|283|FÜNFZEHNTES KAPITEL

 

Dr. Sewards Tagebuch

(Fortsetzung)

 

Im ersten Augenblick packte mich die Wut; es war ein Gefühl, als hätte er Lucy bei Lebzeiten in meiner Gegenwart geohrfeigt. Ich schlug mit der Faust auf den Tisch, sprang auf und schrie ihn an:

»Van Helsing, sind Sie verrückt geworden?« Er hob den Kopf und sah mich an, der gütige Ausdruck seines Gesichts wirkte augenblicklich besänftigend auf mich ein. »Ich wollte, ich wäre es!«, erwiderte er. »Wahnsinn wäre leicht zu ertragen, verglichen mit einer Wahrheit wie dieser. Mein lieber Freund, warum glauben Sie wohl, mache ich so weite Umwege, warum zögere ich wohl so lange, Ihnen eine so einfache Tatsache zu verkünden? Etwa weil ich Sie hasse und schon immer gehasst habe? Oder weil ich Sie verletzen will? Oder will ich mich, wenn auch spät, dafür revanchieren, dass Sie mich damals vor einem schlimmen Tod gerettet haben? Gewiss nicht!«

»Verzeihen Sie mir«, sagte ich. Er fuhr fort:

»Mein Freund, es geschah, weil ich Ihnen die Wahrheit so schonend wie möglich beibringen wollte, denn ich weiß ja, dass Sie das schöne Mädchen geliebt haben. Auch jetzt erwarte ich noch nicht, dass Sie mir Glauben schenken. Ist es schon schwer, eine abstrakte Wahrheit zu glauben, die man bisher für unmöglich hielt, so ist es noch viel schwerer, eine konkrete Tatsache anzuerkennen, besonders wenn es sich um eine solche handelt, wie ich Sie Ihnen heute von Lucy berichten musste. Heute Nacht werde ich Ihnen den Beweis liefern. Wollen Sie mit mir kommen?«

Die Frage verunsicherte mich, denn für eine scheußliche Wahrheit |284|möchte man eigentlich gar keine Beweise sehen. Byron benennt als Ausnahme für diese Regel einzig den Fall der Eifersucht, die eine schlimme Wahrheit ist, bei der es uns dennoch nach Beweisen verlangt: ›… und er bewies sich selbst die Fakten, die er am meisten verabscheute.‹1

Van Helsing erkannte meine Unentschlossenheit und sagte:

»Die Logik ist in diesem Fall sehr einfach, sie ist nicht die eines Narren im nebligen Sumpf, der von Insel zu Insel springt. Es sieht so aus: Wenn ich mich geirrt haben sollte, dann werden wir durch unsere Feststellung erleichtert sein, jedenfalls wird sie keinen Schaden anrichten. Wenn es aber wahr ist? Dann stehen wir dem Grauen gegenüber, und das Grauen wird mir helfen, meine Sache zu vertreten, denn das Grauen setzt einen gewissen Glauben voraus. Kommen Sie, ich erzähle Ihnen, was ich vorhabe: Zuerst gehen wir ins Hospital und besuchen das Kind. Am North Hospital, wo sich das Kind laut Zeitungsbericht befindet, arbeitet Doktor Vincent. Er ist mein Freund, und ich denke, auch der Ihre, da Sie ja miteinander in Amsterdam bei mir studiert haben. Wenn er uns nicht aus alter Freundschaft den Zutritt gewähren will, dann kommen wir eben als Wissenschaftler. Wir werden ihm nichts weiter sagen, als dass wir aus Gründen der Forschung da sind. Und dann …«

»Und dann?« Er zog einen Schlüssel aus seiner Tasche und hob ihn hoch. »Dann werden wir beide, Sie und ich, eine Nacht auf dem Friedhof verbringen, wo Lucy ruht. Dies ist der Schlüssel zu ihrer Gruft, der Friedhofswärter hat ihn mir für Arthur gegeben.« Ich erschrak bis in die tiefste Seele, denn ich fühlte, dass uns etwas Entsetzliches bevorstand. Da ich nichts zu erwidern wusste, fasste ich mir ein Herz und drängte zur Eile, da der Tag sich schon zu neigen begann …

 

|285|Wir fanden das Kind wach. Es hatte ausreichend geschlafen und gegessen, und es schien ihm den Umständen entsprechend gut zu gehen. Doktor Vincent nahm das Tuch von dem kleinen Hals und zeigte uns die punktartigen Wunden. Es war unmöglich zu leugnen, dass sie mit denen an Lucys Hals große Ähnlichkeit hatten. Sie waren nur etwas kleiner und die Ränder sahen frischer aus, das war alles. Wir fragten Vincent, was er von diesen Wunden hielte, und er erwiderte, dass es Tierbisse wären, zum Beispiel von einer Ratte. Er selbst würde die Wunden jedoch eher einer großen Fledermaus zuschreiben, wie sie häufig in den Höhen nördlich von London vorkommen. »Zwischen so vielen harmlosen Exemplaren«, sagte er, »könnten sich auch einige wilde Exemplare aus dem Süden befinden, die einer gefährlicheren Art angehören. Sie könnten wohl von Segelschiffen eingeschleppt worden und ins Umland entkommen sein. Es ist ebenso nicht unwahrscheinlich, dass ein Jungtier aus dem Zoologischen Garten entflohen ist und sich da draußen fortgepflanzt hat. Sie wissen, solche Dinge können vorkommen. Erst vor zehn Tagen ist ein Wolf ausgebrochen und hat sich, soviel ich weiß, auch in dieser Gegend sehen lassen. Eine Woche später spielten die Kinder auf der Heide und in den Gassen nur noch ›Rotkäppchen‹, bis dann die ›Schöne Lady‹ auftauchte. Selbst dieses kleine Mädchen hier fragte die Pflegerin nach dem Aufwachen, ob sie nicht fortgehen dürfe. Als sie gefragt wurde, warum sie denn fort wolle, sagte sie, sie würde gerne mit der ›Schönen Lady‹ spielen.«

»Ich rate Ihnen«, sagte van Helsing, »den Eltern bei der Entlassung der Kleinen dringend ans Herz zu legen, gut auf sie aufzupassen. Dieser Hang zum Herumstreifen ist höchst gefährlich, denn wenn das Kind erneut auch nur für eine einzige Nacht ausbleibt, so könnte das unabsehbare Folgen haben. Ich nehme aber an, dass Sie es in der allernächsten Zeit nicht entlassen werden?«

»Sicher nicht, frühestens in einer Woche. Vielleicht behalten wir es aber auch länger hier, wenn die Wunde noch nicht geheilt sein sollte.«

|286|Unser Besuch im Hospital nahm mehr Zeit in Anspruch, als wir eingeplant hatten, und die Sonne war schon untergegangen, als wir das Haus verließen. Als van Helsing bemerkte, wie dunkel es bereits war, sage er:

»Es ist zwar später geworden, als ich dachte, aber wir haben keine Eile. Kommen Sie, wir wollen irgendwo essen gehen, bevor wir uns an die Arbeit machen!«

Wir aßen im »Jack Straw’s Castle« in Hampstead Heath, zusammen mit einer Gruppe von Radfahrern und anderen Ausflugsgästen, die sich ziemlich lärmend verhielten. Etwa um zehn Uhr verließen wir das Gasthaus. Es war sehr dunkel, und die vereinzelten Laternen ließen die Dunkelheit nur umso schwärzer erscheinen, wenn man aus ihrem Lichtkreis trat. Der Professor hatte sich den Weg, den wir zu gehen hatten, offenbar gut gemerkt, denn er schritt, ohne zu zögern, voran, während ich vollkommen im Unklaren war, wo wir uns befanden. Je weiter wir hinauskamen, desto seltener wurden die Passanten, sodass wir schließlich überrascht waren, einer berittenen Polizeipatrouille zu begegnen. Endlich erreichten wir die Friedhofsmauer und kletterten hinüber. Nicht ohne Schwierigkeiten – es war sehr finster, und der ganze Platz kam uns so fremd vor – gelangten wir zur Gruft der Familie Westenra. Der Professor nahm den Schlüssel, öffnete das knarrende Tor und ließ mir, indem er mir ganz unbewusst mit seiner gewohnten Höflichkeit Platz machte, den Vortritt. Diese Geste hatte in unserer unheimlichen Situation eine eigentümliche Ironie, denn sie bedeutete ja geradezu das Gegenteil der beabsichtigten Freundlichkeit. Van Helsing folgte mir auf dem Fuß, versicherte sich jedoch zuvor gründlich, dass das Schloss auch ein Öffnen von innen zuließ – andernfalls hätten wir in eine üble Lage geraten können. Nachdem er die Tür vorsichtig zugezogen hatte, kramte er eine Kerze und Streichhölzer aus seinem Koffer hervor und machte Licht. Die Gruft hatte schon am hellen Tag der Beerdigung und im Schmuck der frischen Blumen düster und unheimlich ausgesehen. Jetzt aber, |287|einige Tage später, war es noch fürchterlicher, als man es sich überhaupt ausmalen konnte: Das Weiß der Blumen war rostfarben, und ihr Grün war braun geworden, alles hing schlaff und tot herab. Spinnen und andere Krabbeltiere hatten ihr Reich wieder in Besitz genommen, eine Welt aus von der Zeit verfärbtem Gestein, staubbedecktem Mörtel und rostigem, feuchtem Eisen. Fleckiges Messing und mit Silber überzogene Verzierungen reflektierten schwach unser Kerzenlicht. Die Atmosphäre vermittelte die Erkenntnis, dass nicht nur das Leben, sondern dass einfach alles vergänglich ist.

Van Helsing ging systematisch zu Werke. Er leuchtete mit der Kerze, von der das Wachs in dicken Tropfen herunterfiel, um auf dem kalten Metall der Särge zu erstarren, in der Gruft umher, und las die Inschriften. Endlich hatte er Lucys Sarg gefunden. Wieder suchte er in seinem Koffer und zog einen Schraubendreher hervor.

»Was wollen Sie tun?«, fragte ich.

»Ich will den Sarg öffnen. Sie sollen sich jetzt selbst überzeugen.« Augenblicklich begann er damit, die Schrauben herauszudrehen, worauf er den Deckel abhob, sodass der Innensarg aus Blei sichtbar wurde. Ich konnte seinem Tun kaum noch länger zuschauen; es kam mir so vor, als wäre dies der Toten gegenüber ein ebensolcher Affront, als hätte man der lebenden Lucy im Schlaf die Kleider vom Leib gerissen. Ich packte schließlich seine Hand, um ihn an Weiterem zu hindern, aber er sagte nur: »Sie müssen es sehen!« Dann kramte er wieder in seinem Koffer und brachte eine kleine Säge hervor. Mit einem schnellen, harten Abwärtsschlag des Schraubendrehers stach er ein Loch durch das Blei, sodass ich zusammenzuckte. Das Loch war gerade groß genug für die Spitze seiner kleinen Säge. Ich erwartete einen Strom von Verwesungsgasen, immerhin war der Leichnam im Sarg bereits eine Woche alt. Als Arzt sind mir derartige Gefahren natürlich bekannt, und so zog ich mich vorsichtshalber etwas in Richtung Tür zurück. Der Professor aber unterbrach seine Tätigkeit |288|keinen Augenblick. Er sägte den Bleisarg auf der einen Seite mehrere Fuß lang auf, dann führte er den Schlitz quer hinüber und sägte auf der anderen Längsseite wieder hinunter. Schließlich ergriff er den oberen Rand, bog das Metall zum Fußende des Sarges hin auf, hielt die Kerze in die Öffnung und forderte mich auf hineinzusehen.

Ich trat näher und sah: Der Sarg war leer.

Ich war aufs Äußerste überrascht und erschrocken, aber van Helsing schien völlig unberührt zu sein. Er war sich seiner Sache nun offensichtlich sicherer als je zuvor. »Sind Sie nun zufrieden, Freund John?«, fragte er.

Mich aber packte die Streitlust, und ich antwortete ihm:

»Nun, ich gebe zu, dass Lucys Körper nicht im Sarg liegt. Aber das beweist noch gar nichts, höchstens eine einzige, schlichte Tatsache.«

»Und die wäre?«

»Dass er eben nicht hier ist.«

»Das ist gute Logik«, sagte van Helsing, »doch damit allein kommen Sie zu keinem Resultat. Denn wie erklären Sie sich, wie wollen Sie sich erklären, dass er nicht hier ist?«

»Vielleicht war es ein Leichenräuber«, schlug ich vor, »oder einer der Leute des Bestattungsunternehmens hat die Leiche gestohlen.«2 Ich merkte, dass ich Unsinn sprach, und doch wären dies die einzig plausiblen Erklärungen gewesen. Der Professor seufzte. »Nun gut«, sagte er, »dann brauchen wir eben noch einen Beweis. Kommen Sie mit!«

Er bog das Blei zurück, legte den Sargdeckel wieder auf seinen Platz, packte alle seine Sachen zusammen und schob sie in den Koffer. An der Tür blies er die Kerze aus, wir öffneten und gingen hinaus. Er schloss sorgfältig ab und reichte mir den Schlüssel, |289|wobei er sagte: »Wollen Sie ihn nicht an sich nehmen? Dann könnten Sie umso sicherer sein.« Ich lachte ein wenig heiteres Lachen und bat ihn, den Schlüssel zu behalten. »Ein Schlüssel bedeutet gar nichts«, sagte ich, »es könnte ja Duplikate davon geben. Außerdem ist es keine Kunst, ein Schloss wie dieses hier zu öffnen.« Er erwiderte nichts, sondern steckte den Schlüssel ein. Dann gab er mir den Auftrag, auf dieser Seite des Friedhofes Wache zu halten, während er das Gleiche auf der anderen Seite tun wollte. Ich suchte mir einen Platz hinter einer Eibe aus und sah zu, wie seine dunkle Gestalt allmählich hinter den Grabsteinen und Bäumen verschwand.

Es war eine einsame Nachtwache. Kurz nachdem ich meinen Posten bezogen hatte, hörte ich eine ferne Uhr zwölf schlagen. Dann schlug es eins, dann zwei. Ich fror, war nervös und ärgerte mich über den Professor, dass er mich zu solch einem Unsinn mitgeschleppt hatte, und über mich selbst, dass ich mitgegangen war. Die Kälte und die Müdigkeit machten es mir schwer, aufmerksam zu beobachten; ich war aber andererseits auch noch nicht schläfrig genug, um ohne Weiteres einer Sinnestäuschung zu erliegen. So verbrachte ich hinter meinem Baum eine trostlose, erbärmliche Zeit.

Plötzlich, als ich mich gerade umdrehen wollte, meinte ich auf der mir entgegengesetzten Seite des Friedhofes zwischen zwei dunklen Eiben einen weißen Streifen zu erkennen, der sich zu bewegen schien. Zur gleichen Zeit löste sich von der Seite her, wo der Professor gestanden hatte, eine Gestalt aus dem Schatten und eilte auf das Weiße zu. Auch ich versuchte nun, näher heranzukommen, aber ich hatte Grabsteine und eingezäunte Grüfte zu umgehen, und ich stolperte über Grabhügel. Der Himmel war bedeckt, und irgendwo weit draußen krähte bereits ein früher Hahn. Dann sah ich unweit von mir eine weiße Gestalt, die sich hinter einer Reihe von Wacholdersträuchern, die den Weg zur Friedhofskapelle säumten, in Richtung der Westenra-Gruft zu bewegen schien. Die Gruft selbst war von Bäumen verdeckt, |290|sodass ich nicht erkennen konnte, wo die Gestalt verschwand. Aus der Richtung, wo ich die Gestalt zuerst hatte auftauchen sehen, drangen nun auch Geräusche, und wie ich darauf zuging, kam mir der Professor entgegen, in seinen Armen trug er ein schlafendes kleines Kind. Als er mich erblickte, hielt er mir das Kind entgegen und sagte:

»Sind Sie nun zufrieden?«

»Nein!«, sagte ich in ziemlich verletzendem Ton, der mir selbst auffiel.

»Ja sehen Sie denn dieses Kind hier nicht?«

»Allerdings, das ist ein Kind, aber wer hat es hierher gebracht? Und ist es denn verletzt?«, fragte ich.

»Wir wollen sehen«, erwiderte der Professor. Gemeinsam verließen wir den Friedhof, das Kind schlief in seinen Armen.

Nachdem wir ein Stück gegangen waren, begaben wir uns in den Schutz einer Baumgruppe und untersuchten beim Schein eines Streichholzes die Kehle des Kleinen. Sie zeigte nicht die geringste Wunde oder Schramme.

»Und, hatte ich recht?«, fragte ich triumphierend.

»Wir sind also gerade noch rechtzeitig gekommen«, sagte der Professor dankbar.

Wir mussten uns nun überlegen, was mit dem Kind geschehen sollte. Wenn wir es auf einer Polizeiwache abgegeben hätten, wäre es nötig geworden, über unsere nächtliche Exkursion Auskunft zu geben, zumindest hätten wir eine Geschichte erfinden müssen, wie wir zu dem Kind gekommen waren. Das behagte uns nicht, und so beschlossen wir, es mit in die Heide zu nehmen, um es dann, wenn wir einen berittenen Polizisten kommen hörten, so abzulegen, dass er es keinesfalls übersehen konnte. Dann wollten wir so rasch wie möglich den Heimweg antreten. Alles gestaltete sich zu unserer Zufriedenheit: Schon am Rande von Hampstead Heath vernahmen wir die schweren Hufschläge einer Patrouille. Wir legten das Kind also auf den Weg und warteten, bis es der Polizist im Schein seiner hin- und herschwankenden |291|Laterne entdeckt hatte. Seinen lauten Ruf des Erstaunens hörten wir noch, dann schlichen wir geräuschlos fort. Ein willkommener Zufall wollte es, dass wir in der Nähe des »Spaniards«3 eine Kutsche antrafen, die uns zurück in die Stadt brachte.

Ich kann nicht schlafen, also habe ich diese Aufzeichnungen gemacht. Dennoch muss ich jetzt um jeden Preis versuchen, ein paar Stunden zu ruhen, weil mich van Helsing morgen Mittag wieder abholen will. Er besteht darauf, dass ich ihn auf einer weiteren Expedition begleite.

 

27. September

Es war zwei Uhr nachmittags geworden, bis wir eine günstige Gelegenheit für unser Vorhaben gefunden hatten. Das für die Mittagsstunde angesetzte Begräbnis war vorüber, und auch die letzten Nachzügler unter den Trauergästen hatten sich zerstreut. Aus einem Versteck hinter eine Gruppe von Erlen heraus beobachteten wir, wie der Friedhofswärter das Gitter hinter den Gästen zusperrte – wir wussten nun, dass wir, wenn es nötig sein sollte, bis zum Morgen freie Hand hatten. Der Professor hatte mir allerdings vorab versichert, dass wir höchstens eine Stunde benötigen würden. Wieder empfand ich die erschreckende Realität des Geschehens in einer Intensität, wie sie die Fantasie niemals erreicht. Auch machte ich mir die strafrechtlichen Folgen klar, mit denen wir bei Entdeckung unseres frevelhaften Werks zu rechnen hatten. Nebenbei gesagt, hielt ich die Sache für vollkommen zwecklos. War es schon empörend genug, ein Grab zu öffnen, um nachzusehen, ob ein vor einer Woche verstorbenes Mädchen wirklich tot sei, so erschien es mir als der Gipfel des Irrsinns, dasselbe Grab noch einmal zu öffnen, obwohl wir uns bereits durch eigenen Augenschein davon überzeugt hatten, dass der Sarg leer war. Ich zuckte daher nur die Schultern, schwieg aber, denn van Helsing hatte seine eigene Art zu handeln, ohne |292|Rücksicht darauf, ob man ihm widersprach. Er nahm den Schlüssel, öffnete das Gewölbe und ließ mich wieder in höflicher Weise vorangehen. So grauenhaft wie in der Nacht zuvor erschien mir der Ort nicht mehr, als der Sonnenschein hereinfiel, dafür aber unsagbar traurig. Van Helsing ging gleich auf Lucys Sarg zu, und ich folgte ihm. Er nahm den Deckel ab, beugte sich nieder und bog erneut das ausgeschnittene Blei zurück. Mich durchfuhr ein Schock der Überraschung und Bestürzung:

Da lag Lucy, und sie sah ganz zweifellos genauso aus, wie wir sie in der Nacht vor ihrer Beerdigung gesehen hatten. Sie schien sogar, wenn dies denn möglich gewesen wäre, von noch strahlenderer Schönheit zu sein, und es war mir unfassbar, dass sie tot sein sollte. Ihre Lippen waren rot, röter als ich sie je bei ihr gesehen hatte, und auch auf ihren Wangen lag ein rosiger Schimmer.

»Ist das irgendein Trick?«, fragte ich.

»Überzeugt Sie das hier?«, gab der Professor als Antwort zurück, wobei er mit einer Hand die Lippen der Toten in die Höhe zog und mir die weißen, spitzen Zähne zeigte, dass mich schauderte.

»Sehen Sie«, fuhr er fort, »sehen Sie doch nur, sie sind noch spitzer geworden! Mit diesen beiden hier«, er berührte einen der Eckzähne und den gegenüberliegenden, »könnten die Kinder wohl gebissen worden sein. Glauben Sie es nun, Freund John?« Aber immer noch war Widerspruchsgeist in mir, denn ich wollte einen derartigen Gedanken, wie er ihn mir aufzuzwingen versuchte, nicht akzeptieren. Ich brachte also ein letztes Argument vor, das mir aber schon im Moment des Sprechens selbst peinlich war:

»Sie könnte ja doch heute Nacht wieder hierher zurückgebracht worden sein.«

»Glauben Sie das wirklich? Wer sollte das denn getan haben?«

»Das kann ich nicht sagen, aber irgendjemand muss es gewesen sein.«

»Und dies: Jetzt ist sie doch schon eine Woche tot. Welche |293|Leiche sieht nach dieser Zeit wohl noch so aus?« Darauf hatte ich allerdings keine Antwort mehr, ich schwieg. Van Helsing schien mein Schweigen nicht zu bemerken, denn er zeigte weder Verdruss noch Triumph. Er sah gespannt auf das Gesicht des toten Mädchens. Von Zeit zu Zeit hob er ihre Lider hoch und blickte in ihre Augen, öffnete dann wieder ihren Mund und betrachtete die Zähne. Schließlich wandte er sich zu mir und sagte:

»Hier ist etwas, das von allem bisher Bekannten abweicht; hier ist eine Art Doppelleben, das ungewöhnlich ist. Sie wurde vom Vampir gebissen, als sie in Trance war, als sie schlafwandelte. Oh, Sie sind erstaunt, das wussten Sie nicht, Freund John? Macht nichts, Sie werden später noch alles darüber erfahren. Wenn sie im Trancezustand war, war es für ihn jedenfalls immer am leichtesten, ihr das Blut auszusaugen. In Trance starb sie, und in Trance liegt sie hier als Untote. Das unterscheidet sie von allen anderen. Gewöhnlich, wenn die Untoten zu Hause schlafen« – er beschrieb mit dem Arm einen großen Kreis, um anzudeuten, was für die Untoten das Zuhause sei –, »zeigt ihr Gesicht das an, was sie sind. Aber dieses süße Geschöpf kehrt, wenn es nicht gerade untot ist, in die Formen einer gewöhnlichen Toten zurück. Sehen Sie, es liegt kein Zug von Bosheit auf ihrem Gesicht, deshalb fällt es mir auch so furchtbar schwer, sie in ihrem Schlaf töten zu müssen.« Es überlief mich kalt bei diesen Worten, und langsam fühlte ich die Bereitschaft in mir aufsteigen, van Helsings Theorien zu akzeptieren. Und wenn sie bereits tot war, so war es ja eigentlich gar nicht so entsetzlich, sie erneut zu töten … Der Professor sah mich an und erkannte in meinem Gesicht offenbar den Kampf, den ich austrug, denn er sagte fast erfreut:

»Nun, glauben Sie jetzt endlich?«

Ich antwortete: »Verlangen Sie nicht allzu viel auf einmal von mir. Ich bin ja bereit, mich Ihrer Auffassung anzuschließen. Wie wollen Sie dieses blutige Werk vollbringen?«

»Ich werde ihr den Kopf abschneiden, den Mund mit Knoblauch füllen und ihr dann einen Pfahl durch den Leib hämmern.« |294|Der Gedanke, dass der Körper des Mädchens, das ich so geliebt hatte, in dieser Weise verstümmelt werden würde, erregte tiefstes Grauen in mir. Und dennoch war dieses Gefühl nicht so übermächtig, wie ich eigentlich erwartet hatte, denn ich begann mich tatsächlich in der Nähe dieses Wesens, dieser Untoten, wie van Helsing sie nannte, unbehaglich zu fühlen und sie zu verabscheuen. Ist es möglich, dass Liebe entweder ganz subjektiv oder ganz objektiv ist?

Ich wartete eine ganze Weile, dass van Helsing endlich beginnen würde, aber er stand nur wie in Gedanken versunken da. Plötzlich jedoch ließ er das Schloss seines Koffers wieder zuschnappen und sagte:

»Ich habe gerade nachgedacht, wie es wohl am besten wäre. Wenn ich einfach meinem Wunsch folgen könnte, so würde ich jetzt gleich das tun, was schließlich einmal getan werden muss, aber es gibt auch noch andere Dinge zu berücksichtigen. Dinge, die tausendmal mehr Schwierigkeiten in sich bergen, als wir uns vorstellen. Dies hier ist einfach: Sie hat bis jetzt noch kein Leben vernichtet, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Jetzt zu handeln, würde also bedeuten, ihre Opfer endgültig vor dem Tod zu bewahren. Aber täten wir es, was sollten wir dann Arthur sagen, dem es nicht verborgen bleiben kann? Hier wird es kompliziert: Wie sollten wir ihm unser Tun plausibel machen, wenn selbst Sie Ihren Sinnen nicht trauen, der Sie die Wunden an Lucys Kehle und die ähnlichen Wunden am Hals des Kindes im Hospital gesehen haben? Sie haben den Sarg letzte Nacht leer und jetzt mit einem Mädchen darin vorgefunden, das acht Tage nach dem Tod keine andere Veränderung aufweist, als dass es noch rosiger und noch schöner geworden ist. Sie haben letzte Nacht die weiße Gestalt gesehen, die ein Kind zum Friedhof getragen hat. Wie können wir von Arthur, der nichts von all diesen Dingen weiß, erwarten, dass er uns Glauben schenkt? Er misstraute mir schon damals, als ich ihn wegriss, da er seine sterbende Braut küssen wollte. Ich weiß, er hat mir das verziehen, weil er damals meinte, |295|es wäre nur ein Irrtum meinerseits gewesen. Töten wir sie aber hier und jetzt, so steht zu befürchten, dass er sich ausmalt, wir hätten das Mädchen zuerst aufgrund eines medizinischen Irrtums lebendig begraben lassen, um sie Tage später dann wirklich zu töten, und zwar wieder aufgrund einer für ihn irrigen Idee. Wir und unsere irren Ideen wären für ihn die Mörder seiner Braut, und er würde niemals Ruhe finden, könnte seiner Sache nie sicher sein. In schrecklichen Träumen würde er sich die Qualen ausmalen, welche die, die er liebte, als lebendig Begrabene erleiden musste. Die Alternative ist: Er sieht von selbst ein, dass wir recht haben, dass seine Braut eine Untote ist. – Nein, jetzt, da ich endgültig weiß, dass alles wahr ist, bin ich hunderttausendmal mehr der Überzeugung, dass auch er durch die bitteren Wasser muss, wenn er zur Quelle der Klarheit und Ruhe gelangen will. Erst muss er eine Stunde durchleben, in der er an Gott und an der Welt verzweifelt, dann können wir unser gutes Werk fortsetzen und ihm endlich Ruhe verschaffen. Ich bin zu allem bereit! Lassen Sie uns nun gehen. Sie werden heute Abend in Ihre Anstalt zurückkehren und dort nach dem Rechten sehen. Was mich betrifft, so werde ich die Nacht hier auf dem Friedhof verbringen, ich habe nämlich noch Verschiedenes zu tun. Morgen Abend zehn Uhr bitte ich Sie, mich im »Berkeley Hotel« abzuholen. Ich werde auch Arthur bitten, zu kommen, ebenso den jungen Amerikaner, der sein Blut hergegeben hat. Bis Piccadilly komme ich jetzt mit Ihnen, um zu Abend zu essen, dann aber muss ich wieder hier sein, bevor die Sonne untergeht.«

Wir verschlossen also die Gruft, kletterten über die Friedhofsmauer, was kein Problem darstellte, und fuhren nach Piccadilly.

 

|296|Notiz von van Helsing in seinem Handkoffer im Berkeley

Hotel hinterlassen, adressiert an Dr. John Seward

(nicht verschickt)

 

27. September

Lieber Freund John,

ich schreibe dies für den Fall, dass etwas Unvorhergesehenes passieren sollte. Ich gehe alleine auf den Friedhof, um dort Wache zu halten. Ich habe mir nämlich in den Kopf gesetzt, die Untote Miss Lucy heute Nacht am Verlassen ihres Grabes zu hindern, damit sie morgen Nacht umso gieriger ist. Dazu werde ich einige ihr verhasste Sachen, nämlich Knoblauch und Kruzifix, vor die Tür der Gruft legen, diese also gewissermaßen versiegeln. Sie hat als Untote noch wenig Erfahrung und wird sich abschrecken lassen. Nebenbei gesagt hilft so etwas nur, das Hinausgehen zu verhindern. Die Rückkehr ins Grab ließe sich so nicht aufhalten, denn in einem solchen Fall wird der Untote rabiat und dringt am Punkt des geringsten Widerstandes um jeden Preis durch. Ich werde die ganze Nacht, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang, vor Ort sein, und wenn es etwas dazuzulernen gibt, so werde ich es lernen. Für Miss Lucy oder auch vor ihr habe ich keine Angst, aber jener andere, dem sie ihren Zustand zu verdanken hat, hat ebenfalls die Fähigkeit, ihre Gruft zu finden und sich dort zu verstecken. Er ist schlau, ich weiß das von Jonathan. Aber auch wir haben das schon reichlich erfahren, als er mit uns sein Spiel spielte, dessen Preis Lucys Leben war, und das wir verloren haben. Die Untoten sind auf viele Arten stark, unser Feind hat die Kraft von zwanzig Männern in seinen Armen, ja sogar unsere eigenen Kräfte besitzt er nun, da wir sie für Miss Lucy gegeben haben. Außerdem kann er über Wölfe, und wer weiß über was noch alles, verfügen. Wenn er nun wirklich heute Nacht kommen sollte, so wird er mich finden, aber niemanden sonst. Es kann aber auch sein, dass er diesen Platz nicht aufsucht, denn eigentlich hat er gar keinen Grund dazu – sein Jagdgebiet ist so unvergleichlich reicher an Beute als dieser einsame |297|Friedhof, wo nur eine untote Frau schläft und ein alter Mann wacht.

Dies nur für alle Fälle: Nehmen Sie die beiliegenden Papiere, Harkers Tagebuch und die anderen Aufzeichnungen an sich und lesen Sie alles! Danach gehen Sie auf die Suche nach dem großen Untoten, und wenn Sie ihn gefunden haben, so schneiden Sie ihm den Kopf ab, verbrennen sein Herz oder durchbohren es mit einem Pfahl, damit die Welt Ruhe vor ihm habe.

Wenn es so kommen sollte, so leben Sie wohl!

van Helsing

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

28. September

Es ist unglaublich, was eine Nacht gesunden Schlafes für Wunder wirkt! Gestern noch war ich nahe daran, van Helsings ungeheuerliche Theorien anzunehmen, nun aber, im hellen Tageslicht, erkenne ich in ihnen deutlich eine Beleidigung des gesunden Menschenverstandes. Ich habe allerdings keinen Zweifel, dass er selbst fest daran glaubt, vielleicht ist sein Verstand ja in irgendeiner Weise geschädigt? Denn natürlich muss es eine rationale Erklärung für all diese mysteriösen Dinge geben. Ist es vielleicht möglich, dass der Professor das alles selbst verursacht hat? Er ist schließlich von so außergewöhnlicher Klugheit, dass sein Verstand eine derartige fixe Idee auf brillante Art und Weise auszuführen imstande wäre, auch wenn er sich selbst darüber abhanden kommen sollte. Aber ich bin abgeneigt, dies anzunehmen, denn zu glauben, dass van Helsing wahnsinnig sei, wäre ein ebenso großes Wunder wie die erwiesene Wahrheit seiner Theorien. Wie dem auch sei, ich muss ihn im Auge behalten. Vielleicht kann ich ja etwas Licht in das Geheimnis bringen.

 

|298|29. September, morgens

Gestern Abend begab ich mich kurz von zehn mit Arthur und Quincey in van Helsings Hotel. Der Professor sagte zu uns, dass er unser aller Mithilfe bedürfe, wandte sich aber hauptsächlich an Arthur, gleichsam als sei unser aller Wille in dem seinen konzentriert. Er sagte zuerst, er hoffe, dass wir ihn ohne Ausnahme begleiteten, denn es gelte, eine schwere Pflicht zu erfüllen. »Sie waren wahrscheinlich sehr erstaunt über meinen Brief?« – Diese Frage war direkt an Lord Godalming gerichtet.

»Allerdings«, antwortete dieser. »Er hat mich sogar etwas verärgert. Es ist in der letzten Zeit immerhin so viel Ungemach über mein Haus hereingebrochen, dass ich recht gut auf Weiteres verzichten kann. Trotzdem bin in neugierig geworden und wollte wissen, was Sie eigentlich meinen. Quincey und ich plauderten darüber, aber je mehr wir plauderten, desto rätselhafter wurde uns die Sache, sodass ich jetzt getrost sagen kann, ich verstehe überhaupt nichts mehr.«

»Ich auch nicht«, ließ sich Quincey lakonisch vernehmen.

»Oh«, sagte der Professor, »dann sind Sie beide dem Anfang des Verstehens näher als unser Freund John hier, der erst einmal einen langen Weg zurückgehen muss, um wieder von vorn beginnen zu können.«

Offenbar erkannte er, ohne dass ich ein Wort darüber gesagt hatte, meinen Rückfall in die skeptische Grundhaltung. Dann sagte er, wieder an die beiden anderen gerichtet, mit eindringlichem Ernst:

»Ich erbitte Ihre Erlaubnis, heute Nacht tun zu dürfen, was ich für richtig halte. Es ist, das weiß ich wohl, sehr viel verlangt. Wenn Sie erst wissen, was zu tun ich vorhabe, dann werden Sie begreifen, wie viel ich verlange. Genau deshalb muss ich auch vorab Ihr Wort erbitten, blanko und blindlings, sozusagen. Damit Sie sich selbst nicht nachher, wenn Sie mir eine Zeit lang zürnen werden – ich verhehle mir keineswegs die Möglichkeit, dass dieser Fall eintritt – über irgendetwas Vorwürfe machen.«

|299|»Das ist offen gesprochen«, meldete sich Quincey. »Ich verbürge mich für den Professor. Ich begreife zwar seine Beweggründe nicht, aber ich kann beschwören, dass er es ehrlich meint. Und das genügt mir vollkommen.«

»Ich danke Ihnen!«, sagte van Helsing stolz. »Es ist mir eine Ehre, Sie zu meinen Freunden zählen zu dürfen. Ihr Vertrauen tut mir wohl!« Er reichte Quincey seine Hand, die dieser ergriff und drückte.

Dann sprach Arthur:

»Dr. van Helsing, ich liebe es im Allgemeinen nicht, die Katze im Sack zu kaufen, und wenn es etwas ist, das meiner Ehre als Gentleman und meinem christlichen Glauben zuwiderläuft, so kann ich das Versprechen nicht geben. Wenn Sie mir aber versichern können, dass keines von beiden durch das, was Sie vorhaben, verletzt wird, so gebe ich Ihnen sofort meine Zustimmung, auch wenn ich nicht verstehe, worauf Sie hinauswollen.«

»Ich nehme Ihre einschränkenden Bedingungen an«, erwiderte van Helsing. »Alles, was ich von Ihnen fordere, ist, dass Sie jede meiner Handlungen, die Sie verdammen zu müssen glauben, erst genau betrachten und sie daraufhin prüfen, ob sie im Widerspruch zu Ihren Anschauungen steht.«

»Einverstanden«, sagte Arthur, »das ist fair. Und nun, da die Einleitung vorüber, darf ich Sie fragen, was wir unternehmen werden?«

»Ich möchte, dass Sie mit mir kommen, und zwar im Geheimen, auf den Friedhof von Kingstead.«

Arthur wurde bleich, und er fragte verstört:

»Wo die arme Lucy begraben liegt?« Der Professor nickte. Arthur fragte weiter: »Und wenn wir dort sind?«

»Dann steigen wir in die Gruft hinab.« Arthur stand auf.

»Professor, sprechen Sie im Ernst, oder ist das irgendein ungeheuerlicher Scherz? Verzeihen Sie, ich sehe, dass Sie es vollkommen ernst meinen.« Er setzte sich wieder, aber ich erkannte, dass er eine feste, stolze Miene aufsetzte wie einer, der seine |300|Würde behaupten will. Es entstand eine kleine Pause, bis er weiter fragte:

»Und wenn wir in der Gruft sind?«

»Dann öffnen wir den Sarg.«

»Das ist zu viel!«, rief Arthur, empört aufspringend. »Ich bin gern bereit, in allen Dingen, die nur einen Schein von Vernunft haben, zu folgen, aber eine Schändung des Grabes des Mädchens, das ich …« Die Stimme versagte ihm vor Entrüstung. Der Professor sah ihn mit aufrichtigem Mitleid an.

»Wenn ich Ihnen diese Pein ersparen könnte, mein lieber Freund«, sagte er, »weiß Gott, ich würde es tun. Aber heute Nacht müssen wir alle auf Dornenpfaden wandeln, oder die, die Sie so geliebt haben, wird später und für alle Ewigkeit durch Flammen schreiten müssen.«

Arthur blickte ihn bleich, aber entschlossen an und sagte:

»Nehmen Sie sich in acht, Sir, nehmen Sie sich in acht!«

»Wäre es nicht besser, Sie würden sich anhören, was ich noch zu sagen habe?«, erwiderte van Helsing. »Denn dann erst werden Sie die Tragweite dessen begreifen, was ich vorhabe. Darf ich fortfahren?«

»Dagegen ist nichts einzuwenden«, warf Quincey ein.

Nach einer kurzen Pause sprach van Helsing weiter, offenkundig unter Mühen:

»Miss Lucy ist tot, nicht wahr? Nun, dann kann ihr also nichts mehr geschehen. Wenn sie aber nicht tot sein sollte …«

Arthur sprang auf.

»Bei Gott«, schrie er. »Was wollen Sie damit sagen? Ist irgendein Versehen vorgekommen, ist sie lebendig begraben worden?« Er stöhnte hörbar vor Qual.

»Ich habe nicht gesagt, dass sie lebt, mein Junge, daran ist gar nicht zu denken. Ich sage nichts weiter, als dass sie vielleicht untot sein könnte.«

»Untot … nicht am Leben! Was soll das heißen? Ist das ein Albtraum, oder was ist das hier?«

|301|»Es gibt Geheimnisse, über die die Menschen nur rätseln können, Mysterien, von denen ein jedes Zeitalter nur eine bestimmte Seite erkennt. Glauben Sie mir, einem solchen sind wir hier auf der Spur. Doch ich bin noch nicht fertig: Darf ich der toten Miss Lucy das Haupt abschneiden?«

»Himmel und Hölle, nein!«, schrie Arthur in einem Sturm von Leidenschaft. »Um nichts in der Welt werde ich in eine Verstümmelung ihres toten Leibes einwilligen! Dr. van Helsing, Sie überspannen den Bogen. Was habe ich Ihnen getan, dass Sie mich so quälen? Was hat Ihnen das gute Mädchen getan, dass Sie sie noch im Grabe schänden wollen? Sind Sie wahnsinnig, dass Sie solche Sachen aussprechen, oder bin ich es, dass ich mir so etwas auch nur anhöre? Wagen Sie es nicht, an ein derartiges Sakrileg auch nur zu denken! Ich verweigere meine Zustimmung zu allem, was Sie vorhaben! Ich habe die Pflicht, ihr Grab vor jeder Ruhestörung zu schützen, und bei Gott, das werde ich auch!«

Van Helsing erhob sich von seinem Platz, auf dem er die ganze Zeit über ruhig gesessen hatte, und sagte ernst und traurig:

»Verehrter Lord Godalming! Auch ich habe eine Pflicht zu erfüllen, eine Pflicht gegen andere, eine Pflicht gegen Sie, eine Pflicht gegen die Tote. Und bei Gott: Auch ich werde sie erfüllen! Alles, worum ich Sie vorerst bitte, ist, dass Sie mit mir kommen, sehen und hören. Und wenn ich dann noch einmal denselben Vorschlag unterbreite und Sie selbst ihn nicht noch stärker befürworten, als ich es jetzt tue, nun … dann werde ich dennoch meine Schuldigkeit tun, ganz gleich, was Sie davon halten. Natürlich werde ich Euer Lordschaft danach jederzeit für Genugtuung zur Verfügung stehen, wann, wo und auf welche Weise Sie es wünschen!« Hier zitterte seine Stimme leicht, und er fuhr im veränderten Ton voller Mitleid fort:

»Aber ich bitte Sie, gehen Sie jetzt nicht im Zorn von mir fort. In meinem langen Leben hatte ich oft Pflichten zu erfüllen, die gewiss nicht angenehm zu erfüllen waren und die mir fast das Herz zerrissen haben. Aber niemals ist mir etwas schwerer gefallen als |302|das, was ich jetzt tun muss. Glauben Sie mir, wenn die Zeit kommt, da Sie mich verstehen werden, wird mir ein Blick von Ihnen genügen, um die Erinnerung an diese traurigen Stunden zu verwischen. Denn dann habe ich getan, was in menschlicher Macht steht, um das Leid von Ihnen abzuwenden. Bitte denken Sie einmal darüber nach: Warum wohl mache ich mir selbst so viel Arbeit, bereite mir so viel Schmerz? Ich bin aus fernem Land hierhergekommen, um mein Bestes zu tun. Anfänglich, um meinem Freund John gefällig zu sein, dann aber, um einem guten, jungen Mädchen zu helfen, das ich ja selbst lieben gelernt habe. Für sie habe ich – ich schäme mich, es einzugestehen, aber es geschieht nur in der besten Absicht – das gegeben, was Sie alle gaben, das Blut aus meinen Adern. Ich gab es, obgleich ich nicht wie Sie ihr Bräutigam war, sondern nur ihr Freund und Arzt. Ich schenkte ihr meine Tage und Nächte vor ihrem Tod und nach ihrem Tod. Und wenn ihr jetzt noch mein eigener Tod etwas nützen könnte, wenn sie dadurch keine tote Untote mehr sein müsste, so wollte ich gerne auch mein Leben für sie geben.« Er sagte das alles mit einem ernsten, schönen Stolz, und Arthur war sichtlich gerührt. Er ergriff die Hand des alten Mannes und sagte mit erstickter Stimme:

»Oh, es ist hart, daran zu denken, und ich begreife das alles nicht, aber ich werde mit Ihnen kommen und sehen.«