. Ich versichere Ihnen daher, meine Herren, dass ich mich über die gegenwärtige Lage der Dinge aufrichtig freue!«

Er war ein guter Kerl, aber seine Freude über diese Kleinigkeit, an der er zudem selbst etwas verdiente, schränkte angesichts der |245|großen Tragödie, die das Haus getroffen hatte, unsere Sympathien für ihn deutlich ein.

Er blieb nicht lange, versprach aber, später noch einmal wiederzukommen, um Lord Godalming zu treffen. Sein Kommen brachte uns immerhin eine gewisse Beruhigung, denn nun konnten wir uns darauf verlassen, dass unsere bisherigen Entscheidungen nicht angezweifelt werden würden. Arthur hatte sich für fünf Uhr angesagt, und wir gingen kurz vor dieser Zeit ins Totenzimmer hinauf, in dem Mutter und Tochter nebeneinander aufgebahrt lagen. Der Bestattungsunternehmer hatte ganze Arbeit geleistet und jegliche Art von Trauerschmuck in Anwendung gebracht; es lag die gedämpfte Stimmung einer Leichenhalle über dem gesamten Raum, die uns alle augenblicklich niederdrückte. Van Helsing ordnete daher an, das vorherige Arrangement wiederherzustellen, was er damit begründete, dass es für Lord Godalmings Gefühle weniger deprimierend sei, wenn er die irdischen Überreste seiner Braut ganz alleine sähe. Der Bestatter zeigte sich über seine eigene Pietätlosigkeit äußerst erschrocken und machte sich eigenhändig daran, die Dinge wieder so herzurichten, wie sie am Abend zuvor gewesen waren. Wir hofften, auf diese Weise den Gefühlen Arthurs am besten Rechnung zu tragen.

Der Ärmste! Als er kam, sah er so unsagbar traurig und völlig gebrochen aus, seine stählerne Kraft schien unter der Last seines Leides geschrumpft zu sein. Er hatte, wie ich wusste, in aufrichtiger Liebe an seinem Vater gehangen; ihn zu verlieren, und gerade zu dieser Zeit, war eine schwere Prüfung für ihn. Zu mir war Arthur so herzlich wie immer, und auch van Helsing gegenüber verhielt er sich äußerst zuvorkommend, wenngleich ich in seinem Benehmen eine gewisse Zurückhaltung zu bemerken glaubte. Auch der Professor musste es bemerkt haben, denn er gebot mir, Arthur sogleich hinaufzuführen. Ich folgte diesem Wink und begleitete meinen Freund bis zur Tür des Zimmers, in dem Lucy aufgebahrt lag. Als ich ihn hier verlassen wollte, weil ich meinte, |246|er wolle allein mit ihr sein, ergriff er meinen Arm und sagte heiser:

»Du hast sie doch auch geliebt, mein Freund. Sie hat mir davon erzählt, von all unseren Freunden standest du ihrem Herzen am nächsten. Ich weiß nicht, wie ich dir für all das danken soll, was du für sie getan hast. Ich kann im Moment überhaupt nicht denken …«

Hier brach er zusammen, schlang seine Arme um mich, lehnte den Kopf an meine Schulter und schluchzte:

»Oh Jack, Jack! Was soll ich nur tun? Mein ganzer Lebensinhalt ist mir auf einmal verlorengegangen. Es gibt nichts mehr auf der Welt, für das ich noch leben möchte.«

Ich leistete ihm Beistand, so gut ich es vermochte. Männer bedürfen in solchen Situationen ja nicht allzu vieler Worte; ein Händedruck, eine freundschaftliche Umarmung, ein gemeinsamer Seufzer sind ein hinreichender Ausdruck des Mitgefühls. Ich verhielt mich also schweigend und wartete, bis sein Weinen ruhiger wurde. Dann sagte ich leise zu ihm:

»Komm, gehen wir ein letztes Mal zu ihr!«

Wir traten gemeinsam zum Totenbett und ich hob das Laken auf. Gott, wie schön sie war, und mit jeder Stunde schien sie noch schöner zu werden! Ich war erschrocken und fasziniert zugleich. Arthur zitterte wie vom Fieber geschüttelt. Nach einer langen Pause fragte er mich schließlich flüsternd:

»Jack, ist sie denn wirklich tot?«

Um auf gar keinen Fall irgendwelche Zweifel hierüber in ihm aufkommen zu lassen, versicherte ich ihm, dass sie unabänderlich tot sei. Ich behauptete, dass die Gesichtszüge nach dem Tod in vielen Fällen weicher würden, ja sogar manchmal ihren jugendlichen Reiz zurückgewinnen könnten, insbesondere dann, wenn dem Tod ein akutes, nicht lang andauerndes Leiden vorangegangen wäre. Seine Zweifel schienen beseitigt zu sein, und nachdem er eine Zeit lang vor ihrem Bett gekniet und sie liebevoll angesehen hatte, wandte er sich zum Gehen. Ich sagte ihm, |247|dass dies der Abschied sei, da der Sarg bereitstehe. Darauf trat er noch einmal an das Totenbett, ergriff die kalte Hand seiner Braut und drückte einen Kuss darauf. Dann beugte er sich über sie und küsste sie auf die Stirn. Sich in der Tür ein letztes Mal wehmütig nach der Toten umsehend, verließ er gemeinsam mit mir den Raum.

Ich ließ ihn im Salon zurück und teilte van Helsing mit, dass Arthur Abschied genommen habe. Der Professor ging in die Küche und forderte das Personal des Bestattungsunternehmens auf, sich an die Arbeit zu machen und den Sarg zu verschrauben. Als er wieder zurückkam, erzählte ich ihm von Arthurs Zweifeln, und er entgegnete:

»Das wundert mich gar nicht. Eben gerade habe ich selbst für einen Augenblick gezweifelt.«

Wir speisten alle zusammen, und ich bemerkte, dass Arthur sich Mühe gab, gefasst zu erscheinen. Van Helsing war das ganze Dinner über äußerst schweigsam, als wir aber unsere Zigarren angezündet hatten, begann er:

»Lord Godalming …«, worauf ihn Arthur augenblicklich unterbrach:

»Nein, nein, um Gottes willen, nennen Sie mich nicht so! Jetzt noch nicht! – Verzeihen Sie, Herr Professor, ich war zu heftig. Aber der Verlust ist noch zu frisch …«

Der Professor erwiderte sehr freundlich:

»Ich habe den Titel nur aus Unsicherheit gebraucht, schließlich kann ich ja schlecht ›Mister‹ zu Ihnen sagen, wo Sie mir unter dem Namen ›Arthur‹ so lieb geworden sind. Ja, mein guter Junge, Sie sind mir teuer. Darf ich Sie Arthur nennen?«

Arthur streckte seinen Arm aus und drückte die Hand des alten Mannes.

»Nennen Sie mich, wie immer Sie wollen«, sagte er. »Ich hoffe, Sie werden mich immer als Ihren Freund bezeichnen. Und lassen Sie mich noch sagen, dass mir die Worte fehlen, um Ihnen meinen Dank zu sagen für all das, was Sie meiner lieben Lucy Gutes |248|getan haben.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich weiß, dass Lucy Ihre Güte besser verstand als ich, und als ich aufbrauste oder aufbrausen wollte, damals, als Sie so an mir handelten – Sie wissen, was ich meine« – der Professor nickte – »so müssen Sie mir das verzeihen.«

Van Helsing antwortete mit gütigem Ernst:

»Ich weiß wohl, es war in dieser Situation hart für Sie, den Glauben an mich nicht zu verlieren, denn wenn man in einem solchen Fall glauben soll, möchte man vorher auch die Gründe wissen. Ich nehme auch jetzt noch an, dass Sie mir nicht vertrauen – nicht vertrauen können, denn Sie verstehen mich ja noch immer nicht. Und es werden auch zukünftig Zeiten kommen, wo ich von Ihnen Vertrauen fordern muss, auch wenn Sie mich nicht begreifen werden. Aber einmal wird auch der Tag kommen, wo Sie mir voll und ganz vertrauen, wo Sie alles so klar erkennen werden, als schiene Ihnen die Sonne nach langer Nacht. Dann werden Sie mich für alles segnen, was ich um Ihretwillen tat, für alle anderen und für die Seele der armen Lucy, die zu beschützen ich geschworen habe.«

»Ich will Ihnen in allen Dingen vertrauen, Herr Professor«, sagte Arthur mit Wärme. »Ich weiß und glaube fest, dass Sie ein edles Herz haben. Sie sind Jacks Freund und waren auch der ihre. Tun Sie, was immer Sie für nötig halten.«

Der Professor räusperte sich einige Male wie vor einer Rede und sagte schließlich:

»Darf ich Sie etwas fragen?«

»Gewiss.«

»Sie wissen, dass Mrs. Westenra Ihnen ihr gesamtes Eigentum vermacht hat?«

»Nein, die Gute, daran hätte ich nie gedacht.«

»Da nun alles Ihnen gehört, haben Sie das Recht, nach Ihrem Gutdünken darüber zu verfügen. Ich bitte um die Erlaubnis, alle Briefe und Papiere Lucys lesen zu dürfen. Glauben Sie mir, es ist nicht Neugier, was mich zu dieser Bitte veranlasst. Ich habe |249|meine Gründe, die auch Lucy, wenn sie noch lebte, gerne anerkennen würde. Ich habe alles hier. Ich nahm es an mich, bevor ich noch wusste, dass es Ihr Eigentum ist, um es vor fremden Händen zu schützen. Kein fremdes Auge sollte die Geheimnisse von Lucys Seele schauen. Ich werde diese Papiere bei mir behalten, wenn ich darf. Auch Sie sollen vorerst keinen Einblick nehmen, aber ich werde sie sicher aufbewahren. Wir wollen kein Wort darüber verlieren, und wenn dann bessere Zeiten kommen, gebe ich Ihnen alles zurück. Es ist etwas Schweres, was ich da von Ihnen fordern muss, wollen Sie es mir um Lucys willen gewähren?«

Arthur rief herzlich, als sei seine alte Spannkraft wieder zurückgekehrt:

»Dr. van Helsing, Sie können tun, was Sie wollen. Ich weiß, dass ich, indem ich dies sage, nur den Willen der teuren Toten zum Ausdruck bringe. Ich werde Sie nicht mit Fragen belästigen und mich gedulden, bis die Zeit da ist.«

Da stand der Professor auf und verkündete feierlich:

»So ist es recht. Wir alle werden noch viel Leid zu ertragen haben, aber es wird nicht nur Schmerz sein, und der Schmerz wird nicht siegen. Ich und Sie – Sie am allermeisten, mein lieber Junge –, wir müssen durch bittere Wasser, bevor wir an die klare Quelle gelangen. Wenn wir aber tapferen Herzens und selbstlos sind, und wenn wir unsere Pflicht tun, dann wird alles gut werden!«

Ich schlief die Nacht auf einem Sofa in Arthurs Zimmer. Van Helsing ging überhaupt nicht zu Bett. Er patrouillierte durch das Haus und ließ das Zimmer mit Lucys Sarg nicht aus den Augen. Rings um die Bahre lag wilder Knoblauch verstreut, der durch den milden Duft der Lilien und Rosen hindurch einen schweren, betäubenden Geruch in die stille Nacht hinaussandte.

 

|250|Mina Harkers Tagebuch

 

22. September

Im Zug nach Exeter. Jonathan schläft. Mir ist, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich meinen letzten Eintrag gemacht habe, und doch, was liegt nicht alles zwischen damals und heute! Es war in Whitby, und die ganze Welt lag noch vor mir. Jonathan war in weiter Ferne, und ich hatte keine Nachrichten von ihm. Nun bin ich mit Jonathan verheiratet, er ist Anwalt, Teilhaber, wohlhabend und Herr seines Geschäftes. Mr. Hawkins ist tot und begraben – ein Schlag, der Jonathan wieder zurückgeworfen hat. Alles vergeht … Ich habe das Stenografieren beinahe verlernt, eine Begleiterscheinung unseres neuen Wohlstandes. Es ist ganz gut, wieder ein wenig Übung zu bekommen …

Die Trauerfeier für Mr. Hawkins war sehr schlicht und zugleich sehr ergreifend. Anwesend waren nur wir, die Dienerschaft, einige seiner alten Freunde aus Exeter, sein Londoner Vertreter und ein Herr, der in Vertretung von Mr. John Paxton gekommen war, welcher Präsident des Juristenverbandes ist. Jonathan und ich standen Hand in Hand, und wir empfanden, dass unser bester und treuester Freund von uns gegangen war.

Wir kehrten dann schweigend in die Stadt zurück und bestiegen den Pferdeomnibus nach Hyde Park Corner. Jonathan meinte, es wäre für mich ganz interessant, die Rotten Row2 kennenzulernen, und so ließen wir uns dort ein wenig nieder. Aber es waren nur wenige Leute da, und die vielen leeren Stühle machten einen trostlosen Eindruck auf mich – wir mussten immerzu an den leeren Stuhl denken, der nun zu Hause auf uns wartete. Wir standen also bald wieder auf und wandelten Piccadilly hinunter. Jonathan hatte meine Hand genommen, ganz so, wie er es früher getan hatte, als ich noch nicht Lehrerin war. Ich fand das etwas unpassend, denn man kann ja nicht jahrelang |251|junge Mädchen in Etikette unterrichten, ohne dass dies auf einen selbst abfärbt, aber schließlich war es Jonathan, mein Mann, und außerdem war ja niemand in der Nähe, der uns kannte. Und selbst wenn man uns gekannt hätte, wäre es uns wohl gleichgültig gewesen. Wir hielten Händchen und schlenderten vor uns hin. Ich betrachtete gerade ein wunderschönes Mädchen mit einem mächtigen Rembrandthut, das in einer Kutsche vor Giulianos wartete, als Jonathan meinen Arm drückte, dass es mich schmerzte, und halb erstickt ausrief: »Mein Gott!« Ich bin immer in Sorge um Jonathan, denn ich fürchte, dass irgendein Zufall wieder seine Nerven aufregen könnte. Ich wandte mich also rasch zu ihm um und fragte ihn, was es denn gebe.

Er war ganz bleich, und seine Augen traten fast aus ihren Höhlen, wie er, halb erstaunt, halb entsetzt, auf einen großen, hageren Mann mit einer Adlernase, weißem Schnurr- und spitzem Kinnbart starrte, der ebenfalls das schöne Mädchen beobachtete. Er sah so gespannt zu ihr hin, dass er uns beide nicht bemerkte, und so konnte ich ihn genau ins Auge fassen. Der Mann hatte kein gutes Gesicht, es war hart, grausam und sinnlich, und seine weißen Zähne, die gegen die roten Lippen auffallend abstachen, waren spitz wie die eines Raubtieres. Jonathan starrte ihn ununterbrochen an, sodass ich schon befürchtete, der Fremde würde es bemerken und es ihm übel nehmen, immerhin sah er ziemlich unangenehm aus. Ich fragte Jonathan, was ihn denn so verstört habe, und er antwortete, offenbar in der Meinung, dass ich ebenso viel wüsste wie er: »Erkennst du, wer das ist?«

»Nein, Liebster«, erwiderte ich, »ich kenne ihn nicht. Wer ist das denn?« Seine Antwort erschreckte mich, denn es schien, als ob sie gar nicht an mich gerichtet war:

»Er ist es selbst

Der Ärmste war offenkundig über irgendetwas entsetzt – furchtbar entsetzt. Ich glaube, wenn ich nicht neben ihm gestanden und ihn gestützt hätte, so wäre er zusammengesunken. Er hielt den Blick unverwandt auf den Fremden gerichtet. Ein |252|Mann kam mit einem kleinen Päckchen aus dem Laden, er gab es der Dame, worauf sich deren Kutsche in Bewegung setzte. Der unheimliche Fremdling ließ sie nicht aus den Augen, und als ihre Kutsche Piccadilly hinauffuhr, rief er sich auch eine Droschke herbei und folgte ihr. Jonathan sah lange hinter ihm drein und sagte wie im Selbstgespräch:

»Ich glaube, es ist der Graf, aber er ist jünger geworden. Entsetzlich, wenn das wirklich so wäre! Oh mein Gott, oh mein Gott! Wenn ich nur wüsste, wenn ich nur wüsste!« Er war in höchster Erregung, und ich fürchtete, ihn durch Nachfragen nur noch intensiver an den Gegenstand zu fesseln, also schwieg ich. Ich zog ihn dann mit mir fort, und er folgte mir bereitwillig. Wir gingen weiter und kamen in den Green Park, wo wir uns ausruhen wollten. Es war ein warmer Herbsttag, und wir fanden eine hübsche Bank an einem schattigen Plätzchen. Einige Minuten starrte Jonathan ins Leere, dann schlossen sich seine Augen, und er versank in einen ruhigen Schlummer, sein Haupt an meine Schulter gelehnt. Ich dachte mir, das sei das Beste für ihn, und störte ihn nicht. Nach etwa zwanzig Minuten wachte er wieder auf und sagte heiter:

»Mina, ich habe wohl geschlafen? Entschuldige die Ungezogenheit. Komm, wir wollen irgendwo eine Tasse Tee trinken!« Er hatte den finsteren Fremden offenbar vollkommen vergessen, so wie er in seiner Krankheit alles vergessen hatte, woran ihn die Episode mit dem Fremden jetzt erinnert haben mochte. Mir gefällt dieses Versinken in Vergessenheit gar nicht, vielleicht deutet es ja auf einen geschädigten Verstand hin? Ich darf ihn nicht darüber befragen, denn ich könnte damit mehr verderben als bessern. Aber irgendwie muss ich wohl doch die Fakten seiner Reise in Erfahrung bringen. Ich fürchte beinahe, die Zeit ist gekommen, das Paket zu öffnen und seinen Inhalt zu lesen. Oh Jonathan, Du musst mir verzeihen, wenn ich damit etwas Unrechtes tun sollte, denn es ist ja nur zu Deinem eigenen Besten!

 

|253|Später

Eine entsetzliche Heimkehr in jeder Hinsicht: Im Haus fehlte die treue Seele, die so gut zu uns war, Jonathan war unter dem Einfluss seines leichten Rückfalls bleich und verstört, und dann kam auch noch ein Telegramm von einem van Helsing, wer immer das sein mag.

»Ich habe Ihnen die traurige Mitteilung zu machen, dass Mrs. Westenra vor fünf Tagen verstorben ist. Ihre Tochter Lucy folgte ihr vorgestern nach. Beide sind heute beerdigt worden.«

Oh, welch eine Fülle von Elend in so wenigen Worten! Arme Mrs. Westenra, arme Lucy! Fort sind sie, fort, und sie werden niemals mehr zu uns zurückkehren! Und der arme Arthur, der den Schatz seines Lebens verloren hat! Gott helfe uns allen, unser Leid zu ertragen!

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

22. September

Alles ist vorüber. Arthur ist zurück nach Ring, und er hat Quincey Morris mitgenommen. Was für ein prächtiger Kerl Quincey doch ist! Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass er über Lucys Tod ebenso viel Schmerz empfindet wie wir beide, aber er bezwingt sein Leid wie ein Wikinger. Wenn Amerika fortfährt, solche Männer zu erzeugen, wie er einer ist, dann wird es einst eine Weltmacht darstellen. Van Helsing schläft unten und ruht sich für seine Reise aus. Er fährt heute Nacht noch nach Amsterdam, hat aber versprochen, morgen Abend wiederzukommen – er hat wohl nur einiges zu besorgen, was er persönlich erledigen muss. Wenn es möglich ist, will er dann bei mir bleiben; er sagte, er habe in London eine Aufgabe zu erfüllen, die ihn längere Zeit in Anspruch nehmen werde. Armer alter Knabe! Ich glaube fast, die Aufregungen der letzten Wochen haben seine eiserne Kraft gebrochen. Während des Begräbnisses legte er sich, wie ich sehen |254|konnte, äußerste Zurückhaltung auf. Als die Zeremonie beendet war, standen wir alle beim armen Arthur, der davon sprach, wie sein Blut in Lucys Adern geleitet wurde. Ich bemerkte, dass van Helsings Gesicht abwechselnd blass und rot wurde, als Arthur sagte, er habe seitdem das Gefühl gehabt, mit Lucy verheiratet zu sein, und dass die Transfusion sie vor Gott zu seiner Frau gemacht hätte. Keiner von uns ließ ein Wort über die anderen Transfusionen verlauten, und wir werden auch zukünftig davon schweigen. Arthur und Quincey gingen dann miteinander zum Bahnhof, während ich mich mit van Helsing hierher begab. Kaum waren wir beide aber im Wagen unter uns, da bekam er einen hysterischen Anfall. Natürlich bestritt er, dass es ein hysterischer Anfall war, und behauptete steif und fest, es wäre lediglich ein Ausbruch seines speziellen Humors, um all das Schlimme zu ertragen. Er lachte, bis er weinte, und ich musste die Vorhänge zuziehen, damit ihn niemand in diesem Zustand sehen konnte. Dann schlug sein Weinen wieder in Lachen um, und schließlich weinte und lachte er zugleich, ganz wie es manchmal bei Frauen vorkommt. Wie es in einer solchen Situation bei einer Frau angezeigt ist, versuchte ich es auch bei ihm mit Strenge, aber es war umsonst – Männer und Frauen sind doch zu verschieden hinsichtlich der Stärke oder Schwäche ihrer Nerven. Als sein Gesicht wieder ruhiger und ernster wurde, fragte ich ihn, woher seine Heiterkeit gerade in einem solchen Moment komme. Seine Antwort war durchaus charakteristisch für ihn, denn sie war logisch, treffend und dennoch geheimnisvoll. Er sagte:

»Ah, Sie verstehen mich nicht, Freund John. Glauben Sie ja nicht, ich sei nicht traurig, nur weil ich lache! Sehen Sie, ich habe geweint, während es mich vor Lachen schüttelte. Noch weniger aber dürfen Sie glauben, dass ich traurig bin, wenn ich weine, denn ich lache ja zur gleichen Zeit! Glauben Sie mir, das Lachen, das erst bescheiden an die Tür klopft und fragt: ›Darf ich herein?‹, ist nicht das richtige Lachen. Nein, das richtige Lachen kommt wie ein König, wann und wie es will. Es fragt nicht nach der Person, |255|es kümmert sich nicht, ob es zum geeigneten Moment erscheint, es sagt einfach: ›Da bin ich!‹ Sehen Sie zum Beispiel hier: Ich gräme mich fast zu Tode um das hübsche junge Mädchen, ich gab mein Blut für sie, obwohl ich alt und verbraucht bin. Ich opfere meine Zeit, mein Können, meinen Schlaf; ich vernachlässige meine anderen Patienten, um ganz für sie da zu sein. Und doch kann ich lachen – selbst an ihrem Grab, wenn die Erde vom Spaten des Totengräbers mit dumpfem Klang auf ihren Sarg poltert, ›Rums! Rums!‹, dann kann ich lachen, auf dass mir das Herz das Blut in die Wangen zurückbringt. Und auch um Arthur blutet mein Herz, der gute Junge ist im selben Alter, in dem mein Sohn heute wäre, lebte er noch, und er hat dieselben Haare und dieselben Augen. Nun wissen Sie also auch, warum ich ihn so gern habe. Und wenn er Dinge sagt, die mein Vaterherz bis zum Äußersten rühren und mich zu ihm hinziehen wie zu keinem anderen Menschen, selbst Sie nicht ausgenommen, Freund John, der Sie mir durch unsere gemeinschaftlichen Erfahrungen näher als ein Sohn stehen – selbst dann kommt das Lachen wie ein König zu mir und schreit und brüllt in mein Ohr: ›Da bin ich! Da bin ich!‹, sodass das Blut wieder zurückkehrt und etwas Sonnenschein auf meine Wangen zaubert. Oh, Freund John, es ist eine seltsame Welt, eine traurige Welt, eine Welt voll Elend, Weh und Sorgen! Und doch, wenn der König des Lachens kommt, dann tanzen alle nach seiner Pfeife: Blutende Herzen, bleichende Knochen auf dem Friedhof und Tränen, die brennend heiß herniederrinnen – alles tanzt nach der Melodie, die Er mit seinem ernsten Mund macht. Und glauben Sie mir, Freund John, Er ist gut und freundlich, wenn Er kommt. Ach, wir Menschen sind wie straff gespannte Seile, die es hin und her reißt. Dann kommen die Tränen, unter denen wir uns wie im kalten Regen bücken und uns zusammenziehen, und manchmal wird die Beanspruchung zu groß, und es zerreißt uns. Aber der König des Lachens ist wie der Sonnenschein, die Spannung lässt nach und wir sind von Neuem imstande, an unsere Arbeit zu gehen, was es auch sei.«

|256|Ich wollte ihn nicht verletzen und gestand ihm also nicht, dass mir der Sinn seiner Rede ein Rätsel war. Da ich aber wenigstens die konkrete Ursache seines gegenwärtigen Lachanfalls erfahren wollte, fragte ich ihn danach. Da wurde sein Gesicht wieder sehr ernst, und er antwortete mir in einer gänzlich anderen Art:

»Ach, es war die grausame Ironie, die in alldem lag – das liebliche Mädchen, das, mit Blumen geschmückt, so blühend aussah wie im Leben, sodass einer nach dem anderen seine Zweifel äußerte, ob sie denn wirklich tot sei. Sie lag in dem schönen Marmorhaus da draußen auf dem einsamen Friedhof, wo schon so viele ihres Geschlechtes ruhen, lag dort mit ihrer Mutter, die sie liebte und die von ihr geliebt wurde, und die Totenglocke klang so traurig und leise. Und jene heiligen Männer mit den Engelsgewändern, die scheinbar aus den Büchern vorlasen und doch keinen Augenblick auf deren Seiten sahen, und dazu wir alle mit tief gebeugtem Haupt. Und wofür das alles? Sie ist tot, Ende! Nicht wahr?«

»Und dennoch, Herr Professor«, sagte ich, »kann ich da nicht das Geringste erkennen, was Anlass zum Lachen gäbe. Ihre Erklärung macht mir die Sache nur noch verworrener. Ich will meinetwegen zugeben, dass die Zeremonie etwas Seltsames an sich gehabt haben mag, aber doch nicht Arthur in seinem Schmerz! Sein Herz war, weiß Gott, nahe am Brechen.«

»So ist es. Aber sagte er nicht auch, dass erst die Bluttransfusion Lucy zu seiner wahren Braut gemacht habe?«

»Gewiss, es wird ein tröstlicher Gedanke für ihn gewesen sein.«

»Ganz recht, aber das ist auch gerade der Punkt: Wenn es wirklich so wäre, was wäre denn dann mit uns anderen? Hoho! Dann wäre das reizende Mädchen also polygam, und ich, der ich nach dem Kirchenrecht noch verheiratet und meiner Frau treu bin, obwohl sie schon lange tot ist, ich wäre ein Bigamist!«

»Ich begreife noch immer nicht, wo daran der Witz sein soll!«, entgegnete ich, und es gefiel mir auch nicht, dass er solche Dinge redete. Da legte er mir die Hand auf den Arm und sagte:

|257|»Freund John, verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin! Ich verbarg meine Gefühle vor denen, die durch sie verletzt sein könnten, aber Ihnen offenbarte ich mich, weil ich Ihnen trauen kann. Ich wollte, Sie könnten in mein innerstes Herz schauen, wenn ich lachen muss. Wenn Sie dort die Ankunft des Lachens beobachten könnten, und wenn Sie nur sehen könnten, wie der König des Lachens beim Abschied seine Krone und all seine Habseligkeiten packt – denn er reist weit, weit weg von mir und für eine lange, lange Zeit –, ich glaube, Sie würden mich mehr bedauern als jeden anderen Menschen.«

Ich war von seinem plötzlichen Stimmungsumschwung verwirrt und fragte ihn, weshalb er so betroffen sei.

Seine Antwort war: »Weil ich wissend bin!«

Und nun sind wir in alle Winde zerstreut, und an so manchen langen Tagen wird die Einsamkeit mit gefalteten Schwingen auf unseren Dächern sitzen. Lucy liegt in der Gruft ihrer Ahnen, eine herrschaftliche Grabstätte draußen auf einem stillen, einsamen Friedhof weit ab von London, wo die Luft frisch ist, wo die Sonne über Hampstead Hill heraufsteigt und auf wilde Blumen scheint.

So kann ich also mein Tagebuch beschließen; Gott allein weiß, ob ich je ein neues beginnen werde. Wenn dies geschehen sollte, oder wenn ich dieses fortsetze, so wird es sich gewiss um andere Dinge handeln, und es werden andere Personen auftreten. Hier aber, wo die Romanze meines Lebens an ihr Ende gekommen ist, sage ich, ehe ich wieder an meine Arbeit gehe, traurig und ohne Hoffnung: Finis.

 

»The Westminster Gazette«

Das Geheimnis von Hampstead

 

25. September. In der Nachbarschaft von Hampstead spielen sich gegenwärtig Ereignisse ab, die eine auffallende Ähnlichkeit haben mit denen, die unter den Schlagzeilen »Der Kensington-Horror«, »Die Frau mit dem Dolch« oder »Die Dame in Schwarz« berichtet |258|wurden. Während der letzten zwei oder drei Tage ist es nämlich mehrfach vorgekommen, dass kleine Kinder von zu Hause fortliefen oder nicht von ihren Spielen auf der Heide zurückkehrten. In allen Fällen waren die Kinder zu klein, um wirklich zuverlässige Gründe angeben zu können, aber in einem stimmen alle ihre Entschuldigungen überein, dass sie nämlich mit einer »Schönen Lady«3 zusammengewesen wären. Es war immer spät abends, als man sie vermisste, und in zwei Fällen sind die Kinder erst früh am nächsten Morgen gefunden worden. Man vermutet, dass, als das erste vermisste Kind als Ursache seines Ausbleibens angab, eine »Schöne Lady« habe es zu einem Spaziergang mitgenommen, die andern Kinder diese Entschuldigung aufgriffen und bei passender Gelegenheit ebenfalls vorbrachten. Das ist umso einleuchtender, als es jetzt ein Spiel unter den Kleinen geworden ist, einander durch verschiedene Listen beiseite zu locken. Ein Korrespondent schreibt uns, dass es äußerst drollig sei, zu sehen, wie die Knirpse sich als »Schöne Lady« ausgeben. Er meint, manche unserer Karikaturisten könnten hier wirklich Studien zu Ironie und Groteske betreiben, wenn sie Spiel und Realität zueinander in Beziehung setzten. Es scheint in Übereinstimmung mit der menschlichen Natur zu sein, dass bei diesen Open-Air-Theaterspielen der Kinder die »Schöne Lady« die beliebteste Rolle ist. Unser Korrespondent meint, dass selbst eine Ellen Terry4 nicht so gewinnend und verführerisch sein könnte, wie einige dieser kleinen Schmuddelgesichter in ihrem Rollenspiel.

Möglicherweise hat die Sache aber auch ihre ernste Seite, denn einige der Kinder, besonders die, welche über Nacht verschwunden waren, sind leicht an der Kehle verletzt. Die Wunden sehen aus, als stammten sie von einer Ratte oder einem kleinen Hund, und wenn sie auch im Einzelfall bedeutungslos erscheinen, so |259|zeigen sie doch, dass das Tier, von dem die Wunden herrühren, seine ganz besondere Methode hat. Die Polizei der Gegend ist angewiesen, auf umherirrende Kinder, besonders wenn sie sehr jung sind, und auf Hunde, die in der Nähe von Hampstead Heath herumlaufen, zu achten.

 

»The Westminster Gazette«

– Extrablatt –

Der Schrecken von Hampstead

Wieder ein Kind verletzt

Die »Schöne Lady«?

 

25. September. Soeben erhielten wir Nachricht, dass ein Kind, welches seit letzter Nacht vermisst wurde, heute Morgen unter einem Ginsterbusch auf der Shooter’s Hill-Seite von Hampstead Heath gefunden wurde; eine Gegend, die weniger frequentiert ist als andere Teile der Heide. Das Opfer hat dieselben kleinen Wunden an der Kehle, die schon in mehreren vorangegangenen Fällen konstatiert wurden. Es war entsetzlich schwach und sah ganz abgezehrt aus. Als das Kind einigermaßen wiederhergestellt war, wusste es nichts weiter zu erzählen als die Geschichte von der »Schönen Lady«, die es zu sich gelockt hätte.