|133|ACHTES KAPITEL

 

Mina Murrays Tagebuch

 

Am selben Tag, 11 Uhr abends

Oh, wie bin ich müde! Wenn ich mir mein Tagebuch nicht zur Pflicht gemacht hätte, würde ich es heute nicht mehr öffnen. Wir haben einen reizenden Spaziergang gemacht. Lucy war nach kurzer Zeit in bester Laune, die wir, glaube ich, einigen munteren Kühen zu verdanken hatten, die auf einem kleinen Feld in der Nähe des Leuchtturmes auf uns zukamen, um uns zu beschnuppern und uns in Angst und Schrecken zu versetzen. Ich glaube, wir vergaßen durch unsere augenblickliche Furcht alles andere. Dann tranken wir einen vorzüglichen Tee an der Robin Hood’s Bay in einer netten, kleinen, altmodischen Wirtschaft, durch deren Rundbogenfenster man gerade hinunter auf die mit Seetang bedeckten Felsen des Strandes sehen konnte. Ich glaube, wir hätten jede »new woman«1 mit unserem Appetit schockiert. Männer sind in dieser Beziehung nachsichtiger, Gott segne sie dafür! Dann wanderten wir wieder zurück, wobei wir einige, besser gesagt viele Ruhepausen einlegten; im Herzen trugen wir immer noch Furcht vor wild gewordenen Stieren. Lucy war wirklich müde, und wir beschlossen, so bald wie möglich ins Bett zu kriechen. Dann kam jedoch noch der junge Herr Vikar vorbei, und Mrs. Westenra lud ihn ein, zum Supper unser Gast zu sein. Lucy und ich hatten bereits einen harten Kampf mit dem Sandmann zu bestehen. Ich glaube, ich kämpfte erfolgreicher, denn ich bin eine sehr heroische Natur. Trotzdem bin ich der Meinung, dass die Bischöfe |134|sich eines Tages zusammensetzen und darüber beraten müssen, ob man nicht eine Sorte Vikare züchten sollte, die keine Abendbroteinladungen annimmt, so sehr sie auch dazu gepresst werden mag, und die es merkt, wenn junge Mädchen müde sind. Lucy schläft und atmet ruhig. Sie hat mehr Farbe in den Wangen und sieht so süß aus! Wenn Mr. Holmwood sich schon in sie verliebte, wo er sie nur im Salon sah, so würde ich gern wissen, was er sagte, wenn er sie so sähe. Vielleicht werden die Schriftstellerinnen aus dem Kreis der New Women eines Tages die Forderung aufstellen, dass es Mann und Frau erlaubt sein müsse, sich erst gegenseitig beim Schlafen zuzusehen, bevor Heiratsanträge gemacht und akzeptiert werden. Wahrscheinlicher aber ist, dass die New Women sich in Zukunft nicht mehr damit begnügen werden, einen Antrag anzunehmen, vielmehr werden sie selbst werben, und sie werden es bestimmt glänzend tun. Dieser Gedanke gefällt miräußerst gut. Ich bin ganz glücklich heute Abend, weil es der lieben Lucy wieder besser geht. Ich glaube wirklich, sie ist über den Berg und wird auch ihre Albträume überwunden haben. Vollends glücklich wäre ich, wenn ich wüsste, ob Jonathan … Gott segne und behüte ihn.

 

11. August, 3 Uhr morgens

Wieder zum Tagebuch – da ich nicht schlafen kann, will ich schreiben. Ich bin zu erregt, um schlafen zu können. Wir haben gerade ein schreckliches Erlebnis hinter uns. Nachdem ich mein Tagebuch gestern geschlossen hatte, bin ich sofort eingeschlafen … Aber plötzlich war ich wieder hellwach, fand mich im Bett sitzend und von einer schrecklichen Angst und dem Gefühl der Einsamkeit erfasst. Das Zimmer war so dunkel, dass ich Lucys Bett nicht sehen konnte. Ich schlich mich daher hinüber und tastete nach ihr – ihr Bett war leer. Ich machte Licht und stellte fest, dass sie nicht mehr im Zimmer war. Die Tür war zu, aber nicht verschlossen; dabei hatte ich dies doch gewissenhaft besorgt, bevor wir uns zur Ruhe legten. Ihre Mutter wollte ich |135|nicht wecken, da sie in letzter Zeit wieder leidender ist, und so zog ich einige Kleidungsstücke an und machte mich allein auf die Suche. Bevor ich das Zimmer verließ, kam ich auf die Idee, dass vielleicht die Kleider, die sie trug, mir einen Anhaltspunkt für ihr Verschwinden geben könnten. Der Morgenrock würde bedeuten, dass ich sie im Hause, Straßenkleider, dass ich sie außerhalb suchen müsste. Sowohl der Morgenrock als auch die Straßenkleider befanden sich auf ihren üblichen Plätzen. »Gott sei Dank«, sagte ich mir, »weit kann sie also nicht sein, da sie nur im Nachthemd ist.« Ich rannte hinunter und sah im Wohnzimmer nach. Hier war sie nicht. Dann suchte ich alle offenen Räume des Hauses ab, wobei mir eine beständig wachsende Angst das Herz zusammenschnürte. Endlich kam ich an das Haustor und fand es offen. Es war nicht weit geöffnet, sondern angelehnt, und das Schloss war nicht eingeschnappt. Da die Hausbewohner sorgfältig darauf bedacht sind, das Tor zur Nacht zu schließen, musste ich befürchten, dass Lucy im Nachthemd fortgegangen war. Ich malte mir nicht einmal aus, was alles geschehen könnte, eine allgemeine, überwältigende Angst ließ mich kaum denken. Hastig warf ich mir einen großen, warmen Schal um und stürzte davon. Die Glocke schlug eben eins, als ich am Crescent ankam, keine Seele war auf der Straße. Ich eilte die North Terrace entlang, fand aber keine Spur der weißen Gestalt, nach der ich suchte. Vom Rand des West Cliffs aus, gerade über dem Pier, sah ich über den Hafen und zum East Cliff hinüber, in der Hoffnung oder Furcht – was es war, weiß ich nicht –, Lucy auf unserem Lieblingsplätzchen zu entdecken. Der helle Vollmond wurde hin und wieder durch schwere, jagende Wolken verhüllt, sodass die ganze Szenerie abwechselnd im Licht oder in Finsternis lag. Im ersten Moment konnte ich nichts erkennen, da gerade der Schatten einer Wolke die St. Mary’s Church und alles Umliegende verdunkelte. Während die Wolke vorüberzog, strich ein schmaler Lichtstreifen über die Ruine der Abtei hinweg, und die Kirche wurde samt Friedhof nach und |136|nach sichtbar. Was immer ich auch erwartet haben mochte, meine Erwartung wurde nicht enttäuscht, denn dort, auf unserem Lieblingssitz, sah ich eine vom Mondlicht hell beschienene, halb zurückgelehnte, schneeweiße Gestalt. Zu schnell jedoch schob sich schon wieder eine Wolke vor den Mond, als dass ich Genaueres hätte erkennen können. Augenblicklich herrschte wieder tiefe Finsternis, und dennoch vermeinte ich im letzten hellen Moment etwas Dunkles hinter der weißen Gestalt auf der Bank gesehen zu haben, das im Begriff schien, sich über diese zu beugen. Was es gewesen sein mochte, ob ein Mensch oder ein Tier, konnte ich nicht erkennen. Ich wartete nun auch nicht mehr ab, bis ein neuer Lichtschein das Dunkel erleuchtete, sondern ich stürmte die Treppen hinab zum Pier und am Fischmarkt vorbei zur Brücke – der einzige Weg, auf dem von hier aus das East Cliff zu erreichen war. Die Stadt lag wie tot, kein Mensch war zu sehen; was mir allerdings nicht unrecht war, denn niemand sollte etwas von Lucys Leiden erfahren. Die Zeit und die Entfernung schienen mir unermesslich lang; meine Knie zitterten und das Atmen wurde mir schwer, als ich die endlosen Stufen zur Abtei hinaufsprang. Ich muss sehr rasch gelaufen sein, dennoch kam es mir vor, als wären meine Füße aus Blei und meine Gelenke eingerostet. Als ich auf der Höhe angelangt war, konnte ich die Bank und die weiße Gestalt darauf endlich genauer erkennen, denn ich war schon nahe genug, um selbst im Dunkel der Nacht alles zu unterscheiden. Ohne Zweifel: Irgendetwas Langes, Schwarzes beugte sich über die halb zurückgelehnte weiße Gestalt … Voller Entsetzen schrie ich: »Lucy! Lucy!« Darauf hob das Ding den Kopf und wandte mir ein bleiches Gesicht mit rotglühenden Augen zu. Lucy antwortete nicht, und ich rannte zum Friedhofstor. Dabei geriet für einen Augenblick die Kirche zwischen mich und die Bank und versperrte mir die Sicht. Als ich gleich darauf wieder in ihre Richtung sehen konnte, waren die dunklen Wolken gänzlich vorübergezogen und alles lag in hellem Mondschein. Lucy saß halb zurückgelehnt auf der |137|Bank, ihr Kopf war über die Lehne zurückgefallen. Sie war ganz allein, weit und breit keine Spur von einem lebenden Wesen.

Bei ihr angekommen, beugte ich mich über sie und stellte fest, dass sie noch schlief. Ihre Lippen waren geöffnet, und sie atmete nicht sanft, wie sie es sonst tat, sondern in langen, schweren Zügen, als müsse sie darum kämpfen, ihre Lungen mit frischer Luft zu füllen. Im Schlaf bewegte sie die Hände und zog sich den Kragen ihres Nachthemdes fester um den Hals zusammen. Es überlief sie dabei ein leichter Schauer, als ob sie Kälte empfinde. Ich schlug daher meinen warmen Schal um sie und zog ihn fest zusammen, denn ich fürchtete, sie könnte sich eine tödliche Erkältung zuziehen, so unbekleidet, wie sie war. Den Schal steckte ich ihr mit einer großen Sicherheitsnadel fest, wobei ich sie vor Aufregung aber wohl gestochen haben muss, denn als ihr Atem allmählich ruhiger zu werden begann, fuhr sie sich mit der Hand öfter an den Hals und stöhnte. Nachdem ich sie sorgfältig eingewickelt hatte, zog ich ihr noch meine Schuhe an die Füße und versuchte dann schließlich, sie schonend zu wecken. Zuerst reagierte sie gar nicht darauf, aber allmählich wurde ihr Schlaf doch weniger tief, und sie seufzte und stöhnte von Zeit zu Zeit. Schließlich aber, als es mir zu lange dauerte und weil mir darum zu tun war, sie möglichst rasch nach Hause zu bringen, schüttelte ich sie heftig, worauf sie die Augen öffnete und erwachte. Sie schien gar nicht überrascht, mich zu sehen, wie sie sich auch zweifelsfrei gar nicht im Klaren darüber war, wo sie sich eigentlich befand. Lucy ist immer hübsch, auch beim Erwachen. Und sogar jetzt, wo doch ihr Leib vor Kälte zitterte und sie darüber entsetzt sein musste, mitten in der Nacht unbekleidet auf einem Friedhof zu erwachen, verlor sie ihre Grazie nicht. Sie bebte nur ein wenig und klammerte sich an mich. Als ich ihr sagte, sie müsse jetzt sofort mit mir heimgehen, stand sie mit dem Gehorsam eines Kindes auf, ohne ein Wort zu sagen. Im Gehen stieß ich mit dem nackten Fuß an einen größeren Stein, und Lucy hörte meinen |138|unterdrückten Schmerzensschrei. Sie blieb stehen und bestand darauf, dass ich selbst meine Schuhe wieder anziehe, aber ich tat es nicht. Nachdem wir den Pfad hinter dem Friedhof erreicht hatten, stapfte ich jedoch absichtsvoll durch den dunklen Schlamm, damit auf unserem Heimweg durch die Stadt niemand im Dunklen erkennen konnte, dass ich barfuß war.

Das Glück war uns günstig, denn wir kamen nach Hause, ohne auch nur einer Seele begegnet zu sein. Nur einmal sahen wir einen Mann auf uns zukommen, der nicht mehr ganz nüchtern zu sein schien, und wir versteckten uns in einem Torbogen, bis er in einer der kleinen, abschüssigen Gassen – in Schottland nennt man sie »Wynds« – verschwunden war. Mein Herz schlug so laut in unserem Versteck, dass ich mehrmals glaubte, umsinken zu müssen. Ich war in heißer Angst um Lucy – nicht nur, weil ihre Gesundheit unter diesem Abenteuer gelitten haben konnte, sondern auch in Anbetracht ihres guten Rufes, falls die Sache bekannt werden würde. Als wir daheim unsere Füße gereinigt und zusammen ein Dankgebet gesprochen hatten, brachte ich sie wieder in ihr Bett. Bevor sie einschlief, bat sie mich, ja sie flehte mich an, niemandem über ihr nächtliches Abenteuer ein Wort zu verraten, auch ihrer Mutter nicht. Ich versprach es ihr nur zögernd. Als ich aber dann an das Befinden ihrer Mutter dachte und wie es sie angreifen würde, so etwas zu erfahren, und wie sehr man die Sache wahrscheinlich – nein, sicher – missdeuten würde, wenn etwas an die Öffentlichkeit durchsickerte, hielt ich es für klüger, das Versprechen zu geben. Ich hoffe, ich habe recht daran getan. Ich habe die Tür nun verschlossen, und der Schlüssel hängt an meinem Hals. So darf ich nun hoffen, meine Nachtruhe ungestört verbringen zu können. Lucy schläft tief, der Widerschein des Morgens leuchtet hoch über der See.

 

Am selben Tag, mittags

Alles ist in Ordnung. Lucy schlief, bis ich sie weckte. Sie schien sich die ganze Nacht nicht mehr bewegt zu haben. Das nächtliche |139|Abenteuer hat ihr offenbar nicht geschadet, vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall, denn sie sieht heute Morgen blühender aus als seit Wochen. Es tut mir nur leid, dass ich sie durch meine Ungeschicklichkeit mit der Sicherheitsnadel verletzt habe. Es ist tatsächlich kein unbedeutender Kratzer, denn die Haut an ihrem Hals ist regelrecht durchstochen. Wahrscheinlich habe ich zusammen mit dem Schal auch ihre Haut ergriffen und diese durchbohrt, denn es sind zwei kleine rote Stellen zu sehen, und auf dem Kragen ihres Nachthemdes ist ein Tröpfchen Blut. Als ich mich bei ihr entschuldigte und mir Vorwürfe machte, lachte sie mich aus und sagte, sie spüre überhaupt nichts davon. Glücklicherweise wird die Wunde keine Narbe hinterlassen, da sie zu unbedeutend ist.

 

Am selben Tag, abends

Wir haben einen glücklichen Tag verbracht; die Luft war klar, die Sonne schien freundlich, und eine kühle Brise wehte vom Meer herüber. Wir aßen in Mulgrave Woods zu Mittag; Mrs. Westenra fuhr auf der Straße dorthin, während Lucy und ich zu Fuß den Strandweg nahmen. Am Eingangstor trafen wir dann wieder zusammen. Ich war etwas traurig, denn ich dachte, wie wunderschön es doch wäre, hätte ich Jonathan bei mir. Ich muss mich gedulden. Am Abend schlenderten wir auf der Kasinoterrasse und lauschten der schönen Musik von Spohr und Mackenzie2, dann gingen wir zeitig zu Bett. Lucy scheint ruhiger geworden zu sein, als sie bisher war, denn sie fand bald in den Schlaf. Ich werde die Tür schließen und den Schlüssel in gewohnter Weise verstecken, obgleich ich für die Nacht nichts Besonderes erwarte.

 

|140|12. August

Ich bin in meinen Erwartungen getäuscht worden, denn zweimal in der Nacht wurde ich durch Lucy geweckt, die fortgehen wollte. Sie schien im Schlaf darüber verärgert zu sein, die Tür verschlossen zu finden, und begab sich nicht ohne Protest wieder zu Bett. Ich erwachte mit der Morgendämmerung und hörte die Vögel vor dem Fenster zwitschern. Lucy wachte ebenfalls auf und sah zu meiner Freude frischer aus als am Tag vorher. All ihre Heiterkeit schien zurückgekehrt zu sein; sie kam in mein Bett, schmiegte sich an mich und erzählte mir von Arthur. Ich sagte ihr, wie besorgt ich um Jonathan sei, und sie versuchte, mich zu trösten. Sie hatte damit auch einigen Erfolg, denn wenn Teilnahme auch an den Tatsachen nichts ändern kann, so kann sie doch das Schicksal leichter erträglich machen.

 

13. August

Ein weiterer ruhiger Tag, ins Bett ging ich aber dennoch wie bisher mit dem Schlüssel ums Handgelenk. Wieder erwachte ich in der Nacht und fand Lucy aufrecht im Bett sitzend und auf das Fenster deutend. Ich stand ruhig auf, schob den Vorhang zurück und sah hinaus. Es war leuchtender Mondschein, und unsagbar schön lagen Land und Meer im milden Licht, versunken in tiefem, geheimnisvollem Schweigen. Eine große Fledermaus flatterte in weiten Kreisen herum. Ein- oder zweimal kam sie ganz nahe ans Fenster heran, um dann quer über den Hafen hinweg der Abtei zuzufliegen. Als ich mich vom Fenster abwandte, hatte Lucy sich schon wieder hingelegt und schlief friedlich. Den Rest der Nacht rührte sie sich nicht mehr.

 

14. August

Auf dem East Cliff, den ganzen Tag lesend und schreibend. Lucy scheint das Plätzchen ebenso lieb gewonnen zu haben wie ich. Sie ist kaum hier wegzubringen, wenn sie zum Lunch, zum Dinner oder zum Tee nach Hause kommen soll. Heute Nachmittag |141|machte sie eine sonderbare Bemerkung. Wir waren eben dabei, zum Dinner nach Hause zu gehen, und kamen an die Stufen, die vom Westpier heraufführen. Dort blieben wir stehen, um die Aussicht noch einmal zu genießen, wie wir es immer tun. Die untergehende Sonne stand schon tief am Horizont und begann gerade hinter Kettleness zu versinken; das rote Licht fiel hinüber auf das East Cliff und die alte Abtei und tauchte alles in warme Farben. Wir schwiegen lange, plötzlich aber murmelte Lucy wie im Selbstgespräch:

»Wie seine roten Augen, genau so!« Diese seltsamen Worte, die ganz ohne jeden Zusammenhang gesprochen wurden, verstörten mich. Ich wandte den Kopf nach ihr, aber so, dass es nicht aussah, als wollte ich sie anstarren, und bemerkte, dass sie sich in einem Zustand des Halbschlafes befand. Ein eigenartiger Zug lag auf ihrem Gesicht, über den ich mir nicht klar zu werden vermochte. Ich sagte nichts, sondern folgte nur der Richtung ihres Blickes. Sie schien auf unsere Bank hinüberzuschauen, auf der eine einzelne, dunkle Gestalt saß. Ich erschrak etwas, denn einen Augenblick lang kam es mir so vor, als hätte der Fremde dort drüben tatsächlich Augen wie große, leuchtende Flammen. Als ich jedoch genauer hinsah, zerfloss das Fantasiegebilde. Das rote Sonnenlicht schien über unserem Lieblingsplatz auf die Fenster der St. Mary’s Church, und als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, gab es ein Spiel von Lichtbrechung und Reflexionen, das den Eindruck erweckte, als bewegte sich da drüben etwas. Ich machte Lucy auf diese Erscheinung aufmerksam, und sie kam rasch wieder zu sich. Sie sah sehr traurig aus, vielleicht gedachte sie der unheimlichen Stunden, die sie da droben erlebt hatte. Wir sprechen nie darüber, und also vermied ich es auch heute. Dann gingen wir heim zum Dinner. Lucy hatte Kopfweh und begab sich bald zur Ruhe. Als ich sie schlafen sah, beschloss ich, allein noch einen kleinen Abendspaziergang zu unternehmen. Ich ging nach Westen zu, an den Klippen entlang, und war ganz von der Sehnsucht nach Jonathan erfüllt. Als ich wieder heimkehrte, |142|schien der Mond bereits hell, so hell, dass selbst unsere Hausfront am Crescent, die eigentlich im Schatten lag, gut zu erkennen war. Ich warf einen Blick auf unser Fenster und sah, dass Lucy sich in die Nacht hinauslehnte. Da ich glaubte, sie würde auf meine Rückkehr warten, zog ich mein Taschentuch hervor, um ihr zu winken. Sie bemerkte jedoch nichts und rührte sich nicht. In diesem Augenblick stahl sich der Mondschein um die Ecke des Gebäudes, und das Licht fiel voll auf das Fenster: Lucy lag mit dem Kopf auf dem Fensterbrett und hielt die Augen geschlossen. Sie schlief fest, aber auf dem Fenstersims neben ihrem Kopf saß etwas, das wie ein großer Vogel aussah. Ich fürchtete, sie könne sich erkälten, und eilte die Treppen hinauf. Als ich ins Zimmer trat, ging sie eben in ihr Bett zurück, im tiefsten Schlaf und schwer atmend. Sie hielt die Hand an den Hals gedrückt, wie um sich vor Kälte zu schützen.

Ich weckte sie nicht auf, sondern wickelte sie nur gut in ihre Bettdecke ein. Dann verschloss ich unsere Tür und befestigte das Fenster.

Sie ist so schön im Schlaf, aber sie ist wieder bleicher als gewöhnlich, und es liegen dunkle Schatten unter ihren Augen, die mir nicht gefallen. Ich fürchte, sie hat irgendeinen Kummer. Ich wünschte herauszufinden, was es ist.

 

15. August

Stand später auf als gewöhnlich. Lucy war erschöpft und müde und schlief deshalb noch weiter. Beim Frühstück gab es eine hübsche Überraschung: Arthurs Vater fühlt sich gegenwärtig besser und wünscht, dass die Hochzeit recht bald stattfindet. Lucy ist voll stillen Glückes, und ihre Mutter ist froh und besorgt zugleich. Etwas später erzählte sie mir den Grund – sie ist betrübt, dass sie Lucy, ihre einzige Tochter, verlieren soll, aber zugleich auch erfreut, dass sie so früh schon einen Beschützer gefunden hat. Arme, liebe, gute Frau! Sie vertraute mir an, dass ihre Tage schon gezählt seien. Sie hat Lucy noch nichts davon |143|gesagt und bat mich um Stillschweigen, aber ihr Arzt hat ihr eröffnet, dass sie innerhalb weniger Monate werde sterben müssen, da ihr Herz immer schwächer werde. Jederzeit, auch jetzt, würde ein plötzlicher Schrecken imstande sein, sie zu töten. Oh, wie gut war es, ihr das schreckliche Abenteuer der schlafwandelnden Lucy zu verheimlichen!

 

17. August

Zwei ganze Tage lang keine Eintragung in mein Tagebuch. Ich habe mich vor dem Schreiben gefürchtet. Wie ein düsterer Mantel zieht sich irgendein furchtbares Unglück um uns zusammen. Keine Nachrichten von Jonathan, und Lucy wird immer schwächer, während die Stunden ihrer Mutter gezählt sind. Ich begreife nur nicht, warum Lucy so dahinsiecht. Sie isst gut, schläft gut und freut sich der guten Luft, aber zugleich schwindet die Röte ihrer Wangen und sie wird jeden Tag schwächer und schlaffer. In der Nacht höre ich sie oft röcheln, als würde sie ersticken. Ich halte den Schlüssel jede Nacht fest bei mir, aber sie steht auf, geht im Zimmer umher und setzt sich dann an das offene Fenster. Letzte Nacht wachte ich auf und fand sie wieder hinausgelehnt, und es war mir anfangs nicht möglich, sie zu wecken, denn sie war ohnmächtig. Als es mir dann endlich doch gelungen war, sie wieder ins Leben zurückzurufen, war sie furchtbar schwach und rang schwer um Atem, leise vor sich hin weinend. Auf meine Frage, wie sie denn dazu käme, immer am offenen Fenster zu sitzen, schüttelte sie ihr Köpfchen und wandte sich ab. Ich hoffe, ihr Unwohlsein kommt nicht von meinem Stich mit der Sicherheitsnadel. Ich habe ihre Kehle untersucht, als sie schlief, und bemerkt, dass die kleinen Wunden noch nicht geheilt sind. Sie sind noch immer offen und sogar größer als bisher; es sind zwei kleine Kreise mit rotem Zentrum, die Ränder sind weißlich verfärbt. Wenn sie nicht bis morgen oder übermorgen geheilt sind, werde ich darauf bestehen, dass ein Arzt sich der Sache annimmt.

 

|144|Brief von Samuel F. Billington & Sohn, Anwälte zu Whitby,

an Carter, Paterson & Co., London

 

17. August

Sehr geehrte Herren,

hiermit übersenden wir Ihnen einen Frachtbrief über einen Gütertransport der Great Northern Railway. Die Güter sind unmittelbar nach Entladung am Güterbahnhof King’s Cross nach Carfax bei Purfleet weiterzuleiten. Das Haus ist gegenwärtig leer, die gekennzeichneten Schlüssel finden Sie anbei.

Bitte lassen Sie die im Frachtbrief bezeichneten Kisten, fünfzig an der Zahl, in dem etwas baufälligen Teil des Hauses absetzen, der auf der beigegebenen Skizze mit »A« bezeichnet ist. Ihr Bevollmächtigter wird den Platz leicht finden, da es sich um die ehemalige Kapelle des Hauses handelt. Die Güter gehen mit dem Zug um 9:30 Uhr heute Abend ab und treffen morgen Nachmittag um 4:30 Uhr in King’s Cross ein. Da unser Klient die Ablieferung so bald wie möglich wünscht, wären wir Ihnen sehr verbunden, wenn Sie zu genannter Zeit Fuhrwerke am Bahnhof von King’s Cross bereitstellen und die Güter sofort an ihren Bestimmungsort bringen lassen würden. Um allen Verzögerungen vorzubeugen, die durch Anfragen betreffs Bezahlung entstehen könnten, fügen wie einen Schecküber zehn Pfund (£ 10) bei und bitten, uns den Empfang zu quittieren. Sollte die Rechnung diese Höhe nicht erreichen, so bitten wir um Rücksendung des Restbetrages; sollte sie höher sein, so werden wir auf Ihre Nachricht hin Ihnen sofort per Scheck den Fehlbetrag überweisen. Bitte hinterlegen Sie die Schlüssel nach Erledigung des Auftrages in der Haupthalle des Hauses, da diese dem Besitzer per Zweitschlüssel zugänglich ist.

Wir bitten Sie, es uns nicht als Verletzung der geschäftlichen Höflichkeit auszulegen, wenn wir unseren Hinweis auf die äußerste Dringlichkeit dieser Angelegenheit wiederholen.

Mit vorzüglicher Hochachtung,

Samuel F. Billington & Sohn

 

|145|Brief von Carter, Paterson & Co., London,

an Billington & Sohn, Whitby

 

21. August

Sehr geehrte Herren,

wir bestätigen Ihnen dankend den Empfang von zehn Pfund und senden Ihnen per Scheck den Differenzbetrag von 1 Pfund, 17 Schilling und 9 Pennys retour. Die Güter sind entsprechend Ihrer Anweisung abgeliefert und die Schlüssel in einem Päckchen in der Haupthalle zurückgelassen worden.

Hochachtungsvoll,

Carter, Paterson & Co.

 

Mina Murrays Tagebuch

 

18. August

Ich bin heute glücklich und schreibe auf der Friedhofsbank. Lucy befindet sich wieder deutlich besser. Letzte Nacht schlief sie sehr gut und störte mich nicht ein einziges Mal. Die Farbe scheint langsam auf ihre Wangen zurückzukehren, obgleich sie immer noch elend, blass und krank aussieht. Wenn sie anämisch wäre, so könnte ich die Sache ja begreifen, aber das ist sie doch nicht. Sie ist heiteren Sinnes und voller Leben und Fröhlichkeit. All die krankhafte Verschlossenheit ist von ihr gewichen, und sie kam sogar von selbst auf jene Nacht zu sprechen, dass es doch diese Bank hier gewesen sei, auf der ich sie schlafend vorgefunden habe. Sie klopfte mit den Absätzen ihrer Stiefelchen gedankenverloren auf dem Grabstein herum und sagte:

»Meine nackten Füße haben damals keinen großen Lärm gemacht. Der alte Mr. Swales hätte sicher gefragt, ob ich fürchtete, Georgie aufzuwecken.« Da sie einmal in einer solchen mitteilsamen Stimmung war, fragte ich sie, ob sie denn in jener Nacht etwas geträumt habe. Bevor sie antwortete, trat der süße, verlegene |146|Zug auf ihr Gesicht, den Arthur – ich nenne ihn nach ihrer Gewohnheit so – nach eigenem Bekunden so sehr liebt, was in der Tat nicht zu verwundern ist. Dann fuhr sie halb träumerisch fort, gleichsam als müsse sie sich selbst erst besinnen:

»Ich habe wohl nicht wirklich geträumt, denn alles schien mir so lebendig. Ich hatte nur den Wunsch, hier auf diesem Platz zu sein, warum, das weiß ich nicht. Vor irgendetwas fürchtete ich mich auch, aber ich weiß nicht, wovor. Ich erinnere mich, obgleich ich wahrscheinlich im tiefen Schlaf war, dass ich durch die Straßen und über die Brücke gelaufen bin. Ein Fisch sprang gerade hoch, als ich vorbeikam, und ich lehnte mich über das Geländer, um nach ihm zu sehen. Als ich die Stufen betrat, hörte ich viele Hunde heulen – die ganze Stadt schien plötzlich voll heulender Hunde zu sein. Dann erinnere ich mich dunkel an etwas Langes, Schwarzes mit roten Augen, wie ich sie neulich beim Sonnenuntergang wiederzuerkennen vermeinte, und dass mich etwas Süßes und zugleich unendlich Bitteres überkam. Es kam mir vor, als würde ich in tiefes, grünes Wasser versinken, und es war ein Singen in meinen Ohren, wie dies bei Ertrinkenden vorkommen soll. Darauf hatte ich ein Gefühl, als ginge etwas von mir weg, als würde meine Seele meinen Körper verlassen und davonfliegen. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich plötzlich den Westleuchtturm tief unter mir sah und dass ich Todesangst empfand, da alles um mich herum wie in einem Erdbeben zu taumeln begann. Dann kam ich zu mir und erkannte, dass du mich schütteltest. Zuerst sah ich dir nur dabei zu, dann konnte ich auch deine Hände spüren.«

Hier begann sie zu lachen. Mir war leicht unheimlich geworden, während ich atemlos ihrer Erzählung lauschte. Ich bemühte mich daher, sie von diesem Thema wieder abzubringen, und in unseren weiteren Gesprächen war Lucy wieder ganz sie selbst. Als wir heimkamen, hatte die frische Luft wohl günstig auf sie eingewirkt, denn ihre Wangen schienen in der Tat rosiger. Ihre Mutter war glücklich, sie so zu sehen, und wir verbrachten zusammen einen sehr frohen Abend.

 

|147|19. August

Freude, Freude, Freude! Und doch nicht ungetrübte Freude. Endlich habe ich Nachricht über Jonathan! Der Ärmste ist erkrankt, deshalb konnte und kann er auch nicht schreiben. Dies ist keine Vermutung, sondern ich habe Gewissheit: Mr. Hawkins hat mir nämlich eine Mitteilung weitergeleitet und selbst einige sehr freundliche Worte beigefügt. Ich werde morgen früh abreisen und zu Jonathan eilen, um mich, wenn es nötig ist, an seiner Pflege zu beteiligen und ihn dann nach Hause bringen. Mr. Hawkins meint, es wäre das Beste, wir ließen uns gleich dort trauen. Ich musste über den Brief der Krankenschwester dermaßen weinen, dass er ganz nass ist; ich fühle es an meiner Brust, wo ich ihn trage. Wie Jonathan in meinem Herzen ist, so soll dieser Brief über meinem Herzen sein. Meine Reise ist schon geplant und das Gepäck bereit. Ich nehme vorerst nur ein zweites Kleid zum Wechseln mit. Lucy wird meinen Koffer dann mit nach London nehmen und ihn so lange aufbewahren, bis ich danach schicken lasse. Schließlich kann es sein, dass … Nein, ich darf nicht weiterschreiben, ich muss es erst Jonathan sagen, meinem Gemahl. Der Brief, den er gesehen und berührt hat, wird mich trösten, bis ich endlich bei ihm bin.

 

Brief von Schwester Agatha, Hospital St. Joseph und Maria,

Budapest, an Miss Wilhelmina Murray

 

12. August

Wertes Fräulein,

ich schreibe Ihnen auf Wunsch des Herrn Jonathan Harker, der selbst noch nicht kräftig genug dazu ist, obgleich seine Heilung Fortschritte macht; wollen wir Gott und dem Hl. Joseph und der Hl. Maria dafür danken. Er befindet sich seit etwa sechs Wochen in unserer Pflege, denn er leidet an einem heftigen Nervenfieber. Er bittet mich, Ihnen seine Grüße zu senden und Ihnen |148|mitzuteilen, dass er mit gleicher Post einen durch mich geschriebenen Brief an Mr. Peter Hawkins, Exeter, gerichtet habe, worin er ihn unter dem Ausdruck seiner Ergebenheit um Entschuldigung für sein langes Ausbleiben bittet und ihm mitteilt, dass der Auftrag ausgeführt ist. Er ersucht noch um einige Wochen Urlaub, um sich in unserem Sanatorium völlig erholen zu können, und verspricht dann zurückzukehren. Er hat mich überdies gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass er nicht genügend Geld bei sich habe und gerne seinen hiesigen Aufenthalt bezahlen möchte, um nicht andere, die der Hilfe dringender bedürfen, zu benachteiligen. Ich bin mit Grüßen und warmen Segenswünschen,

Ihre Schwester Agatha

 

PS: Mein Patient schläft, deshalb öffne ich den Brief noch einmal, um einiges hinzuzufügen. Er hat mir viel von Ihnen erzählt, vor allem, dass Sie in Kürze die Seine werden sollen. Alles Gute für Sie beide! Er hatte ein furchtbares Nervenfieber, wie unser Doktor meint, und seine Fieberfantasien waren grässlich: von Wölfen und Gift und Blut, von Gespenstern und Dämonen – ich fürchte mich davor, Ihnen all dies detaillierter zu berichten. Seien Sie äußerst behutsam mit ihm und schützen Sie ihn vor jeder Aufregung; die Spuren einer solchen Krankheit, wie sie ihn erfasst hat, verwischen sich nicht so leicht. Wir hätten gerne schon eher geschrieben, aber wir wussten ja nicht an wen, denn er hatte gar nichts bei sich, was uns auch nur den geringsten Anhaltspunkt geboten hätte. Er kam mit dem Zug von Klausenburg an, und der Stationsvorsteher hat berichtet, dass er dort in den Bahnhof gestürmt sei und eine Fahrkarte »nach Hause« verlangt hätte. Seinem rüden Auftreten nach hielt man ihn für einen Engländer und gab ihm ein Billett bis zur Endstation des nächsten abgehenden Zuges.

Seien Sie versichert, dass er in guten Händen ist. Er hat hier alle Herzen durch seine Güte und Vornehmheit gewonnen. Es geht |149|ihm wirklich schon besser, und ich habe keine Zweifel, dass er in einigen Wochen wiederhergestellt sein wird. Seien Sie aber dennoch vorsichtig. Ich bitte Gott, den Hl. Joseph und die Hl. Maria, dass Ihnen beiden noch viele, viele glückliche Jahre beschieden sein mögen!

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

19. August

Eine seltsame, plötzliche Veränderung an Renfield letzte Nacht. Gegen acht Uhr begann er zu toben und umherzuschnüffeln wie ein Hund auf der Fährte. Der Pfleger war von seinem Gebaren überrascht und ermunterte ihn zu reden, da er mein Interesse für den Fall kannte. Der Patient ist gewöhnlich höflich gegen den Pfleger, manchmal sogar unterwürfig, aber diese Nacht, sagte mir der Mann, war er überaus anmaßend. Er wollte nicht einmal mit ihm sprechen. Alles, was er sagte, war:

»Ich wünsche nicht, mit Ihnen zu verkehren. Sie sind jetzt gar nichts mehr, denn der Meister ist nahe!«

Der Pfleger glaubte, es sei eine plötzliche religiöse Wahnvorstellung, die ihn ergriffen habe. Wenn es so ist, dürfen wir uns auf einiges gefasst machen, denn ein kräftiger Mann mit Mordmanie und religiösem Wahn ist äußerst gefährlich – es ist dies eine wirklich unheimliche Kombination. Um neun Uhr suchte ich ihn persönlich auf. Er benahm sich gegen mich wie gegen den Pfleger, in seinem neuen Selbstgefühl kam ihm der Unterschied zwischen mir und dem Bediensteten gar nicht zu Bewusstsein. Sein Betragen macht tatsächlich den Eindruck religiösen Größenwahns, und bald wird er sich wohl einbilden, Gott selbst zu sein. Für ein allmächtiges Wesen, wie er es zu sein vermeint, ist der Unterschied zwischen mir und dem Pfleger natürlich vernachlässigbar – wie sich diese Wahnsinnigen doch selbst verlieren können! Der Gott, den die menschliche Eitelkeit schuf, kennt keinen Unterschied zwischen Adler und Sperling.

|150|Eine halbe Stunde oder länger steigerte sich die Erregung Renfields immer weiter. Ich wollte ihn nicht merken lassen, dass ich ihn überwachte, aber ich beobachtete ihn dennoch scharf. Plötzlich kam der verschmitzte Zug in sein Gesicht, den man immer bemerkt, wenn ein Irrer auf eine Idee kommt. Kopf und Hals zeigten die charakteristische Haltung, die alle Irrenwärter nur allzu genau kennen. Er wurde ganz ruhig, setzte sich in tiefer Ergebung auf den Bettrand und starrte mit glanzlosen Augen ins Leere. Ich hätte gerne gewusst, ob seine Apathie echt oder nur gespielt war, und versuchte daher, ihn in ein Gespräch über seine Ideen zu verwickeln – ein Thema, das bisher nie verfehlt hatte, seine lebhafte Aufmerksamkeit zu erregen. Zuerst antwortete er gar nicht, dann sagte er schließlich mürrisch:

»Zum Henker mit all dem! Was geht’s mich an?«

»Wie bitte?«, fragte ich. »Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, dass Sie sich nicht mehr um Ihre Spinnen kümmern?« (Spinnen sind gegenwärtig sein Steckenpferd, und sein Notizbuch füllt sich mit Kolonnen kleiner Zahlen.) Darauf entgegnete er mit den rätselhaften Worten:

»Die Brautjungfern erfreuen die Augen desjenigen, der seine Braut erwartet. Doch naht die Braut ihm dann, so gehören seine Blicke alleine ihr.«

Weiter erklären wollte er sich nicht, und er blieb die ganze Zeit, die ich bei ihm war, stur auf dem Bettrand sitzen.

Ich bin heute Abend müde und verstimmt. Ich muss immer an Lucy denken. Hätte es denn nicht auch anders mit uns kommen können? Wenn ich nicht bald Schlaf finde, werde ich Chloral nehmen, den modernen Morpheus3 – C2HCl3O · H2O! Ich muss nur vorsichtig sein, dass es nicht zur Gewohnheit wird. Oder nein, ich nehme heute keines! Ich habe an Lucy gedacht und will diesen Gedanken nicht entweihen. Wenn es sein muss, gibt es eben eine schlaflose Nacht …

 

|151|Später

Froh hatte ich diesen Entschluss gefasst – froher noch bin ich, dass ich ihn auch gehalten habe! Ich hatte unruhig dagelegen und die Glocke nur zweimal schlagen hören, als der Nachtwächter zu mir kam und mir im Auftrag des Pflegers meldete, dass Renfield entflohen sei. Ich fuhr in meine Kleider und eilte sofort hinunter; mein Patient ist eine viel zu gefährliche Person, um ihn allein umherstreifen zu lassen – seine größenwahnsinnigen Ideen könnten schlimmste Folgen zeitigen! Der Pfleger wartete bereits auf mich. Er sagte, er habe ihn vor noch nicht einmal zehn Minuten schlafend in seinem Bett gesehen, als er durch das Guckloch in der Tür schaute. Im Weitergehen wurde er durch das Geräusch eines sich öffnenden Fensters alarmiert. Er rannte zurück und sah gerade noch die Füße des Patienten im Fenster verschwinden, dann schickte er sofort zu mir. Der Flüchtling war nur mit dem Nachthemd bekleidet und konnte noch nicht allzuweit weg sein. Der Pfleger hatte es für zweckmäßiger gehalten, Renfield vom Fenster aus zu beobachten und die Richtung seiner Flucht festzustellen, anstatt ihm hinterherzuklettern, wodurch er ihn wahrscheinlich nur aus den Augen verloren hätte. Er ist ein kräftiger Mann und hätte ohnehin nicht durch das Fenster gepasst, da ich schlanker bin, kam ich mit seiner Hilfe hinaus. Das Fenster liegt nicht sehr hoch, und ich landete unversehrt mit den Füßen voran. Der Pfleger rief mir nach, dass der Patient sich nach links geschlagen habe und dann geradeaus gelaufen sei, und ich rannte, so schnell ich konnte, in die bezeichnete Richtung. Als ich die Baumreihen erreicht hatte, sah ich eine weiße Gestalt auf der großen Mauer, die unsere Anstalt von dem verlassenen Nachbargrundstück trennt.

Ich eilte sofort zurück und befahl dem Aufseher, drei bis vier Mann zu holen und auf das Carfax-Grundstück zu kommen, hielt ich es doch für sehr wahrscheinlich, dass unser Mann gewalttätig werden würde. Dann holte ich eine Leiter, stieg auf die Mauer und sprang auf der anderen Seite hinunter. Ich sah Renfield gerade noch |152|um die Hausecke biegen und lief hinter ihm her. Auf der andern Seite des Hauses beobachtete ich ihn dann, wie er sich an die alte, eisenbeschlagene Tür der Kapelle presste. Er sprach offenbar mit irgendjemandem, aber alleine wagte ich es nicht, so nahe an ihn heranzugehen, dass ich seine Worte hätte verstehen können; vielleicht hätte ich ihn erschreckt, und er wäre davongelaufen. Einen Bienenschwarm einzufangen ist gar nichts gegen die Verfolgung eines unbekleideten Irren auf der Flucht. Bald merkte ich jedoch, dass er von seiner Umgebung gar keine Notiz nahm, und so riskierte ich es doch noch, mich näher heranzuschleichen. Meine Leute hatten zudem bereits ebenfalls die Mauer überstiegen und waren nahe bei der Hand. Ich hörte ihn also sagen:

»Meister, ich stehe zu Eurer Verfügung! Ich bin Euer Sklave und Ihr werdet mich belohnen, denn ich diene Euch treu! Ich habe Euch seit langem aus der Ferne verehrt, nun aber seid Ihr endlich da, und ich erwarte Eure Befehle. Ihr werdet mich nicht übergehen, nicht wahr, teurer Meister, wenn Ihr gute Dinge verteilt?«

Er ist wirklich ein egoistischer alter Bettler, selbst vor seinem eingebildeten Herrn und Meister sucht er nur seinen Profit. Seine Wahnideen sind fürwahr eine seltsame Kombination. Als wir ihn schließlich festnahmen, wehrte er sich wie ein Tiger. Er ist äußerst stark und gleicht eher einer wilden Bestie als einem Menschen. Ich habe noch nie bei einem Irren einen solchen Paroxysmus4 der Wut gesehen und verspüre auch gar kein Verlangen danach, allzu oft mit so etwas zu tun zu haben. Es ist gut, dass wir seine Kraft und Gefährlichkeit rechtzeitig erkannt haben. Mit seiner Entschlossenheit hätte er viel Schlimmes anrichten können, wenn wir ihn nicht so schnell wieder gefasst hätten. Aus der Zwangsjacke, die wir ihm nun angelegt haben, könnte sich sogar ein Jack Sheppard5 nicht befreien – überdies ist er in |153|der gepolsterten Zelle an eine Kette geschlossen. Sein Gebrüll ist furchterregend, aber die Pausen dazwischen sind noch entsetzlicher, denn in ihnen heckt er wahrscheinlich Mordpläne aus …

 

Eben gerade sprach er die ersten zusammenhängenden Worte seit seiner Festnahme:

»Ich will mich gedulden, Meister. Die Zeit wird kommen – kommen – kommen!«

Damit ließ ich es bewenden und begab mich zurück. Zu Bett zu gehen war ich zunächst noch zu erregt, aber mein Tagebuch hat mich mittlerweile beruhigt. Ich denke, nun kann ich schlafen.