|337|ACHTZEHNTES KAPITEL

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

30. September

Ich kam um fünf Uhr nach Hause. Godalming und Morris waren nicht nur angekommen, sondern sie hatten auch schon die Transkriptionen der verschiedenen Tagebücher und Briefe studiert, die Harker und seine wunderbare Frau angefertigt und geordnet hatten. Harker war von seinem Besuch bei den Fuhrleuten, von denen mir seinerzeit Doktor Hennessey berichtet hatte, zurückgekehrt. Mrs. Harker bereitete uns den Tee, und ich muss offen gestehen, dass ich mich das erste Mal, seit ich dieses alte Haus bewohne, daheim fühlte. Nachdem wir unsere Mahlzeit beendet hatten, sagte Mrs. Harker:

»Dr. Seward, darf ich Sie um eine Gefälligkeit bitten? Ich möchte nämlich gerne Ihren Patienten Renfield kennenlernen. Bitte lassen Sie mich zu ihm, denn was Sie in Ihrem Tagebuch von ihm erzählt haben, hat mich äußerst neugierig gemacht!« Sie sah mich dabei so bittend an, dass ich nicht imstande war, ihr den Wunsch abzuschlagen, insbesondere, da auch kein fachlicher Grund dagegen sprach. Ich nahm sie also zu einer Visite mit. Zunächst trat ich allein in den Raum des Kranken und teilte ihm mit, dass eine Dame seine Bekanntschaft zu machen wünsche, worauf er nur antwortete: »Warum?«

»Sie macht einen Rundgang durchs Haus und möchte alle kennenlernen«, antwortete ich. »Oh, sehr gut«, antwortete er, »sie soll nur kommen. Doch halt, bitte warten Sie noch eine Minute, bis ich hier etwas Ordnung gemacht habe!« Seine Methode, Ordnung zu schaffen, war recht merkwürdig: Er aß nämlich sämtliche Fliegen und Spinnen, die er in seinen Schachteln aufbewahrt |338|hatte, auf, noch bevor ich ihn daran hindern konnte. Es war offenkundig, dass er irgendeine Beeinflussung fürchtete. Nachdem er sein unappetitliches Werk vollbracht hatte, sagte er höflich: »Nun lassen Sie die Dame bitte eintreten!«, und setzte sich mit gesenktem Kopf auf den Rand seines Bettes. Dabei aber schielte er von unten herauf zur Tür, um die Eintretende zu sehen. Einen Augenblick durchzuckte mich der Gedanke, er könnte einen Mordanschlag im Schilde führen, denn ich erinnerte mich nur zu gut, wie ruhig er damals gewesen war, bevor er den Überfall auf mich in meinem Arbeitszimmer unternommen hatte. Ich wählte mir also selbst einen günstigen Platz, um ihn sofort packen zu können, falls er Miene machen sollte, sich auf Mrs. Harker zu stürzen. Sie trat mit einer liebenswürdigen Sorglosigkeit ins Zimmer, die ihr bei dem Patienten sofort Respekt verschaffte, denn Unbefangenheit ist eine der Eigenschaften, die dem Wahnsinnigen imponieren. Mrs. Harker ging freundlich lächelnd auf ihn zu und reichte ihm die Hand hin.

»Guten Abend, Mr. Renfield«, sagte sie. »Sie sehen, ich kenne Sie schon, denn Dr. Seward hat mir von Ihnen erzählt.« Renfield antwortete nicht sogleich, sondern blickte sie erst einmal finster von oben bis unten an. Sein Blick nahm jedoch bald einen fragenden Ausdruck an, der wiederum von deutlich erkennbarem Zweifel abgelöst wurde, während er zu meiner höchsten Überraschung sagte:

»Sind Sie etwa das Mädchen, das der Doktor gern geheiratet hätte? Das können Sie nicht sein, wissen Sie, denn die ist tot.« Mrs. Harker erwiderte freundlich lächelnd:

»Oh nein! Ich habe geheiratet, noch bevor ich Dr. Seward kennenlernte oder er mich. Ich bin Mrs. Harker.«

»Was wollen Sie dann hier?«

»Mein Mann und ich sind bei Dr. Seward zu Besuch.«

»Dann bleiben Sie besser nicht zu lange.«

»Warum denn nicht?«

Ich dachte mir, dass diese Unterhaltung Mrs. Harker noch unangenehmer |339|sein musste als mir, und mischte mich daher ins Gespräch ein:

»Wie kommen Sie denn darauf, dass ich heiraten wollte?« Seine Antwort war sehr verächtlich; er wandte seinen Blick dazu nur ganz kurz von Mrs. Harker auf mich, um gleich darauf wieder sie anzustarren:

»Was für eine idiotische Frage!«

»Das sehe ich aber gar nicht so, Mr. Renfield«, sagte Mrs. Harker, sich mit mir verbündend. Er antwortete ihr mit ebenso viel Höflichkeit und Respekt, wie er mir Missachtung gezeigt hatte:

»Sie werden natürlich einsehen, Mrs. Harker, dass, wenn ein Mann so beliebt und verehrt ist wie unser Gastgeber, alles, was ihn betrifft, für unsere kleine Gemeinschaft von Interesse ist. Denn Dr. Seward ist nicht nur in seinem Heim und bei seinen Freunden beliebt, sondern auch bei seinen Patienten, obwohl diese manchmal aus Mangel an geistigem Gleichgewicht Ursache und Wirkung zu verwechseln pflegen. Da ich nun aber selbst Insasse dieser Irrenanstalt bin, konnte ich nicht umhin zu bemerken, dass einige Hausbewohner in ihren Schlüssen dazu neigen, die Fehler non causae ut causae1 und ignoratio elenchi2 zu begehen.« Ich riss über diesen Richtungswechsel des Gespräches die Augen auf: Hier saß mein eigener Lieblingsirrer, der mit Abstand seltsamste Fall, der mir bislang begegnet war, und machte mit den Manieren eines vollkommenen Gentlemans Konversation in elementarer Philosophie. Ich frage mich, ob dies Mrs. Harker zu verdanken war, vielleicht hatte sie ja irgendeine Saite in seiner Erinnerung zum Klingen gebracht. Wenn dieser neue Zug durch ihren unbewussten Einfluss spontan aus meinem Patienten hervorgebrochen war, so musste sie über irgendeine seltene Gabe oder Kraft verfügen.

Wir plauderten noch einige Zeit miteinander. Nachdem sie erkannt |340|hatte, dass Renfield sich ganz vernünftig verhielt, wagte es Mrs. Harker sogar, mit einem fragenden Seitenblick auf mich, sein Lieblingsthema anzusprechen. Ich war wieder äußerst erstaunt, denn er beteiligte sich am Gespräch mit der Unbefangenheit eines gänzlich Gesunden, ja er führte sogar sich selbst als Beispiel an, wenn er gewisse Dinge illustrieren wollte:

»Sehen Sie, ich selbst bin das beste Beispiel eines Mannes, den eine seltsame Idee gepackt hatte. Es war nicht zu verwundern, dass meine Freunde ängstlich wurden und meine Unterbringung in einer Heilanstalt veranlassten. Ich bildete mir nämlich ein, dass das Leben eine positive und grenzenlose Einheit wäre, und dass man durch das Verzehren lebender Wesen, ganz gleich, wie tief sie auf der Stufe der Schöpfung auch stehen, sein Leben bis ins Unendliche würde verlängern können. Manchmal war der Glaube daran so stark in mir, dass ich tatsächlich den Wunsch hatte, mir ein Menschleben einzuverleiben. Dr. Seward wird mir bestätigen, dass ich ihn gelegentlich zu töten versucht habe, in der Absicht, meine Lebenskraft zu erhöhen, indem ich durch das Medium des Blutes eine Verschmelzung von seiner Kraft mit meinem Leib erhoffte, denn, wie die Bibel sagt: Das Blut ist das Leben. Allerdings versuchen heutzutage manche Apotheker diese Wahrheit mit ihren Quacksalbereien vergessen zu machen, ist es nicht so, Herr Doktor?« Ich nickte zustimmend, denn ich war dermaßen verblüfft, dass ich nicht wusste, was ich sonst sagen oder tun sollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich denselben Mann nur fünf Minuten zuvor noch hatte Fliegen und Spinnen verzehren sehen. Als ich zur Uhr sah, bemerkte ich, dass es Zeit wurde, van Helsing von der Bahn abzuholen. Ich wandte mich daher mit dem Hinweis an Mrs. Harker, dass wir nun gehen müssten. Sie erhob sich augenblicklich, wobei sie freundlich zu ihm sagte: »Auf Wiedersehen! Ich hoffe sehr, Sie unter für Sie angenehmeren Umständen einmal wieder zu treffen!« Renfield aber erwiderte:

»Leben Sie wohl, meine Liebe! Ich flehe zu Gott, dass ich Ihrem |341|hübschen Gesicht nie wieder begegne. Er segne und behüte Sie!«

Ich begab mich dann zum Bahnhof, um van Helsing abzuholen, ließ die Freunde aber zu Hause zurück. Der arme Art schien mir so gelöst, wie er es seit dem Beginn von Lucys Krankheit nicht mehr war, und auch Quincey war seit vielen Tagen endlich wieder er selbst.

Van Helsing stieg mit der Lebhaftigkeit eines Jünglings aus dem Waggon. Er sah mich sofort, kam rasch auf mich zu und sagte:

»Nun, Freund John, wie läuft es so? Gut? Fein! Ich habe viel zu tun gehabt, denn ich werde hierbleiben, wenn es nötig ist. Alle meine Angelegenheiten sind in Ordnung gebracht, und ich habe Ihnen viel zu erzählen. Madame Mina ist also angekommen, ja? Und ihr prächtiger Mann? Und Arthur und mein Freund Quincey, sind sie auch da? Sehr schön!«

Auf dem Weg zum Haus erzählte ich ihm, was sich ereignet hatte, und dass dank Mrs. Harkers Einsatz auch mein eigenes Tagebuch noch einen gewissen Nutzen zu bringen versprach. Der Professor unterbrach mich:

»Diese prächtige Madame Mina! Sie hat den Verstand eines Mannes – eines sehr begabten Mannes – und das Herz einer Frau. Der Herrgott hatte sicherlich etwas Großes im Sinn, als er diese wunderbare Kombination schuf! Freund John, bis jetzt hatten wir das große Glück, dass diese Frau uns half. Nach der heutigen Nacht aber darf sie mit dieser schrecklichen Angelegenheit nichts mehr zu tun haben. Es ist nicht richtig, sie einem so großen Risiko auszusetzen. Wir Männer sind fest entschlossen, nein, wir sind geradezu verpflichtet, das Monster zu vernichten, aber das ist keine Aufgabe für eine Frau! Selbst wenn ihr kein Leid geschieht, so wird sie doch seelische Erschütterungen davontragen und wird darunter leiden, im Wachen durch ihre Nerven und im Schlaf durch ihre Träume. Nebenbei gesagt, sie ist eine junge Frau und noch nicht lange verheiratet, da wird sie |342|bald an andere Dinge denken, wenn sie es nicht jetzt schon tut. Sie erzählen mir nun, dass sie alles niedergeschrieben hat. Sie wird also noch gemeinsam mit uns beraten müssen; morgen aber soll sie sich von dieser Sache verabschieden, und wir werden allein weitergehen.« Ich stimmte ihm lebhaft zu und erzählte, welch große Entdeckung wir in seiner Abwesenheit gemacht hatten, dass nämlich das von Dracula erworbene Haus unser direktes Nachbargrundstück sei. Er war darüber aufs Äußerste erstaunt, und eine große Unruhe bemächtigte sich seiner. »Oh, hätten wir dies doch nur früher gewusst!«, sagte er. »Wir hätten ihn rechtzeitig angreifen können, um Lucy zu retten. Aber was geschehen ist, ist geschehen! Wir wollen nicht mehr daran denken, sondern unverdrossen unseren Weg bis zum Ende gehen.« Darauf versank er in Schweigen, bis wir am Gittertor unseres Gartens ankamen …

Bevor wir uns im Haus trennten, um uns für das Dinner umzukleiden, sagte er zu Mrs. Harker:

»Mein Freund John hat mir berichtet, Madame Mina, dass Sie und Ihr Gatte alle Ereignisse bis zu diesem Augenblick aufgezeichnet und chronologisch geordnet haben?«

»Nicht bis zu diesem Augenblick«, antwortete sie rasch, »aber bis heute früh.«

»Aber warum denn nicht bis jetzt? Wir haben doch erkannt, welcher Nutzen uns aus den kleinsten Einzelheiten bisher erwachsen ist. Wir haben alle unsere Geheimnisse erzählt, und keiner hat daran Schaden genommen.«

Mrs. Harker zog errötend ein Blatt aus der Tasche und sagte:

»Dr. van Helsing, lesen Sie das erst einmal und sagen Sie mir dann, ob es auch in die Akten kommen soll. Es ist meine heutige Notiz. Ich habe ja selbst gesehen, wie wichtig es ist, und habe daher auch die unbedeutendste Kleinigkeit festgehalten – hier aber ist wohl eine Ausnahme zu machen, denn es ist rein persönlich. Muss es denn wirklich sein?« Der Professor überlas das Blatt mit ernstem Gesicht, gab es ihr zurück und sagte:

|343|»Es muss nicht um jeden Preis hinein, wenn es Ihnen denn wirklich so unangenehm ist. Gleichwohl bitte ich Sie, es einzufügen! Es kann die Liebe Ihres Gatten doch nur erhöhen, und auch wir, Ihre Freunde, werden Sie nur noch mehr verehren und achten.« Sie nahm das Blatt mit erneutem Erröten zurück und lächelte verlegen.

Und so haben wir nun bis zum gegenwärtigen Augenblick alle Aufzeichnungen vollständig und in der richtigen Ordnung beieinander. Der Professor nahm eine Kopie an sich, um sie zwischen dem Dinner und unserer Besprechung, die auf neun Uhr angesetzt ist, zu studieren. Wir anderen haben bereits alles gelesen, wir werden also, wenn wir im Arbeitszimmer zusammenkommen, über alle Dinge unterrichtet und imstande sein, einen Plan zu entwerfen, um diesem entsetzlichen und geheimnisvollen Feind zu Leibe zu rücken.

 

Mina Harkers Tagebuch

 

30. September

Als wir uns zwei Stunden nach Tisch in Dr. Sewards Studierzimmer trafen, bildeten wir unbewusst eine Art Ordnung aus. Professor van Helsing saß am oberen Ende des Tisches – Dr. Seward hatte ihn bei seinem Eintritt gebeten, dort Platz zu nehmen. Ich wurde gebeten, mich rechts von ihm niederzulassen und als Sekretärin zu fungieren, Jonathan saß gleich neben mir. Auf der anderen Seite des Tisches nahmen Lord Godalming, Dr. Seward und Mr. Morris Platz. Der Professor begann:

»Ich darf doch voraussetzen, dass wir alle mit den in diesen Papieren enthaltenen Fakten vertraut sind.« Wir alle bejahten dies, und er fuhr fort:

»Dann halte ich es für sinnvoll, wenn ich Ihnen zuerst etwas über den Feind mitteile, mit dem wir es zu tun haben werden. Ich werde Sie mit der Geschichte dieses Mannes bekannt machen, |344|über die ich mich mittlerweile unterrichtet habe. Wir können danach in eine Diskussion darüber eintreten, wie wir vorgehen wollen, und schließlich dem Zweck entsprechend unsere Maßregeln beschließen.

Zum ersten Punkt: Es gibt Wesen, die man Vampire nennt; einige aus unserer Runde haben handfeste Beweise dafür, dass sie existieren. Und selbst wenn wir nicht unsere eigenen traurigen Erfahrungen hätten machen müssen, so würden immerhin die Berichte und Lehren unserer Vorfahren für vernünftig Denkende Beweis genug sein. Ich gebe gern zu, dass auch ich der Sache anfangs skeptisch gegenüberstand. Wäre ich nicht schon durch die Übung langer Jahre damit vertraut, meine Augen offen zu halten, ich hätte nicht eher daran geglaubt, als bis mir die Tatsachen zugerufen hätten: »Sieh her, sieh her! Ich bin der Beweis!« Leider! Hätte ich von Anfang an das gewusst, was ich heute weiß – selbst wenn ich es nur hätte ahnen können –, ein kostbares Leben wäre erhalten geblieben. Aber das ist nun vorbei, und unsere Aufgabe ist es, jetzt so zu handeln, dass nicht noch mehr Seelen zugrunde gehen müssen, die gerettet werden können. Der ›Nosferatu‹ stirbt nicht wie die Biene, wenn sie einmal gestochen hat. Er wird dadurch nur noch stärker, und je stärker er wird, desto mehr Macht hat er, weiter Böses zu tun. Dieser Vampir, der unter uns weilt, vereinigt in sich die Kraft von zwanzig Männern, und er ist schlauer als die Sterblichen, denn seine Schlauheit ist im Laufe der Jahrhunderte gewachsen. Er besitzt die Fähigkeit der Nekromantie, kann also, wie die Etymologie des Wortes bereits sagt, die Toten beschwören und ihr Wissen als Orakel benutzen. Alle Toten, in deren Nähe er kommt, folgen seinen Befehlen. Er ist grausam, nein, mehr als grausam: Er ist absolut unempfindlich gegenüber allem, er ist ein Teufel ohne Herz. Er kann, mit gewissen Einschränkungen, erscheinen, wann und wo und in welcher Gestalt er will. Er kann innerhalb seines Machtbereiches den Elementen gebieten: dem Sturm, dem Nebel, dem Donner. Er hat auch Macht über geringere Lebewesen, über Ratten, |345|Fledermäuse, Fliegen, Füchse und Wölfe. Er kann sich größer oder kleiner, er kann sich sogar zeitweilig unsichtbar machen und ungesehen kommen und gehen. – Nun, wie wollen wir also vorgehen, um ihn zu vernichten? Wie bringen wir heraus, wo er ist, und wenn wir das gefunden haben, wie können wir ihn unschädlich machen? Meine Freunde, das ist nicht einfach! Es ist ein schreckliches Unternehmen, das wir uns da vorgenommen haben, und es kann Folgen zeitigen, die auch den Tapfersten unter uns erzittern lassen. Denn wenn unser Plan misslingt, ist Er der Sieger. Und wie werden wir dann wohl enden? Das Leben bedeutet nichts, ich klammere mich nicht daran. Aber wenn wir unterliegen, handelt es sich um mehr als um Leben und Tod. Wir werden dann nämlich so wie er, wir werden grässliche Nachtgespenster ohne Herz und Gewissen, die die Leiber und Seelen all derer zu vernichten trachten, die wir vorher am meisten geliebt haben. Uns sind dann auf ewig die Pforten des Himmels verschlossen, denn wer sollte sie uns wieder öffnen? Wir werden für immer der Abscheu aller sein, ein Schandfleck auf Gottes reinem Angesicht, ein Pfeil in der Seite dessen, der für die Menschen gestorben ist. Aber wir stehen unserer Pflicht Auge in Auge gegenüber. Dürfen wir in diesem Fall noch zögern? Ich für meine Person sage: Nein! Denn ich bin alt, und das Leben mit seinem Sonnenschein, seinem Vogelgesang, seiner Musik und seiner Liebe liegt weit hinter mir. Sie aber sind jung. Einige von Ihnen haben zwar das Leid schon kennengelernt, aber Sie alle haben noch Aussicht auf schöne Tage. Was sagen Sie dazu?«

Während van Helsing so sprach, hatte Jonathan meine Hand ergriffen. Ich fürchtete, dass ihn die erschreckende Beschreibung der uns drohenden Gefahren überwältigt habe, als ich ihn seine Hand nach mir ausstrecken sah, aber Freude durchzog mein Herz, als ich den Druck dieser Hand fühlte – so stark, so selbstbewusst und so entschlossen war er. Die Hand eines mutigen Mannes spricht für diesen selbst, und es ist nicht einmal die Liebe einer Frau nötig, diese Sprache zu verstehen.

|346|Nachdem der Professor geendet hatte, sah mir mein Mann in die Augen und ich in die seinen. Wir verstanden uns ohne Worte.

»Ich bürge für Mina und mich«, sagte er.

»Zählen Sie auf mich, Professor«, sagte Quincey Morris, lakonisch wie immer.

»Ich bin dabei«, sagte Lord Godalming, »schon um Lucys willen, wenn es nicht noch andere Gründe genug gäbe.«

Dr. Seward nickte nur. Der Professor stand auf, legte das goldene Kruzifix auf den Tisch und streckte seine Hände nach beiden Seiten hin aus. Ich ergriff seine Rechte und Lord Godalming seine Linke, Jonathan gab mir seine linke Hand und reichte die Rechte Mr. Morris hinüber. Hand in Hand schlossen wir unseren feierlichen Bund. Ich fühlte, dass es mir eiskalt ums Herz wurde, aber ich wollte meine Hände um nichts auf der Welt zurückziehen. Dann nahmen wir unsere Plätze wieder ein, und van Helsing fuhr mit einem Enthusiasmus fort, der mir zeigte, dass wir nun mitten bei der Arbeit waren. Er ging sie so ernsthaft und geschäftsmäßig an, als wäre es eine beliebige andere Tätigkeit:

»Sie wissen also jetzt, gegen wen wir zu kämpfen haben. Aber auch wir sind nicht ganz machtlos! Wir haben auf unserer Seite die Macht der Vereinigung, eine Macht, die dem Geschlecht der Vampire versagt ist. Wir haben die Wissenschaften, wir können frei denken und handeln, und die Stunden des Tages wie die der Nacht gehören uns gleichrangig. Mit anderen Worten, all unsere genannten Kräfte sind ungebunden und unbegrenzt, und wir können beliebigen Gebrauch von ihnen machen. Wir sind in der Sache selbstlos, und auch unser Ziel ist nicht egoistisch. Dies alles ist viel! Lassen Sie uns also fragen, inwiefern die uns entgegentretenden feindlichen Kräfte allgemeine Grenzen haben, und wo die individuellen Grenzen liegen. Mit anderen Worten: Untersuchen wir die Beschränkungen, die allgemein auf Vampire zutreffen, und diejenigen, denen insbesondere unser Gegner unterliegt.

Alles, worauf wir hier zurückgreifen können, sind Tradition und Aberglaube. Das scheint im ersten Augenblick nicht viel, |347|wenn man bedenkt, dass es sich um Leben und Tod handelt, oder leider sogar um mehr als Leben und Tod. Dennoch müssen wir zufrieden sein, zum einen, weil es keine anderen Mittel für uns gibt, und zum anderen, weil schließlich alles Tradition und Aberglaube ist. Beruht nicht der Glaube an Vampire für andere – leider nicht für uns! – einzig auf diesen beiden? Wer von uns hätte denn noch vor einem Jahr solch eine Möglichkeit auch nur in Betracht gezogen, mitten in unserem wissenschaftlichen, nüchternen 19. Jahrhundert? Wir haben doch schon Dinge für unmöglich erklärt, die sich direkt vor unseren Augen abspielen! Nehmen Sie also mit mir an, dass der Glaube an Vampire und das traditionelle Wissen über deren Schwächen sowie die Möglichkeiten ihrer Bekämpfung auf denselben Fundamenten ruhen. Ich kann Ihnen versichern, dass man überall da, wo Menschen leben, auch Vampirismus kennt. Im alten Griechenland, im alten Rom, in Deutschland, Frankreich und Indien, ja selbst auf den Dardanellen und in China, das doch in jeder Hinsicht so weit von uns entfernt liegt – überall ist der Vampir bekannt, und die Menschen fürchten sich bis auf den heutigen Tag vor ihm. Er kam mit den isländischen Berserkern und im Schatten der von Teufeln erzeugten Hunnen zu den Slawen, den Sachsen und Magyaren. So weit reichen also unsere Kenntnisse über ihn, und in der Tat ist so manches, was jene Völker von ihm glaubten und noch glauben, durch das erwiesen, was wir an uns selbst erfahren mussten. Der Vampir lebt immer weiter und kann nicht sterben, er gedeiht immer weiter, solange er sich vom Blut lebender Wesen ernähren kann. Mehr noch! Wir haben selbst erfahren, dass er sich sogar zu verjüngen vermag, dass seine Lebenskraft immer größer wird und sich immer wieder zu erneuern scheint, wenn er nur genügend Nahrung hat. Aber er kann ohne diese Nahrung nicht existieren, er isst nicht wie andere. Selbst unser Freund Jonathan hier, der über Wochen mit ihm gelebt hat, sah ihn niemals essen, niemals! Er wirft keine Schatten und hat im Spiegel kein Bild, wie Jonathan gleichfalls beobachtet hat. Seine Hand allein hat die |348|Kraft vieler Männer, Zeuge dafür ist wiederum Jonathan, der ihn das Tor vor den Wölfen verschließen sah und der seinen Griff beim Aussteigen aus dem Wagen fühlte. Er kann sich in einen Wolf verwandeln, wie wir seit der Ankunft jenes gespenstischen Schiffes in Whitby wissen, wo er einen Hund zerriss. Er kann als Fledermaus erscheinen – Madame Mina hat ihn als solche am Fenster in Whitby beobachtet, Freund John sah ihn aus unserem Nachbarhaus fliegen, und mein Freund Quincey hat ihn so an Lucys Fenster sitzen sehen. Er kann im Nebel kommen, den er sich selbst schafft, dafür haben wir das Zeugnis jenes pflichtgetreuen Kapitäns. Aber nach dem, was wir weiter wissen, ist die Entfernung, auf die er solche Nebel erzeugen kann, auf einen gewissen Umkreis begrenzt. Er kommt im Mondlicht als Staubwolke, Jonathan hat ja die unheimlichen Schwestern auf Burg Dracula auf diese Weise entstehen sehen. Er kann sich sehr klein machen – wir selbst haben Lucy durch eine winzige Spalte zur Grufttür hineinschlüpfen sehen, bevor wir ihr den ewigen Frieden bringen konnten. Er kann, wenn er einmal einen bestimmten Weg genommen hat, immer wieder hinein und heraus; es mag alles noch so fest verschlossen, ja sogar verlötet sein. Er sieht durch die Dunkelheit – eine mächtige Gabe auf dieser Welt, die ja die Hälfte ihrer Zeit im Finstern ruht. Ja, all dies vermag er, aber hören Sie mich zu Ende an! Er kann all das, aber er ist dennoch nicht frei. Im Gegenteil, er ist noch schlimmer dran als ein Galeerensträfling oder ein Wahnsinniger in seiner Isolierzelle. Er kann nicht überall dorthin, wohin es ihn gelüstet; er, der außerhalb der Natur steht, muss sich dennoch einigen ihrer Gesetze fügen. Warum, das wissen wir nicht. Er darf nirgends von alleine eintreten, es sei denn, jemand aus dem Haus lädt ihn dazu ein. Wenn dies aber erst einmal geschehen ist, so kann er danach kommen und gehen, wie er will. Seine Macht zerbröckelt, wie die aller bösen Dinge, sobald der Tag kommt. Nur zu gewissen Zeiten hat er seine begrenzte Freiheit. Wenn er sich nicht an dem Platz befindet, an den er gebunden ist, kann er sich nur um Mittag |349|und exakt bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang verwandeln. Diese Dinge sind überliefert, aber unsere Aufzeichnungen lassen den Schluss zu, dass es wirklich so ist. Während er also in bestimmten Grenzen tun und lassen kann, was ihm beliebt, wenn er sich in seiner Heimaterde, seiner Sargbehausung, seiner Höllengruft oder an einem anderen verfluchten Ort befindet – wir lasen ja, dass es ihn zum Grab des Selbstmörders in Whitby gezogen hatte –, so kann er sich an anderen Orten nur zu den festgesetzten Zeiten verwandeln. Man sagt weiterhin, er könne fließendes Wasser nur zu Beginn von Ebbe oder Flut überqueren. Weiterhin gibt es Dinge, die ihn so angreifen, dass er alle Kraft verliert. Wir wissen, dass der Knoblauch dazu gehört. Gegen geweihte Dinge wie dieses Kreuz hier, das uns bisher begleitet hat und das auch unsere Beratung schützt, vermag er nichts. Er sucht sich von ihnen so fern wie möglich zu halten, schweigend und respektvoll. Und es gibt noch weitere Mittel, die ich Ihnen kurz nennen möchte für den Fall, dass wir sie benötigen: Ein Zweig wilder Rosen auf seinem Sarg hindert ihn am Herauskommen. Eine geweihte Kugel, die man in den Sarg schießt, tötet ihn endgültig, ebenso ein durch den Leib getriebener Pfahl, dessen Wirkung wir ja schon erproben konnten. Auch das Abschneiden des Kopfes bringt ihn zur Ruhe, wir haben das mit eigenen Augen gesehen.

Wenn wir nun das Versteck dieses Wesens finden, das einmal ein Mann gewesen ist, so können wir ihn dort mit unserem Wissen in seinem Sarg einsperren und vernichten. Aber er ist schlau. Ich habe deshalb meinen Freund Arminius von der Universität Budapest gebeten, etwas über den Mann herauszufinden. Anhand der vorhandenen Aufzeichnungen hat er mir einen Bericht zusammengestellt: Unser Feind scheint tatsächlich einst jener Woiwode Dracula gewesen zu sein, der sich seinen Namen im Kampf am großen Grenzfluss gegen die Türken verdient hat. Wenn dies zutrifft, dann war er kein gewöhnlicher Mann, denn schon damals und noch Jahrhunderte später wurde er als der |350|klügste und listigste, aber auch als der tapferste der Söhne des ›Landes jenseits der Wälder‹3 gerühmt. Seine Klugheit und seinen eisernen Willen hat er mit ins Grab genommen und führt sie nun gegen uns ins Feld. Die Draculas waren, meint Arminius, ein großes und edles Geschlecht, aber von einigen Abkömmlingen erzählten sich schon die Zeitgenossen, dass sie mit dem Satan paktiert hätten. Sie lernten seine Künste in der Scholomance4 im Gebirge hinter Hermannstadt, wo der Teufel jeweils einen von zehn Schülern als Tribut bei sich behält. In den Unterlagen finden sich Worte wie ›Stregoica‹ – Hexe, ›Ordog‹ und ›Pokol‹ – Satan und Hölle, und in einem der alten Manuskripte wird ebendieser Dracula als ›Wampyr‹ bezeichnet, was wir nur allzu gut verstehen. Aus den Lenden dieses Einen entsprangen große Männer und edle Frauen, deren Leichen den Boden ehrten, in dem sie bestattet wurden. Es ist aber derselbe Boden, in dem auch die Verderbnis gedeiht, und es ist keine unbedeutende Scheußlichkeit dieses Wesens, dass es tief im Guten wurzelt. In einer Erde, der jegliche Erinnerung an das Gute fehlt, kann es nicht ruhen …«

Während van Helsing sprach, hatte Mr. Morris schon eine ganze Weile auf das Fenster gestarrt, schließlich stand er ruhig auf und verließ das Zimmer. Es entstand eine kleine Pause, dann fuhr der Professor fort:

»Nun sollten wir beschließen, was zu tun ist. Wir haben hier eine schöne Menge von Daten vorliegen, um unseren Feldzug zu planen. Wir wissen aus Jonathans Angaben, dass fünfzig Kisten Erde von der Burg nach Whitby transportiert und im Weiteren vollzählig in Carfax abgeliefert worden sind. Wir wissen überdies, dass einige der Kisten später wieder weggeschafft wurden. |351|Ich denke, der erste Schritt müsste sein, sich zu vergewissern, ob die übrigen Kisten sich noch in dem Haus hinter der Mauer befinden, oder ob es noch weitere Abtransporte gegeben hat. Wenn Letzteres der Fall sein sollte, müssen wir die Spur …«

 

 

Hier wurden wir auf sehr überraschende Weise unterbrochen. Vor dem Haus knallte nämlich ein Pistolenschuss, der das Fenster zerschmetterte. Die Kugel drang in die Wand auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, nachdem sie offensichtlich von der Fenstervertiefung abgeprallt war. Ich fürchte, in der Tiefe meines Herzen wohl doch ängstlich zu sein, denn ich schrie laut auf. Die Männer sprangen augenblicklich auf, und Lord Godalming stürzte ans Fenster und riss es auf. Da hörten wir von außen Quincey Morris’ Stimme:

»Sorry! Ich fürchte, ich habe Sie erschreckt. Ich komme gleich herein und berichte Ihnen!« Eine Minute später trat er ein und sagte:

»Das war idiotisch von mir, ich bitte um Vergebung! Mrs. Harker, ich fürchte ernsthaft, dass ich Sie arg erschreckt habe. Aber während der Professor seinen Vortrag hielt, kam eine große Fledermaus und setzte sich auf die Fensterbrüstung. Ich habe durch die jüngsten Ereignisse einen unbeschreiblichen Abscheu vor diesen verdammten Viechern, ich kann sie nicht ausstehen und ging also hinaus, um sie zu erledigen, wie ich es mir in der letzten Zeit zur Gewohnheit gemacht habe, wann immer eine meinen Weg kreuzte. Art hat mich dafür schon ausgelacht.«

»Haben Sie sie erwischt?«, fragte van Helsing.

»Keine Ahnung, aber ich fürchte nicht, denn sie flatterte davon, auf den Wald zu.« Ohne ein weiteres Wort nahm Mr. Morris darauf wieder seinen Platz ein, und der Professor wiederholte seinen letzten Gedanken:

»Wir müssen die Spur jeder einzelnen Kiste verfolgen, und wenn wir das Scheusal in einer von ihnen finden sollten, so müssen wir es auf seinem Lager entweder töten oder es fangen. Ist er nicht in einer Kiste, so müssen wir, wenn man so sagen kann, die |352|Erde sterilisieren, sodass er keine Sicherheit mehr in ihr findet. So werden wir ihn dann schließlich in Menschengestalt zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang antreffen und mit ihm kämpfen, wenn er am schwächsten ist. – Was nun Sie betrifft, Madame Mina, so ist mit dem heutigen Abend für Sie Schluss, und zwar so lange, bis sich alles zum Guten gewendet hat. Sie sind uns viel zu kostbar, als dass wir Sie einer solch furchtbaren Gefahr aussetzen möchten. Wenn wir uns heute Nacht getrennt haben, so dürfen Sie keine weiteren Fragen mehr stellen; wir werden Ihnen hinterher getreu über alles berichten. Wir sind Männer, und wir sind wohl in der Lage, dies zu ertragen. Sie aber sind unser Stern und unsere Hoffnung, und wir können umso freier handeln, je weiter wir Sie von der Gefahr entfernt wissen.«

Alle Männer, sogar Jonathan, atmeten erleichtert auf. Mir erschien es nicht richtig, dass sie aus Rücksicht auf mich die Gefahr vergrößerten und Ihre Sicherheit gefährdeten, Stärke ist schließlich die beste Gewähr für Sicherheit. Die Männer waren jedoch fest dazu entschlossen, und obwohl dies eine bittere Pille für mich war, konnte ich nichts anderes tun, als ihre ritterliche Entscheidung zu akzeptieren.

Mr. Morris beendete unsere Besprechung.

»Da wir keine Zeit zu verlieren haben, schlage ich vor, wir schauen uns sein Haus jetzt gleich an. Die Zeit ist entscheidend, eine schnelle Aktion von uns vermag vielleicht das nächste Opfer vor ihm zu retten.«

Ich gestehe, dass mir darüber das Herz stockte, die Zeit zum Handeln so schnell gekommen zu sehen, aber ich sagte nichts. Meine Furcht, sie könnten mich als Hindernis für ihre Tätigkeit ansehen und mir überhaupt nichts mehr erzählen, war größer als meine Bedenken wegen ihrer raschen nächtlichen Aktion. Sie sind jetzt nach Carfax hinübergegangen und haben Werkzeuge mitgenommen, um ins Haus zu gelangen.

Wie Männer so sind, haben sie mir geraten, ins Bett zu gehen und zu schlafen. Als ob eine Frau schlafen könnte, wenn die, die |353|sie liebt, in Gefahr sind! Ich werde mich niederlegen und so tun, als würde ich schlafen. So wird Jonathan wenigstens beruhigt sein, wenn er wieder heimkommt.

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

1. Oktober, 4 Uhr früh

Gerade als wir das Haus verlassen wollten, brachte man mir eine dringende Nachricht von Renfield, der mich augenblicklich sprechen wollte, da er mir eine Mitteilung von äußerster Wichtigkeit zu machen hätte. Ich beauftragte den Pfleger, Renfield zu sagen, dass ich am Morgen zu ihm kommen würde, im Augenblick aber zu tun hätte. Der Pfleger antwortete:

»Er ist äußerst aufgeregt, Sir, ich habe ihn noch nie so ungeduldig gesehen. Ich kenne mich ja nicht aus, aber was ist, wenn er wieder einen seiner gewalttätigen Tobsuchtsanfälle bekommt, weil Sie ihn nicht besuchen?« Ich war überzeugt, dass der Mann dies nicht ohne besonderen Grund sagte, und so entgegnete ich: »Nun gut, ich komme.« Die anderen bat ich, sich einige Augenblicke zu gedulden, da ich noch rasch nach meinem Patienten sehen müsste.

»Nehmen Sie mich mit, Freund John«, sagte der Professor. »Die Fallbeschreibung, die Sie in Ihrem Tagebuch von ihm geben, hat mich sehr interessiert, und es hängt ja anscheinend auch irgendwie mit unserem Fall zusammen. Ich möchte ihn sehr gerne einmal sehen, besonders im verwirrten Zustand.«

»Darf ich ebenfalls mitkommen?«, fragte Lord Godalming.

»Ich auch, ich auch?«, ließen sich Quincey Morris und Mr. Harker vernehmen. Ich nickte, und so gingen wir alle zusammen zu Renfields Zimmer.

Zu fünft traten wir ein, aber außer mir sprach zunächst keiner meiner Begleiter. Wir trafen Renfield in einem Zustand großer Erregung an, seine Redeweise und sein Gebaren waren aber weitaus |354|vernünftiger als sonst. Er hatte ein außergewöhnlich klares Bild von sich selbst, wie ich es noch nie zuvor bei einem Irren angetroffen hatte, und er schien vorauszusetzen, dass auch gesunde Menschen von seiner Argumentation überzeugt sein müssten. Er hatte mich rufen lassen, weil er augenblicklich entlassen und heimgeschickt werden wollte. Er begründete diese Bitte mit seiner vollkommenen Wiederherstellung und führte als Beleg seinen gegenwärtigen klaren Geisteszustand an. »Ich appelliere an Ihre Freunde«, sagte er, »sie mögen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, mit Ihnen über meinen Fall zu Gericht sitzen. Übrigens wurde ich ihnen bisher noch nicht vorgestellt …« Ich war so verblüfft, dass mir der Gedanke nicht einmal lächerlich vorkam, einem Wahnsinnigen in einer Anstalt gegenüber auf die Etikette zu achten. Davon abgesehen lag eine gewisse Würde im Gebaren dieses Mannes, ein so unbedingter Anspruch auf Gleichrangigkeit, dass ich augenblicklich mit der Vorstellung begann: »Lord Godalming – Mr. Quincey Morris aus Texas – Professor van Helsing – Mr. Jonathan Harker: Mr. Renfield!« Der Patient begrüßte alle der Reihe nach per Handschlag, wobei er zu jedem ein paar Worte sagte:

»Lord Godalming, ich hatte einmal die Ehre, Ihrem Herrn Vater in Windham5 zu sekundieren. Dass Sie nun den Titel tragen, zeigt mir zu meinem großen Bedauern an, dass der alte Lord nicht mehr unter den Lebenden weilt. Er wurde von allen, die das Glück hatten, ihn zu kennen, geliebt und verehrt. Ich hörte, dass er in seiner Jugend der Erfinder eines Rumpunsches war, welcher auf den Derby-Abenden einen außerordentlichen Zuspruch fand. – Mr. Morris, Sie dürfen stolz sein auf Ihren großartigen Staat, seine Aufnahme in die Union6 war ein Präzedenzfall, in dessen Folge sich vielleicht dereinst die Pole und die Tropen unter dem Sternenbanner verbinden! Der Vertrag wird sich als |355|mächtige Triebkraft zur Vergrößerung der Union erweisen, wenn die Monroe-Doktrin7 als das politische Märchen erkannt sein wird, das sie ist. – Und wie soll man seine Freude in Worte fassen, van Helsing kennenlernen zu dürfen? Sir, ich entschuldige mich nicht dafür, Ihre zahllosen akademischen Grade nicht anzuführen. Bei einem Genie, das die Therapeutik durch seine Entdeckung der kontinuierlichen Evolution der Gehirnmasse revolutioniert hat, sind die konventionellen Titel gänzlich unpassend, denn sie würden die Ausnahmeerscheinung in eine Reihe mit anderen stellen, in die Sie keineswegs gehören! – Mr. Harker, ich bin erfreut, nun endlich auch Ihre Bekanntschaft zu machen, nachdem mir Ihre zauberhafte Gattin ja bereits einmal die Ehre erwiesen hat! – Sie alle, meine Herren, die Sie durch Erbrecht, Nationalität oder durch natürliche Anlagen dazu bestimmt sind, die Ihnen zustehenden Plätze in dieser sich so rasch bewegenden Welt einzunehmen, Sie rufe ich als Zeugen dafür an, dass ich so vernünftig bin wie die weitaus meisten Menschen, die im vollen Besitz ihrer Freiheit sind. Und ich bin überzeugt davon, dass auch Sie, Dr. Seward, als humanistischer Medizinrechtler und Wissenschaftler es für Ihre moralische Pflicht erachten werden, mich als einen Fall zu betrachten, der außerhalb der gewöhnlichen Urteilsbahnen zu verhandeln ist!« Diesen letzten Appell an mich brachte er mit einer Überzeugung vor, die durch ihre Höflichkeit außerordentlich bestechend wirkte.

Ich glaube, wir alle waren verdutzt. Was mich betrifft, so war ich trotz meiner Vertrautheit mit dem Charakter und der Krankengeschichte dieses Mannes überzeugt, dass seine Vernunft wieder völlig zurückgekehrt sei. Fast wollte ich ihm schon sagen, dass ich mit seinem Zustand zufrieden wäre und die nötigen Formalitäten einleiten würde, ihn morgen früh zu entlassen, doch dann hielt ich es für besser, damit noch etwas zu warten. Es war |356|immerhin eine schwerwiegende Entscheidung, denn ich kannte ja die unglaublich raschen Veränderungen im Befinden dieses merkwürdigen Patienten. So begnügte ich mich damit, ihm einstweilen zu bestätigen, dass seine Besserung rapide voranschreite. Ich versprach, ihm am kommenden Morgen eine längere Unterredung zu gewähren und zu erwägen, wie seine Wünsche am besten umgesetzt werden könnten. Dies schien ihm jedoch nicht zu genügen, denn er erwiderte rasch:

»Ich fürchte, Dr. Seward, dass Sie meinen Wunsch nicht begriffen haben. Ich möchte sogleich fort, auf der Stelle, jetzt, in dieser Stunde, in diesem Augenblick, wenn es möglich ist. Die Zeit drängt, und in unserem stillschweigenden Vertrag mit dem Sensenmann ist sie von ausschlaggebender Bedeutung. Ich bin überzeugt, dass es gegenüber einem so erfahrenen Arzt wie Ihnen genügt, einen so einfachen, augenblicklich zu erfüllenden Wunsch vernünftig zu begründen, um ihn auch schon gewährt zu sehen.« Er sah mich scharf an und wandte sich dann, als er die Ablehnung in meinen Zügen las, zu den anderen um, um deren Meinung zu erforschen. Da ihm jedoch auch hier keine ihn befriedigende Antwort zuteilward, fuhr er fort:

»Ist es denn möglich, dass ich mich so in meinen Voraussetzungen getäuscht habe?«

»Das haben Sie«, sagte ich offen. Zugleich fühlte ich, wie schroff meine Antwort war. Es entstand eine längere Pause, dann sagte er leise:

»Dann werde ich wohl meine Begründung in dieser Sache ändern müssen. Lassen Sie mich darum bitten, um diese Vergünstigung, um dieses Privileg, wenn Sie so wollen. Ich bin in diesem Fall sogar bereit, Sie anzuflehen, denn es geht hier nicht um mich, sondern um das Wohl von anderen. Es steht mir leider nicht frei, Ihnen die Gesamtheit meiner Gründe auseinanderzusetzen, aber Sie dürfen überzeugt sein, dass es gute Gründe sind, zwingende und selbstlose Gründe, die nur dem höchsten Pflichtbewusstsein entspringen. Könnten sie mir ins Herz schauen, Sir, Sie würden |357|die Gefühle vollkommen begreifen, die mich bewegen. Nein, mehr als das, Sie würden mich unter Ihre besten und treuesten Freunde zählen.« Wieder sah er uns alle scharf an. In mir wuchs die Überzeugung, dass diese rapide Veränderung seines Auftretens nur eine neue Erscheinungsform oder Phase seiner Krankheit war, und ich beschloss, ihn ruhig weiterreden zu lassen, da ich aus Erfahrung wusste, dass er sich am Schluss schließlich doch noch verraten würde, genau wie jeder andere Wahnsinnige. Van Helsing hielt den Blick mit der äußersten Konzentration auf ihn gerichtet, seine Augenbrauen zogen sich förmlich zusammen. Dann redete er Renfield in einer Art und Weise an, die mich in diesem Moment nicht überraschte, die mir aber später, als ich darüber nachdachte, immer erstaunlicher vorkommen sollte:

»Können Sie uns nicht offen die Gründe nennen, die den Wunsch in Ihnen erregen, heute Nacht noch frei zu werden? Ich verspreche Ihnen Folgendes: Wenn Sie mich, einen Fremden, der Ihnen ohne jedes Vorurteil und mit einem aufgeschlossenen Geist gegenübertritt, überzeugen können, so wird Ihnen Dr. Seward auf seine eigene Verantwortung das von Ihnen gewünschte Privileg bewilligen.« Renfield schüttelte traurig den Kopf, und sein Gesicht zeigte eine Miene des schmerzlichen Bedauerns. Der Professor fuhr fort:

»Kommen Sie, Sir, überlegen Sie sich die Sache! Sie erheben Anspruch darauf, als vernünftiger Mann behandelt zu werden, und Sie haben versucht, uns mit Ihrer geistigen Klarheit zu beeindrucken. Sie erwarten von uns, dass wir dies akzeptieren, wo wir doch gute Gründe haben, Ihre Gesundheit anzuzweifeln, da Sie ja noch nicht aus der medizinischen Behandlung entlassen sind. Wenn Sie uns nicht in unserem Bemühen, die richtige Entscheidung zu treffen, unterstützen wollen, wie können wir da der Pflicht nachkommen, die Sie uns auferlegen? Zeigen Sie uns, dass Sie wirklich vernünftig sind, und helfen Sie uns! Nur dann können wir auch Ihnen bei der Erfüllung Ihres Wunsches helfen.« Doch er schüttelte nur wieder den Kopf und entgegnete:

|358|»Dr. van Helsing, ich habe nichts weiter hinzuzufügen. Ihre Argumentation ist stichhaltig, und wenn ich frei wäre zu reden, so würde ich keinen Augenblick zaudern. Aber ich bin in dieser Sache nicht mein eigener Herr, ich kann Sie also nur bitten, mir zu vertrauen. Wenn Sie es nicht tun, so liegt die Verantwortung nicht länger bei mir.« – Ich fand es nun an der Zeit, der Szene ein Ende zu machen, die nachgerade tragikomisch zu wirken begann und wandte mich zum Gehen.

»Kommen Sie, meine Freunde, wir haben noch zu tun. Gute Nacht!«

Als ich mich aber der Tür näherte, trat eine neue Änderung im Verhalten des Patienten ein. Er sprang so rasch auf mich zu, dass ich einen Augenblick fürchtete, er habe einen neuen Mordversuch im Sinn. Meine Befürchtung war aber grundlos, denn er hob flehend seine Hände und wiederholte seine Bitte in rührenden Tönen. Obwohl er erkennen musste, dass dieser Gefühlsausbruch uns nur umso mehr gegen ihn einnahm, da er unseren Argwohn nur verstärkte, steigerte er sein Flehen noch einmal. Ich schaute van Helsing an und sah in seinem Blick, dass er meine Auffassung teilte. Meine Meinung war also noch gefestigter, und so bedeutete ich Renfield, dass alle seine Anstrengungen vergebens seien. Ich hatte schon früher einmal diese wachsende Erregung an ihm bemerkt, wenn er nämlich eine Bitte vorbrachte, die er schon lange hegte. Wie damals, als er mich um die Katze bat, erwartete ich jeden Augenblick den Kollaps und sein Zurückfallen in mürrisches Schweigen. Meine Erwartung wurde aber getäuscht, denn als er merkte, dass all seine Bitten mich kalt ließen, geriet er förmlich in Raserei. Er warf sich vor mir auf die Knie und streckte seine Hände nach mir aus, sie in jammervoller Verzweiflung ringend. Er überschüttete mich mit einem Schwall von Beschwörungen, während Tränen über seine Wangen rollten und sein Gesicht sowie seine ganze Gestalt die tiefste Bewegung widerspiegelten:

»Ich flehe Sie an, Dr. Seward, lassen Sie sich erweichen, lassen |359|Sie mich augenblicklich fort aus diesem Haus! Schicken Sie mich weg, wie Sie wollen und wohin Sie wollen, geben Sie mir Pfleger mit Peitschen und Ketten mit, lassen Sie mir die Zwangsjacke anlegen, lassen Sie mich meinetwegen gefesselt und mit Fußketten in ein Gefängnis bringen, aber lassen Sie mich fort von hier! Sie wissen ja gar nicht, was Sie tun, wenn Sie mich hier zurückhalten. Ich spreche aus der Tiefe meines Herzens, aus meiner tiefsten Seele! Sie ahnen ja nicht, wem Sie Leid zufügen und in welcher Weise, und ich darf mich nicht näher erklären. Weh über mich, aber ich darf nicht sprechen. Bei allem, was Ihnen heilig ist, bei allem, was Sie lieben – bei Ihrer toten Liebe – bei Ihrer Hoffnung, die noch lebt – um des Allmächtigen willen, lassen Sie mich frei und retten Sie meine arme Seele vor dem Verderben! – Kannst du mich nicht hören, Mann? Kannst du mich nicht verstehen? Wirst du es denn nie begreifen? Siehst du denn nicht, dass ich jetzt gesund und todernst bin, dass ich kein Wahnsinniger mit einem Anfall bin, sondern ein gesunder Mann, der um seine Seele kämpft? Oh, höre mich, erhöre mich, lass mich gehen, lass mich gehen, lass mich gehen!«

Ich sagte mir, dass er, wenn dies noch länger so weiterginge, schließlich doch einen Anfall bekäme, deshalb ergriff ich seine Hände und zog ihn auf die Beine.

»Kommen Sie«, sagte ich streng, »nichts mehr davon, es reicht uns. Gehen Sie zu Bett und versuchen Sie zukünftig, sich etwas besser zu benehmen.«

Er schwieg sogleich und sah mich lange intensiv an. Dann ging er wortlos zu seinem Bett hinüber und setzte sich auf dessen Kante. Der Kollaps war eingetreten wie bei früherer Gelegenheit, ganz wie ich es vorausgesehen hatte. Während ich als Letzter unserer Gruppe sein Zimmer verließ, sagte er mit ruhiger, gefasster Stimme:

»Ich vertraue darauf, Dr. Seward, dass Sie die Gerechtigkeit besitzen werden, sich daran zu erinnern, dass ich heute Nacht mein Möglichstes getan habe, Sie zu überzeugen.«