|82|FÜNFTES KAPITEL

 

Brief von Miss Mina Murray

an Miss Lucy Westenra

 

9. Mai

Meine liebste Lucy,

vergib mir, dass ich so lange mit dem Briefeschreiben im Rückstand blieb, aber ich werde von der Arbeit fast erdrückt. Das Leben einer Hilfslehrerin ist oft sehr ermüdend. Ich wünsche mir sehr, bei Dir zu sein und an der See, wo wir frei wandern und unsere Luftschlösser bauen können. Ich habe in letzter Zeit sehr viel gearbeitet, weil ich mich gerne Jonathan bei seiner Tätigkeit nützlich machen möchte; das ist auch der Grund, warum ich so fleißig stenografieren lernte. Wenn wir verheiratet sind, werde ich Jonathan dann helfen, und wenn ich genügend stenografieren kann, bin ich imstande, sein Diktat aufzunehmen und dann auf der Schreibmaschine ins Reine zu schreiben, worin ich mich auch sehr eifrig übe. Er und ich, wir schreiben uns oft unsere Briefe im Stenogramm, und er führt ein stenografisches Tagebuch über seine Auslandsreisen. Wenn ich bei Dir bin, werde ich gleichfalls ein solches führen. Ich meine keines von jenen, in denen man eine Woche auf zwei Seiten quetscht und den Sonntag in die untere Ecke, sondern eine Art Journal, in das ich schreiben kann, wann immer ich Lust habe. Ich glaube ja, dass es für andere Leute nicht von Interesse sein wird, aber darauf ist es auch gar nicht berechnet. Ich möchte es gern Jonathan zeigen, wenn irgendetwas Mitteilenswertes darin ist, hauptsächlich aber soll es ein Übungsheft für mich sein. Ich werde versuchen, es so zu machen wie die Journalisten: interviewen, Schilderungen geben und Gespräche festhalten. Man hat mir erzählt, dass man es bei einiger Übung so weit bringen kann, dass man sich genauestens |83|an all das erinnern kann, was man den Tag über gehört und erlebt hat. Nun ja, wir werden sehen. Ich werde Dir alle meine kleinen Pläne auseinandersetzen, wenn wir beisammen sind. Gerade habe ich einige Zeilen von Jonathan aus Transsilvanien erhalten. Er fühlt sich wohl und gedenkt, in einer Woche die Rückreise anzutreten. Ich sehne mich danach, Neues von ihm zu hören. Es muss so schön sein, fremde Länder kennenzulernen. Ich frage mich, ob wir – ich meine Jonathan und mich – auch einmal gemeinsam verreisen werden. Es schlägt zehn Uhr, auf Wiedersehen! Stets Deine

Mina

 

PS: Berichte mir alle Neuigkeiten, wenn Du mir schreibst. Du hast mich so lange nichts von Dir wissen lassen. Ich hörte da gewisse Gerüchte, insbesondere über einen großen, gut aussehenden, lockigen Mann???

 

Brief von Lucy Westenra an Mina Murray

 

17, Chatham Street, am Mittwoch

Meine liebste Mina,

ich muss schon sagen, Du tust mir sehr unrecht, wenn Du mich eine faule Briefschreiberin nennst. Ich habe Dir doch zweimal geschrieben, seit wir abreisten, und Dein letzter Brief war auch erst der zweite. Übrigens habe ich Dir eigentlich nichts zu erzählen. Ich wüsste wirklich nichts, was Dich interessieren könnte. In der Stadt ist es jetzt sehr amüsant, und wir vertreiben uns die Zeit mit dem Besuch von Gemäldegalerien, mit Spaziergängen und Ausritten im Park. Was den großen, lockigen Mann betrifft, so vermute ich, dass Du den meinst, der auf dem letzten öffentlichen Konzert an meiner Seite war. Irgendjemand hat Dir offenbar irgendetwas aufgebunden: Das war nämlich Mr. Holmwood. Er kommt öfter zu uns, und er und Mama vertragen sich |84|recht gut; sie haben so viel miteinander zu plaudern. Wir haben allerdings vor einiger Zeit auch einen Herrn kennengelernt, der einfach perfekt für Dich wäre, wenn Du nicht schon an Jonathan gebunden wärest. Er ist eine hervorragende Partie, hübsch, in glänzenden Verhältnissen und aus guter Familie. Er ist Arzt und wirklich tüchtig. Denke Dir, er ist erst neunundzwanzig Jahre alt, aber leitet bereits eine große Irrenanstalt! Mr. Holmwood stellte ihn mir vor, dann gab es einen Besuch bei uns, und nun kommt er öfter vorbei. Ich glaube, er ist einer der resolutesten Männer, die ich je getroffen habe, und dennoch ist er äußerst ruhig, ja er scheint fast völlig unerschütterlich. Ich kann mir lebhaft vorstellen, welch wunderbaren Einfluss er auf seine Patienten ausüben muss … Er hat eine seltsame Art, einem direkt ins Gesicht zu sehen, gleichsam als wolle er dort die Gedanken lesen. Er versucht das auch öfter bei mir, aber ich schmeichle mir, eine recht harte Nuss für ihn zu sein. Ich kenne das aus meinem Spiegel – hast Du schon einmal versucht, in Deinem eigenen Gesicht zu lesen? Ich schon, und ich sage Dir, es ist kein schlechtes Studium. Es gibt Dir mehr zu denken, als Du Dir vorstellen kannst, wenn Du es noch nicht versucht hast. Er sagt, ich biete ihm ein seltenes psychologisches Studienobjekt, und ich glaube natürlich demütig, dass es wirklich so ist. Zu etwas anderem: Du weißt, ich habe an Kleidern kein so lebhaftes Interesse, dass es mir möglich wäre, eine neue Mode zu beschreiben. Kleider sind öde. Das ist jetzt zwar sehr salopp, aber was soll’s, Arthur redet ständig so. Ups, jetzt ist es heraus … Mina, haben wir uns nicht seit unserer Kindheit all unsere Geheimnisse anvertraut, zusammen gegessen, geschlafen, gelacht und geweint? Wo ich jetzt einmal angefangen habe, muss ich nun wohl doch noch mehr erzählen: Oh Mina, kannst Du’s nicht erraten? Ich liebe ihn! Ich erröte, während ich dies schreibe, denn obwohl ich glaube, dass er mich auch liebt, hat er es mir doch noch nicht in Worten gesagt. Ach Mina, ich liebe liebe liebe ihn! – So, das hat gutgetan. Ich wünschte, wir würden jetzt zusammen am Feuer sitzen, die |85|Sachen ablegen und es uns bequem machen, wie wir es immer getan haben. Dann könnte ich Dir erzählen, was ich fühle. Auf dem Papier kann ich das nicht einmal Dir gegenüber erklären. Ich sollte diesen Brief zerreißen, aber ich fürchte mich, mit dem Schreiben aufzuhören, und ich will nicht aufhören, denn ich will Dir das alles erzählen. Lass mich sofort von Dir hören und sage mir alles, was Du darüber denkst. Mina, ich muss jetzt Schluss machen. Gute Nacht! Schließe mich in Deine Gebete ein und bete für mein Glück.

Lucy

 

PS: Ich muss Dir ja nicht sagen, dass das ein Geheimnis ist. Nochmals gute Nacht. L.

 

Brief von Lucy Westenra an Mina Murray

 

24. Mai

Meine liebste Mina,

Dank, Dank, tausend Dank für Deinen lieben Brief! Es tat so gut, Dir das zu erzählen und Dein Verständnis zu haben.

Liebste, »es regnet nicht, es schüttet«. Wie anspielungsreich solche alten Redensarten oft sind. Hier bin ich, die ich im September zwanzig werden soll, und hatte bis heute noch keinen Anbeter, wenigstens noch keinen ernsthaften, und dann kommen gleich drei. Denke nur, drei Bewerber an einem Tag! Ist das nicht unheimlich? Es tut mir wirklich und wahrhaftig leid um zwei der lieben Menschen. Oh Mina, ich bin so froh, dass ich mich fast nicht mehr fassen kann. Drei Bewerber! Aber, Mina, ich bitte Dich um Himmels willen, sage es keinem der anderen Mädchen, die bekommen sonst allerhand extravagante Ideen und fühlen sich beleidigt und zurückgesetzt, wenn nicht gleich am ersten Tag, da sie wieder zu Hause sind, mindestens sechs kommen. Manche Mädchen sind so eitel. Du, Mina, und ich, die wir gebunden und nahe |86|daran sind, bald alte verheiratete Frauen zu werden, wir sind doch wahrlich darüber hinaus. Nun will ich Dir von den dreien erzählen, Liebste, aber Du musst es geheim halten vor allen – außer natürlich vor Jonathan. Du wirst es ihm sicher ausplaudern, wie ich es an Deiner Stelle ja auch Arthur gegenüber machen würde. Eine Frau muss ihrem Mann doch alles erzählen, nicht wahr, Liebste? Und ich möchte offen sein. Die Männer haben es gern, wenn die Frauen – besonders ihre Frauen – ebenso offen sind wie sie selbst. Ich fürchte aber, die Frauen sind nicht immer so aufrichtig, wie sie eigentlich sein müssten. Also, meine Liebe, Nummer eins kam gerade vor dem Lunch. Ich erzählte Dir schon von ihm, Doktor John Seward, der Irrenhausarzt mit dem strengen Kinn und der gütigen Stirn. Äußerlich war er sehr kühl, aber innerlich doch nervös. Er hatte sich offensichtlich gut vorbereitet und alles bis ins Kleinste einstudiert, aber er brachte es trotzdem fertig, sich beinahe auf seinen Hut zu setzen, was Männer in der Regel nicht tun, wenn sie entspannt sind. Und als er weiterhin versuchte, ganz ruhig zu erscheinen, spielte er dabei so ungeschickt mit seinem kleinen Arztmesserchen herum, dass ich beinahe schreien wollte. Mina, er sprach sehr direkt mit mir. Er sagte mir, wie lieb ich ihm sei, obgleich er mich doch erst so kurze Zeit kenne, und wie schön sein Leben wäre, wenn ich ihm helfen und ihn erheitern wollte. Er versuchte mir darzulegen, wie unglücklich er wäre, wenn ich ihn nicht erhörte. Als er mich dann aber weinen sah, nannte er sich einen Barbaren und versprach mir, meinen Schmerz nicht noch zu vergrößern. Dann brach er ab und fragte mich, ob ich ihn denn nicht mit der Zeit lieb gewinnen könne, und als ich mit dem Kopf schüttelte, zitterte er und fragte stockend, ob ich am Ende schon einen anderen lieben würde. Er fand so schöne Worte, er sagte, er wolle sich nicht mein Vertrauen erzwingen, sondern nur Klarheit haben, denn ein Mann dürfe die Hoffnung so lange nicht sinken lassen, wie die Angebetete noch frei sei. Da, liebe Mina, fühlte ich mich verpflichtet, ihm zu sagen, dass ich schon gebunden bin. Ich sagte ihm nicht mehr als dies, worauf er aber aufstand und sehr |87|ernst und schwermütig schaute. Er ergriff dann meine beiden Hände und sagte, er hoffe, dass ich glücklich werde, und wenn ich je eines Freundes bedürfe, so solle ich ihn zu meinen besten zählen. Ach, Mina, ich kann nicht anders, ich muss weinen, entschuldige die Flecken auf dem Brief. Verlobt zu sein ist ja ganz hübsch und so weiter, aber es ist auch keine schöne Sache, so einen armen Mann mit gebrochenem Herzen wegzuschicken und erkennen zu müssen, dass man, was immer er auch sagen mag, für immer aus seinem Leben gestrichen ist. Liebste, ich muss aufhören; ich fühle mich so elend, wenn ich auch glücklich bin.

 

Am Abend

Arthur ist gerade gegangen und ich bin wieder besserer Laune als vorhin, wo ich zu schreiben aufhörte. Ich kann Dir jetzt weiter von den Ereignissen des Tages erzählen. Also, Liebste, Nummer zwei kam nach dem Lunch. Er ist ein reizender Mensch, ein Amerikaner aus Texas, und er sieht so jung und frisch aus, dass man es gar nicht für möglich halten möchte, dass er schon so viel von der Welt gesehen und so viele Abenteuer erlebt hat. Ich kann nun der armen Desdemona1 nachfühlen, die gleichfalls einen solchen Wortschwall zu hören bekam, wenn auch von einem Schwarzen. Ich glaube, wir Frauen sind einfach nur so feige, dass wir glauben, ein Mann könne uns vor Gefahren beschützen, und schon heiraten wir ihn. Nun weiß ich also, wie ich es anzustellen hätte, wenn ich ein Mann wäre und ein Mädchen in mich verliebt machen möchte – oder nein, ich weiß es wohl doch nicht, denn Mr. Morris war es, der mir Geschichten erzählte, und Arthur erzählte mir nie eine, und dennoch … Aber meine Liebe, ich greife vor. Also, Mr. Quincey P. Morris fand mich allein. Es scheint so, als träfen die Männer die Mädchen immer allein – oder nein, wohl doch nicht, denn Arthur versuchte es zweimal vergeblich, eine Gelegenheit herbeizuführen, mich allein zu treffen, und ich |88|half ihm redlich dabei, ich schäme mich nicht, es einzugestehen. Ich muss vorausschicken, dass Mr. Morris nicht immer Slang spricht, er tut es nie in Gegenwart von Fremden oder gegenüber solchen, denn dazu ist er zu gut erzogen – er hat tadellose Manieren. Aber er merkte wohl, dass es mich amüsierte, ihn amerikanischen Slang sprechen zu hören, und wenn gerade niemand da war, der daran hätte Anstoß nehmen können, sagte er immer die drolligsten Dinge. Ich fürchte beinahe, er denkt sich das Zeug bloß aus, denn es passt immer perfekt zu dem, was er gerade sagt. Aber das ist wohl die Eigentümlichkeit des Slangs. Ob ich auch einmal Slang sprechen sollte? Ich weiß allerdings nicht, ob es Arthur gefällt, aus seinem Mund habe ich so was jedenfalls noch nie gehört. Gut, also Mr. Morris setzte sich neben mich und sah so glücklich und vergnügt wie möglich aus, aber ich konnte trotzdem bemerken, dass er sehr aufgeregt war. Er ergriff meine Hand und sagte zärtlich:

»Miss Lucy, ich weiß wohl, dass ich nicht gut genug bin, auch nur die Bänder Ihrer kleinen Schuhe zu binden, aber ich schätze, wenn Sie auf einen Mann warten wollen, der Ihrer würdig ist, werden Sie sich den sieben Jungfrauen mit den Lampen zugesellen müssen.2 Wollen Sie da nicht lieber neben mir anspannen, auf dass wir die lange Straße gemeinsam als Zweispänner hinunterrollen

Er sah dabei so heiter und fröhlich aus, dass es mir nicht halb so leidtat, ihm einen Korb geben zu müssen, wie bei dem armen Dr. Seward. Deshalb sagte ich, so leichtmütig ich konnte, ich wüsste nicht, wie ich dazu käme, mich anzuschirren, und wäre auch gar nicht darauf erpicht, im Geschirr zu laufen. Er erwiderte, er hätte doch nur sinnbildlich gesprochen und hoffe, ich werde es ihm nicht verübeln, dass er in einem für ihn so ernsten, wichtigen Moment solche Dinge geredet habe. Er war plötzlich |89|ernst geworden, als er das sagte, und ich konnte nicht anders, als auch ernst werden. Ich weiß, Mina, Du wirst mich für eine schreckliche Flirterin halten, aber ich konnte ein gewisses Hochgefühl nicht unterdrücken, dass er schon der Zweite an einem Tag war. Und dann, meine Liebe, schüttete er, noch bevor ich ein Wort zu sagen vermochte, eine ganze Lawine von Liebesbeteuerungen über mich aus, wobei er mir sein Herz und seine Seele zu Füßen legte. Er machte dabei ein so ernstes Gesicht, dass ich niemals mehr annehmen werde, ein bisweilen zu Späßen aufgelegter Mann wäre immer lustig und niemals ernst. Ich vermute, er sah etwas in meinem Gesicht, was ihn irritierte, denn er hielt plötzlich inne und sagte mit männlicher Entschlossenheit, wegen der allein ich ihn schon lieben könnte, wenn ich frei wäre:

»Lucy, Sie sind ein aufrichtiges Mädchen, das weiß ich. Ich würde nicht so zu Ihnen sprechen, wenn ich nicht wüsste, dass Sie rein sind und ehrlich bis in die tiefsten Tiefen Ihrer Seele. Sagen Sie mir also freiheraus wie unter guten Kameraden: Gibt es schon einen anderen, den Sie lieben? Wenn es so ist, werde ich Ihnen niemals mehr auch nur um Haaresbreite zu nahe treten, sondern – so Sie dies gestatten – Ihr aufrechter Freund sein!«

Meine liebe Mina, warum sind die Männer so edel, wo wir Frauen ihrer doch so wenig würdig sind? Da saß ich und hatte mich beinahe über diesen großherzigen, wahren Gentleman lustig machen wollen! Ich brach wieder in Tränen aus – ich fürchte, Liebste, Du wirst diesen Brief in mehr als einer Hinsicht sehr wässrig finden – und fühlte mich wirklich elend. Warum kann ein Mädchen denn nicht drei Männer heiraten, oder so viele, wie sich um sie bewerben? Man würde sich eine Menge Ärger ersparen! Ja, ich weiß, dass das gottlos ist und dass man so was nicht sagt. Ich war jedenfalls froh, dass ich Mr. Morris trotz meiner Tränen in die Augen sehen und ihm freimütig antworten konnte:

»Ja, es gibt jemanden, den ich liebe, obwohl er mir bis heute noch nicht gesagt hat, dass er mich auch liebt.« Ich hatte recht daran |90|getan, so offen mit ihm zu sprechen, denn es zog ein Leuchten über sein Gesicht. Auch er ergriff meine beiden Hände – ich glaube, ich habe sie ihm sogar selbst gegeben – und sagte in herzlichem Ton:

»Das ist mein mutiges Mädchen! Es ist mehr wert, zu spät um Sie zu werben, als rechtzeitig um irgendein anderes Mädchen in der Welt. Weinen Sie nicht, meine Liebe! Falls Sie um mich weinen sollten: Ich bin eine harte Nuss, ich kann allerhand einstecken und ich gehe nicht so leicht kaputt. Wenn dieser andere Bursche allerdings sein Glück noch nicht erkannt hat, so sollte er sich bald darum kümmern, oder er bekommt es mit mir zu tun. Liebe Kleine, Ihre Ehrlichkeit und Ihr Mut haben mich zu Ihrem Freund gemacht, und Freunde sind seltener als Liebhaber, denn sie sind selbstloser. Meine Liebe, da habe ich ja einen ziemlich einsamen Weg vor mir, von hier bis in die Ewigkeit. Wollen Sie mir nicht einen einzigen Kuss geben? Nur, um die zukünftige Finsternis von mir fernzuhalten. Wissen Sie, Sie dürfen das, wenn Sie es wollen, denn dieser andere Bursche – er muss ein guter Junge sein, ein feiner Mensch, sonst könnten Sie ihn ja nicht lieben – dieser andere jedenfalls hat sich Ihnen ja noch nicht erklärt.« Damit hatte er mich überzeugt, Mina, denn es war wirklich tapfer und süß von ihm, und nobel dazu, so von seinem Rivalen zu sprechen, nicht wahr? Und er war so traurig. Also beugte ich mich zu ihm hinüber und küsste ihn. Er stand auf, wobei er meine Hände immer noch in den seinen hielt, sah mir in die Augen – ich glaube, ich bin dabei sehr rot geworden – und sagte:

»Kleines Mädchen, ich halte Ihre Hände und Sie haben mich geküsst. Wenn diese Dinge uns nicht zu Freunden machen können, dann weiß ich allerdings nicht, was sonst dazu imstande wäre. Ich danke Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit gegen mich, und nun leben Sie wohl!« Er schüttelte mir die Hand, nahm seinen Hut und ging aufrecht aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen, ohne eine Träne, ohne ein Zittern oder Zögern. Und ich heule wie ein Kind. Oh, warum muss gerade ein Mann |91|wie er unglücklich werden, wo es doch Tausende von Mädchen gibt, die den Boden küssen würden, den sein Fuß betrat! Ich weiß, wenn ich frei wäre, würde ich … Aber ich wünsche ja gar nicht, frei zu sein! Meine Liebe, das ist mir wirklich nahegegangen, und ich bin nicht imstande, Dir von meinem Glück zu erzählen, nachdem ich Dir das Voranstehende erzählt habe. Über Nummer drei werde ich Dir schreiben, wenn ich wieder getröstet bin.

Stets Deine

Lucy

 

PS: Nun, was Nummer drei betrifft, da muss ich Dir doch eigentlich gar nichts weiter erzählen, oder? Außer, dass alles ganz und gar konfus war. Es schien nur ein Augenblick nach seinem Eintritt vergangen zu sein, schon hatte er seine Arme um mich gelegt und mich geküsst. Ich bin sehr, sehr glücklich und weiß nicht, womit ich das verdient habe. Ich muss zukünftig versuchen, dem Herrgott nicht undankbar zu erscheinen für seine Güte, mir einen solchen Liebhaber, solch einen Ehemann und solch einen Freund geschenkt zu haben.

Auf Wiedersehen!

 

Dr. Sewards Tagebuch

(phonographisch aufgenommen)

 

25. April

Heute mangelnder Appetit. Kann nichts essen, habe keine Ruhe, daher also Tagebuch. Seit meiner gestrigen Enttäuschung habe ich ein Gefühl der Leere; nichts in der Welt scheint mir noch von hinreichender Bedeutung, mich damit zu beschäftigen … Da ich weiß, dass die einzige Kur für derartige Zustände die Arbeit ist, ging ich hinunter zu meinen Patienten. Ich suchte mir denjenigen von ihnen heraus, dessen Studium mich am meisten interessiert. |92|Er ist so wunderlich in seinen Ideen, dabei aber so verschieden von den gewöhnlichen Irren, dass ich mich zu dem Versuch entschloss, so tief wie möglich in seine Vorstellungswelt einzudringen. Heute war es mir, als sei ich näher als je daran, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Ich befragte ihn eingehender, als es sonst meine Gewohnheit ist, mit der Absicht, die Inhalte seiner Halluzinationen zu erfassen. In der Art meines Verfahrens lag, wie ich jetzt einsehe, eine gewisse Grausamkeit: Ich habe versucht, ihn in das Zentrum seines Wahns zu treiben, ein Vorgehen, das ich sonst meide wie den Schlund der Hölle. (Anm. Unter welchen Umständen würde ich den Abgrund der Hölle eigentlich nicht vermeiden?) Omnia venalia Romæ.3 Auch die Hölle ist käuflich. Verb. Sap.4Wenn mein Instinkt hier richtig liegt, so ist es von wissenschaftlichem Interesse, das von Anfang an festzuhalten, ich fange also am besten gleich damit an:

R. M. Renfield, ætat559. Sanguinisches Temperament. Große körperliche Kraft, krankhaft reizbar, Perioden des Wahnsinns auf der Basis einer fixen Idee, der ich nicht auf die Spur kommen kann. Ich schicke voraus, dass sein sanguinisches Temperament im Zusammenwirken mit äußeren störenden Einflüssen seelisch erschöpfende Anfälle auslöst. Vielleicht ein gefährlicher Mann, wahrscheinlich gefährlich, wenn sein Dämmerzustand eintritt. Bei normalen Menschen ist die Vorsicht ein ebenso sicherer Schutz gegen sich selbst wie gegen Feinde. Was ich über die Sache bis jetzt denke, ist, dass, wenn sein Selbstbewusstsein im Mittelpunkt steht, die zentripetalen und die zentrifugalen Kräfte ausbalanciert sind. Wird aus irgendeinem Grund dieser Mittelpunkt verschoben, so überwiegen die letztgenannten Kräfte, und es kann nur ein Anfall oder eine ganze Reihe von Anfällen einen Ausgleich schaffen.

 

|93|Brief von Quincey P. Morris

an Hon. Arthur Holmwood

 

25. Mai

Bester Art,

wir haben uns am Lagerfeuer in den Prärien lange Geschichten erzählt und uns nach dem Landungsversuch auf den Marquesas-Inseln gegenseitig die Wunden verbunden. Am Strand des Titicacasees haben wir miteinander angestoßen.

Nun gilt es etwas Wichtiges zu erzählen, andere Wunden zu verbinden und neue Flaschen zu leeren. Wollen wir das morgen Abend an meinem Lagerfeuer besorgen? Ich zögere nicht, Dich einzuladen, weil ich weiß, dass eine gewisse Dame morgen Abend zum Dinner eingeladen ist, Du also frei bist. Noch einer wird dort sein, unser alter Kumpel aus Korea Jack6 Seward. Er wird ganz sicher kommen, denn wir beide wollen unsere Tränen im Weinglas vermischen und von ganzem Herzen auf das Wohl des glücklichsten Mannes unter der Sonne trinken, der sich das edelste Herz gewann, das Gott je schuf.

Wir versprechen Dir ein herzliches Willkommen, eine liebenswürdige Begrüßung und Trinksprüche, so ehrlich wie Deine eigene rechte Hand. Und wir schwören Dir, Dich hinterher nach Hause zu tragen, falls Du auf ein gewisses Augenpaar zu viele Gläser leeren solltest. Komm!

Stets der Deine,

Quincey P. Morris

 

|94|Telegramm von Arthur Holmwood an Quincey P. Morris

 

26. Mai

Zählt auf mich. Ich bringe Neuigkeiten, dass Euch die Ohren klingeln werden.

Art