|524|SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL

 

Mina Harkers Tagebuch

 

1. November

Wir sind den ganzen Tag schnell gereist. Die Pferde scheinen es uns zu danken, dass sie gut behandelt werden, denn sie legen ihre Etappen in vollem Tempo zurück, ohne dass wir sie allzu sehr antreiben müssen. Wir haben sie nun schon mehrfach gewechselt, aber da alle Tiere ihr Bestes geben, erwarten wir auch im Weiteren keine Schwierigkeiten. Dr. van Helsing gibt sich wortkarg. Er erzählt den Bauern lediglich, dass er möglichst schnell nach Bistritz müsse, und er bezahlt sie gut, damit sie den Pferdewechsel beschleunigen. Wir essen eine heiße Suppe, trinken einen Kaffee oder Tee, dann geht es schon wieder weiter. Es ist ein wunderbares Land, voller Schönheiten jeglicher Art, und die Leute sind mutig, stark und einfach. Darüber hinaus scheinen sie viele Eigenarten zu besitzen, und sie sind sehr, sehr abergläubisch. Gleich im ersten Haus, in dem wir abstiegen, bekreuzigte sich die Frau, die uns bediente, als sie die Narbe auf meiner Stirn erkannte, und sie streckte zwei Finger gegen mich aus, um den Bösen Blick zu bannen. Ich glaube, sie haben dann unser Essen aus Furcht mit einer doppelten Portion Knoblauch gewürzt, und Knoblauch kann ich gar nicht mehr ausstehen. Seit diesem Erlebnis habe ich es vermieden, meinen Hut und meinen Schleier abzunehmen, so bin ich ihren abergläubischen Bräuchen entkommen. Wir kommen gut voran, und da wir keinen Kutscher bei uns haben, der Gerüchte verbreiten könnte, erregen wir auch kein Aufsehen. Ich könnte mir aber denken, dass uns die Furcht vor meinem Bösen Blick dennoch auf den Fersen ist. Der Professor scheint unermüdlich zu sein. Den ganzen Tag über wollte er keine Pause machen, obwohl |525|er mich lange hatte schlafen lassen. Gegen Sonnenuntergang hat er mich wieder hypnotisiert. Er erzählte mir darauf, dass meine Antwort wie immer gewesen sei: »Dunkelheit, plätscherndes Wasser und knarrendes Holz.« Unser Feind ist also noch immer auf dem Fluss. Ich habe Sehnsucht nach Jonathan, aber Furcht empfinde ich weder für ihn noch für mich. Ich schreibe dies, während wir in einem Bauernhaus warten, bis die frischen Pferde eingespannt sind. Dr. van Helsing ist eingeschlafen. Armer Mann, er sieht sehr erschöpft, alt und grau aus, aber seine Lippen sind fest zusammengepresst wie bei einem Feldherrn – selbst im Schlaf verlässt ihn seine Entschlossenheit nicht. Wenn wir von hier gut weggekommen sind, muss ich die Kutsche übernehmen und ihn zum Weiterschlafen überreden. Ich werde ihn darauf hinweisen, dass schwere Tage vor uns liegen. Wenn seine Kraft am meisten benötigt wird, darf er schließlich nicht zusammenbrechen. Alles ist bereit, gleich geht es weiter.

 

2. November, morgens

Ich war erfolgreich, und wir wechselten uns die Nacht über beim Kutschieren ab. Nun steigt der Tag über uns herauf, hell und kalt. Es liegt eine merkwürdige Schwere in der Luft – ich schreibe »Schwere«, weil mir augenblicklich kein besseres Wort dafür einfällt, dass wir beide uns so bedrückt fühlen. Es ist sehr kalt, und nur unsere warmen Pelze schützen uns einigermaßen. Im Morgengrauen hat mich van Helsing wieder hypnotisiert, diesmal war die Botschaft: »Dunkelheit, knarrendes Holz, tobendes Wasser.« Der Fluss scheint sich also zu verändern, je weiter sie ihn hinauffahren. Ich hoffe, dass mein Mann sich nicht in Gefahr begibt, jedenfalls in keine größere als nötig. Aber wir sind ja ohnehin alle in Gottes Hand.

 

2. November, nachts

Wieder waren wir den ganzen Tag unterwegs. Das Land wurde wilder, je weiter wir kamen, und die mächtigen Ausläufer der |526|Karpaten, die uns in Veresti in großer Ferne am Horizont erschienen sind, türmen sich nun rings um uns auf. Wir sind guter Dinge, wahrscheinlich weil wir uns beide bemühen, den anderen aufzuheitern, was dann auf uns selbst zurückwirkt. Dr. van Helsing meint, dass wir gegen Morgen den Borgopass erreichen werden. Häuser gibt es hier nur noch sehr wenige, und der Professor sagt, dass wir die jetzigen Pferde behalten werden, da keine Aussicht auf einen nochmaligen Wechsel mehr bestehe. Er hat beim letzten Halt vorsorglich noch zwei Pferde dazugekauft, wir fahren also vierspännig. Die lieben Tiere sind geduldig und gutmütig und machen uns keine Mühe. Außer uns gibt es keine Reisenden auf der Straße, daher kutschiere zuweilen auch ich. Es hätte keinen Vorteil für uns, den Pass vor Tagesanbruch zu erreichen, und so können wir es nun langsamer angehen lassen und abwechselnd ein wenig ruhen. Was wird der morgige Tag wohl bringen? Wir werden den Ort aufsuchen, an dem mein lieber Mann so Furchtbares erlitten hat. Gott führe uns den richtigen Weg und halte seine schützende Hand über Jonathan und die, die uns teuer sind, denn es drohen ihnen große Gefahren. Was mich betrifft, so bin ich nicht würdig, dass er auf mich herabsieht. Ich bin unrein vor seinem Angesicht und werde es so lange sein, bis ich wieder vor ihm stehen kann, ohne seinen Zorn zu erregen.

 

Abraham van Helsings Memorandum

 

4. November

Dies meinem treuen Freund John Seward, Dr. med., aus Purfleet, London, falls ich ihn nicht mehr sehen sollte – möge es ihm zur Aufklärung dienen.

Es ist Morgen, und ich sitze an einem Feuer, das ich mit Madame Minas Hilfe die ganze Nacht über unterhalten habe. Es ist sehr kalt, so kalt, dass der graue Himmel ganz voll schwerer Schneewolken hängt, die, wenn sie herunterkommen, die Landschaft |527|in ein dichtes Winterkleid hüllen werden, und dies umso rascher, als auch der Boden schon hart gefroren ist. Das Wetter scheint Madame Mina schwer zu schaffen zu machen. Sie hatte den ganzen gestrigen Tag über Kopfschmerzen und war gar nicht sie selbst. Sie, die doch sonst immer so frisch ist, hat buchstäblich nichts getan, sie schlief, schlief und schlief! Sogar ihren Appetit hatte sie verloren, und sie machte auch keine Einträge mehr in ihr Tagebuch, wofür sie früher jede freie Minute nutzte. Mir drängt sich langsam der Gedanke auf, dass da etwas nicht stimmt.

Die Nacht über war sie allerdings wieder munterer. Ihr langer Schlaf am Tag muss sie erfrischt und gestärkt haben, denn sie war so freundlich und angenehm wie immer. Gegen Sonnenuntergang hatte ich den Versuch unternommen, sie zu hypnotisieren, aber es war leider vergeblich. Mein Einfluss auf sie ist von Tag zu Tag geringer geworden, und seit gestern fehlt er vollkommen.

Nun zu den letzten Ereignissen. Da Madame Mina mit dem Stenografieren aufgehört hat, muss ich die Aufzeichnungen wohl auf die umständliche alte Weise erledigen, damit uns kein Tag in unseren Papieren fehlt.

Wir erreichten den Borgopass gleich nach Sonnenaufgang gestern Morgen. Zuvor war die herannahende Dämmerung das Signal für mich, den Wagen anzuhalten und die Hypnose vorzubereiten. Wir stiegen aus, und ich bereitete am Wegesrand ein Lager aus Pelzen, auf dem sich Madame Mina ausstreckte. Es war schwieriger als je zuvor, sie in Trance zu versetzen, und der Zustand hielt auch nur äußerst kurz an. Wie immer erhielt ich die Antwort: »Dunkelheit und wirbelnde Wasser.« Dann erwachte sie, munter und strahlend. Wir setzten unseren Weg fort und erreichten gleich darauf den Pass. In diesem Moment wurde sie von einer feurigen Begeisterung gepackt, und irgendeine neue Kraft schien sich in ihr zu entwickeln. Sie deutete in eine bestimmte Richtung und sagte:

»Dies ist der Weg.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte ich.

|528|»Natürlich weiß ich das«, antwortete sie und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Ist nicht mein Jonathan diesen Weg gefahren und hat seine Notizen darüber gemacht?«

Erst kam mir das doch ziemlich sonderbar vor, dann aber stellte ich fest, dass der von ihr gewiesene Weg ohnehin der einzige war. Die kleine Straße wird kaum benutzt, und sie unterscheidet sich gewaltig von der Poststrecke Bukowina-Bistritz, die breit, fest und viel befahren ist.

So schlugen wir diesen Weg ein. Manchmal stießen wir auf vermeintliche Gabelungen und Abzweigungen, bei denen wir nicht einmal wussten, ob es überhaupt Wege waren, denn eine leichte Schneedecke lag auf ihnen. Wann immer wir jedoch im Zweifel waren, fanden sich unsere Pferde von allein zurecht – ich ließ ihnen einfach die Zügel, und sie trabten voran. Hin und wieder meinten wir schon Dinge zu erkennen, die Jonathan in seinem merkwürdigen Tagebuch erwähnte. So ging es Stunde um Stunde. Ich sagte Madame Mina, sie solle doch versuchen, etwas zu schlafen, was sie auch tat. Sie schlief dann aber sehr lange, so lange, dass ich misstrauisch wurde und den Versuch unternahm, sie zu wecken. Es gelang mir nicht, sie schlief einfach weiter. Da ich nicht allzu grob mit ihr umgehen wollte und ja auch wusste, was sie alles durchgemacht hatte, ließ ich sie dann einfach in Ruhe. Ich denke, ich muss schließlich aber selbst weggenickt sein, denn das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich schuldbewusst zusammenzuckte, als ob ich irgendetwas verbrochen hätte. Wieder zu mir gekommen, saß ich kerzengerade auf dem Wagen, die Zügel in den Händen, die Pferde trotteten dahin wie bisher. Ich sah mich um und bemerkte, dass Madame Mina noch immer schlief. Es war nicht mehr lange bis zum Sonnenuntergang, über dem Schnee lagen die Strahlen in breiten, goldenen Fluten, und wir warfen lange, große Schatten bis dorthin, wo die Berge steil anstiegen. Wir fuhren aufwärts, es ging jetzt nur noch stetig bergan, und es wurde so rau und felsig um uns herum, als wären wir am Ende der Welt.

|529|Nun konnte ich Madame Mina ohne besondere Schwierigkeit aufwecken. Da die Zeit gekommen war, versuchte ich sogleich, sie in Hypnose zu versetzen, aber es gelang mir nicht. Was auch immer ich tat, sie schien es gar nicht zu bemerken. Noch mitten in meinen Bemühungen stellte ich dann fest, dass es um uns her finster geworden war, die Sonne war verschwunden. Madame Mina aber lachte, sie war wieder vollkommen munter und sah so wohl aus, wie sie seit jener Nacht in Carfax, als wir das erste Mal das Haus des Grafen betraten, nicht mehr ausgesehen hatte. Ich war erstaunt, und die Sache war mir nicht geheuer, aber Madame Mina war so freundlich und fürsorglich, dass ich alle Furcht vergaß. Ich zündete ein Feuer an, denn wir haben Holzvorräte mitgebracht. Sie machte sich daran, das Abendbrot vorzubereiten, während ich die Pferde abschirrte, sie an einem geschützten Platz festband und fütterte. Als ich dann ans Feuer zurückkehrte, hatte Madame Mina das Essen schon fertig. Ich wollte ihr etwas zureichen, aber sie lächelte und sagte, dass sie bereits gegessen habe, da sie vor Hunger nicht mehr habe warten können. Das gefiel mir gar nicht, und ich hatte große Zweifel an ihren Worten. Zugleich fürchtete ich aber, sie zu erschrecken, und so aß ich schweigend allein. Dann wickelten wir uns in die Pelze und legten uns neben das Feuer. Ich sagte ihr, dass sie schlafen solle, während ich Wache hielt. Aber bald hatte ich vergessen, dass ich wachen wollte, und ich schlief ein. Wenn ich dann des Nachts plötzlich auffuhr, fand ich sie jedes Mal ruhig, aber munter daliegen und mich mit fröhlichen Augen anblinzeln. Dies passierte öfter; ich muss also ziemlich viel geschlafen haben, bevor der Morgen kam. Als ich vorhin erwachte, versuchte ich wieder, sie zu hypnotisieren, aber obwohl sie gehorsam die Augen schloss, konnte sie nicht einschlafen. Die Sonne stieg höher und höher, und als der Schlaf schließlich über sie kam, war es für die Trance zu spät, aber sie schlief so tief, dass sie nicht mehr aufzuwecken war. Nachdem ich die Pferde angespannt und alles zur Abfahrt vorbereitet hatte, musste ich sie aufheben und schlafend in den |530|Wagen legen. Sie sieht in ihrem Schlummer noch gesünder und frischer aus als zuvor. Das ist es aber gerade, was mir nicht gefällt. Ich hege große Befürchtungen, ich fürchte alles, sogar das Denken fürchte ich, aber ich muss meinen Weg weitergehen. Es handelt sich um Leben oder Tod, sogar um mehr als das, und wir dürfen nicht zurückschrecken.

 

5. November, morgens

Mein lieber John, lassen Sie mich Ihnen alles genau berichten. Obwohl wir beide gemeinsam schon so viele seltsamen Dinge erlebt haben, könnten Sie jetzt vielleicht doch glauben, dass ich, van Helsing, verrückt geworden wäre, dass die zahlreichen Schrecken und die andauernden Angriffe auf meine Nerven mich schließlich doch noch um meinen Verstand gebracht hätten.

Wir fuhren den ganzen gestrigen Tag hindurch und gelangten immer tiefer ins Gebirge hinein, in Landschaften, die immer einsamer und wilder wurden, vorbei an tief gähnenden Abgründen und hohen Wasserfällen. Es sah aus, als hätte die Natur hier Karneval gefeiert. Madame Mina schlief ununterbrochen, und obwohl ich Hunger bekam und diesen stillte, konnte ich sie nicht einmal zu einer Mahlzeit aufwecken. Ich begann zu fürchten, dass sich der verhängnisvolle Bann des Ortes bereits auf sie gelegt habe, schließlich hatte sie ja schon die Bluttaufe des Vampirs empfangen. ›Nun‹, sagte ich zu mir selbst, ›wenn es so sein sollte, dass sie den ganzen Tag schläft, so muss ich es ihr eben gleichtun, damit ich die Nacht über munter bin.‹ Und so ließ ich auf dem Kutschbock meinen Kopf hängen und schlief ein, während die Pferde uns weiter die holprige, uralte Straße entlangzogen. Wieder war mein Erwachen plötzlich, und wieder war es mit einem unbestimmten Gefühl von Schuld verbunden. Es war viel Zeit vergangen. Madame Mina schlief noch immer, und die Sonne stand schon tief. Um uns herum aber war alles verändert: Die drohenden Berge schienen zurückgewichen zu sein, und wir |531|befanden uns nun nahe der Spitze eines steil ansteigenden Felsens, den eine Burg krönte, wie sie Jonathan in seinem Tagebuch beschrieben hatte. Ich frohlockte und erschauderte zugleich, denn jetzt war das Ende nahe, ob gut oder schlimm. Nachdem ich problemlos Madame Mina aufgeweckt hatte, versuchte ich, sie zu hypnotisieren. Leider vergeblich, wie immer in letzter Zeit. Nach dem Sonnenuntergang herrschte noch eine Weile Zwielicht, das der noch immer gerötete Himmel gemeinsam mit seinem Widerschein auf dem frisch gefallenen Schnee erzeugte. Bevor die Dunkelheit hereinbrach, spannte ich die Pferde aus und fütterte sie an einer geschützten Stelle. Dann zündete ich wieder ein Feuer an, in dessen Nähe es sich Madame Mina, die nun vollkommen erwacht war und lieblicher aussah als je, inmitten ihrer Reisedecken bequem machte. Ich bereitete das Abendessen, aber sie wollte nichts zu sich nehmen, weil sie, wie sie sagte, keinen Hunger habe. Ich nötigte sie nicht, da ich wusste, dass es doch vergebens gewesen wäre. Aber ich selbst aß kräftig, schließlich muss ich mir in unser aller Interesse meine Kräfte erhalten. Besorgt über das, was sich ereignen könnte, zog ich danach auf dem Boden einen Ring um den Platz, wo Madame Mina saß – groß genug für uns beide. Auf den Ring streute ich zerbröselte Hostien aus, so fein und gleichmäßig, dass es einen zuverlässigen Schutz ergab. Sie saß die ganze Zeit über still, so still wie eine Tote. Dann wurde sie bleicher und bleicher, bis sie schließlich so weiß war wie der Schnee ringsum, aber sie sagte kein Wort. Als ich darauf zu ihr trat, klammerte sie sich fest an mich, und ich fühlte, wie das arme Geschöpf vom Kopf bis zu den Füßen zitterte und bebte. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, forderte ich sie auf:

»Würden Sie mit mir hinüber ans Feuer kommen?« Ich wollte nämlich erfahren, ob sie dazu imstande wäre. Sie erhob sich, aber nach nur einem Schritt blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen.

»Warum gehen Sie nicht weiter?«, fragte ich. Sie schüttelte den |532|Kopf und begab sich auf ihren Platz zurück, wo sie sich niederließ. Dann blickte sie mich mit weit offenen Augen an, als ob sie aus tiefem Schlaf erwacht wäre, und sagte leise:

»Ich kann es nicht!« Danach schwieg sie. Ich war jedoch zufrieden, denn ich wusste ja, dass das, was sie nicht konnte, auch keines von den Wesen vermochte, die wir fürchteten. Mochte ihrem Leib auch Gefahr drohen, ihre Seele war jetzt wenigstens in Sicherheit.

Bald darauf begannen die Pferde zu wiehern und an ihren Stricken zu zerren, und ich ging zu ihnen hinüber. Als sie meine Hände fühlten, schnaubten sie leise und freudig und wurden für eine Weile wieder ruhiger. Dies wiederholte sich noch mehrere Male, und immer gelang es mir, beruhigend auf sie einzuwirken. Schließlich brach die kälteste Stunde der Nacht an, die Zeit, in der alles Leben in der Natur zu erstarren scheint. Auch unser Feuer begann zu verglimmen, und ich ging, um neues Brennholz zu holen. Der Schnee fiel nun dichter, und mit ihm kam ein kalter Nebel. Selbst zu dieser Mitternachtsstunde war es nicht vollkommen finster, denn der Schnee schien für ein gewisses Licht zu sorgen. Plötzlich kam es mir so vor, als würden die durch Nebelschwaden hindurchwirbelnden Flocken sich zu Gestalten formen, zu Frauen mit wehenden Gewändern. Alles lag in tiefem, düsterem Schweigen, nur die Pferde wieherten und scheuten, als ob sie von Sinnen wären. Angst bemächtigte sich meiner, entsetzliche Angst. Ich eilte zurück in unseren schützenden Ring, und augenblicklich kam ein Gefühl der Sicherheit über mich. Nach einer Weile war ich davon überzeugt, dass mir meine Vorstellungskraft aufgrund der Anstrengungen und der Ruhelosigkeit der letzten Tage einen Streich spielte. Narrten mich meine eigenen Erinnerungen an Jonathans Aufzeichnungen, an all seine fürchterlichen Erlebnisse an diesem Ort? Die Schneeflocken und der Nebel tanzten und wirbelten in wilden Kreisen um uns herum. Da glaubte ich wieder, die durchsichtigen Schatten der gespenstischen Frauen zu erkennen, die Jonathan hatten |533|küssen wollen. Unsere Pferde drängten sich immer enger und enger zusammen, und ihre Angstrufe klangen nun beinahe wie menschliche Schmerzensschreie. Aus lauter Furcht wagten sie nicht einmal, sich loszureißen und zu fliehen. Die unheimlichen Schatten im Schneetreiben schienen näher zu kommen, bald darauf tanzten sie im großen Kreis um uns herum. Ich fürchtete um Madame Mina, aber als ich mich nach ihr umsah, saß sie ruhig da und lächelte mir zu. Ich wollte noch einen Versuch unternehmen, unser Feuer zu erhalten, aber da hielt sie mich fest und flüsterte mit leiser Stimme, wie im Traum.

»Nein, nein! Gehen Sie nicht hinaus. Hier sind Sie sicher!« Ich drehte mich zu ihr um und sah ihr in die Augen.

»Und Sie? Um Sie ängstige ich mich!« Da lachte sie ein leises, unwirkliches Lachen und erwiderte:

»Angst um mich? Warum denn um mich? Niemand auf der Welt ist vor denen sicherer als ich!« Als ich mir den Sinn ihrer Worte noch zu erklären suchte, ließ ein Windstoß die kleine Flamme unseres Feuers hoch aufflackern, sodass ich die rote Narbe auf ihrer Stirne erblickte. Da allerdings begriff ich. Und hätte ich es noch immer nicht verstanden, so hätte ich es bald darauf gelernt, denn die wirbelnden Gebilde aus Nebel und Schnee kamen immer näher, hielten sich aber außerhalb des geweihten Kreises. Dann begannen sie sich zu materialisieren, bis in realen Körpern wahrhaftig die drei Frauen vor mir standen, die es in der Burg nach Jonathans Hals gelüstet hatte. Ich fürchtete, Gott hätte mir den Verstand genommen, aber ich sah sie mit eigenen Augen: Ich erkannte die schwellenden, üppigen Formen, die klaren, grausamen Augen, die weißen Zähne, die rötliche Farbe und die wollüstigen Lippen, die Madame Mina zulächelten. Die drei schlangen ihre Arme ineinander, zeigten flüsternd auf Madame Mina, winkten ihr zu und säuselten in so süßen Tönen, dass Jonathan sie mit dem schrilles Sirren eines Glases beschrieben hatte, dessen Rand man reibt:

»Komm, Schwesterchen, komm! Komm zu uns! Komm!« Voller |534|Angst wandte ich mich Madame Mina zu, aber als ich sie sah, loderte mein Herz vor Freude auf, denn in ihren schönen Augen lag ein solcher Ausdruck von Entsetzen und Abscheu, dass ich wieder Hoffnung zu fassen wagte. Gott sei gedankt, sie gehörte noch nicht zu jenen! Ich raffte alles brennbare Holz in unserer Nähe zusammen, hielt ein Stück einer Hostie schützend vor mich und ging auf das Feuer zu. Die drei zogen sich vor mir zurück und lachten ein schauerliches, tiefes Lachen. Ohne Angst legte ich das Holz in die Glut, denn ich wusste, welch starke Macht uns beschützte. Mir konnten sie nicht nahekommen, solange ich eine solche Waffe trug, und Madame Mina nicht, solange diese sich in dem Ring aufhielt, den sie selbst ebenso wenig verlassen konnte, wie jene in ihn einzudringen vermochten. Die Pferde hatten unterdessen zu wiehern aufgehört. Sie lagen still auf der Erde, und der Schnee bedeckte sie langsam und leise. Als ich bemerkte, dass sie immer weißer wurden, wusste ich, dass die armen Tiere sich nie wieder fürchten müssten.

So saßen wir dann beieinander, bis das Rot des Morgenhimmels durch das Schneegestöber drang. Ich war verzweifelt gewesen, verschreckt und voller Sorgen, als aber die herrliche Sonne am Horizont emporstieg, zog neues Leben in mich ein. Bei den ersten Anzeichen der Morgendämmerung vermischten sich die Gespenster allmählich wieder mit dem stöbernden Schnee, um darauf wie Nebelschwaden in Richtung der Burg zu entschwinden.

Trotz unserer aufwühlenden Nacht wollte ich bei Beginn des Morgengrauens unsere Hypnose vollziehen, aber Madame Mina lag in einem so tiefen Schlaf, dass ich sie nicht zu wecken vermochte. Ich versuchte darauf, sie im Schlaf zu hypnotisieren, aber sie reagierte nicht auf mich. So wurde es Tag. Ich fürchtete mich noch immer, den Platz zu verlassen, dennoch habe ich das Feuer wieder angeschürt und nach den Pferden gesehen, sie sind alle tot. Heute werde ich viel zu tun haben, aber ich muss noch abwarten, bis die Sonne höher steht. Ich werde nämlich Plätze |535|aufsuchen müssen, in denen mir das Sonnenlicht Sicherheit bietet, selbst wenn es durch Schnee oder Nebel verdunkelt werden mag.

Ich will mich noch durch ein Frühstück stärken und dann an mein schweres Werk gehen. Madame Mina schläft noch immer, und, Gott sei Dank, sie schläft ruhig …

 

Jonathan Harkers Tagebuch

 

4. November, abends

Der Unfall der Barkasse war eine schlimme Sache für uns. Ohne ihn hätten wir den Grafen sicher längst eingeholt, und meine liebe Mina wäre bereits frei. Ich wage kaum daran zu denken, dass sie jetzt in der Nähe dieses schrecklichen Ortes weilt. Wir haben nun Pferde genommen und setzen die Verfolgung auf dem Land fort. Ich schreibe dies, während Godalming sich rüstet. Unsere Waffen sind bereit, die Szigany sollten sich hüten, es auf einen Kampf ankommen zu lassen. Wenn doch nur Morris und Seward bei uns wären! Wir können nun nichts weiter tun als hoffen. Wenn ich nicht mehr zum Schreiben kommen sollte, so lebe wohl, Mina! Gott segne und beschütze Dich!

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

5. November

Mit Anbruch der Morgendämmerung sahen wir die Gruppe der Szigany vor uns. Sie kamen mit ihrem Leiterwagen vom Fluss herauf und eilten landeinwärts. Ein dichter Schwarm von Reitern umgab den Wagen, und sie stürmten dahin wie Besessene. Es schneit leicht, und in der Luft ist eine seltsame Unruhe. Vielleicht sind dies auch nur unsere eigenen überreizten Gefühle, aber wir spüren einen deutlichen Druck. In weiter Ferne höre ich |536|das Heulen von Wölfen, die der Schnee von den Bergen heruntertreibt. Sie sind eine Gefahr, die uns von allen Seiten umgibt. Die Pferde sind bereit, gleich geht es los. Wir reiten auf den Tod zu, aber Gott alleine weiß, wessen Tod es sein wird, und wo, wann und wie er eintreten mag …

 

Dr. van Helsings Memorandum

 

5. November, nachmittags

Wenigstens bin ich noch bei Verstand! Ich danke Gott für seine Gnade, wenn er mich auch Schlimmes hat durchmachen lassen. Ich ließ Madame Mina schlafend inmitten des geweihten Kreises zurück und schlug den Weg zur Burg ein. Ein Schmiedehammer, den ich aus Veresti mitgebracht hatte, leistete mir gute Dienste: Obgleich die Tore nicht verschlossen waren, schlug ich sie dennoch aus ihren rostigen Angeln, damit weder böse Absicht noch unglücklicher Zufall sie zuwerfen und mich einsperren konnten – ich hatte aus Jonathans bitteren Erfahrungen meine Lehren gezogen. Die Erinnerung an Jonathans Aufzeichnungen wies mir dann auch den Weg zur alten Kapelle, denn dort hatte ich, wie ich ja bereits wusste, meine Aufgabe zu erfüllen. Die Luft in dem verfallenen Gemäuer war drückend. Anscheinend hing Schwefeldampf im Raum, denn ich hatte wiederholt Schwindelanfälle. Dazu dröhnten mir die Ohren, aber vielleicht war es auch das ferne Heulen von Wölfen, was ich hörte. Ich dachte an Madame Mina und geriet in große Angst um sie. Mein Dilemma war schrecklich: Da ich nicht gewagt hatte, sie mit an diesen Ort zu bringen, hatte ich sie schlafend im Schutz des geweihten Kreises zurückgelassen, sicher vor dem Vampir. Nun aber drohten ihr dort vielleicht die Wölfe! Nach kurzen Zweifeln beschloss ich, hier trotz allem meine Arbeit zu verrichten. Was die Wölfe anbetraf, so mussten wir uns in Gottes Hand begeben: Im schlimmsten Fall bedeutete es ja nur ihren Tod, der |537|sie zugleich von dem Bann erlöste. Ich traf diese Entscheidung für sie, denn ich hätte ebenso entschieden, wenn es um mich gegangen wäre: Der Rachen eines Wolfes ist schließlich eine bessere Ruhestätte als das Grab eines Vampirs. Und so begann ich meine Arbeit.

Ich wusste, dass ich mindestens drei Gräber finden musste – drei bewohnte Gräber. So suchte ich und entdeckte auch bald das erste, in dem eine der dunkelhaarigen Frauen ihren Vampirschlaf hielt. Sie schien so voller Leben und war von so verlockender Schönheit, dass es mich kalt überlief, als wäre ich gekommen, einen Mord zu begehen. Nur zu gut verstand ich nun die alten Geschichten, in denen Männer mit den gleichen Zielen wie ich auszogen, sich dann aber von ihren Herzen überwältigen ließen und die Nerven verloren. Sie zögerten dann so lange, bis die üppige Schönheit der Untoten sie vollständig in ihren Bann gezogen hatte, und sie blieben bis zum Sonnenuntergang, wo der Vampirschlaf endet. Wenn sich dann die zauberhaften Augen der schönen Frau öffnen und voller Liebe erglänzen, wenn sich ihr wollüstiger Mund dem Kuss darbietet … ein Mann ist ja so schwach. Das Ergebnis ist ein weiteres Opfer, einer mehr, der sich den finsteren und abstoßenden Reihen der Untoten zugesellt.

Ganz ohne Zweifel, ich war fasziniert von ihr, und dass, obwohl sie in einem vom Alter zerfressenen und vom Staub der Jahrhunderte bedeckten Grab lag, über dem derselbe widerliche Geruch hing wie über den Verstecken des Grafen. Ja, ich war erregt – ich, van Helsing, mit allen meinen Vorsätzen und meinem begründeten Hass. In mir wuchs ein Verlangen, die Tat aufzuschieben, meine Kräfte schienen zu erlahmen, und meine Seele wurde schwer. Vielleicht war es die durchwachte Nacht, vielleicht die drückende Luft, was mich schließlich überwältigte. Gewiss ist jedoch, dass ich in einen schlafähnlichen Zustand hinüberdämmerte, einen Schlaf mit offenen Augen wie bei jemandem, der sich ganz und gar einem süßen Zauber ergibt. Doch da |538|erklang plötzlich durch die schneeklare Luft ein lang gezogener Klagelaut voller Schmerz und Trauer, der mich durchfuhr wie Posaunentöne. Ich schrak hoch, denn es war die Stimme Madame Minas, die ich hörte!

Sofort raffte mich wieder auf, um meine furchtbare Aufgabe fortzuführen. Ich wuchtete nacheinander die vorhandenen Grabplatten hoch und fand bald die andere dunkelhaarige Schwester. Um nicht noch einmal der Faszination zu erliegen, vermied ich es, sie länger anzusehen. Stattdessen setzte ich meine Suche fort und entdeckte in einem hohen, reich verzierten Steinsarg, der auf eine besondere Verehrung schließen ließ, die dritte, blonde Schwester. Ihr Anblick war kaum zu ertragen: Sie war so strahlend schön, so außerordentlich verlockend, dass mein männlicher Instinkt, der mein Geschlecht dazu treibt, die Frauen zu lieben und zu beschützen, mich erneut in größte Erregung versetzte. Gott sei es gedankt, dass der Klageschrei meiner lieben Madame Mina mir aber noch immer in den Ohren klang, denn so konnte der Zauber mich nicht mehr besiegen. Ich zwang mich, mein Werk zu vollenden. Soweit ich es erkennen konnte, hatte ich alle Gräber der Kapelle untersucht. Und da uns in der letzten Nacht nur drei Phantome heimgesucht hatten, ging ich davon aus, dass keine weiteren Untoten zu entdecken seien. Einzig ein großer Hochsarg war übrig, der sich in Ausstattung und Proportionen deutlich von allen anderen abhob. Seine Inschrift bestand aus nur einem Wort:

DRACULA

 

Das also war die Ruhestätte des Königsvampirs, dem so viele andere untertan sind. Dass der Sarg leer war, überzeugte mich restlos von dieser ohnehin offenkundigen Tatsache. Bevor ich daranging, die drei Frauen durch meine schwere Arbeit in ihr wahres, totes Selbst zurückzuverwandeln, legte ich in Draculas Grab eine Hostie und verbannte ihn, den Untoten, damit für immer aus seinem Zufluchtsort.

|539|Dann begann die schreckliche, von mir selbst gefürchtete Aufgabe. Mit nur einer Frau wäre es mir vergleichsweise einfach vorgekommen, aber gleich drei auf einmal? Noch zweimal neu beginnen zu müssen, nachdem man den Horror endlich durchgestanden hat? War es schon schrecklich genug bei der guten Lucy, wie musste es dann erst bei diesen Wesen hier werden, die Jahrhunderte überlebt und ihre Kräfte im Laufe der Zeiten ins Unermessliche verstärkt haben mussten! Wie würden sie ihr verdorbenes, unechtes Leben verteidigen, wenn Sie Gelegenheit dazu bekämen …

Mein lieber Freund John, es war wahrhaftig die Arbeit eines Metzgers. Hätte mir nicht der Gedanke an andere Tote und an die Lebenden, über deren Häuptern eine so furchtbare Gefahr schwebte, die Kraft gegeben, so hätte ich wohl versagt. Ich zitterte, und ich zittere jetzt noch, aber Gott sei Dank hielten meine Nerven stand, bis alles vorüber war. Hätte ich im Gesicht der ersten Frau nicht den Frieden und die Freude gesehen, die kurz vor der endgültigen Auflösung noch darin wie eine Bestätigung erglänzten, dass ihre Seele nun erlöst sei, ich hätte die Schlächterei nicht durchgestanden. Ich hätte das entsetzliche Knirschen, das der Pfahl beim Einschlagen in den Leib verursachte, nicht zu ertragen vermocht, ebenso wenig wie den Anblick der sich windenden Körper und den blutigen Schaum auf den Mündern. Ich wäre entsetzt geflohen und hätte mein Werk unvollendet gelassen. Aber nun ist es vollbracht! Jetzt kann ich die armen Seelen bedauern und um sie weinen, und wenn ich an sie denke, so sehe ich nur die ruhigen, erlösten Gesichter ihres letzten kurzen Augenblickes vor mir. Denn, Freund John, kaum hatte mein Messer einer jeden von ihnen den Kopf abgetrennt, da schwanden die Leiber dahin und zerbröckelten zu Staub. Es war, als würde der Tod, dem sie eigentlich schon seit Jahrhunderten gehörten, jetzt mit besonderer Macht sein Recht einfordern und laut verkünden: »Ich bin da!«

Im Verlassen der Burg sicherte ich sämtliche Eingänge, auf |540|dass der Graf nie mehr als Untoter in sein Reich zurückkehren kann.

Als ich wieder in den geweihten Kreis zu Madame Mina zurückkehrte, erwachte sie gerade. Sie begrüßte mich unter tränenreichen Klagen darüber, was ich alles erduldet habe.

»Kommen Sie«, sagte sie, »kommen Sie fort von diesem unseligen Ort! Wir wollen meinem Mann entgegeneilen, der, wie ich weiß, auf dem Weg zu uns ist.« Sie sah schmal, bleich und krank aus, aber ihre Augen waren klar und glühten vor Eifer. Es beruhigte mich, sie so blass und schwach zu sehen, denn die Erinnerung an die prallen, blutroten Vampire steckte noch tief in mir.

Und so, voller Vertrauen und Hoffnung, aber zugleich auch von Furcht erfüllt, zogen wir ostwärts, um unsere Freunde zu treffen – und Ihn, von dem Madame Mina mir sagte, dass sie sein Herannahen fühle.

 

Mina Harkers Tagebuch

 

6. November

Es war bereits Nachmittag, als der Professor und ich nach Osten aufbrachen, da ich wusste, dass Jonathan aus dieser Richtung zu erwarten war. Wir gingen nicht sehr schnell, da unser Weg steil abwärts führte und wir Decken und Pelze bei uns trugen, um der Kälte und dem Schnee nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Auch hatten wir einiges an Proviant mitgenommen, denn wir befanden uns schließlich in tiefster Einsamkeit. So weit wir überhaupt durch den fallenden Schnee zu blicken vermochten, deutete nicht das geringste Anzeichen auf die mögliche Nähe menschlicher Behausungen hin. Als wir etwa eine Meile gegangen waren, musste ich mich vor Erschöpfung hinsetzen. Wir ruhten aus und sahen uns um. Hinter uns zeichneten sich die schroffen Formen der Burg Dracula deutlich vom Himmel ab, denn wir waren schon wieder so tief zum Fuß des steilen Felsens herabgestiegen, dass das alte Gemäuer die Karpatengipfel am |541|Horizont überragte. Der Anblick war atemberaubend: In imponierender Erhabenheit ruhte die alte Burg tausend Fuß über uns am Rand eines ungeheuren Abgrundes, von den umliegenden Berggipfeln durch weite Schluchten getrennt – ein wilder und unheimlicher Ort. Aus der Ferne drang Wolfsgeheul an unsere Ohren. Obwohl die Klänge durch den dichten Schneefall gedämpft wurden, jagten sie uns doch einen großen Schrecken ein. An Dr. van Helsings forschenden Blicken erkannte ich, dass er einen strategisch günstigen Punkt suchte, an dem wir im Falle eines Angriffs weniger ungeschützt wären. Der steinige Weg führte immer weiter in die Tiefe, aber er war von unserem Platz aus trotz der sich anhäufenden Schneemassen noch immer gut zu erkennen. Der Professor ging ein Stück voraus, und nach einer Weile hörte ich ihn rufen. Ich stand ebenfalls wieder auf und ging zu ihm hinüber. Er hatte einen prächtigen Platz entdeckt, eine Art natürlicher Höhle mit einem torartigen Eingang zwischen zwei Felsbrocken. Van Helsing nahm meinen Arm und schob mich hinein: »Sehen Sie«, sagte er, »hier sind Sie geschützt. Sollten uns die Wölfe hier angreifen, so kann ich sie einzeln empfangen.« Dann holte er unsere Pelze und richtete mir ein behagliches Lager ein, schließlich brachte er auch noch den Proviant und nötigte mich zum Essen. Aber es war mir unmöglich, schon die Vorstellung des Essens stieß mich ab. So gern ich es ihm zuliebe auch getan hätte, ich konnte mich nicht einmal zu einem Versuch entschließen. Er sah darüber sehr traurig aus, machte mir aber keine Vorwürfe. Stattdessen holte er seinen Feldstecher aus dem Gepäck, kletterte auf einen Felsbrocken und begann, den Horizont abzusuchen. Plötzlich rief er aus:

»Dort, Madame Mina! Sehen Sie nur, dort!« Ich sprang auf und kletterte zu ihm. Er reichte mir sein Fernglas und wies mir die Richtung. Der Schnee fiel nun schwerer, und ein scharfer Wind hatte begonnen, ihn hin und her zu wirbeln. Allerdings sorgte der Wind auch dafür, dass sich das Schneegestöber manchmal lichtete, wodurch sich für einige Zeit eine Aussicht |542|auftat. Von der Höhe, auf der wir standen, bot sich ein weiter Blick. Weit draußen, hinter der weißen Schneewüste, konnte ich das schwarze Band des Flusses erkennen, das in Schleifen und Windungen seinen Weg aus den Bergen nahm. Vor uns aber und in nicht allzu großer Ferne erblickte ich eine Gruppe berittener Männer, die offensichtlich in größter Eile waren. In ihrer Mitte hatten sie ein Fahrzeug, einen langen Leiterwagen, der auf der unebenen Straße von einer Seite zur anderen schwankte, ganz wie der wedelnde Schwanz eines Hundes. Da die Männer sich so scharf von dem weißen Schnee abhoben, konnte ich anhand ihrer Kleidung erkennen, dass es Bauern oder Szigany sein mussten.

Auf dem Wagen befand sich eine große, viereckige Kiste. Mein Herz pochte, als ich sie sah, denn ich wusste, dass nun das Ende nahte. Aber auch der Abend begann sich bereits niederzusenken, und ich wusste ebenso, dass dieses Ding dort in der Kiste bei Sonnenuntergang neue Freiheit erhielt und sich in vielfältiger Gestalt jeder Verfolgung entziehen konnte. In meiner Angst drehte ich mich nach dem Professor um, der zu meinem Erschrecken nicht mehr neben mir stand. Einen Augenblick später entdeckte ich ihn aber am Fuße des Felsblocks; er hatte einen Ring um uns gezogen, gleich dem, der uns die letzte Nacht geschützt hatte. Nachdem er damit fertig war, kam er wieder zu mir herauf und sagte:

»Wenigstens Sie sollen hier vor ihm sicher sein!« Dann nahm er mir das Fernglas aus der Hand und blickte, als der Schnee einen Augenblick weniger dicht fiel, angestrengt hinaus. »Sehen Sie nur, wie schnell sie sind!«, sagte er. »Sie peitschen ihre Pferde und galoppieren, so rasch sie nur können.« Er schwieg eine kurze Weile, dann fügte er mit düsterer Stimme an:

»Sie fahren mit dem Sonnenuntergang um die Wette. Vielleicht sind wir zu spät, Gottes Wille geschehe!« Ein neuer Schneeschauer wirbelte hernieder und verhüllte die ganze Landschaft vor unseren Blicken. Nachdem die Sicht wieder freier geworden |543|war, richtete der Professor sein Fernglas abermals auf die weite Ebene. Plötzlich schrie er auf:

»Sehen Sie, Madame Mina, sehen Sie doch! Da kommen zwei Reiter rasch von Süden heran, das müssen Quincey und John sein. Da, hier haben Sie das Fernglas, schauen Sie rasch, bevor der Schnee uns wieder die Sicht nimmt!« Ich nahm den Feldstecher und sah hinüber. Die beiden Männer mussten wirklich Dr. Seward und Mr. Morris sein, denn ich erkannte zweifelsfrei, dass mein Jonathan nicht dabei war. Zugleich war ich aber davon überzeugt, dass auch er nicht mehr fern sein konnte. Und richtig: Ich sah herum und bemerkte weiter nördlich noch einmal zwei Reiter, die mit halsbrecherischer Geschwindigkeit dahersprengten. Einer von ihnen war Jonathan, das wusste ich gewiss, also musste der andere Lord Godalming sein. Natürlich verfolgten auch sie die Gruppe mit dem Wagen. Als ich dem Professor darüber Bescheid gab, jauchzte er wie ein Schuljunge auf und beobachtete das Rennen so lange, bis ihm ein neuer Schneewirbel die Aussicht nahm. Dann ergriff er seine Winchesterbüchse und lehnte sie schussfertig gegen den Felsblock am Eingang unserer Höhle. »Sie treffen zugleich ein«, sagte er. »Wenn es soweit ist, werden wir die Szigany von allen Seiten fassen.« Unterdessen schien das Heulen der Wölfe schnell näherzukommen, und ich holte meinen Revolver hervor. Sobald das Schneetreiben etwas nachgelassen hatte, hielten wir wieder Ausschau. Es war seltsam, während in unserer nächsten Umgebung der Schnee in schweren Flocken herabfiel, wurde die Sonne draußen im Niedersinken immer freundlicher, je weiter sie sich den fernen Bergspitzen zuneigte. Ich suchte die weite Schneefläche mit dem Fernglas ab und bemerkte nun auch dunkle Punkte, die sich vereinzelt oder in größeren Gruppen auf uns zu bewegten – die Wölfe hatten ihre Witterung aufgenommen.

Jeder Augenblick, den wir warten mussten, erschien uns wie eine Ewigkeit. Der Wind brauste in wilden Stößen heran, und der Schnee wirbelte wie toll um uns herum. Zeitweise konnten |544|wir nicht die Hand vor den Augen erkennen, dann aber wieder, wenn die heulenden Windstöße an uns vorbeigefegt waren, schien sich der Raum um uns aufzuhellen, und es bot sich ein weiter Ausblick. In der letzten Zeit hatten wir uns so sehr nach den Auf- und Untergängen der Sonne gerichtet, dass wir deren exakte Zeitpunkte mittlerweile sehr gut abschätzen konnten. Es war nun nicht mehr lange bis zum Sonnenuntergang.

Wir mochten unseren Uhren gar nicht glauben, dass deutlich weniger als eine Stunde vergangen sein sollte, seit wir unser Felsenversteck gefunden und die verschiedenen Abteilungen entdeckt hatten, die sich auf uns zu bewegten. Der Wind drang nun in wilderen und kälteren Stößen auf uns ein, und er kam jetzt mehr von Norden her. Offenbar hatte er aber die Schneewolken von uns fortgetrieben, denn nur noch gelegentlich erreichte uns ein Schauer. Mittlerweile waren in den einzelnen Gruppen auch die Personen deutlich zu erkennen, sowohl die Verfolger als auch die Verfolgten. Es fiel mir auf, dass die Verfolgten gar nicht zu bemerken oder sich nicht daran zu stören schienen, dass ihnen jemand auf den Fersen war – weder teilten sie sich auf, noch änderten sie ihren Kurs. Sie vergrößerten aber ihre Eile, je weiter sich die Sonne den Bergspitzen näherte.

Immer geringer wurde die Entfernung zwischen uns und ihnen, gleich mussten sie hier sein. Wir kauerten uns hinter unserem Felsen nieder und hielten die Waffen schussbereit. Ich konnte van Helsings Entschlossenheit erkennen, den Wagen und seine Begleiter um keinen Preis passieren zu lassen. Immerhin hatten diese keinerlei Kenntnis von dem Hinterhalt, der ihnen gelegt worden war.

Plötzlich riefen zwei Stimmen zugleich: »Halt!« Die eine gehörte meinem Jonathan, und sie klang vor Aufregung schrill und hoch; die andere Stimme war die von Mr. Morris, und es war ein ruhiger, entschiedener Kommandoton. Wenn die Zigeuner die Sprache auch nicht verstanden, so konnte doch aufgrund dieses Tones kein Missverständnis über das Gesagte bestehen, in welcher |545|Sprache auch immer der Halt verlangt worden wäre. Sie zügelten die Pferde, und augenblicklich setzten sich unsere Reiter an ihre Flanken, Lord Godalming und Jonathan auf der einen, Dr. Seward und Mr. Morris auf der anderen Seite. Der Anführer der Zigeuner, ein blendend aussehender Bursche, der auf seinem Pferd wie ein Zentaur erschien, trieb seine Leute jedoch mit wilden Gesten und wütender Stimme zum Weiterreiten an. Als diese darauf wieder auf ihre Pferde einzuschlagen begannen, rissen die vier Männer um sie herum ihre Winchesterbüchsen an die Wangen und forderten sie damit in unmissverständlicher Weise zum Stehenbleiben auf. Zugleich sprangen auch Dr. van Helsing und ich hinter unserem Felsen hervor und richteten unsere Waffen auf sie. Als die Zigeuner sahen, dass sie vollständig umzingelt waren, zogen sie die Zügel an und blieben stehen. Ihr Anführer drehte sich zu ihnen um und gab ein Kommando, woraufhin ein jeder die Waffen, die er bei sich führte, herauszog. Innerhalb eines kurzen Augenblickes sahen wir uns einer angriffsbereiten Gruppe mit Pistolen und Messern bewaffneter Männern gegenüber.

Der Führer riss mit einer flinken Bewegung sein Pferd herum und rief etwas, was ich nicht verstand, wobei er zuerst auf die Sonne, und dann auf die Burg deutete. Als Antwort sprangen zwei unserer Reiter von ihren Pferden und stürzten auf den Leiterwagen zu. Ich hätte eigentlich furchtbare Angst empfinden müssen, als ich Jonathan in solcher Gefahr sah, aber der Kampfeseifer hatte mich ebenso ergriffen wie die Übrigen. Ich fühlte keine Furcht, sondern nur ein wildes Verlangen zu handeln. Als der Führer der Zigeuner die schnelle Aktion unserer Männer erkannte, gab er seinen Leuten einen Befehl. Diese formierten augenblicklich einen wilden Schutzwall um den Wagen, wobei sie sich gegenseitig bedrängten und stießen.

Ich konnte erkennen, wie Jonathan von der einen und Quincey von der anderen Seite her versuchten, sich einen Weg zum Wagen zu bahnen. Es war offenkundig, dass sie alles daransetzten, |546|ihre Aufgabe vor dem endgültigen Sonnenuntergang zu erfüllen. Weder die Pistolen noch die blitzenden Messer der Zigeuner vor ihnen schienen sie zu beachten, das grimmige Heulen der Wölfe hinter ihnen erst recht nicht. Jonathans Ungestüm und seine unerschütterliche Beharrlichkeit lähmten sichtlich den Mut der Gegner, instinktiv wichen sie aus und gaben ihm den Weg frei. Sofort sprang er auf den Wagen, hob mit einer unvorstellbaren Kraftanstrengung die Kiste an einem Ende hoch und stürzte sie über das Wagenrad zu Boden. Unterdessen musste Mr. Morris Gewalt anwenden, um die Mauer der Szigany auf seiner Seite ebenfalls zu durchbrechen. Ich starrte die ganze Zeit atemlos auf Jonathan und warf nur zuweilen einen Blick aus den Augenwinkeln auf Mr. Morris, der sich in einem verzweifelten Ringen vorwärtskämpfte. Manchmal sah ich über ihm die Messer der Zigeuner blitzen, während er sich seinen Weg durch sie hindurch bahnte. Er parierte die Hiebe mit seinem großen Bowiemesser, und zuerst dachte ich, dass auch er heil bis zum Wagen durchgekommen wäre, aber als er schließlich Jonathans Seite erreichte – es war genau der Moment, in dem Jonathan vom Wagen wieder heruntersprang –, erkannte ich, dass er mit der Hand nach seiner Brust griff und dass Blut zwischen seinen Fingern hervorspritzte. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, die eine Seite der Kiste wie wahnsinnig mit seinem Bowiemesser zu bearbeiten, während Jonathan in verzweifelter Hast von der anderen Seite her den Kistendeckel mit seinem Gurkha-Messer aufzubrechen versuchte. Den vereinten Anstrengungen der beiden Männer konnte das Holz nicht lange standhalten, die Nägel fuhren quietschend aus ihren Löchern, und der Deckel flog herunter.

In diesem Moment ergaben sich die Zigeuner, da sie die Mündungen der Winchesterbüchsen von Lord Godalming, Dr. Seward und Dr. van Helsing noch immer auf sich gerichtet sahen, und wagten keinen weiteren Widerstand. Die Sonne berührte jetzt fast die Bergspitzen, und die ganze Gruppe warf lange Schatten |547|über den Schnee. Ich sah den Grafen in der Kiste auf der Erde liegen, die ihn infolge des Sturzes vom Wagen teilweise bedeckte. Er war leichenblass, ganz wie eine Wachsfigur, und in seinen roten Augen glühte das rachsüchtige Feuer, das ich nur allzu gut kannte. Plötzlich schien er aber die verschwindende Sonne zu bemerken, denn der Hass in seinen Augen verwandelte sich in Triumph.

Im selben Augenblick aber sauste Jonathans großes Messer wie ein Blitz hernieder. Ich schrie laut auf, als es dem Grafen die Kehle zerriss, während sich gleichzeitig Mr. Morris’ Bowiemesser durch das Herz Draculas bohrte.

Was dann kam, schien uns wie ein Wunder: Vor unser aller Augen zerfiel der ganze Körper innerhalb nur eines Atemzuges zu Staub und wehte davon. Ich aber werde mein ganzes Leben lang froh darüber sein, dass kurz vor dem Augenblick der endgültigen Auflösung auch über das Gesicht des Grafen ein Ausdruck des Friedens kam, wie ich ihn nie auf diesem Antlitz für möglich gehalten hätte.

 

Die Burg Dracula lag nun im roten Licht der halb verschwundenen Sonne vor uns, und jeder Stein ihrer zerbrochenen Zinnen hob sich scharf gegen den Abendhimmel ab.

Die Zigeuner, die in uns den Grund für das seltsame Verschwinden des toten Mannes erkannten, rissen wortlos ihre Pferde herum und stürmten davon, als gälte es ihr Leben. Diejenigen, die ohne Pferd waren, sprangen auf den Leiterwagen, wendeten diesen und eilten ihren Kameraden nach. Die Wölfe, die bisher in einem sicheren Abstand gelauert hatten, ließen von uns ab und folgten dem Wagen.

Mr. Morris war zu Boden gesunken, lag auf einem Ellenbogen und presste eine Hand auf die Brust. Das Blut sprudelte noch immer zwischen seinen Fingern hervor. Ich eilte zu ihm, denn der geweihte Kreis hielt mich nun nicht mehr gebannt. Auch Lord Godalming und die beiden Ärzte kamen heran. Jonathan kniete |548|sich hinter den Kameraden, der darauf den Kopf an seine Schulter legte. Seufzend und unter großen Anstrengungen nahm der Verletzte meine Hand in die seine. Er muss mir meine Herzensangst angesehen haben, denn er lächelte mich an und sagte:

»Ich bin überglücklich, zu etwas nützlich gewesen zu sein … oh Gott!« Mit diesem Schrei kämpfte er sich wieder in eine sitzende Position hoch und deutete mit der Hand auf mich: »Dafür lohnt es sich zu sterben! Seht doch nur!«

Die Sonne war nun fast ganz hinter den Bergspitzen verschwunden, ihre letzten Strahlen fielen auf mein Gesicht und überfluteten es rot. Die Blicke der Männer folgten der Hand des Sterbenden, und wie auf ein Zeichen hin sanken sie auf die Knie, während Quincey Morris sprach:

»Lasst uns Gott dafür danken, dass dies nicht alles umsonst gewesen ist. Seht! Der Schnee könnte nicht reiner sein als ihre Stirn, der Fluch ist von ihr gewichen!«

Ein tief empfundenes, ernstes »Amen« kam von allen Lippen, und dann starb er schweigend und mit einem Lächeln als ein wahrer Gentleman.

 

|549|Notiz

 

Sieben Jahre ist es nun her, dass wir gemeinsam durch die Flammen gegangen sind, und das Glück, das einige von uns seitdem gefunden haben, wiegt all unsere Schmerzen reichlich auf. Es ist mir und Mina eine besondere Freude, dass der Geburtstag unseres Jungen mit Quincey Morris’ Todestag zusammenfällt. Ich weiß, dass Mina im Stillen die Überzeugung hegt, dass etwas von der Seele unseres mutigen Freundes auf unseren Sohn übergegangen ist. In seinen vielen Vornamen ist unsere kleine Gruppe von Männern wieder vereint, aber wir rufen ihn nur Quincey.

Im Sommer dieses Jahres machten wir eine Reise nach Transsilvanien und besuchten die alten Schauplätze, die für uns mit noch immer lebendigen, schrecklichen Erinnerungen verbunden sind. Es war uns jedoch fast unmöglich zu glauben, dass all die Dinge, die wir mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört hatten, keine Traumgebilde gewesen waren, denn jede Spur des Übernatürlichen war mittlerweile ausgelöscht. Die Burg aber stand noch da wie damals, hoch aufragend in grenzenloser Einsamkeit.

Als wir nach Hause zurückgekehrt waren, kamen wir in froher Runde wieder einmal auf die alten Zeiten zu sprechen, auf die wir in unserem gegenwärtigen Glück alle ohne Verzweiflung zurückblicken können, denn auch Godalming und Seward sind mittlerweile verheiratet. Ich holte die Papiere aus dem Safe, wo sie seit unserer Heimkehr vor so langer Zeit geruht hatten, und wir waren alle zusammen äußerst erstaunt über den Umstand, dass sich in der großen Menge von Material, aus dem sich dieser Bericht zusammensetzt, kaum ein einziges authentisches Dokument mehr befindet. Es ist nichts weiter als eine Fülle von Schreibmaschinenblättern, ergänzt um die späteren Notizbücher von Mina, Seward und mir, sowie van Helsings Memorandum. Wir können also kaum verlangen, dass irgendjemand diese Aufzeichnungen als Beweis für unsere unheimliche Geschichte |550|gelten lässt. Van Helsing fasste dies, mit unserem Jungen auf seinen Knien, folgendermaßen zusammen:

»Wir selbst brauchen keine Beweise, und wir bitten niemanden, uns zu glauben! Dieser Junge hier aber wird eines Tages erfahren, was seine Mutter für eine tapfere und edle Frau ist. Ihre Liebe und Güte kennt er ja jetzt schon, später aber wird er auch begreifen, warum manche Männer sie so sehr liebten, dass sie um ihretwillen alles wagten.«

Jonathan Harker