|25|ZWEITES KAPITEL

 

Jonathan Harkers Tagebuch

(Fortsetzung)

 

5. Mai

Ich musste geschlafen haben, denn wenn ich wach gewesen wäre, so sollte es mir doch aufgefallen sein, dass wir uns einem so seltsamen Ort näherten. Der Burghof schien mir, soviel ich in der Dunkelheit erkennen konnte, von beträchtlicher Größe zu sein. Er besitzt mehrere Einfahrten mit mächtigen runden Torbögen, wodurch er aber auch größer erscheinen mag, als er in Wirklichkeit ist. Bei Tageslicht habe ich ihn bisher noch nicht zu Gesicht bekommen.

Die Kalesche hielt, der Kutscher sprang herunter und reichte mir die Hand, um mir beim Aussteigen behilflich zu sein. Ich musste erneut die Kraft bewundern, die in dieser Hand lag. Sie schien eine Schraubzwinge aus Stahl zu sein, die, hätte ihr Besitzer dies nur gewollt, meine Hand mit Leichtigkeit zerquetscht hätte. Dann nahm der Mann mein Gepäck heraus und stellte es neben mich auf den Boden. Ich befand mich vor einem großen, alten Tor, das mit Eisen beschlagen und in einen weit vorragenden Torbogen von massivem Stein eingelassen war. Das schwache Licht reichte gerade noch hin, die Verzierungen des Torbogens wahrzunehmen, allerdings hatten die Figuren schon stark unter der Zeit und dem Wetter gelitten. Sobald alles ausgeladen war, schwang sich der Kutscher wieder auf den Bock, zog die Zügel an und verschwand durch einen der mächtigen schwarzen Torbogen.

Ich aber blieb schweigend auf dem Fleck stehen, denn ich wusste nicht, was nun zu tun wäre. Von einer Glocke oder einem Türklopfer war keine Spur zu sehen, und meine Stimme hätte |26|durch diese drohenden Mauern und dunklen Fensterhöhlen sicher keinen Eingang gefunden. Die Zeit, die ich zum Warten verurteilt war, schien mir endlos, und ich merkte, wie Furcht und Zweifel in mir aufstiegen: Wohin war ich nur geraten und unter was für Leute? Auf welches unheimliche Abenteuer hatte ich mich da eingelassen? Oder war das etwa ein ganz normaler Fall im Leben eines Anwaltsgehilfen, der hinausgeschickt wurde, um mit einem Fremden über den Ankauf eines Londoner Anwesens zu unterhandeln? – Übrigens: »Anwaltsgehilfe«, das hört Mina gar nicht gerne. »Advokat« klingt da schon anders, und kurz bevor ich London verlassen hatte, habe ich ja tatsächlich noch die Mitteilung erhalten, mein Examen bestanden zu haben. Ich bin jetzt also ein vollwertiger Anwalt! – Ich begann jedenfalls meine Augen zu reiben und mich selbst zu kneifen, um zu sehen, ob ich denn wirklich wach wäre. Es schien mir alles wie ein seltsamer Traum, und ich erwartete, plötzlich aufzuwachen, zu Hause zu liegen und durch die Fenster in den fahlen Schein des Morgens zu starren, wie es mir manchmal in Zuständen der Überarbeitung passiert war. Aber mein Fleisch empfand den Schmerz des Kneifens, und meine Augen sahen klar. Ich war also wirklich wach und mitten in den Karpaten. Alles, was mir zu tun übrig blieb, war, mich zu gedulden und den Anbruch des Tages zu erwarten.

Als ich gerade zu diesem Entschluss gelangt war, hörte ich schwere Schritte hinter dem Tor und sah durch die Ritzen ein Licht sich nähern. Dann vernahm ich das Rasseln von Ketten und das Schleifen massiver Türriegel, die zurückgeschoben wurden. Ein Schlüssel drehte sich laut kreischend in dem offenbar selten benutzten Schlüsselloch, und das große Tor ging auf.

In der Türöffnung stand ein hochgewachsener alter Mann, glatt rasiert, mit einem langen weißen Schnurrbart und vom Kopf bis zu den Füßen schwarz gekleidet – kein heller Fleck war an ihm zu sehen. Er hielt eine altertümliche, silberne Lampe in der Hand, deren Flamme von keinem Zylinder oder Schirm geschützt |27|wurde. Sie erzeugte in der Zugluft des offenen Tores lange, zitternde Schatten. Der alte Mann lud mich durch eine verbindliche Geste mit der Rechten ein, näher zu treten, und sagte in vorzüglichem Englisch, aber mit einem fremdartigen Akzent:

»Willkommen in meinem Hause! Treten Sie frei und aus eigenem Entschluss herein!« Dabei machte er keine Bewegung, um mir entgegenzukommen, sondern stand starr wie eine Statue, als hätte ihn sein Willkommensgruß in Stein verwandelt. In dem Augenblick aber, da ich die Schwelle überschritten hatte, trat er rasch auf mich zu, ergriff meine Hand und drückte sie dermaßen, dass ich zusammenzuckte: Seine Hand war so kalt wie Eis, eher wie die eines Toten als eines Lebenden. Dann sagte er erneut:

»Willkommen in meinem Hause! Treten Sie frei herein, fühlen Sie sich geborgen und lassen Sie etwas von der Freude zurück, die Sie hereinbringen!« Die Stärke seines Händedruckes erinnerte mich so sehr an den eisernen Griff des Kutschers, dessen Gesicht ich ja nicht gesehen hatte, dass ich einen Moment glaubte, er und der Mann, mit dem ich jetzt sprach, wären ein und dieselbe Person. Ich fragte also, um sicherzugehen:

»Graf Dracula?« Er verbeugte sich höflich und erwiderte:

»Ich bin Dracula und begrüße Sie, Mr. Harker, in meinem Hause. Kommen Sie herein, die Nachtluft ist kühl, und Sie müssen essen und ruhen.« Während er so sprach, stellte er die Lampe auf eine kleine Konsole an der Wand und ergriff mein Gepäck, noch ehe ich ihn daran hindern konnte. Ich erhob Einspruch, aber er sagte entschieden:

»Bitte, Sie sind mein Gast! Es ist schon spät und meine Dienerschaft ist nicht mehr verfügbar. Lassen Sie mich also selbst für Ihre Bequemlichkeit sorgen.« Darauf trug er meine Koffer durch den Torweg, dann eine steile Wendeltreppe hinauf und schließlich durch einen langen Korridor, auf dessen Steinfliesen unsere Schritte dumpf widerhallten. Am Ende dieses Korridors |28|öffnete er eine schwere Tür, und ich sah ein helles Zimmer, in dem ein gedeckter Tisch zum Nachtmahl bereitstand, während in einem mächtigen Kamin ein großes Holzfeuer flammte und knisterte.

Der Graf blieb stehen, stellte mein Gepäck ab und zog die Tür hinter sich zu. Dann schritt er durch das Zimmer und öffnete eine zweite Tür, die in ein kleines, achteckiges, scheinbar fensterloses Gemach führte, das nur von einer einzelnen Lampe erleuchtet wurde. Jenseits desselben öffnete er eine weitere Tür und bat mich, ihm zu folgen. Es bot sich mir ein willkommener Anblick: ein großes, gut erleuchtetes Schlafzimmer, das von einem Kamin, in dem ebenfalls ein frisch aufgelegtes Holzfeuer prasselte, angenehm durchwärmt wurde. Der Graf brachte mein Gepäck und sagte dann, bevor er mich verließ und die Tür hinter sich schloss: »Sie werden sich nach Ihrer Reise waschen und herrichten wollen. Ich denke, Sie finden alles nach Wunsch. Wenn Sie fertig sind, dann kommen Sie bitte in das andere Zimmer, wo das Abendbrot auf Sie wartet.«

Das Licht, die Wärme und die herzliche Begrüßung des Grafen hatten alle meine Zweifel und Ängste wieder zerstreut. Nachdem ich meine normale geistige Verfassung zurückerlangt hatte, fühlte ich auch meinen quälenden Hunger. Schnell machte ich mich also zurecht und ging ins andere Zimmer hinüber.

Wie gesagt, das Essen war schon angerichtet. Mein Gastgeber stand an der Seite des Kamins, an das Steingesims gelehnt, und lud mich mit einer verbindlichen Handbewegung ein, Platz zu nehmen.

»Ich bitte Sie, setzen Sie sich und essen Sie, wie es Ihnen beliebt. Sie werden es mir nicht verübeln, wenn ich mich nicht beteilige, denn ich habe schon diniert, und zu soupieren bin ich nicht gewöhnt.«

Ich händigte dem Grafen den versiegelten Brief aus, den Mr. Hawkins mir für ihn mitgegeben hatte. Er öffnete ihn und las ihn mit ernster Miene durch, dann gab er ihn mir mit einem freundlichen |29|Lächeln zurück, damit auch ich ihn lese. Ein Absatz bereitete mir besondere Freude:

»Ich bedaure sehr, dass ein Anfall von Gicht, mit welcher ich ja schon immer zu schaffen hatte, mir unbedingt verbot, eine größere Reise zu machen und Sie persönlich aufzusuchen. Ich bin aber so glücklich, Ihnen einen Stellvertreter senden zu können, der mein unbedingtes Vertrauen besitzt: Es ist ein junger Mann, energisch, talentiert und zuverlässig. Mr. Harker ist in meinen Diensten aufgewachsen und sehr diskret. Während seines Aufenthaltes steht er jederzeit zu Ihrer Verfügung, und er ist ermächtigt, Aufträge jeglicher Art von Ihnen entgegenzunehmen …«

Der Graf trat daraufhin selbst an den Tisch heran und hob den Deckel von einer Terrine, in der ein prächtiges gebratenes Huhn lag. Dieses bildete, mit etwas Käse und Salat sowie einer Flasche altem Tokajer, von dem ich zwei Gläser trank, mein Abendbrot. Während ich aß, erkundigte sich der Graf über meine Reise, und ich erzählte ihm der Reihe nach alle meine Erlebnisse.

Schließlich hatte ich die Mahlzeit beendet und mir auf Wunsch des Hausherrn einen Stuhl ans Feuer gezogen. Ich zündete mir eine Zigarre an, die er mir unter der Bitte um Verständnis dafür angeboten hatte, dass er selbst Nichtraucher sei. Nun fand ich auch Gelegenheit, ihn etwas zu beobachten, und ich muss sagen, er besitzt eine sehr ausdrucksvolle Physiognomie.

Er hat eine ausgeprägte Adlernase mit einem schmalen, scharf gebogenen Nasenrücken und auffallend geformten Nüstern. Die Stirn ist hoch und gewölbt, das Haar an den Schläfen dünn, im Übrigen aber voll. Die Augenbrauen sind dicht und wachsen über der Nase zusammen; sie sind sehr buschig und in merkwürdiger Weise gekräuselt. Sein Mund, soweit ich ihn unter dem starken Schnurrbart erkennen konnte, sieht hart und ziemlich grausam aus; die Zähne sind spitz und weiß und ragen über die Lippen hervor, deren auffallende Röte eine erstaunliche Lebenskraft für einen Mann in seinen Jahren bekundet. Die Ohren |30|sind farblos und nach oben hin auffallend spitz, das Kinn breit und kräftig, die Wangen schmal, aber noch straff. Der allgemeine Eindruck ist der einer außerordentlichen Blässe.

Im Schein des Kaminfeuers hatte ich mir seine Hände angesehen, die auf seinen Knien lagen; ich hielt sie zunächst für ziemlich zart und schmal. Nun, da ich sie aus der Nähe sah, bemerkte ich, dass sie eigentlich sehr grob waren, breit und mit eckigen Fingern. Seltsamerweise wuchsen ihm Haare auf der Handfläche. Die Nägel waren lang und dünn, zu nadelscharfen Spitzen geschnitten. Als der Graf sich einmal über mich neigte und diese Hände mich berührten, konnte ich mich eines Grauens nicht erwehren. Möglicherweise war auch sein Atem schuld, denn es überkam mich ein Gefühl der Übelkeit, das ich mit aller Willenskraft nicht zu verbergen vermochte. Der Graf musste dies offenbar bemerkt haben, denn er zog sich mit einem grimmigen Lächeln zurück, das seine Zähne noch mehr hervortreten ließ, und nahm seinen Platz am Kamin wieder ein. Wir schwiegen daraufhin eine Weile, und als ich zum Fenster sah, bemerkte ich die ersten leisen Anzeichen des kommenden Tages. Es herrschte eine beängstigende Stille, doch als ich aufmerksamer lauschte, war es mir, als vernähme ich tief unten in den Tälern das Heulen zahlloser Wölfe. Mit funkelnden Augen sagte der Graf:

»Hören Sie nur, die Kinder der Nacht! Was für eine Musik sie machen!« Mein Gesichtsausdruck zeigte wohl Verständnislosigkeit, denn er beeilte sich hinzuzufügen:

»Ja, Sir, Stadtbewohner wie Sie sind wahrscheinlich nicht imstande, wie ein Jäger zu empfinden.« Dann stand er auf und sagte:

»Übrigens werden Sie müde sein; Ihr Bett ist bereit. Morgen können Sie nach Belieben ausschlafen, denn ich habe bis zum Abend auswärts zu tun. Schlafen Sie also wohl und träumen Sie gut!« Mit einer höflichen Verbeugung öffnete er mir die Tür zu dem achteckigen Zimmer, und ich trat in mein Schlafgemach.

Ich schwimme in einem Meer gemischter Gefühle; ich zweifle, |31|ich fürchte, ich denke an seltsame Dinge, die ich meiner eigenen Seele gar nicht einzugestehen wage. Gott schütze mich, und sei es auch nur um derer willen, die mir teuer sind.

 

7. Mai

Es ist wieder früher Morgen, aber ich habe die letzten vierundzwanzig Stunden geruht und es mir wohl sein lassen. Ich schlief bis spät in den Tag hinein und erwachte von selbst. Als ich mich angekleidet hatte, begab ich mich in das Zimmer, wo ich zu Abend gegessen hatte, und fand ein kaltes Frühstück bereit; der Kaffee war in einer Kanne auf dem Kamin heiß gestellt. Auf dem Tisch lag ein Kärtchen, auf dem die Worte standen:

»Ich muss leider noch einige Zeit auswärts bleiben. Warten Sie nicht auf mich. D.« So setzte ich mich denn hin und ließ mir die Mahlzeit schmecken. Als ich fertig war, suchte ich nach einer Glocke, um von der Dienerschaft abräumen zu lassen, konnte jedoch nirgends etwas Derartiges entdecken. Das war allerdings merkwürdig in einem solchen Haus, das nach allem, was mich umgibt, den Eindruck des größten Reichtums erweckt. Das Tafelservice ist zum Beispiel aus purem Gold und so prunkvoll gearbeitet, dass es einen geradezu unermesslichen Wert besitzen muss. Die Bezüge der Stühle und Sofas und die Vorhänge meines Bettes sind aus den kostbarsten Stoffen gemacht und müssen schon zu der Zeit, da sie angefertigt wurden, einen immensen Preis gekostet haben. Sie sind wohl Jahrhunderte alt, dabei aber vorzüglich erhalten. Ich habe solche Dinge ja auch in Hampton Court1 gesehen, aber da waren sie zerrissen und abgenutzt und von den Motten angefressen. Und doch gibt es seltsame Unzulänglichkeiten in all dem Reichtum: In keinem der Zimmer ist ein Spiegel. Es gibt nicht einmal einen Toilettespiegel über meinem Waschtisch, sodass ich meinen kleinen Handspiegel |32|aus dem Koffer nehmen musste, um mich überhaupt rasieren und frisieren zu können. Ich habe bisher weder einen dienstbaren Geist gesehen noch einen Laut gehört außer dem Heulen der Wölfe um die Burg. Nach Beendigung meiner Mahlzeit – ich weiß nicht, ob ich sie Frühstück oder Dinner nennen soll, denn es war zwischen fünf und sechs Uhr, als ich sie einnahm – sah ich mich nach Lektüre um, denn ich wollte ohne Wissen des Grafen die Burg nicht verlassen. Bücher oder Zeitungen gab es im Speisezimmer nicht, nicht einmal Schreibzeug konnte ich entdecken. Ich öffnete also eine Tür und befand mich überraschenderweise in einer Art Bibliothek. Eine weitere Tür, die der meinen gegenüberlag, fand ich hingegen verschlossen.

In der Bibliothek entdeckte ich zu meiner größten Freude eine reiche Auswahl englischer Bücher, ganze Schränke voll, und gebundene Jahrgänge von Zeitungen und Zeitschriften. Lose Exemplare lagen auf dem Tisch in der Mitte des Raumes, aber keines war von neuerem Datum. Die Bücher hatten die mannigfaltigsten Inhalte – Geschichte, Geographie, Politik, Nationalökonomie, Botanik, Geologie, Rechtspflege –, alles handelte jedoch ausschließlich über England, über englisches Leben, englische Sitten und Gebräuche. Sogar Nachschlagewerke wie das »London Directory«, die »Red« und die »Blue Books« oder »Withaker’s Almanach« waren vorhanden, überdies die Armee- und Marinelisten sowie – mein Herz lachte dabei – die Anwaltsliste.2

Während ich so in den Büchern herumstöberte, öffnete sich plötzlich die Tür, und der Graf trat ein. Er begrüßte mich herzlich und erkundigte sich, wie ich geschlafen hätte. Dann fuhr er fort:

»Es freut mich, dass Sie hier hereingefunden haben, denn ich bin sicher, dass Sie viel Interessantes vorfinden werden. Diese |33|Freunde hier« – er legte die Hand auf eines der Bücher – »sind mir wirklich sehr lieb geworden. Sie haben mir schon vor Jahren, lange bevor ich noch den Entschluss fasste, nach England zu gehen, viele frohe Stunden bereitet. Durch sie habe ich Ihr großartiges, wundervolles England kennengelernt, und es kennen heißt, es zu lieben. Ich sehne mich danach, in den dichtbelebten Straßen Ihres ungeheueren London zu promenieren, mitten in dem Getriebe und Gewühl der Menschen, teilzunehmen an ihrem Leben, ihren Schicksalen, ihrem Sterben und an all dem, was eben London zu dem macht, was es ist. Aber leider kenne ich Ihre Sprache nur aus Büchern. Von Ihnen, mein Freund, erhoffe ich mir Hilfe, sie auch richtig auszusprechen.«

»Aber Herr Graf«, rief ich aus, »Sie verstehen und sprechen das Englische ganz vorzüglich!« Er verbeugte sich würdevoll.

»Ich danke Ihnen, mein Freund, für Ihre schmeichelhafte Anerkennung; aber ich fürchte trotzdem, dass ich erst ein kleines Stück auf dem Weg vorangeschritten bin, den ich ganz zurückzulegen gedenke. Es ist ja richtig, ich kenne die Grammatik und die Wörter, aber ich weiß sie dennoch nicht richtig zu sprechen.«

»Nein wirklich«, wiederholte ich, »Sie sprechen ausgezeichnet.«

»Nein, nein«, entgegnete er. »Ich weiß wohl, dass, wenn ich in Ihrem London lebe und spreche, es keinen gibt, der mir nicht sofort den Fremden anmerkt. Das ist mir nicht genug. Hier bin ich ein Adliger, ein Bojar. Das Volk kennt mich, und ich bin sein Herr. Aber als Fremder im fremden Land ist man gar nichts, niemand kennt mich, und einen nicht kennen, heißt, sich nicht um ihn zu kümmern. Ich will mich in nichts von den anderen unterscheiden und nicht erleben, dass jemand stehen bleibt, wenn er mich sieht, oder seine Rede einen Moment unterbricht, wenn er mich sprechen hört, und lacht: ›Haha, ein Fremder!‹ Ich bin so lange Herr gewesen, dass ich auch Herr bleiben will, wenigstens will ich nicht, dass jemand Herr über mich ist. Sie kommen zu mir nicht allein als Geschäftsträger meines Freundes Mr. Peter Hawkins |34|in Exeter, um mir zu berichten, dass meine Geschäfte in London so oder so stehen. Sie werden hoffentlich eine Zeit lang hierbleiben, damit ich durch das Sprechen mit Ihnen den englischen Akzent erlerne. Und ich bitte Sie, mir zu sagen, wenn ich einen Fehler mache, und sei es der kleinste. Es tut mir leid, dass ich heute so lange wegbleiben musste, aber Sie werden es mir verzeihen, wenn ich Ihnen sage, dass viele wichtige Geschäfte auf mir lasten.«

Ich versicherte ihm, ganz zu seiner Verfügung zu stehen, und erkundigte mich, ob ich die Bibliothek jederzeit betreten könne, wenn mir danach wäre. »Aber selbstverständlich«, sagte er und fügte hinzu:

»Sie können in der Burg hingehen, wohin Sie wollen, außer dahin, wo die Türen verschlossen sind. Dorthin werden Sie übrigens auch gar nicht wollen. Es hat seine Gründe, dass die Dinge nun einmal so sind, wie sie sind; und sähen Sie mit meinen Augen und hätten Sie meine Erfahrungen, so würden Sie mich noch leichter begreifen.« Ich versicherte ihn meiner Zustimmung, und er fuhr fort:

»Wir sind hier in Transsilvanien, und Transsilvanien ist nicht England. Unsere Sitten sind nicht die Ihrigen, und manches mag Ihnen sonderbar erscheinen. Aber nach allem, was Sie mir bislang von Ihren Erlebnissen erzählt haben, wissen Sie ja ohnehin, dass hier seltsame Dinge vorkommen können.«

Dies führte zu einer ausgedehnten Konversation, und da ich bemerkte, dass er gerne plauderte, und sei es nur um des Plauderns willen, so fragte ich ihn vieles über die Dinge, die ich bisher gesehen oder sonst wie erfahren hatte. Zuweilen bog er das Gespräch ab oder unterbrach es, angeblich weil er nicht genau verstanden habe, im Allgemeinen aber antwortete er mir offen auf alle gestellten Fragen. Als dann die Zeit vorrückte und ich etwas kühner wurde, fragte ich ihn über einige der kuriosen Dinge der vergangenen Nacht, so unter anderem auch danach, warum der Kutscher den blauen Flämmchen nachgegangen sei. Ob es wirklich |35|wahr wäre, dass diese Lichter vergrabene Schätze anzeigten? Er erklärte mir, dass allgemein der Glaube verbreitet sei, dass in einer bestimmten Nacht des Jahres – tatsächlich war es gerade die letzte Nacht, in der alle bösen Geister freie Bahn haben sollten – blaue Flammen sich an den Plätzen zeigen, wo ein verborgener Schatz liege. »Solche Schätze sind in der Gegend, durch die Sie vergangene Nacht kamen, tatsächlich vergraben«, fuhr er fort. »Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel, denn es ist der Boden, auf dem jahrhundertelang Walachen, Sachsen und Türken miteinander gekämpft haben. Da ist schwerlich auch nur ein Fußbreit Erde zu finden, der kein Menschenblut getrunken hat, von Freund wie Feind. Das waren böse Zeiten, als die Horden der Österreicher und Ungarn sengend herüberkamen und die Einheimischen sich ihnen entgegenstellten – Männer und Frauen, Greise und Kinder – und ihnen in den Felspässen auflauerten, um durch künstliche Lawinen das Verderben in die Feinde zu schleudern. Wenn die Eindringlinge jedoch trotzdem einmal siegten, so fanden sie meist nichts mehr vor, denn was man besaß, hatte man zuvor dem freundlichen Boden anvertraut.«

»Aber wie kommt es dann«, fragte ich, »dass diese Schätze seit so langer Zeit nicht gehoben wurden, wenn so sichere Anzeichen vorhanden sind und man nur die Augen aufzumachen braucht, um sie zu finden?« Der Graf lächelte, wobei sich seine Oberlippe eigentümlich über das Zahnfleisch zurückzog und die langen, scharfen Eckzähne hervortraten. Er antwortete:

»Weil der Bauer in seinem Herzen feige und dumm ist. Diese Flämmchen erscheinen doch nur in einer einzigen Nacht, und in dieser Nacht geht in unserem Land niemand, der nicht unbedingt muss, aus seinem Haus. Und selbst wenn er es wagte, es würde doch zu nichts führen. Er könnte sich die Stellen, an denen er die Lichter sieht, sogar markieren. Schon am nächsten Tag würde er nicht mehr in der Lage sein, sie wiederzufinden. Ich würde sogar schwören, dass auch Sie keinen der Plätze mehr erkennen würden.«

|36|»Da haben Sie wohl recht«, sagte ich darauf, »ich vermag ebenso wenig wie ein Toter nach den Schätzen zu graben.« Dann kamen wir auf andere Dinge zu sprechen.

»Bitte«, sagte der Graf, »erzählen Sie mir von London und von dem Haus, das Sie für mich ausgesucht haben.« Ich entschuldigte mich einen Augenblick und begab mich in mein Zimmer, um die nötigen Papiere aus meinem Koffer zu holen. Während ich diese etwas in Ordnung brachte, hörte ich aus dem Speisezimmer das Klappern von Porzellan und Silber, und als ich zurückkam, war der Tisch abgeräumt und die Lampe angezündet, es dunkelte schon stark. Auch im Bibliothekszimmer waren die Lampen angezündet, und der Graf lag auf dem Sofa, wobei er merkwürdigerweise Bradshaws »Kursbuch von England«3 durchblätterte. Als ich hereintrat, räumte er die Bücher und Zeitungen vom Tisch und vertiefte sich dann mit mir in Pläne, Urkunden und Zahlen aller Art. Er interessierte sich für alles und stellte mir Hunderte von Fragen über das Grundstück und seine Umgebung. Er hatte, wie es mir schien, bereits vorher alles sorgfältig studiert, was er über die Nachbarschaft in Erfahrung bringen konnte, denn er wusste eigentlich mehr als ich. Als ich ihm mein Erstaunen darüber zum Ausdruck brachte, sagte er:

»Allerdings, mein Freund, aber musste ich das denn nicht? Wenn ich dorthin komme, bin ich allein, und mein Freund Harker Jonathan – verzeihen Sie, ich habe nach der Gewohnheit meines Landes Ihren Familiennamen vorangestellt –, mein Freund Jonathan Harker wird mir nicht mehr zur Seite stehen, mich korrigieren und mir helfen. Er wird in Exeter sein, viele Meilen von mir, und vielleicht mit meinem anderen Freund, Mr. Peter Hawkins, Gerichtsakten studieren. Also …«

Wir besprachen daraufhin den Erwerb des Grundstückes in Purfleet. Nachdem ich den Grafen über verschiedene Details unterrichtet |37|und er alle notwendigen Papiere unterzeichnet hatte, schrieb er schließlich noch einen Brief, um ihn den Unterlagen an Mr. Hawkins beizulegen. Dann fragte er mich, wie ich eigentlich auf diese wunderbare Liegenschaft aufmerksam geworden wäre. Ich las ihm die Notizen vor, die ich mir seinerzeit in dieser Angelegenheit gemacht hatte und die ich wörtlich hierher setze:

»In Purfleet, in einer Nebengasse, fand ich ein Grundstück, wie ich es gerade suchte. Eine verwaschene Tafel zeigt an, dass es zu verkaufen ist. Es ist von einer hohen, aus roh behauenen Steinen gefügten Mauer umgeben und wohl seit einer langen Reihe von Jahren nicht mehr instand gehalten worden. Die verschlossenen Tore sind von schwerem Eichenholz und haben verrostete Eisenbeschläge. Das Objekt heißt ›Carfax‹, ohne Zweifel eine Verstümmelung des alten ›Quatre Face‹, denn der Grundriss des Hauses ist quadratisch, wobei die Seiten nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet sind. Das Grundstück ist alles in allem etwa zwanzig Acker groß, vollkommen umschlossen von der oben erwähnten Steinmauer und mit Bäumen bestanden, was ihm einen etwas düsteren Charakter verleiht. Außerdem befindet sich dort ein tiefer, dunkler Teich bzw. ein kleiner See, der offenbar von unterirdischen Quellen gespeist wird. Das Wasser ist klar und fließt in einem hübsch gewundenen Bach ab. Das Haus selbst ist sehr groß und vereint alle Baustile bis zurück ins Mittelalter. Ein Teil des Gebäudes weist ungeheuer dicke Steinwände auf. Hier gibt es nur wenige Fenster, welche in beträchtlicher Höhe angebracht und mit starken Eisen vergittert sind. Dieser Teil sieht wie ein Bergfried oder ein Gefängnis aus, und er liegt gleich neben einer alten Kirche oder Kapelle. Ich konnte ihn zwar nicht betreten, da mir der Schlüssel fehlte, mit dem man vom Haupthaus aus Zutritt nehmen kann, aber ich habe mit meiner Kodak-Kamera4 Außenaufnahmen von allen Seiten gemacht. Das Haus ist immer wieder um Anbauten erweitert worden, und |38|ich kann die Größe der Fläche, die es nun bedeckt, nur annähernd schätzen. In der Nachbarschaft befinden sich nur wenige Gebäude; eines davon ist sehr groß, erst kürzlich gebaut und beherbergt eine privat geführte Irrenanstalt. Vom Grundstück aus ist es jedoch nicht sichtbar.«

Als ich geendet hatte, sagte er: »Es freut mich, dass es so groß und alt ist. Ich selbst stamme aus einer alten Familie, und das Leben in einem neuen Haus würde mich einfach umbringen. Ein Haus kann nicht an einem einzigen Tag wohnlich eingerichtet werden, und wie wenige Tage hat so ein Jahrhundert! Es ist mir auch lieb, eine alte Kapelle dabeizuhaben. Wir transsilvanischen Edelleute wollen nicht, dass unsere Gebeine zwischen denen gewöhnlicher Sterblicher ruhen. Ich suche nicht Lust und Heiterkeit, nicht warmen Sonnenschein und glitzerndes Wasser, wie es die fröhliche Jugend tut. Ich bin nicht mehr jung, und mein Herz ist durch die oft wiederholte Trauer um liebe Tote nicht mehr zum Frohsein gestimmt. Die Mauern meiner Burg sind zerstört; es gibt viele Schatten hier, und der Wind pfeift kalt durch zerbröckelnde Zinnen und Luken. Ich aber liebe das Dunkel und die Schatten, denn ich bin gern allein mit meinen Gedanken.«

Während er so sprach, schienen mir seine Worte und seine Haltung irgendwie nicht zueinander zu passen, vielleicht war es aber auch nur seine eigentümliche Physiognomie, die sein Lächeln so boshaft und finster wirken ließ.

Bald stand er auf und entschuldigte sich für einige Zeit, wobei er mich bat, meine Papiere einstweilen wieder in Ordnung zu bringen. Als er gegangen war, betrachtete ich einige der Bücher, die herumlagen. Eines war ein Atlas – die Karte von England, scheinbar viel benutzt, lag aufgeschlagen. Als ich näher hinsah, fiel mir auf, dass mehrere Orte mit kleinen Kreisen versehen waren; einer an der Ostseite von London, da, wo sein zukünftiges Besitztum lag, einer bei Exeter und einer bei Whitby an der Küste von Yorkshire.

Es dauerte fast eine Stunde, bis der Graf zurückkam. »Ah«, |39|sagte er, »immer noch über den Büchern? Gut. Aber Sie dürfen nicht ständig arbeiten. Kommen Sie, mir wurde mitgeteilt, dass Ihr Abendbrot angerichtet ist.« Er nahm meinen Arm und führte mich in das angrenzende Zimmer, wo ich ein vorzügliches Essen vorfand. Der Graf entschuldigte sich wieder, dass er schon auswärts gegessen habe. Er saß da wie in der Nacht zuvor und plauderte, während ich aß. Nach Tisch rauchte ich wieder, und der Graf blieb bei mir, um mich über alle erdenklichen Dinge zu befragen. Stunde um Stunde verrann. Ich merkte, dass es wirklich sehr spät wurde, sagte aber nichts, da ich mich verpflichtet fühlte, den Wünschen meines Gastgebers in jeder Weise Rechnung zu tragen. Ich war nicht schläfrig, denn die lange Ruhe von gestern hatte mich gekräftigt, aber ich empfand unwillkürlich den Kälteschauer, der einen bei Anbruch des Morgengrauens befällt. Der Wechsel der Tageszeiten ähnelt in seiner Art den Gezeiten des Meeres. Man sagt, dass todkranke Menschen gewöhnlich bei Einbruch der Dämmerung oder beim Wechsel der Gezeiten sterben. Jeder, der schon einmal in größter Müdigkeit auf irgendeinem Posten auszuharren hatte und dabei selbst eine solche Änderung der Atmosphäre erlebt hat, wird das sehr begreiflich finden. Plötzlich ertönte draußen ein Hahnenschrei, der durch die reine Morgenluft in unheimlicher Klarheit zu uns drang. Graf Dracula sprang auf und sagte:

»Was, schon wieder Morgen? Welche Nachlässigkeit von mir, Sie so lange wachzuhalten! Sie müssen Ihre Unterhaltung über mein neues englisches Gastland zukünftig weniger anregend gestalten, sodass ich nicht vergesse, wie die Zeit vergeht.« Dann empfahl er sich mit einer höflichen Verbeugung.

Ich begab mich auf mein Zimmer und zog die Vorhänge zurück, aber da war wenig zu sehen. Mein Fenster ging auf den Hof, über dem das warme Grau des erwachenden Tages lag. So habe ich die Vorhänge wieder zugezogen und hier die Ereignisse des letzten Tages notiert.

 

|40|8. Mai

Als ich mein Tagebuch zu schreiben begann, fürchtete ich, zu weitläufig zu werden; jetzt bin ich aber doch froh, von Anfang an keine Details ausgelassen zu haben. Es ist so merkwürdig hier, dass ich mich wirklich unbehaglich fühle. Ich wünschte, ich wäre wieder fort oder gar nicht erst hierhergekommen. Es mag ja sein, dass mich das seltsame nächtliche Leben hier mitnimmt, aber wenn es nur das allein wäre! Wenn ich nur jemanden hätte, mit dem ich mich aussprechen könnte, dann ließe es sich leichter ertragen. Aber es ist niemand hier. Da ist nur der Graf, aber der … Langsam fürchte ich, die einzige lebende Seele hier in der Burg zu sein … Nun, ich will die Sache so nüchtern betrachten, wie die Fakten es zulassen. Das wird mich aufrechterhalten, denn meine Fantasie darf keine Sprünge machen. Wenn sie damit anfangen sollte, wäre ich verloren. Nun also dazu, wie es um mich steht – oder wie es um mich zu stehen scheint:

Nachdem ich zu Bett gegangen war, habe ich nur wenige Stunden geschlafen. Als ich dann merkte, dass ich nicht mehr weiterschlafen konnte, stand ich auf. Ich hatte meinen Rasierspiegel am Fenster befestigt und begann mich zu rasieren. Plötzlich hörte ich des Grafen Stimme »Guten Morgen!« sagen und fühlte, wie seine Hand sich auf meine Schulter legte. Ich stutzte, denn ich hatte ihn nicht kommen sehen, obgleich der Spiegel mir das gesamte Zimmer zeigte. Vor Überraschung hatte ich mich leicht geschnitten, achtete aber im Augenblick nicht darauf. Nachdem ich den Gruß des Grafen erwidert hatte, sah ich nochmals in den Spiegel, ob ich mich nicht doch getäuscht hätte, diesmal aber war jeder Irrtum ausgeschlossen: Der Mann stand so dicht hinter mir, dass ich ihn über meine Schulter hinweg erblicken konnte – aber der Spiegel zeigte kein Bild von ihm! Obwohl das ganze Zimmer hinter mir sichtbar dalag, war außer mir niemand zu sehen! Das war äußerst befremdlich und bildete den Gipfel der bisher erlebten vielen kleinen Merkwürdigkeiten. Das vage Unbehagen, das ich von Anfang an in der Nähe des Grafen empfunden |41|hatte, steigerte sich deutlich; zugleich bemerkte ich, dass die kleine Verletzung blutete und dass das Blut über mein Kinn heruntertropfte. Ich legte das Rasiermesser weg und wandte mich um, mir ein Pflaster zu suchen. Als der Graf jedoch mein Gesicht sah, erglänzten seine Augen in dämonischem Feuer, und er streckte die Hand nach meiner Kehle aus. Ich fuhr unwillkürlich zurück, wodurch seine Hand die Perlen meines Rosenkranzes streifte. Das erzeugte einen raschen Wandel in ihm, und seine Erregung legte sich so schnell wieder, dass es schien, als wäre sie nie vorhanden gewesen.

»Nehmen Sie sich in Acht«, sagte er, »dass Sie sich nie schneiden. In diesem Land ist das gefährlicher, als Sie glauben!« Dann ergriff er meinen Rasierspiegel und fuhr fort: »Und dieses verfluchte Ding hier ist schuld daran. Es ist ein schlechtes Spielzeug menschlicher Eitelkeit. Fort damit!« Mit einer schnellen Bewegung öffnete er das große Fenster und warf den Spiegel hinaus, der tief unten auf dem Pflaster des Burghofes in tausend Scherben zersprang. Dann ging er weg, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Nun muss ich, wenn ich beim Rasieren etwas sehen will, den Deckel meiner Uhr benutzen oder den Boden meiner Seifenschale, die zum Glück aus Metall ist.

Als ich schließlich ins Speisezimmer hinaustrat, war das Frühstück bereit, aber vom Grafen war nichts zu sehen. So aß ich denn allein. Es ist merkwürdig, dass ich den Grafen bis heute noch nicht essen oder trinken sah; er scheint überhaupt ein komischer Kauz zu sein. Nach dem Frühstück unternahm ich eine Besichtigung der Burg. Ich entdeckte dabei ein kleines Zimmer mit wunderbarer Aussicht nach Süden. Die Burg steht am Rand eines steilen Abgrundes, ein aus dem Fenster geworfener Stein fiele wohl über tausend Fuß tief, ohne irgendwo anzustoßen. So weit das Auge reicht, flutet ein Meer von grünen Baumwipfeln, das nur von Schluchten unterbrochen wird. Da und dort glänzen Flüsse wie Silberstreifen, die sich in tief eingerissenen Betten durch die Wälder winden. Aber ich bin nicht in der Laune, Naturschönheiten |42|zu schildern. Nachdem ich mich einen Augenblick lang dem Reiz dieser herrlichen Natur hingegeben hatte, setzte ich meine Untersuchung fort und fand Türen, Türen, Türen überall; alle verschlossen und verriegelt; nirgends ein Ausweg als durch die Fenster!

Die Burg ist ein Gefängnis, und ich bin ein Gefangener!