|175|ZEHNTES KAPITEL

 

Brief von Dr. Seward

an Hon. Arthur Holmwood

 

6. September

Mein lieber Art,

meine heutigen Nachrichten sind nicht sehr gut: Lucy hat heute Morgen einen kleinen Rückfall gehabt. Etwas Gutes ist jedoch dabei: Mrs. Westenra war natürlich in Sorge um Lucy und hat mich als Arzt konsultiert. Ich ergriff gern die günstige Gelegenheit und erzählte ihr, dass mein alter Lehrer van Helsing, der große Spezialist, mich besuchen wird und dass ich beabsichtige, ihn für Lucys Behandlung hinzuzuziehen. So können wir nun kommen und gehen, ohne sie besonders zu beunruhigen, denn eine Erregung würde ihr augenblickliches Ende bedeuten. Was das dann bei Lucys schwacher Konstitution anrichten würde, brauche ich Dir wohl nicht näher zu erläutern. Wir sind von Schwierigkeiten umgeben, wir alle, mein armer alter Kumpel, aber mit Gottes Hilfe werden wir da auch wieder rauskommen. Sollte sich etwas ergeben, so schreibe ich Dir; wenn Du also keine Nachricht erhältst, so weiß auch ich noch nichts Neues.

In Eile,

stets Dein

John Seward

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

7. September

Das Erste, was mich van Helsing fragte, als ich ihn von Liverpool Street abholte, war:

|176|»Haben Sie unserem jungen Freund, dem Liebhaber der Miss, etwas gesagt?«

»Nein«, antwortete ich. »Wie ich Ihnen telegrafiert hatte: Ich habe gewartet, um zuerst mit Ihnen zu sprechen. Ich habe ihm lediglich geschrieben, dass Sie kämen, da es Miss Westenra wieder schlechter gehe. Und dass ich ihn benachrichtige, wenn es nötig ist.«

»Ganz recht so, mein Freund«, erwiderte er, »ganz recht! Es ist besser, er weiß von nichts. Vielleicht sollte er es nie erfahren – ich wäre glücklich damit. Nur wenn es wirklich sein muss, sollte er es erfahren. Mein lieber Freund John, lassen Sie sich warnen: Sie haben viel mit Narren zu tun, aber jeder Mensch ist ein bisschen wahnsinnig, auf die eine oder andere Weise. Ebenso vorsichtig, wie Sie mit Ihren Narren verfahren, sollten Sie auch mit den Narren Gottes sein, also den übrigen Menschen. Sie sagen Ihren Narren ja auch nicht, was Sie tun und warum Sie es tun, und Sie sagen ihnen nicht, was Sie denken. Bewahren Sie also das, was Sie erfahren, da auf, wo es hingehört, wo es bleiben soll, wo es sich mit anderen gleichartigen Erfahrungen versammeln und Früchte tragen kann. Sie und ich, wir werden geheim halten, was wir erfahren, und zwar hier und hier.« Er berührte mich in der Gegend des Herzens und an der Stirn und darauf sich selbst in der gleichen Weise. »Ich meinerseits habe mir schon meine Gedanken gemacht. Später werde ich Sie einweihen.«

»Warum nicht jetzt gleich?«, fragte ich. »Vielleicht wäre das von Nutzen, vielleicht könnten wir so rascher zu einer Entscheidung kommen!« Er blieb stehen, sah mich an und entgegnete:

»Mein Freund John, wenn das Korn gewachsen, aber noch nicht reif ist, wenn die Milch der Mutter Erde noch in ihm ist und die Sonne noch nicht begonnen hat, es golden zu färben, dann reißt der Landmann eine Ähre aus, reibt sie zwischen seinen rauen Händen, bläst die grüne Spreu weg und sagt: ›Seht, das ist gutes Korn; es wird eine vorzügliche Ernte geben, wenn die |177|Zeit da ist.‹« Ich verstand das Gleichnis nicht und gestand es ihm ein. Zur Antwort nahm er mich beim Ohr, zog scherzhaft daran, wie er es vor Zeiten im Unterricht getan hatte, und sagte zu mir: »Der gute Landmann wird das erst dann zu Ihnen sagen, wenn er sich sicher ist, aber nicht vorher. Sie werden nie finden, dass der Landmann sein eben erst gesätes Korn ausgräbt, um zu sehen, ob es wächst. Das tun nur Kinder, die im Spiel den Landmann nachahmen. Verstehen Sie es jetzt, Freund John? Ich habe mein Korn ausgesät und muss der Natur nun ihren freien Lauf lassen, dass sie es zum Sprießen bringt. Wenn es erst einmal sprießt, dann ist auch Hoffnung auf Reife. Ich kann warten, bis die Ähren schwellen.« Er brach ab, da er offenbar sah, dass ich ihn nun verstanden hatte. Dann ging er weiter und sagte in tiefem Ernst:

»Sie waren immer ein fleißiger Student, und Ihr Studienheft war immer voller als das Ihrer Kommilitonen. Damals waren Sie Student, heute sind Sie Arzt; ich hoffe aber, dass Sie Ihren Eifer von damals noch nicht abgelegt haben. Denken Sie immer daran, dass das sichere Wissen stärker ist als die bloße Meinung, und dass man sich auf das Schwächere nicht verlassen darf. Wenn Sie aber Ihre guten Gewohnheiten nicht beibehalten haben sollten, dann lassen Sie sich gesagt sein, lieber Freund, dass der Fall unserer lieben Miss für uns und andere von so hohem Interesse werden kann – ich sage absichtlich kann –, dass kein anderer Fall ihm gleichkommt. Seien Sie also höchst aufmerksam, nichts ist hier zu geringfügig, um vermerkt zu werden. Ich rate Ihnen sogar dazu, selbst Ihre Zweifel und Mutmaßungen schriftlich niederzulegen. Später ist es vielleicht von Interesse für Sie, zu sehen, wo Sie richtig geraten haben. Wir lernen aus unseren Fehlern, nicht aus unseren Erfolgen!«

Als ich ihm die Symptome von Lucys Krankheit beschrieb – es sind dieselben wie bisher, nur bedeutend ausgeprägter –, sah er sehr ernst aus, sagte aber kein Wort. Er hatte eine Reisetasche mitgebracht, in der sich viele Instrumente und Arzneien befanden, |178|»die grässliche Mitgift unseres wohltätigen Handwerks«, wie er einst in einer Vorlesung scherzhaft die Ausrüstung der Mediziner genannt hatte. Als wir ankamen, empfing uns Mrs. Westenra. Sie war sehr besorgt, aber lange nicht so sehr, wie ich befürchtet hatte. Die Natur hat den Menschen in einer ihrer wohltätigen Anwandlungen sogar gegen die Schrecken des Todes Gegenmittel gewährt. Im Falle von Lucys Mutter, wo jede Kleinigkeit verhängnisvoll werden kann, liegen die Dinge so, dass ihr alles, was sie nicht ganz persönlich betrifft, fernbleibt – selbst der furchtbare Umschwung im Befinden ihrer Tochter, die sie doch über alles liebt. In ähnlicher Weise umgibt Mutter Natur einen Fremdkörper, der irgendwo eingedrungen ist, nach Möglichkeit mit einer unempfindlichen Gewebeschicht, um weitere Verletzungen zu verhindern. Wenn es also einen solchen, von der Natur selbst eingerichteten Egoismus gibt, dann sollten wir es uns gut überlegen, irgendjemandem das Laster der Selbstsucht vorzuwerfen, denn dessen Wurzeln mögen tiefer liegen, als wir zu beurteilen imstande sind.

Ich benutzte also meine Kenntnisse dieser psychologischen Vorgänge und ordnete an, dass sie Lucy möglichst fernbleiben und sich nicht mehr mit deren Krankheit beschäftigen sollte, als absolut erforderlich sei. Sie sagte bereitwillig zu, so bereitwillig, dass ich auch hier wieder ihre Natur für ihr Leben kämpfen sah. Van Helsing und ich wurden in Lucys Zimmer geführt. Wenn ich gestern bei ihrem Anblick erschrak, so war ich heute entsetzt, als ich sie sah. Sie war von gespenstischer, kreidiger Blässe, das Rot schien sogar aus ihren Lippen und aus ihrem Zahnfleisch gewichen zu sein, und ihre Gesichtsknochen standen weit hervor. Ihr schweres Atmen war furchtbar mit anzusehen und anzuhören. Van Helsings Gesicht wurde starr wie Marmor, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen, dass sie sich über der Nase berührten. Lucy lag regungslos in ihren Kissen und hatte nicht die Kraft zu sprechen. Eine Zeit lang war es totenstill. Dann winkte mir van Helsing, und wir gingen vorsichtig aus dem |179|Zimmer. Kaum hatten wir die Tür hinter uns geschlossen, eilten wir rasch den Gang entlang bis zum nächsten Zimmer, dessen Tür offen stand. Hier zog er mich schnell hinein und schloss hinter uns ab. »Mein Gott«, sagte er, »das ist ja entsetzlich! Da ist keine Zeit zu verlieren. Sie hat nicht einmal mehr ausreichend Blut in sich, um den Herzschlag aufrechtzuerhalten. Sie wird sterben, wenn nicht sofort eine Bluttransfusion vorgenommen wird. Wollen Sie oder soll ich?«

»Ich bin jünger und kräftiger, Herr Professor. Ich will!«

»Dann machen Sie sich sogleich bereit. Ich werde meine Instrumententasche holen, ich habe alles Notwendige dabei.«

Ich ging die Treppe mit ihm hinunter. In diesem Augenblick ließ sich ein Klopfen an der Haustür vernehmen. Als wir den Flur erreichten, hatte das Mädchen bereits geöffnet und Arthur trat eilig ein. Er stürzte auf mich zu und flüsterte erregt:

»Jack, ich war so besorgt. Ich habe zwischen den Zeilen deines Briefes gelesen, und ich bin in Todesangst. Vater geht es wieder besser, also kam ich her, um selbst nach Lucy zu sehen. Ist dieser Gentleman hier Dr. van Helsing? Ich bin Ihnen ja so dankbar, Sir, dass Sie gekommen sind!« Der Professor schien zunächst verärgert zu sein, so als käme ihm diese Unterbrechung äußerst ungelegen. Dann aber fasste er Arthurs kräftige Gestalt ins Auge, und wahrscheinlich bemerkte er auch die jugendliche Energie, die mein Freund ausströmt. Ein Leuchten flog über sein Gesicht, und ohne weiteres Zögern sagte er ernst, indem er ihm die Hand reichte:

»Sie kommen gerade zur rechten Zeit. Sie sind der Bräutigam des lieben Fräuleins, nicht wahr? Sie ist krank, sehr krank. Aber verzweifeln Sie deswegen nicht gleich …« – Arthur war plötzlich bleich geworden und beinahe ohnmächtig in einen Stuhl gesunken. »Sie sind in der Lage, ihr zu helfen. Sie können mehr für sie tun als irgendjemand auf der Welt, und Ihr Mut wird Sie dabei unterstützen!«

»Was soll ich tun?«, fragte Arthur heiser. »Sagen Sie es mir, |180|und ich werde es tun. Mein Leben gehört ihr, den letzten Blutstropfen würde ich für sie geben.« Der Professor hat einen ausgeprägten Sinn für Humor, und da ich ihn schon so lange kannte, konnte ich eine Spur davon auch in seiner Antwort finden:

»Mein junger Herr, so viel verlange ich gar nicht – nicht den letzten!«

»Was soll ich denn tun?« Arthurs Augen glühten, und seine Nasenflügel bebten vor Erregung. Van Helsing klopfte ihm auf die Schulter. »Kommen Sie«, sagte er. »Sie sind ein Mann, und einen Mann brauchen wir gerade. Sie sind besser als ich und auch besser als mein Freund John.« Arthur sah uns verwirrt an, aber der Professor erläuterte ihm die Angelegenheit in freundlichem Ton:

»Die junge Miss ist krank, sehr krank. Sie braucht Blut, Blut muss sie haben, oder sie stirbt. Mein Freund John und ich haben uns nun beraten und soeben beschlossen, eine sogenannte Bluttransfusion vorzunehmen, also Blut aus den vollen Adern eines Menschen in die leeren, bedürftigen Adern eines anderen hinüberzuleiten. John hatte sich bereit erklärt, sein Blut herzugeben, da er jünger und kräftiger ist als ich« – hier ergriff Arthur meine Hand und drückte sie schweigend –, »aber da nun Sie hier sind, sind Sie weit besser dafür geeignet als wir beide, alt oder jung, die sich zu sehr in der Welt der Gedanken herumtreiben. Unsere Nerven sind nicht so ruhig, und unser Blut ist nicht so frisch, wie es bei Ihnen der Fall ist.« Arthur wandte sich zu ihm um und entgegnete:

»Wenn Sie nur wüssten, wie gerne ich für sie sterben würde, würden Sie verstehen …«

Er hielt inne, da ihm die Stimme versagte.

»Guter Junge«, rief van Helsing, »in der nächsten Zukunft schon werden Sie glücklich sein, all das hier für die getan zu haben, die Sie so lieben. Kommen Sie mit und schweigen Sie! Sie dürfen sie einmal küssen, bevor es getan wird, aber dann müssen Sie gehen. Sie müssen sich auf mein Zeichen hin augenblicklich |181|entfernen. Und sagen Sie kein Wort zu Madame Westenra, Sie wissen ja, wie es mit ihr steht. Jede Erschütterung muss vermieden werden, und das Wissen um unser Vorhaben wäre sicher ein Schock für sie. Kommen Sie!«

Wir begaben uns gemeinsam zu Lucys Zimmer hinauf, Arthur blieb auf Anweisung draußen. Lucy wandte müde ihren Kopf nach uns, sagte aber nichts. Sie schlief nicht, war aber sichtlich zu schwach zum Sprechen. Ihre Augen ruhten auf uns, das war alles. Van Helsing nahm einige Dinge aus seinem Reisekoffer und legte sie abseits auf einen kleinen Tisch. Dann bereitete er ein Narkotikum vor und sagte freundlich, indem er sich dem Bett näherte:

»Nun, kleine Miss, hier haben Sie Ihre Medizin. Trinken Sie sie aus wie ein braves Kind! Warten Sie, ich richte Sie ein wenig auf, damit Ihnen das Schlucken leichter fällt. So!« Sie gehorchte ihm und trank.

Ich wunderte mich, dass die Betäubung so langsam wirkte, was aber nur ein deutliches Zeichen ihrer Schwäche war. Die Zeit schien mir endlos, bis sich der Schlaf auf ihre Lider zu senken begann. Schließlich tat das Narkotikum aber doch seine Wirkung, und sie fiel in einen tiefen Schlummer. Nachdem der Professor sich davon überzeugt hatte, rief er Arthur ins Zimmer und bat ihn, seine Jacke abzulegen. Er fügte hinzu: »Sie können sich einstweilen einen Kuss abholen, während ich den Tisch herbeitrage. Freund John, würden Sie mir dabei bitte behilflich sein?« So sahen wir beide nicht hin, als Arthur sich über Lucy beugte.

Zu mir sagte van Helsing:

»Er ist so jung und stark, und sein Blut ist so rein, dass wir es nicht erst defibrinieren1 müssen.«

Dann führte van Helsing rasch, aber mit vollendeter Sicherheit die Operation aus. Als die Transfusion Fortschritte machte, |182|schien etwas Leben in die Wangen des armen Mädchens zurückzukehren, und Arthurs immer bleicher werdendes Gesicht spiegelte die Freude seines Herzens wider. Nach einer Weile begann ich ängstlich zu werden, denn der Blutverlust griff Arthur an, so kräftig er auch war. Ich konnte mir ein Bild davon machen, welch furchtbare Erschöpfung Lucys Organismus ergriffen haben musste, wenn diese Menge, die Arthur schon schwächte, ihr nur teilweise aufzuhelfen vermochte. Der Professor aber verzog keine Miene. Mit der Uhr in der Hand stand er da, die Augen abwechselnd auf die Patientin und auf Arthur gerichtet. Ich konnte mein eigenes Herz klopfen hören. Dann sagte er mit sanfter Stimme zu Arthur: »Bitte halten Sie noch einen Moment still, gleich ist es geschafft!« Und zu mir: »Sie können ihn nun verbinden; ich nehme mich ihrer an.« Als alles vorüber war, erkannte ich, wie sehr Arthur unter der Transfusion gelitten hatte. Ich verband seine Wunde und nahm ihn beim Arm, um ihn hinauszubringen. Van Helsing – ich glaube, der Mann hat auch im Rücken Augen – sagte, ohne sich umzudrehen:

»Ich denke, der tapfere Bräutigam hat sich noch einen weiteren Kuss verdient. Kommen Sie!« Die Blutübertragung war beendet, und van Helsing rückte das Kissen unter dem Kopf der Patientin zurecht. Dabei verschob sich das schwarze Samtband, das Lucy immer um den Hals trägt und das mit einer antiken Diamantenspange – ein Geschenk ihres Bräutigams – verziert ist, und ließ uns einen roten Fleck an ihrer Kehle erkennen. Arthur bemerkte die Stelle nicht, aber ich hörte van Helsing lang und tief durch die Zähne Atem schöpfen, was bei ihm immer ein Zeichen großer Erregung ist. Einen Augenblick schwieg er, dann wandte er sich an mich und sagte: »Führen Sie unseren tapferen jungen Liebhaber nun hinunter, geben Sie ihm einen Schluck Portwein und lassen Sie ihn sich dann eine Weile niederlegen. Danach soll er heimgehen und sich ausruhen, viel schlafen und viel und gut essen, damit er rasch das wieder ersetzt, was er seiner Braut gegeben hat. Er darf nicht hier bleiben. – Doch halt, |183|noch einen Augenblick!« Er wandte sich an Arthur: »Ich kann verstehen, Sir, dass Sie sich für das Resultat der Operation interessieren. Ich kann Ihnen versichern, dass sie in jeder Weise als gelungen zu betrachten ist. Sie haben ihr Leben gerade noch gerettet; Sie können nun heimgehen und sich in dem angenehmen Bewusstsein niederlegen, dass alles geschehen ist, was geschehen konnte. Ich werde ihr genau Bericht erstatten, sobald sie wieder wohl ist. Sie wird Sie für das, was Sie für sie getan haben, umso mehr lieben. Adieu!«

Als Arthur gegangen war, ging ich wieder ins Zimmer hinauf. Lucy schlief sanft, und ihr Atem war kräftiger; ich konnte sehen, wie sich die Bettdecke über ihrer Brust bewegte. Neben dem Bett stand van Helsing und sah voller Interesse auf sie herab. Das Samtband bedeckte wieder die roten Wundmale. Flüsternd fragte ich den Professor:

»Was halten Sie von jenen Wunden dort an ihrer Kehle?«

»Was halten Sie davon?«

»Ich habe sie noch nicht genau gesehen«, erwiderte ich und lockerte das Band. Gerade über der äußeren Halsschlagader befanden sich zwei punktartige Verletzungen, nicht groß, aber sie sahen besorgniserregend aus. Die Ränder waren weiß und blutleer, wie von einer Quetschung. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass diese Wunde, oder was es sonst war, die Ursache ihres offenbar ungeheuren Blutverlustes sein könnte, aber ich verwarf die Idee sogleich wieder, denn das wäre schlicht unmöglich: Die Menge Blut, die das Mädchen verloren haben musste – anders war ihre furchtbare Blässe vor der Transfusion ja nicht zu erklären –, hätte die Laken ihres Bettes scharlachrot getränkt.

»Nun?«, fragte van Helsing.

»Nun«, erwiderte ich, »ich habe keine Erklärung dafür.« Der Professor stand auf. »Ich muss heute Nacht noch nach Amsterdam zurück«, sagte er, »denn ich habe dort Bücher und andere Dinge, die ich benötige. Sie aber müssen die ganze Nachtüber hier bleiben und dürfen sie keinen Augenblick aus den Augen lassen!«

|184|»Soll ich eine Pflegerin bestellen?«, fragte ich.

»Wir beide sind die besten denkbaren Pfleger, Sie und ich. Halten Sie die ganze Nacht über Wache. Geben Sie acht, dass sie gut zu essen bekommt und dass sie nicht gestört wird. Sie dürfen heute Nacht keinesfalls einschlafen! Ruhen können wir beide später. Ich komme sobald wie möglich wieder zurück, dann beginnen wir.«

»Womit beginnen wir?«, fragte ich. »Was in Gottes Namen haben Sie vor?«

»Man wird sehen!«, antwortete er im Hinausgehen. Einen Augenblick später streckte er jedoch noch einmal den Kopf zur Tür herein und flüsterte mit warnend erhobenem Zeigefinger:

»Denken Sie daran, Sie ist in Ihrer Verantwortung! Wenn Sie sie allein lassen und es geschieht ihr etwas, dann werden Sie nie wieder ruhig schlafen können!«

 

Dr. Sewards Tagebuch

(Fortsetzung)

 

8. September

Ich saß die ganze Nacht an Lucys Bett. Gegen Abend hatte das Opiat seine Wirkung verloren, und sie wachte von alleine auf. Sie sah unvergleichlich besser aus als vor der Operation. Auch war sie bei guter Laune und voll froher Lebhaftigkeit, wenngleich dies die Anzeichen ihrer vorangegangenen totalen Entkräftung nicht zu überdecken vermochte. Als ich Mrs. Westenra mitteilte, dass mir der Doktor den Auftrag gegeben habe, bei ihr zu wachen, lachte sie mich beinahe aus und verwies auf die gute Laune und die wiedergekehrte Kraft ihrer Tochter. Trotzdem blieb ich meinem Entschluss treu und traf Vorbereitungen für die lange Nachtwache. Nachdem ich ein Abendbrot eingenommen und das Zimmermädchen Lucy für die Nacht hergerichtet hatte, begab ich mich zu ihr aufs Zimmer und setzte mich neben ihr Bett. |185|Sie machte keine Einwendungen, sondern sah mich dankbar an, sooft mein Blick sie traf. Es verging eine lange Zeit, bis sie endlich müde zu werden schien, doch dann raffte sie sich plötzlich wieder auf und schüttelte den Schlaf ab. Dies wiederholte sich mehrere Male, mit immer kürzeren Pausen und mit immer größerer Anstrengung ihrerseits, je weiter die Zeit voranschritt. Sie schien förmlich auf der Flucht vor dem Einschlafen zu sein. Ich begann deshalb ein Gespräch:

»Wollen Sie denn nicht schlafen?«

»Nein, ich fürchte mich.«

»Sich vor dem Schlaf fürchten! Weshalb? Der Schlaf ist doch ein Segen, und wir alle brauchen ihn dringend.«

»Ja, aber nicht, wenn man an meiner Stelle ist, da ist der Schlaf ein Vorbote des Grauens!«

»Ein Vorbote des Grauens? Was in Gottes Namen meinen Sie denn damit?«

»Ich weiß es nicht, ach, ich weiß es nicht. Das ist ja gerade das Furchtbare. Diese schreckliche Schwäche ereilt mich immer dann, wenn ich schlafe, und nun fürchte ich mich schon, überhaupt an Schlaf zu denken!«

»Aber aber, liebste Lucy, heute Nacht können Sie getrost schlafen: Ich bin hier und sorge dafür, dass Ihnen nichts passieren wird.«

»Ah, Ihnen vertraue ich!« Ich ergriff die Gelegenheit und fügte hinzu: »Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie, sobald sich irgendein böser Traum bemerkbar macht, sofort wecke.«

»Sie versprechen mir das? Würden Sie das wirklich tun? Wie gut Sie zu mir sind. Nun, dann will ich schlafen!« Kaum hatte sie das gesagt, da sank sie auch schon, mit einem Seufzer der Erleichterung auf den Lippen, zurück und schlief ein.

Die ganze Nacht über wachte ich bei ihr. Sie regte sich nicht, sondern schlief einen tiefen, ruhigen, lebens- und gesundheitsspendenden Schlaf. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und ihre Brust hob und senkte sich mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerkes. |186|Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, und es hatte den Anschein, dass kein böser Traum den Frieden ihrer Seele störte.

Am frühen Morgen kam das Mädchen, und ich überließ Lucy ihrer Fürsorge, um mich rasch nach Hause zu begeben, denn mir ließen viele Dinge keine Ruhe. Als Erstes sandte ich kurze Telegramme an van Helsing und an Arthur, in denen ich von dem ausgezeichneten Erfolg unserer Operation berichtete. Berufspflichten, mit denen ich in mancher Hinsicht im Rückstand war, hielten mich dann den ganzen Tag über fest. Erst als es bereits dunkel war, kam ich dazu, meinen Zoophagus zu besuchen. Der Bericht des Pflegers war günstig; der Patient war den ganzen vergangenen Tag und die darauffolgende Nacht über ruhig gewesen. Von van Helsing kam ein Telegramm, während ich gerade bei Tisch saß. Er forderte mich auf, die Nacht wieder in Hillingham zu verbringen, und teilte mir mit, dass er mit dem Nachtzug abfahren und dann am frühen Morgen mit mir bei der Patientin zusammentreffen werde.

 

9. September

Ich war ziemlich müde und erschöpft, als ich in Hillingham ankam. Zwei Nächte hindurch hatte ich kaum einen Augenblick geschlafen, und in meinem Gehirn fühlte ich eine dumpfe Leere, ein untrügliches Anzeichen meiner geistigen Erschöpfung. Lucy war aufgestanden und in bester Laune. Als ich ihr die Hand reichte, sah sie mir scharf ins Gesicht und sagte:

»Heute Nacht wird nicht aufgeblieben, Sie sind zu erschöpft. Ich fühle mich wieder ganz wohl, wirklich, es geht mir gut! Wenn heute Nacht jemand wach bleiben muss, dann will ich es sein.« Ich wollte mit ihr über diesen Punkt nicht streiten und ging hinunter, um ein Abendbrot einzunehmen. Lucy folgte mir; ihre liebenswürdige Gegenwart regte mich an und ließ mir das Essen vorzüglich schmecken; dazu trank ich ein paar Gläser des mehr als guten Portweines. Dann begleitete ich Lucy wieder hinauf, und sie wies mir ein Zimmer neben dem ihren an, in dem ein freundliches |187|Feuer brannte. »Heute Nacht«, sagte sie, »bleiben Sie hier. Ich werde die Tür offen lassen. Sie können sich dort aufs Sofa legen – einen Arzt bringt ja nichts auf der Welt dazu, sich ins Bett zu begeben, solange noch ein Patient in erreichbarer Nähe ist. Wenn ich etwas brauchen sollte, werde ich rufen, Sie sind dann ja gleich bei der Hand.« Ich konnte nichts anderes tun als zustimmen, denn ich war hundemüde und hätte nicht einmal wach bleiben können, wenn ich es versucht hätte. Nachdem sie ihr Versprechen, mich zu rufen, wenn sie etwas brauchen sollte, erneuert hatte, legte ich mich aufs Sofa und vergaß alles um mich herum.

 

Lucy Westenras Tagebuch

 

9. September

Ich fühle mich so glücklich heute Abend. Ich bin so furchtbar schwach gewesen, dass mir die zurückerlangten Fähigkeiten zu denken und mich zu bewegen vorkommen wie der helle Sonnenschein vor stahlblauem Himmel nach einem langen, grauen Ostwind. Mir ist, als wäre Arthur nahe, ganz nahe bei mir. Es wärmt mich richtiggehend, so sehr spüre ich seine Nähe. Ich glaube, dass Krankheit und Schwäche egoistisch machen. Sie lenken unseren Blick nach innen, und unsere ganze Sorge ist auf unser eigenes Selbst gerichtet. Gesundheit und Stärke hingegen machen den Platz wieder für Amor frei, der unsere Gedanken und Gefühle lenkt, wohin er will. Ich weiß, wo meine Gedanken weilen. Wenn nur Arthur es ebenfalls wüsste! Mein Liebster, Deine Ohren müssen Dir im Schlafe klingen, während ich wache. Oh, diese segensreiche Ruhe der letzten Nacht! Wie süß ich schlief, während der teure, gute Dr. Seward meinen Schlummer behütete. Und auch heute Nacht werde ich mich nicht fürchten zu schlafen, denn er wird wieder in Rufweite sein. Dank all denen, die so gut zu mir sind, Dank auch dem lieben Gott! Gute Nacht, Arthur!

 

|188|Dr. Sewards Tagebuch

 

10. September

Ich erwachte, als ich die Hand des Professors auf meinem Haupt fühlte, und sprang augenblicklich auf – eine Fähigkeit, die zu erlernen man als Leiter einer Anstalt ausgiebig Gelegenheit hat.

»Nun, wie geht es unserer Patientin?«

»Gut, als ich sie verlassen habe, oder besser: Als sie mich verlassen hat«, antwortete ich.

»Kommen Sie, wir wollen nachsehen«, entgegnete er. Zusammen begaben wir uns in Lucys Zimmer.

Der Vorhang war heruntergelassen. Ich zog ihn vorsichtig auf, während van Helsing sich mit leichten, vorsichtigen Schritten dem Bett näherte.

Als der Stoff hochgezogen war und das Licht der Morgensonne ins Zimmer flutete, vernahm ich wieder das scharfe, zischende Atemholen des Professors, und da ich dies nur zu gut kannte, fuhr mir ein tödlicher Schreck durch die Glieder. Ich wollte gerade zu ihm treten, als er mit dem Schreckensruf »Gott im Himmel!«2 zurückfuhr. Sein sonst so eisernes Gesicht war verzerrt und aschfahl und drückte Entsetzen aus. Er hob seine Hand und deutete auf das Bett. Ich fühlte, wie meine Knie zitterten.

Dort auf dem Bett lag die arme Lucy in tiefer Ohnmacht, bleicher und elender als je zuvor. Sogar die Lippen waren weiß, und das Zahnfleisch schien von ihren Zähnen weggeschrumpft zu sein, wie es zuweilen an Leichen von Menschen zu sehen ist, die nach langem Siechtum gestorben sind. Van Helsing hob wütend den Fuß, um aufzustampfen, setzte ihn dann aber doch wieder geräuschlos nieder – seine gute Erziehung und die über lange Jahre geübte Selbstbeherrschung verließen ihn nicht. »Schnell«, sagte er, »holen Sie Brandy!« Ich eilte ins Speisezimmer und |189|kehrte mit der Karaffe zurück. Er benetzte Lucys schmale, bleiche Lippen, danach rieben wir ihr gemeinsam Hände, Handgelenke und die Herzgegend damit ein. Van Helsing fühlte nach ihrem Puls und sagte nach einigen entsetzlichen Augenblicken des Wartens:

»Es ist noch nicht zu spät! Das Herz schlägt, wenn auch schwach. All unsere bisherige Arbeit ist umsonst gewesen; wir müssen von Neuem beginnen! Da wir den jungen Arthur nicht hier haben, werde ich diesmal Sie in Anspruch nehmen, Freund John.« Während er sprach, kramte er schon in seinem Koffer und holte die Instrumente für die Transfusion hervor. Ich hatte bereits mein Jackett ausgezogen und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Ein Opiat war in diesem Falle unnötig; es wäre auch unmöglich gewesen, ihr etwas einzuflößen. Ohne einen Moment zu verlieren, begannen wir die Operation. Nach einiger Zeit – sie schien mir nicht gerade kurz zu sein, denn dieses Abziehen von Blut ist ein schreckliches Gefühl, so gerne es auch gegeben werden mag – erhob van Helsing warnend den Finger. »Rühren Sie sich jetzt nicht«, sagte er. »Ich fürchte, dass mit fortschreitender Kräftigung ihr Bewusstsein zurückkehrt, und das wäre gefährlich, äußerst gefährlich. Ich werde Vorsichtsmaßregeln treffen und ihr eine Morphiuminjektion geben.« Rasch und gewandt führte er sein Vorhaben aus. Die Wirkung war befriedigend, denn der Zustand der Ohnmacht ging unmerklich in einen narkotischen Schlaf über. Mit einem Gefühl persönlicher Genugtuung sah ich, wie sich ein schwacher Schimmer von Farbe in ihre bleichen Wangen und Lippen stahl. Niemand, der es nicht durchlebt hat, kann ahnen, was es heißt, sein eigenes Blut in die Adern einer geliebten Frau hinüberfließen zu lassen.

Der Professor beobachtete mich mit kritischem Blick. »Das wird reichen«, sagte er schließlich. »Schon?«, entgegnete ich. »Sie haben von Arthur bedeutend mehr Blut genommen.« Da lächelte er ein wenig bedrückt und erwiderte:

|190|»Ja, er ist schließlich auch ihr Liebhaber und ihr Bräutigam. Sie aber haben noch Arbeit vor sich, viel Arbeit, für Miss Lucy und für andere. Das, was Sie bis jetzt gegeben haben, mag also genügen.«

Als wir die Transfusion beendet hatten, kümmerte er sich um Lucy, während ich einen Finger auf meine eigene Wunde presste und mich niederlegte. Ungeduldig wartete ich darauf, ebenfalls verbunden zu werden, denn ich fühlte mich schwach und unwohl. Nachdem er mich versorgt hatte, sandte er mich hinunter, um zur Stärkung ein Glas Wein zu trinken. Bevor ich das Zimmer verließ, flüsterte er mir noch zu:

»Denken Sie daran, es darf nichts von der Sache verlauten! Wenn unser junger Liebhaber unvermutet auftauchen sollte, wie schon einmal, so sagen Sie ihm kein Wort davon! Es würde ihn zugleich erschrecken und eifersüchtig machen. Das darf beides nicht sein!«

Als ich dann zurückkehrte, sah er mich freundlich an und sagte:

»Sie sehen nicht viel schlechter aus als vor der Transfusion. Gehen Sie aber trotzdem in Ihr Zimmer und ruhen Sie sich eine Zeit lang auf dem Sofa aus. Dann frühstücken Sie ordentlich und kommen wieder zu mir hierher.«

Ich befolgte seine Anweisungen, denn ich wusste, sie waren gut und klug: Schließlich hatte ich meinen Teil geleistet und nun die Pflicht, meine verlorenen Kräfte wieder zu ersetzen. Ich fühlte mich wirklich sehr schwach, und in meiner Schwäche war mir das Schreckliche dessen, was sich ereignet hatte, gar nicht zu Bewusstsein gekommen. Ich legte mich aufs Sofa und dachte darüber nach, warum Lucy einen solch furchtbaren Rückfall bekommen hatte und wie es möglich war, so viel Blut ohne irgendein äußeres Anzeichen zu verlieren. Ich glaube, ich habe mein Nachdenken auch im Schlaf fortgesetzt, und meine Gedanken kamen immer wieder auf jene kleinen Punkte an ihrer Kehle zurück, so winzig diese auch waren, und auf das zerfetzte, bleiche Aussehen der Wundränder.

|191|Lucy schlief weit in den Tag hinein. Als sie erwachte, war sie recht stabil und wohlauf, wenn auch lange nicht so wie am Tag zuvor. Nachdem van Helsing sie besucht hatte, ging er ein wenig spazieren. Er überließ sie meiner Fürsorge und schärfte mir strengstens ein, sie keinen Augenblick allein zu lassen. Ich hörte ihn unten auf dem Flur nach dem nächsten Telegrafenbüro fragen.

Lucy plauderte ganz fröhlich mit mir und schien absolut nichts von dem zu wissen, was vorgefallen war. Ich tat mein Bestes, sie abzulenken und zu unterhalten. Als ihre Mutter heraufkam, um nach ihr zu sehen, bemerkte sie keine Änderung und sagte dankbar zu mir:

»Wir sind Ihnen so viel Dank schuldig, Dr. Seward, für das, was Sie für uns getan haben. Sie sollten aber auch daran denken, dass Sie sich nicht überarbeiten – Sie sehen ja selbst ganz bleich aus. Sie brauchen eine Frau, die Sie pflegt und für Sie sorgt; sehen Sie sich doch nach einer um!« Während sie das sagte, wurde Lucy rot, wenn auch nur einen Augenblick, denn ihre Venen vermochten diese Reaktion nicht lange aufrechtzuerhalten. Es folgte sogleich eine außerordentliche Blässe, und sie sah mich flehentlich an. Ich nickte ihr lächelnd zu und legte meinen Zeigefinger an die Lippen. Mit einem Seufzer sank sie darauf in ihre Kissen zurück.

Nach ein paar Stunden kam van Helsing wieder und bemerkte: »Nun gehen Sie nach Hause und essen und trinken Sie gehörig. Sorgen Sie dafür, dass Sie bald wieder stark sind. Ich bleibe heute Nacht hier und werde selbst bei der kleinen Miss Wache halten. Sie und ich, wir werden diesen Fall behandeln, ein anderer braucht davon nichts zu wissen. Ich habe schwerwiegende Gründe dafür. Nein, fragen Sie nicht danach; denken Sie davon, was Sie wollen. Scheuen Sie nicht davor zurück, selbst das Unglaublichste anzunehmen. Und nun: Gute Nacht!«

Im Flur kamen mir zwei der Dienstmädchen entgegen und baten mich, sie nachts abwechselnd bei Miss Lucy wachen zu |192|lassen. Sie flehten mich geradezu darum an. Als ich ihnen sagte, es sei Dr. van Helsings ausdrücklicher Wunsch, dass außer ihm und mir niemand Wache halten solle, baten sie mich inständig, bei dem »fremden Gentleman« ein Wort für sie einzulegen. Ich war ganz gerührt ob dieser Freundlichkeit, die entweder meiner Schwäche oder aber Lucy selbst galt, der sie in Mitleid anhingen. Schon oft habe ich derartige Beispiele weiblicher Aufopferung erlebt. Ich kehrte dann zu einem recht verspäteten Dinner hierher zurück und machte anschließend meinen Rundgang – alles ist in Ordnung. Dies schreibe ich, während ich auf den Schlaf warte. Ich fühle, wie er sich nähert.

 

11. September

Heute Nachmittag ging ich hinüber nach Hillingham. Ich traf van Helsing in bester Laune, und auch Lucy schien es wieder wesentlich besser zu gehen. Kurz nach meiner Ankunft wurde ein großes Paket für den Professor abgegeben, das aus dem Ausland kam. Er öffnete es auf eine umständliche, offenbar auf die Zuschauer berechnete Art und zeigte uns einen großen Strauß weißer Blüten.

»Die sind für Sie, Miss Lucy«, sagte er.

»Für mich? Oh, Dr. van Helsing!«

»Ja, mein Kind, aber nicht um damit zu spielen. Es sind Heilkräuter« – hier machte Lucy ein enttäuschtes Gesicht –, »aber sie werden nicht als Aufguss oder in ähnlich unappetitlicher Form genommen, dass Sie Ihr kleines Näschen rümpfen müssten. Muss ich Sie denn erst an meinen Freund Arthur erinnern, und wie sehr ihn bedrücken würde, das Gesicht, das er so lieb hat, so verzerrt zu sehen? Aha, meine kleine Miss, dieser Gedanke lässt das reizende Näschen sofort wieder gerade werden! Die Blumen sind jedenfalls eine Medizin, auch wenn Sie sich nicht vorstellen können, wie sie wirken. Ich werde Ihnen die Blüten in Ihr Fenster legen. Zudem werde ich einen hübschen Kranz binden, den wir um Ihren Hals hängen, damit Sie in Ruhe schlafen können. |193|Oh ja, wie die Lotusblüten lassen uns auch diese hier allen Kummer vergessen. Sie duften wie die Wasser der Lethe3 und des Jungbrunnens, nach dem die Konquistadoren in Florida gesucht und den sie zu spät gefunden haben.«

Während er sprach, hatte Lucy die Blumen in die Hand genommen und daran gerochen. Dann warf sie sie weg und rief, halb belustigt, halb voll Ekel:

»Aber, Herr Professor, ich glaube Sie wollen sich einen Scherz mit mir machen. Diese Blüten sind ja gemeiner Knoblauch!«

Zu meiner höchsten Überraschung stand van Helsing auf und sagte mit eiserner Miene, die buschigen Augenbrauen zusammengezogen, im tiefsten Ernst:

»Keine Widerrede, ich scherze niemals! Es ist bitterer Ernst in allem, was ich tue, und ich warne Sie davor, sich mir zu widersetzen. Nehmen Sie sich in acht, wenn schon nicht um Ihret-, so wenigstens um anderer Leute willen!« Als er bemerkte, dass die kranke Lucy einen großen Schreck bekam, fügte er sanfter hinzu: »Mein kleines Fräulein, fürchten Sie sich nicht vor mir, ich will doch nur Ihr Bestes! Es liegt in diesen gewöhnlichen Blüten nämlich eine besondere Kraft, die für Sie nur von Vorteil sein kann. Ich werde sie höchstpersönlich in Ihrem Zimmer aufstellen, und ich binde Ihnen auch den Kranz, den Sie tragen sollen. Aber still! Sprechen Sie mit niemand anderem darüber, und wenn er auch noch so dringend fragen sollte. Sie müssen gehorchen, und Stillschweigen ist ein Teil dieses Gehorsams. Der Gehorsam wird Sie gesund und kräftig wieder in die Arme Ihres Bräutigams zurückführen, der auf Sie wartet. Sitzen Sie einen Augenblick still. Kommen Sie, Freund John, und helfen Sie mir, das Zimmer mit diesen Knoblauchblüten zu verzieren, die auf direktem Weg aus Haarlem kommen, wo sie mein Freund Vanderpool das ganze Jahr über in Glashäusern zieht. Ich musste |194|gestern noch extra danach telegrafieren, da sie ja heute da sein sollten.«

Wir gingen in ihr Zimmer hinauf und nahmen die Blüten mit. Das Verfahren des Professors war äußerst eigentümlich und mit Sicherheit in keiner der mir bekannten Arzneimittellehren verzeichnet. Zuerst schloss er die Fenster und verriegelte sie sorgfältig. Dann nahm er eine Handvoll Knoblauchblüten und rieb damit die Fensterrahmen ein, als sollte jeder Luftzug, der dennoch hereinkäme, mit dem Duft der Blüten getränkt sein. Weiter ging es mit den drei Balken des Türrahmens und schließlich mit dem Kamin, den er weiträumig abrieb. Das alles schien mir so grotesk, dass ich sagte:

»Herr Professor, ich weiß ja, dass Sie für alles, was Sie tun, einen Grund haben, aber das, was Sie jetzt tun, ist mir wirklich ein Rätsel. Es ist gut, dass wir keinen Spötter hier haben – er würde sagen, Sie trieben Zauberei, um irgendeinen bösen Geist fernzuhalten!«

»Vielleicht mache ich genau das«, antwortete er gelassen und begann den Kranz zu flechten, den Lucy um ihren Hals legen sollte.

Wir warteten noch, bis Lucy ihre Nachttoilette vollendet hatte. Als sie im Bett lag, ging van Helsing zu ihr und legte ihr selbst den Kranz um den Hals. Das Letzte, was er zu ihr sagte, war:

»Geben Sie acht, dass Sie ihn nicht verschieben! Und selbst wenn Ihnen die Luft im Zimmer drückend vorkommen sollte, öffnen Sie heute Nacht weder Fenster noch Tür!«

»Ich verspreche es Ihnen«, sagte Lucy, »und ich danke Ihnen beiden für all Ihre Güte. Oh Gott, wie habe ich nur solch edle Freunde verdient?«

Als wir das Haus in meinem Einspänner, der gewartet hatte, verließen, sagte van Helsing zu mir:

»Heute Nacht kann ich in Frieden schlafen. Ich brauche dringend Ruhe – zwei Nächte unterwegs, am Tag dazwischen ausgiebige Lektüre, am folgenden Tag furchtbare Sorgen und zuletzt |195|eine Nachtwache gänzlich ohne Schlaf. Morgen in aller Frühe holen Sie mich ab, und wir besuchen miteinander unser liebes Fräulein, dem meine ›Zauberei‹ wieder neue Kräfte verschafft haben sollte. Hoho!«

Er schien so optimistisch, dass ich in Erinnerung an meine eigene Zuversicht zwei Nächte zuvor und die darauffolgende Enttäuschung eine unbestimmte Furcht nicht unterdrücken konnte. Dem Freund meine Bedenken einzugestehen, war ich zu schwach. Umso stärker jedoch fühlte ich sie, wie unvergossene Tränen.