|62|VIERTES KAPITEL

 

Jonathan Harkers Tagebuch

(Fortsetzung)

 

Ich erwachte in meinem eigenen Bett. Wenn ich das nicht alles nur geträumt habe, so muss mich der Graf hierhergetragen haben. Ich versuchte, mir über diese Frage klar zu werden, konnte aber zu keinem zweifelsfreien Ergebnis kommen. Immerhin gab es einige kleine Anzeichen, zum Beispiel waren meine Kleider in einer Weise gefaltet und neben mein Bett gelegt, die nicht meiner eigenen Ordnung entsprach. Meine Uhr war ebenfalls nicht aufgezogen, wo es doch sonst eine von mir stets geübte Gewohnheit ist, dies zu tun, bevor ich zu Bett gehe. Noch zwei, drei weitere derartige Details gab es, aber all diese Dinge sind ja noch keine vollgültigen Beweise, denn sie könnten ebenso gut bestätigen, dass einfach mein Verstand nicht mehr in seiner normalen Verfassung ist, wofür ja hinreichend Gründe vorhanden wären. Ich muss nach Beweisen suchen. Über eines jedoch bin ich froh: Wenn es wirklich der Graf war, der mich hierherbrachte, so musste es in sehr großer Eile geschehen sein, denn meine Taschen waren unberührt. Ich bin sicher, dass er von meinem Tagebuch keine Ahnung hat, denn er hätte es nicht geduldet, sondern es mir bei dieser günstigen Gelegenheit entwendet und vernichtet. Wenn ich mich in diesem Zimmer umsehe, das für mich bisher so voll von Schrecken war, so ist es mir jetzt doch eine Art Asyl, denn es kann nichts Entsetzlicheres geben als jene drei unheimlichen Frauen, die darauf warteten – und noch immer warten – mir das Blut auszusaugen.

 

|63|18. Mai

Ich war noch einmal unten, um mir das besagte Zimmer bei Tageslicht anzusehen, denn schließlich muss ich der Wahrheit auf den Grund kommen! Als ich die Tür am Ende der Treppe jedoch probierte, war sie verschlossen. Der Riegel war zwar nicht vorgeschoben, aber irgendetwas machte das Öffnen von innen her unmöglich. Ich drückte so heftig dagegen, dass Holz wegsplitterte. Nun fürchte ich doch, dass es kein Traum war, und ich werde auf der Grundlage dieser Mutmaßung handeln.

 

19. Mai

Ich bin in der Falle. Letzte Nacht bat mich der Graf in der höflichsten Weise, ich möge drei Briefe schreiben; einen, dass meine Arbeit hier nahezu getan wäre und ich in wenigen Tagen die Heimreise antreten werde, den zweiten, dass ich am folgenden Tag abzureisen gedächte, und den dritten, dass ich die Burg verlassen hätte und in Bistritz angekommen wäre. Ich wollte erst protestieren, fühlte dann aber sofort, dass es bei der gegenwärtigen Lage der Dinge Wahnsinn wäre, offen gegen den Grafen zu rebellieren, in dessen absoluter Gewalt ich mich doch befinde. Das Abschlagen seiner Bitte hätte nur seinen Zorn und seinen Argwohn erregt. Er weiß, dass ich zu viele seiner Geheimnisse erahne, und er wird mich nicht lebend davonkommen lassen, da ich ihm sonst gefährlich werden könnte. Das Einzige, was ich jetzt versuchen kann, ist Zeit zu gewinnen. Vielleicht bietet sich mir ja doch noch irgendeine Gelegenheit zur Flucht? Er erklärte mir seinen Wunsch damit, dass die Post selten und unregelmäßig ginge und dass meine Freunde meine Nachrichten schneller erhielten, wenn ich sie gleich jetzt schriebe. Zudem versicherte er mir mit seiner ganzen Beredsamkeit, dass mein letzter, von Bistritz datierter Brief dort bis zur fälligen Zeit aufbewahrt werden würde und dass man ihn natürlich nicht abgehen ließe, wenn ich etwa meinen Aufenthalt noch zu verlängern gedächte. Ich konnte ihm einfach nicht widersprechen, wollte ich ihm nicht |64|neue Verdachtsgründe gegen mich geben, und antwortete daher, ich wäre vollkommen seiner Ansicht. Auf meine Frage, welche Daten ich denn auf die Briefe setzen sollte, rechnete er einen Augenblick nach, dann entgegnete er:

»Auf den ersten Brief 12. Juni, auf den zweiten 19. Juni und auf den dritten 29. Juni.«

Nun weiß ich, wie lange ich noch zu leben habe. Gott steh mir bei!

 

28. Mai

Es gibt eine Möglichkeit zur Flucht, oder wenigstens die Gelegenheit, eine Nachricht nach Hause zu senden! Eine Gruppe Szigany ist in die Burg gekommen und hat im Hof ihr Lager aufgeschlagen. Die Szigany sind Zigeuner, ich habe einiges über sie in meinen Papieren notiert. Sie sind eine Besonderheit dieses Landstriches, aber verwandt mit den anderen Zigeunern, die über die ganze Welt zerstreut sind. Tausende von ihnen nomadisieren in Ungarn und Transsilvanien, wo sie fast vollkommen rechtlos sind. Sie stellen sich daher in der Regel unter den Schutz eines Edelmannes oder Bojaren, dessen Namen sie dann annehmen. Sie sind furchtlos und, von ihrem Aberglauben einmal abgesehen, ohne jegliche Religion, und sie sprechen fast ausschließlich ihr ganz eigenes Romani-Idiom1

Ich will einige Briefe schreiben und versuchen, diese durch sie aufgeben zu lassen. Durchs Fenster habe ich mich bereits bemerkbar gemacht und erste Bekanntschaft mit ihnen geknüpft. Sie nahmen ihre Hüte ab, verbeugten sich und machten mir Zeichen, die ich aber leider ebenso wenig verstand wie ihre Sprache …

 

Ich habe die Briefe nun fertig. Der an Mina ist in Kurzschrift verfasst, und Mr. Hawkins habe ich schlicht angefleht, sich mit ihr |65|in Verbindung zu setzen. Mina habe ich meine Lage klar geschildert, ohne derjenigen Schrecken Erwähnung zu tun, die ich mir vielleicht doch nur einbilde – es würde sie ohnehin zu Tode entsetzen, wenn ich ihr mein ganzes Herz ausschütten wollte. Sollten die Briefe nicht durchkommen, so soll der Graf wenigstens nicht meine Geheimnisse und den ganzen Umfang meiner Kenntnisse wissen …

 

Ich bin die Briefe los; ich warf sie zusammen mit einem Goldstück durch die Gitter meiner Fenster und machte den Zigeunern durch Zeichen so deutlich wie möglich, dass sie sie weiterleiten sollten. Der Mann, der sie an sich nahm, drückte sie ans Herz, verbeugte sich und steckte sie dann in seine Mütze. Mehr konnte ich nicht tun. Ich stahl mich darauf wieder in die Bibliothek und begann zu lesen. Da der Graf nicht da ist, schreibe ich jetzt hier weiter …

 

Der Graf ist gekommen! Er setzte sich zu mir und sagte in der ruhigsten Weise, während er mit zwei Briefen wedelte:

»Dies hier haben mir die Szigany gegeben, und ich muss mich wohl darum kümmern, auch wenn ich nicht weiß, woher das kommt. – Aber sehen Sie nur«, er hatte die Briefe mit Bestimmtheit längst untersucht, »einer ist sogar von Ihnen und für meinen Freund Peter Hawkins! Aber dieser andere hier …« Er öffnete den zweiten Brief, und sein Gesicht verfinsterte sich über den seltsamen Zeichen. Seine Augen funkelten böse. »Dieser andere ist ein widerwärtiges Ding, ein Verrat an Freundlichkeit und Gastfreundschaft! Was sehe ich, er ist nicht unterschrieben? Nun dann, so geht er uns auch nichts weiter an!« Und ruhig hielt er Brief und Umschlag an die Flamme der Lampe, bis diese das Papier vollständig verzehrt hatte. Dann fuhr er fort:

»Den Brief an Hawkins werde ich natürlich, da er ja von Ihnen ist, wegschicken. Ihre Briefe sind mir heilig. Sie verzeihen, mein Freund, dass ich versehentlich das Siegel erbrach. Wollen Sie den |66|Brief nicht wieder verschließen?« Er reichte mir den Brief und übergab mir mit eleganter Handbewegung ein neues Kuvert. Ich konnte nichts tun, als das Schreiben erneut zu adressieren und ihm schweigend auszuhändigen. Als er aus dem Zimmer trat, hörte ich ihn den Schlüssel leise von außen umdrehen. Eine Minute später ging ich zur Tür und fand sie wirklich verschlossen.

Als nach ein oder zwei Stunden der Graf wieder still das Zimmer betrat, weckte mich sein Kommen auf, denn ich war auf dem Sofa eingeschlafen. Er war, wie gewöhnlich, sehr höflich und liebenswürdig, und als er bemerkte, dass ich geschlafen hatte, sagte er:

»Soso, mein Freund, Sie sind müde? Gehen Sie zu Bett, da finden Sie die sicherste Ruhe. Ich muss mir leider heute Abend das Vergnügen versagen, mit Ihnen zu plaudern, denn ich habe sehr viel zu tun. Sie aber müssen schlafen, glauben Sie mir!« Ich begab mich in mein Zimmer, legte mich nieder und schlief seltsamerweise traumlos. Verzweiflung kennt wohl eine eigene Art der Ruhe.

 

31. Mai

Heute Morgen nach dem Erwachen hatte ich mir vorgenommen, etwas Papier und einige Umschläge aus meiner Reisetasche zu nehmen und sie in meinen Kleidern zu verwahren, auf dass ich, sollte sich eine Gelegenheit dazu bieten, einige Briefe schreiben könnte, aber welch böse Überraschung, welcher Schlag traf mich da!

Das letzte Stückchen Papier war verschwunden, und damit auch alle meine Notizen, meine Aufzeichnungen über Zugverbindungen und Reiserouten, mein Kreditbrief – einfach alles, was ich dringend brauchte, wenn es mir wirklich gelingen sollte zu entkommen. Ich saß und grübelte eine Weile, dann überfiel mich eine weitere böse Ahnung, und ich sah zuerst nach meinem Handkoffer, um danach zur Garderobe zu stürzen, wo ich meine |67|Kleider verstaut hatte: Mein Reiseanzug ist weg, ebenso mein Überzieher und meine Decke, alles ist spurlos verschwunden. Das sieht zweifelsfrei nach einer neuen Perfidie des Grafen aus.

 

17. Juni

Diesen Morgen, als ich auf dem Rand meines Bettes saß und mein Gehirn zermarterte, hörte ich von draußen auf dem felsigen Weg, der zum Burghof führt, Peitschengeknall und das Stampfen und Scharren von Pferdehufen. Voll freudiger Erwartung eilte ich zum Fenster und sah zwei große Leiterwagen hereinfahren, jeweils gezogen von acht schweren Pferden, und vor jedem Wagen einen Slowaken mit mächtigem Hut, breitem, messingbeschlagenem Gürtel, schmutzigem Schaffell und hohen Stiefeln. Ihre langen Stäbe trugen sie in der Hand. Ich rannte zur Tür, um hinunterzustürzen und durch den Haupteingang zu ihnen zu flüchten, da das Tor für sie ja geöffnet sein musste, aber welch eine neue Enttäuschung! Nun war sogar meine Tür von außen verschlossen.

So rannte ich zurück ans Fenster und rief sie an. Sie blickten verständnislos zu mir herauf und gestikulierten, doch da kam schon der Hetman2 der Szigany herbei, und als er sah, dass die Slowaken auf mein Fenster wiesen, sagte er etwas, und alle lachten. Von da ab konnte keine Bemühung meinerseits, kein verzweifeltes Schreien, kein todesbanges Flehen auch nur einen von ihnen veranlassen, den Kopf nach mir zu drehen – sie wandten sich sogar ganz bewusst von mir ab. Die Leiterwagen enthielten große, viereckige Kisten mit Handgriffen aus dickem Strick. Nach der Leichtigkeit zu schließen, mit der die Slowaken mit ihnen hantierten, sowie dem hohlen Gepolter, das dabei zu hören war, waren die Kisten offenbar leer. Als sie alle abgeladen und in einem großen Stapel in einer Ecke des Hofes zusammengestellt waren, erhielten die Slowaken von dem Szigany Geld; sie spuckten |68|darauf, damit es ihnen Glück bringen möge, und begaben sich dann träge zu ihren Pferden. Bald darauf hörte ich, wie das Klatschen ihrer Peitschen allmählich in der Ferne verhallte.

 

24. Juni, noch vor Tagesanbruch

Letzte Nacht verließ mich der Graf zeitig und schloss sich in seinem eigenen Zimmer ein. Sobald ich es wagen konnte, sprang ich die Wendeltreppe hinauf und spähte aus dem Fenster nach Süden. Ich wollte nach dem Grafen Ausschau halten, denn es ist etwas im Gange. Die Szigany sind in der Burg untergebracht und verrichten irgendeine Arbeit. Ich weiß es gewiss, denn hin und wieder höre ich wie aus weiter Ferne gedämpfte Geräusche von Hacke und Spaten. Worum es sich dabei auch immer in concreto handeln mag – mit Sicherheit steckt eine ruchlose Gräueltat dahinter.

Etwas weniger als eine halbe Stunde hatte ich gewartet, als sich etwas zu regen begann. Ich zog mich leicht zurück, hielt aber weiterhin aufmerksam Ausschau und beobachtete, wie der Graf hinauskletterte. Was für ein neuer Schreck war es für mich zu erkennen, dass der Graf meine Reisekleider trug und über seinen Schultern das unheimliche Bündel hatte, das ich die gespenstischen Frauen kürzlich hatte mitnehmen sehen. Über den Zweck seines Ausflugs war wohl kein Zweifel mehr möglich, und das in meinen Kleidern! Das ist also seine neueste Teufelei: Er lässt andere glauben, mich gesehen zu haben, wie ich in der Stadt oder in den Dörfern eigenhändig meine Briefe aufgeben würde. Überdies soll so jede Schandtat, die er begeht, von den Einheimischen mir zugeschrieben werden!

Es macht mich rasend, wenn ich daran denke, dass er so etwas ungestraft tun kann, während er mich hier eingesperrt hält, als einen Gefangenen ohne den Schutz des Gesetzes, auf den selbst der Verbrecher ein Recht hat.

Ich beschloss dann, auf die Rückkehr des Grafen zu warten, und blieb lange Zeit verbissen am Fenster stehen. Plötzlich schien |69|mir, als tanzten einzelne kleine Flecken im Mondlicht. Sie waren fein wie Staub, wirbelten umher und bildeten nebelartige Schwärme. Ich sah ihnen mit einer gewissen Beruhigung zu, ja es kam sogar eine Art Behagen über mich, und ich lehnte mich an den Fensterpfeiler, um dem lustigen Tänzeln bequemer zusehen zu können.

Etwas jedoch ließ mich plötzlich aufschrecken; es war ein leises, klägliches Heulen von Hunden irgendwo tief unten im Tal, wohin die Aussicht nicht reichte. Während dieses Heulen immer lauter wurde, schien es, als bemühten sich die im Mondschein umhertanzenden Staubwolken zugleich, immer neue Gestalten anzunehmen. Ich fühlte, wie es in mir kämpfte, wie meine Instinkte sich darum mühten, mich wachzurütteln. Doch nein, meine Seele war es, die kämpfte, und meine nur halb wachen Sinne bemühten sich, ihr zu antworten: Ich wurde hypnotisiert! Schneller und schneller tanzte der Staub, und die Mondstrahlen schienen zu zittern, wenn sie an mir vorbei in die Dunkelheit stürzten. Immer dichter ballten sich die Teilchen zusammen, bis sie schließlich vage Umrisse bildeten, die sich zu Phantomen verdichteten. Plötzlich fuhr ich zusammen, wurde mit einem Mal hellwach und war wieder Herr meiner Sinne. Schreiend stürzte ich davon, denn die Phantombilder, die sich langsam aus dem Mondschein materialisierten, wuchsen zu den drei Geisterfrauen heran, denen ich zum Opfer bestimmt war. Ich floh und fühlte mich erst in meinem Zimmer wieder etwas sicherer, wo kein Mond schien und wo meine Lampe noch freundlich brannte.

Als ein paar Stunden vergangen waren, hörte ich etwas Entsetzliches aus dem Zimmer des Grafen, etwas wie ein lautes Schluchzen, das aber rasch wieder unterdrückt wurde. Dann wurde es still. Es war eine tiefe, furchtbare Stille, die mich frösteln ließ. Mit klopfendem Herzen ging ich zur Tür, um sie zu öffnen, aber ich war in meinem Gefängnis eingeschlossen und konnte nichts, gar nichts tun. Ich setzte mich hin und weinte.

Wie ich so saß, hörte ich vom Burghof her das Wehgeschrei einer Frau. Ich sprang ans Fenster, riss es auf und sah hinaus. |70|Dort stand in der Tat eine Frau, mit wirrem Haar und vor der Brust gekreuzten Händen. Vom schnellen Laufen restlos erschöpft, lehnte sie an der Ecke des Torwegs. Als sie mein Gesicht am Fenster erblickte, stürzte sie von dort hervor und schrie mit drohender Stimme:

»Du Ungeheuer, gib mir mein Kind!«

Dann warf sie sich auf die Knie, hob ihre Hände zu mir empor und wiederholte immer wieder dieselben Worte, die mir das Herz zerrissen. Sie raufte sich die Haare, schlug sich mit den Fäusten auf die Brust und gab sich ihrem unermesslichen Schmerz hin. Endlich sprang sie wieder auf und stürzte näher heran; ich konnte sie zwar nicht mehr sehen, aber ich vernahm das Hämmern ihrer Fäuste am Tor.

Irgendwo hoch oben, wahrscheinlich vom Turm her, hörte ich den Grafen mit harter, metallischer Stimme etwas rufen. Als Antwort ertönte von nah und fern das Heulen der Wölfe. Nur wenige Minuten verstrichen darauf, und es brach ein Rudel von ihnen durch den weiten Eingang in den Burghof herein wie die jäh befreite Flut eines Staudamms.

Die Frau schrie nicht, und auch das Toben der Wölfe war nur kurz zu hören. Bald darauf trotteten sie einzeln davon, sich die blutigen Lefzen leckend.

Ich konnte die arme Frau nicht einmal bemitleiden, denn es war sicher besser so für sie, wusste ich doch, was mit ihrem Kind geschehen war.

Was soll ich nur tun? Was kann ich tun? Wie kann ich dieser entsetzlichen Leibeigenschaft von Nacht, Finsternis und Furcht entkommen?

 

25. Juni, morgens

Niemand, der noch nicht solche Nächte durchlitten hat, weiß, wie süß und teuer für Herz und Augen der Anbruch des Morgens sein kann. Als die Sonne so hoch gestiegen war, dass sie die Spitze des großen Torwegs gegenüber meinem Fenster erreicht |71|hatte, bedeutete dieser leuchtende Punkt für mich dasselbe, was die Taube für Noah bedeutet haben mochte. Die Furcht fiel von mir ab, sie schien nur noch ein Nebelschleier, der in der Tageswärme verdunstete. Ich muss etwas unternehmen, auf irgendeine Weise handeln, solange mir das Tageslicht Mut gibt. Heute Nacht ging mein erster, im Voraus datierter Brief ab; der erste in der verhängnisvollen Reihe, die jegliche Spur meiner Existenz von der Erde tilgen soll.

Ich darf nicht daran denken. Ich muss handeln!

Stets war es nur zur Nachtzeit, dass ich bedroht und gepeinigt wurde, mich in Furcht und Gefahr befand. Ich habe den Grafen bis heute noch nicht bei Tage gesehen. Ist es denkbar, dass er schläft, während die anderen wachen, und dass er wachen muss, wenn sie schlafen? Wenn ich doch nur in sein Zimmer gelangen könnte! Aber dazu ist keine Möglichkeit; die Tür ist immer verschlossen, es ist aussichtslos.

Doch halt, vielleicht gibt es doch einen Weg für den, der wagt. Wo er entlanggeht, müsste doch auch ein anderer gehen können! Ich habe ihn selbst aus dem Fenster kriechen sehen, warum sollte ich es ihm nicht nachmachen und in sein Fenster hineinsteigen? Die Erfolgsaussichten sind nicht groß, aber die allgemeinen Aussichten meiner Lage sind noch geringer. Ich muss es wagen! Im schlimmsten Falle bedeutet es den Tod, aber der Tod eines Menschen ist etwas anderes als der eines Tieres – mich erwartet das unbekannte Jenseits. Gott gebe mir Kraft zu meinem Unternehmen! Leb wohl, Mina, wenn ich es nicht schaffen sollte! Und leben auch Sie wohl, Mr. Hawkins, mein treuer Freund und zweiter Vater, lebt wohl, ihr alle, vor allem aber du, meine Mina!

 

Später am selben Tag

Ich habe es gewagt und bin mit Gottes Hilfe unversehrt wieder in mein Zimmer zurückgekehrt! Ich will alles der Reihenfolge nach berichten. Meinen ganzen Mut zusammennehmend, bin |72|ich zum Fenster auf der Südseite gegangen und auf den schmalen Sims hinausgeklettert, der rings um das Gemäuer läuft. Die Steine sind groß und roh behauen, und die Zeit hat längst allen Mörtel zwischen ihnen hinweggespült. Ich zog also meine Stiefel aus, warf sie zurück ins Zimmer und machte mich auf den verzweifelten Weg. Zuvor jedoch sah ich einmal absichtsvoll hinunter in den grausigen Abgrund, damit mich ein zufälliger Blick auf meinem Weg nicht überwältigen würde. Im Weiteren hielt ich meine Augen dann von der Tiefe abgewandt. Ich wusste sehr genau über die Richtung und die Entfernung Bescheid, in der das Fenster des Grafen lag, konnte mich also gut orientieren und kam den Umständen entsprechend zügig voran. Ich spürte keinen Schwindel – wahrscheinlich war ich zu aufgeregt –, und die Zeit schien mir lächerlich kurz, bis ich mich auf der Fensterbank meines Zieles wiederfand, das Schiebefenster hochdrückend. Aufs Höchste erregt, stieg ich, gebückt und mit den Füßen voran, durch die Öffnung hinein. Mich vorsichtig nach dem Grafen umsehend, stellte ich zu meiner Erleichterung fest, dass das Zimmer leer war. Es war mit seltsamen Dingen möbliert, die den Eindruck machten, als wären sie nie benutzt worden; der Stil des Mobiliars glich dem der südlichen Zimmer, und alles war ebenso dicht mit Staub bedeckt wie dort. Ich machte mich auf die Suche nach dem Schlüsselbund, aber es steckte weder im Schlüsselloch, noch war es irgendwo anders zu finden. Das Einzige, was ich entdeckte, war ein großer Haufen Goldstücke in einer Ecke – Goldstücke aller Art, römisches, englisches, österreichisches, ungarisches, griechisches und türkisches Geld, gleichfalls mit einer dichten Staubschicht überzogen, als läge es schon sehr lange hier auf dem Boden. Keine der Münzen war weniger als dreihundert Jahre alt. Auch Ketten und Schmucksachen lagen dabei, einige mit Juwelen besetzt, aber alles alt und fleckig.

In einer Ecke des Zimmers war eine schwere Tür. Ich versuchte sie zu öffnen, denn da ich die Schlüssel zum Zimmer oder zum Außentor nicht finden konnte, was ja das eigentliche Ziel meines |73|Unternehmens war, musste ich weitere Erkundungen vornehmen, wenn nicht alle meine Mühe umsonst gewesen sein sollte. Die Tür war unverschlossen und führte über einen steinernen Gang zu einer steil in die Tiefe abfallenden Wendeltreppe. Ich stieg hinab, indem ich mich vorsichtig vorantastete, denn die Stufen waren dunkel und nur gelegentlich durch kleine Schießscharten im dicken Mauerwerk erhellt. Unten gelangte ich in einen finsteren, tunnelartigen Durchgang, aus dem mir ein widerlicher Geruch nach Tod entgegenschlug, der Geruch uralter, aber frisch aufgegrabener Erde. Je weiter ich in diesen Durchgang vordrang, desto intensiver wurde der Geruch. Schließlich zog ich ein schweres altes Tor auf, das ebenfalls unverschlossen war, und fand mich in einer verfallenen Kapelle wieder, die offenbar als Begräbnisplatz gedient hatte. Das Dach war eingestürzt, und an verschiedenen Stellen führten Stufen in unterirdische Gewölbe. Der Boden der Kapelle war jedoch erst kürzlich aufgegraben worden, wobei man die Erde in mächtige Holzkisten geschaufelt hatte, offenbar in jene, welche die Slowaken gebracht hatten. Da diese also herein- und auch wieder hinausgekommen sein mussten, forschte ich nach einem zweiten Ausgang, jedoch vergeblich. Jeden Zoll des Bodens untersuchte ich, um keine Möglichkeit zu übersehen, ich stieg trotz meines Grauens sogar in die Gewölbe hinab, in denen ein finsteres Dämmerlicht herrschte. In zweien fand ich nichts weiter als Bruchstücke alter Särge unter jahrhundertealtem Staub. Im dritten Gewölbe jedoch machte ich eine Entdeckung:

Hier, in einer der großen Kisten, von denen etwa fünfzig herumstehen mochten, lag, auf einer Schicht frisch ausgehobener Erde – der Graf! Er war entweder tot, oder er schlief, ich konnte es nicht genau erkennen. Seine Augen waren geöffnet und starr, aber ohne das glasige Aussehen des Todes zu haben. Die Wangen hatten trotz ihrer Leichenblässe den Schimmer des Lebens, und die Lippen waren rot wie immer. Andererseits war jedoch keine Bewegung an ihm wahrzunehmen, kein Puls, kein Atemzug, |74|kein Herzschlag. Ich beugte mich über ihn und versuchte, ein Lebenszeichen zu entdecken, aber vergeblich. Er konnte noch nicht lange dort gelegen haben, denn der Geruch der aufgegrabenen Erde wäre nach wenigen Stunden verflogen gewesen. Neben der Kiste stand der Deckel, in den mehrere Löcher gebohrt waren. In der Hoffnung, hier die Schlüssel zu finden, wollte ich den Körper durchsuchen, als mein Blick plötzlich auf seine starren Augen fiel und ich in ihnen – so reglos und unwissend über meine Gegenwart sie auch sein mussten – einen solch bedrohlichen Hass sah, dass ich voll Grauen davonstürzte. Ich erreichte das Zimmer des Grafen, verließ dieses durch das offene Fenster und kletterte an der Burgmauer zurück in meine eigenen Räume. Hier angekommen, warf ich mich aufs Bett und versuchte nachzudenken …

 

29. Juni

Heute ist das Datum des letzten meiner unter Zwang verfassten Briefe, und der Graf hat Vorkehrungen getroffen, ihre Echtheit zu bestätigen, denn ich sah ihn in meinen Kleidern die Burg auf dem bekannten Weg durch das Fenster verlassen. Als er wie eine Eidechse die Mauer hinabstieg, wünschte ich mir ein Gewehr oder eine andere tödliche Waffe, um ihn vernichten zu können; aber ich fürchte, eine Waffe in menschlichen Händen wird nicht imstande sein, ihm irgendetwas anzuhaben. Ich wollte nicht am Fenster auf seine Rückkehr warten, denn ich fürchtete mich, die Unheilsschwestern3 wiederzusehen. Also ging ich in die Bibliothek zurück und las, bis ich einschlief.

Ich wurde durch den Grafen geweckt, der mich mit dem größten vorstellbaren Grimm ansah und mir eröffnete:

»Morgen, mein Freund, müssen wir uns trennen. Sie kehren in Ihr schönes England zurück, mich aber erwartet eine Aufgabe, |75|die so ausgehen kann, dass wir uns vielleicht nie wieder begegnen. Ihr letzter Brief ist aufgegeben worden; morgen werde ich nicht hier sein, aber alles ist für Ihre Reise vorbereitet. Früh kommen Szigany, die noch einige Arbeiten zu erledigen haben, und auch einige Slowaken sind zu erwarten. Wenn alle fort sind, wird meine Kalesche Sie abholen und zum Borgopass bringen, wo Sie auf die Postkutsche von der Bukowina nach Bistritz warten können. Ich hoffe allerdings sehr, Sie noch öfter auf der Burg Dracula zu sehen.« Ich traute ihm nicht recht und beschloss, seine Aufrichtigkeit auf die Probe zu stellen. Aufrichtigkeit! Welch eine Entweihung dieses Wortes, es in einem Atemzug mit diesem Scheusal zu gebrauchen. Ich fragte ihn also geradeheraus:

»Warum kann ich denn nicht heute Nacht noch fahren?«

»Weil, bester Herr, mein Kutscher und meine Pferde gerade unterwegs sind.«

»Aber ich gehe gerne zu Fuß. Ich möchte lieber sofort aufbrechen.« Er lächelte auf eine so diabolisch-weiche und hinterhältige Art, dass ich augenblicklich wusste, dass sich hinter seiner Verbindlichkeit Tücke verbarg. Er fragte:

»Und wie steht es mit Ihrem Gepäck?«

»Das kümmert mich nicht, ich werde es bei Gelegenheit abholen lassen.«

Da stand der Graf auf und entgegnete mit einer so ausgesuchten Höflichkeit, dass ich sie kaum fassen konnte:

»Ihr Engländer habt da eine Redensart, die ich mir besonders gemerkt habe, weil sie das ausdrückt, was auch wir Bojaren befolgen: ›Umarme den ankommenden Gast, den abreisenden aber halte nicht auf.‹ Kommen Sie also mit mir, lieber junger Freund. Nicht einen Augenblick länger sollen Sie in meinem Hause sein, als Sie es selbst wünschen, sosehr mich Ihre Abreise auch betrübt, da Sie diese so plötzlich und überraschend anstreben. Kommen Sie mit!« Mit steifer Grandezza stieg er, die Lampe in der Hand, vor mir die Stiege hinunter und durchschritt die Halle. Plötzlich aber blieb er stehen.

|76|»Hören Sie nur!«

Ganz in der Nähe ließ sich das Heulen zahlloser Wölfe vernehmen. Es schien mir aber, als ob dieser Lärm der Bewegung seiner Hand gehorchte, so wie ein Orchester auf den Taktstock des Dirigenten reagiert.

Nach einer kurzen Weile des Lauschens schritt der Graf in seiner gravitätischen Weise auf den Ausgang zu, zog die gewichtigen Riegel zurück, hakte die schweren Ketten aus und machte sich daran, das wuchtige Tor zu öffnen.

Zu meinem höchsten Erstaunen bemerkte ich, dass das Tor nicht verschlossen gewesen war. Voller Misstrauen sah ich genauer hin, konnte aber tatsächlich keinen Schlüssel entdecken.

Als sich das Tor einen Spalt öffnete, wurde das Toben der Wölfe davor lauter und wilder, und schon drängelten sich rote Mäuler mit fletschenden Zähnen und klauenbewehrte Pfoten im Türspalt. Mir wurde augenblicklich klar, dass es zu diesem Zeitpunkt sinnlos war, sich gegen den Grafen aufzulehnen. Solange ihm solche Verbündete zur Seite standen, konnte ich nichts ausrichten. Doch immer weiter öffnete sich das Tor, schon war der Spalt so breit wie die Gestalt des Grafen. Mich durchfuhr der Gedanke, dass dies der Moment und die Art meines Verderbens sein konnte: Er würde mich den Wölfen vorwerfen, und das auf mein eigenes Verlangen hin! Teuflische Bosheit hätte dieser Plan zur Genüge, um vom Grafen ausgeheckt zu sein … Im buchstäblich letzten Moment schrie ich:

»Schließen Sie das Tor, ich werde bis morgen warten!« Dann bedeckte ich das Gesicht mit den Händen, um meine Tränen der Enttäuschung zu verbergen. Mit einer einzigen Bewegung seines mächtigen Armes zog der Graf das Tor zu und schob anschließend die Riegel wieder vor, dass es in dem weiten Gewölbe widerhallte.

Wortlos kehrten wir in die Bibliothek zurück, und ein oder zwei Minuten später begab ich mich auf mein Zimmer. Als ich mich noch einmal kurz umwandte, sah ich, wie Graf Dracula mir |77|einen Handkuss zuwarf, mit triumphierendem Blick und einem Lächeln, auf das Judas in der Hölle hätte stolz sein können.

In meinem Zimmer angekommen, wollte ich mich eben niederlegen, als ich ein Flüstern vor meiner Tür zu hören meinte. Ich schlich hin und lauschte. Sollten mich meine Ohren nicht getäuscht haben, so zischte der Graf gerade:

»Zurück, zurück an euren Ort! Eure Zeit ist noch nicht gekommen. Wartet ab, habt Geduld! Heute Nacht bin ich dran, die morgige Nacht ist eure!« Ein leises, murmelndes Kichern war die Antwort. Da stieß ich vor Wut die Tür auf und erblickte die drei schrecklichen Frauen, die sich ihre Lippen leckten. Als sie mich erblickten, brachen sie in ein entsetzliches Gelächter aus und rannten davon.

Ich kehrte in mein Zimmer zurück und warf mich auf die Knie. Ist mein Ende denn wirklich schon so nahe? Morgen! Morgen! Gott stehe mir bei und jenen, denen ich teuer bin!

 

30. Juni, am Morgen

Dies werden wohl die letzten Worte sein, die ich in mein Tagebuch schreibe. Ich schlief bis kurz vor Tagesanbruch, und als ich aufstand, warf ich mich auf die Knie nieder, denn ich wollte, dass der Tod, wenn er käme, mich wenigstens nicht unvorbereitet fände.

Bald spürte ich die leichten Veränderungen in der Luft und wusste, dass der Morgen da war. Nun ertönte auch der lang ersehnte Hahnenschrei, der mir anzeigte, dass ich zunächst erst einmal in Sicherheit war.

Mit hoffnungsvollem Herzen öffnete ich meine Tür und eilte hinunter in die große Halle – hatte ich gestern doch gesehen, dass das Tor nicht verschlossen worden war, folglich musste der Weg in die Freiheit offen stehen! Meine Hände zitterten vor Erregung, als ich die schweren Ketten aushakte und die massiven Riegel zurückschob.

|78|Aber das Tor bewegte sich nicht. Mich packte die Verzweiflung, ich stieß immer und immer wieder dagegen und rüttelte so sehr daran, dass es, so schwer es auch war, in den Angeln krachte. Dann bemerkte ich den Bolzen des Türschlosses: Das Tor musste verschlossen worden sein, nachdem ich den Grafen verlassen hatte.

Mich packte ein wütendes Verlangen, den Schlüssel um jeden Preis zu erlangen, und ich beschloss, die Mauer nochmals hinunterzuklettern und in das Zimmer des Grafen einzudringen. Mochte er mich meinethalben töten – ein rascher Tod schien mir von allen Aussichten nicht die schlimmste zu sein. Ohne zu zögern, rannte ich zum östlichen Fenster hinauf und stieg, ganz wie zuvor schon einmal, die Mauer hinab ins Zimmer des Grafen. Es war leer, aber das hatte ich nicht anders erwartet. Der Haufen Gold lag an seiner Stelle, ein Schlüssel war jedoch – ganz wie zuvor – nicht zu sehen. Also ging ich durch die Ecktür, die Wendeltreppe hinunter und dann durch den finsteren Gang in die alte Kapelle. Ich wusste schließlich genau, wo ich das Scheusal zu suchen hatte.

Die große Kiste stand noch auf demselben Platz, dicht an der Mauer. Der Deckel lag schon darauf, war aber noch nicht festgemacht – die Nägel steckten im Holz und warteten darauf, eingeschlagen zu werden. Ich musste die Kleider des Grafen nach dem Schlüssel durchsuchen, also hob ich den Deckel ab und lehnte ihn an die Wand. Dann aber sah ich etwas, das mein Herz mit tiefstem Grauen erfüllte. Da lag der Graf, aber er sah aus, als wäre seine Jugend wieder zurückgekehrt: Haar und Schnurrbart, vordem weiß, waren nun dunkel-eisengrau, die Wangen waren voller, und die weiße Haut schien rosig unterlegt. Der Mund war röter als je, denn auf den Lippen standen Tropfen frischen Blutes, das in den Mundwinkeln zusammenrann und von da über Kinn und Hals hinuntersickerte. Selbst die Augen lagen nicht mehr so tief, denn es schien sich neues Fleisch um sie gebildet zu haben. Es sah aus, als hätte sich die grauenvolle Kreatur mit Blut überfressen. |79|Das Monster lag da wie ein vollgesogener Blutegel, erschöpft von der Übersättigung. Ich schauderte, als ich mich über ihn beugte, um ihn zu durchsuchen – jeder meiner Sinne sträubte sich gegen eine Berührung. Aber ich musste es tun, sonst war ich verloren: Die kommende Nacht würde mein Körper ein Bankett für die entsetzlichen Drei bilden. Ich tastete also den ganzen Körper ab, entdeckte aber keine Spur von einem Schlüssel. Dann hielt ich einen Augenblick inne und betrachtete den Grafen. Es lag ein so höhnisches Lächeln auf dem aufgedunsenen Gesicht, dass es mich fast wahnsinnig machte. Diesem Wesen half ich also dabei, nach London überzusiedeln, wo es vielleicht jahrhundertelang unter den sich drängende Millionen von Menschen seine Blutgier befriedigen und einen sich immer weiter vergrößernden Kreis von Halbdämonen schaffen würde, um sie auf die Wehrlosen zu hetzen. Der Gedanke machte mich rasend, und mich überkam eine schreckliche Lust, die Welt von diesem Ungeheuer zu befreien. Eine tödliche Waffe war nicht zur Hand, also ergriff ich eine der Schaufeln, welche die Arbeiter beim Füllen der Kisten benutzt hatten, und holte weit aus, um mit der scharfen Kante in das verhasste Gesicht zu schlagen. Da drehte sich plötzlich der Kopf, und die Augen sahen mich mit der ganzen Glut eines Basilisken4 an. Jähes Entsetzen lähmte mich bei diesem Anblick, die Schaufel zitterte in meinen Händen und fiel kraftlos herunter, riss aber eine klaffende Wunde in die Stirn des Liegenden. Dann rutschte sie quer über die Kiste, und als ich sie wegziehen wollte, riss das Schaufelblatt den Deckel um, der auf die Kiste krachte und das scheußliche Wesen vor meinen Blicken verbarg. Das Letzte, was ich sah, war das aufgedunsene, blutunterlaufene Gesicht und ein starres, höhnisches Lächeln, welches selbst bei den Teufeln der untersten Hölle nicht seinesgleichen finden könnte.

Ich grübelte und grübelte, was ich nun tun sollte, aber mein |80|Gehirn brannte wie Feuer, und ich spürte, wie die Verzweiflung sich meiner bemächtigte. Wie ich so dastand, hörte ich aus der Ferne Zigeunergesang, der immer näher zu kommen schien, und durch den Gesang hindurch das Rollen schwerer Räder und das Knallen von Peitschen – die Slowaken und Szigany, von denen der Graf gesprochen hatte, kamen. Ich warf noch einen raschen Blick auf die Kiste, die den scheußlichen Leib barg, und rannte dann hinauf ins Zimmer des Grafen, entschlossen, hinauszuschlüpfen, sobald die Tür geöffnet werden würde. Angespannt horchte ich und vernahm von unten das kreischende Geräusch eines Schlüssels in einem großen Schloss und das Öffnen eines schweren Tores. Entweder hatten sie da draußen also den Schlüssel zu einer der verschlossenen Türen, oder es gab noch weitere Eingänge. Dann hörte ich das Geräusch vieler stampfender Schritte, die dröhnend in irgendeinem Durchgang verhallten. Ich beeilte mich, wieder hinunter ins Gewölbe zu kommen, wo ich den neuen Eingang finden musste, aber in diesem Augenblick kam ein gewaltiger Windstoß, und die Tür zur Wendeltreppe fiel mit einem furchtbaren Krach zu, sodass der Staub vom Türsturz flog. Als ich hineilte, um sie aufzudrücken, fand ich sie hoffnungslos fest verschlossen. Ich bin von Neuem gefangen, und das Netz des Verderbens zieht sich noch enger um mich zusammen.

Während ich dies schreibe, ist unten im Durchgang der Lärm stampfender Füße zu hören und das Poltern schwerer Lasten, offenbar setzt man die erdgefüllten Kisten um. Jetzt kommt ein Hämmern dazu, das wird die Kiste des Grafen sein, die zugenagelt wird. Nun dröhnen wieder die schweren Schritte durch die Halle, gefolgt von den leichteren der unbeschäftigten Mitläufer.

Das Tor wird geschlossen, die Ketten klirren, dann das Kreischen des Schlüssels im Schlüsselloch. Ich höre, wie er wieder herausgezogen wird, dann öffnet und schließt sich ein anderes Tor, wieder höre ich Schloss und Riegel knarren.

Horch! Im Hof und den Felsweg hinunter das Rollen schwerer |81|Räder, das Knallen von Peitschen und der Gesang der Szigany, der immer weiter in der Ferne verhallt …

Ich bin in der Burg allein mit den furchtbaren Frauen. Oh, was schreibe ich nur: Frauen! Mina ist doch auch eine Frau, aber sie hat nicht das Geringste mit diesen Weibern gemeinsam. Diese sind Teufel aus der Hölle!

Ich werde nicht hier bei ihnen bleiben, ich werde versuchen, die Burgmauer noch tiefer hinunterzuklettern, als ich es bisher getan habe. Und ich werde mir etwas von dem Gold mitnehmen, vielleicht kann ich es noch brauchen. Ich muss einen Ausweg aus diesem scheußlichen Gefängnis finden!

Und dann nach Hause! Fort mit dem nächsten, mit dem schnellsten Zug! Fort von diesem verruchten Ort, aus diesem verwünschten Land, wo der Teufel und seine Kreaturen auf Erden wandeln!

Der Abgrund ist steil und tief, aber besser Gottes Gnade ausgeliefert zu sein als diesen Monstren. Am Fuße des Abgrundes mag ein Mensch seine ewige Ruhe finden – als ein Mensch! Lebt wohl, ihr alle! Mina!