|551|ZUR TEXTGESTALT

 

Mit seinem 1897 erschienenen Roman »Dracula« sicherte sich der irische Schriftsteller Abraham »Bram« Stoker (1847–1912) seinen Platz in der Literaturgeschichte. Mag es auch vor Stoker bereits literarische Gestaltungen der Vampirfigur gegeben haben, so hat sich der untote Blutsauger doch erst durch »Dracula« zu einem so wirkmächtigen Topos unseres kulturellen Bewusstseins entwickelt, dass man den im Roman geschilderten Versuch des Grafen, die westliche Welt von innen heraus zu erobern, getrost als gelungen betrachten darf.

Die erste deutsche Übersetzung besorgte Heinz Widtmann, und sie erschien 1908 als von Stoker »autorisierte Übersetzung aus dem Englischen«. Aufgrund des damit verbundenen Geltungsanspruches ist sie bis heute die wohl am häufigsten gedruckte deutsche Version sowie – obwohl man Widtmanns Text getrost problematisch nennen darf – der Ausgangspunkt der vorliegenden Textfassung. Ende der 1960er Jahre erschienen drei neue Übersetzungen, von denen eine nichts anderes als den Widtmann-Text mit kaum aufzufindenden Änderungen präsentierte; Anfang der 1990er Jahre gab es dann noch einmal drei Übersetzungen bzw. Bearbeitungen. Eine englischen Ausgaben vergleichbare Erschließung des Romans über Anmerkungen und Kommentare sowie die Thematisierung bzw. Korrektur eklatanter Fehler des Originals wurde bislang nicht geleistet. Schon bei Stoker gehen vier Personen in ein Zimmer, um es zu fünft wieder zu verlassen, wechselt der Name von van Helsings Hotel oder es passen Daten und Tageszeiten auf vielfältige Weise nicht zueinander. Geben derartige textlogische Schwächen und Fehler heute den Aficionados zwar Anlass zu den verschiedensten Verschwörungstheorien, um die Realität des Berichteten zu beweisen, so |552|sind sie dennoch in originalsprachigen Ausgaben getilgt bzw. nicht unkommentiert belassen. Der spätviktorianische Roman ist dem Zeitgeschmack entsprechend voller Sentimentalität, Pathos und Frömmelei – eine Gefühligkeit, die vom ersten deutschen Übersetzer nicht gemildert, sondern eher noch verstärkt worden ist. Zur Illustration weiterer Schwächen des bis heute nachgedruckten Widtmann’schen Textes mögen einige Beispiele genügen: Es gibt zahlreiche Verwechslungen des Personals, insbesondere geraten John und Jonathan durcheinander. Kapitelüberschriften sind falsch, und die Handhabung der Anredeformen »Sie« und »Du« – eine Gewissensfrage jeder Übersetzung aus dem Englischen – ist situativ-sprunghaft. Neben offenkundigen Übersetzungsfehlern und unglücklichen Übertragungen (»bloofer Lady« wird zu »blutige Dame«) gibt es sogar Fehlstellen, durch deren Ergänzung der hier vorliegende Text gegenüber Widtmann um ca. fünf Prozent an Umfang gewonnen hat. Die von uns beigegebenen Fußnoten erheben nicht den Anspruch einer kritischen Ausgabe; gleichwohl sollen sie dem interessierten Leser Anspielungen Stokers und aus heutiger Sicht erklärungsbedürftige Textstellen erschließen, Fehler des Originaltextes kenntlich machen und gelegentlich Hinweise zur Übersetzung geben. Aufgrund der tief greifenden stilistischen und inhaltlichen Arbeit am Text liegt Bram Stokers »Dracula« hier nun in vollgültig neuer Gestalt vor, die das Original nicht nur zuverlässig wiedergeben, sondern auch frischer und korrekter präsentieren möchte als bisherige Ausgaben.

Martin Engelmann