|379|ZWANZIGSTES KAPITEL

 

Jonathan Harkers Tagebuch

 

1. Oktober, abends

Ich traf Thomas Snelling in seinem Haus in Bethnal Green an, leider war er aber nicht in der Verfassung, sich an irgendetwas zu erinnern. Allein die Aussicht auf ein Bier, die ihm mein angemeldeter Besuch eröffnet hatte, war schon zu viel für ihn gewesen, und er hatte sich im Voraus bereits allzu viel gegönnt. Von seiner Frau – eine anständige, arme Seele, wie es scheint – konnte ich aber erfahren, dass Snelling eigentlich nur der Assistent von Smollet ist, welcher in diesem Team die Verantwortung trägt. So machte ich mich also nach Walworth auf und fand auch Mr. Smollet zu Hause vor. Er saß in Hemdsärmeln und trank seinen Tee aus einer Untertasse. Smollet ist ein ordentlicher, intelligenter Mann und wohl auch ein ausgesprochen guter und zuverlässiger Arbeiter mit einem eigenen Kopf. Er erinnerte sich sehr genau an den Vorfall mit den Kisten und gab mir anhand eines wundervoll eselsohrigen Notizbuches, das er aus einer versteckten, eigentümlichen Gesäßtasche zog und das mit halb verwischten Hieroglyphen aus dicken Bleistiftstrichen gefüllt war, Auskunft über den Bestimmungsort ihres Transportes. Er sagte, dass sie von den Kisten aus Carfax sechs nach 197 Chicksand Street, Mile End New Town, und weitere sechs nach Jamaica Lane, Bermondsey, gebracht hätten. – Wenn der Graf also vorhatte, seine unheimlichen Zufluchtsstätten über ganz London zu verbreiten, so waren dies offenbar die ersten Zwischenlager, um die Kisten von hier aus dann weiterzuverteilen. Die systematische Art, in der er vorging, brachte mich zu der Überzeugung, dass er jedenfalls nicht daran dachte, sich nur auf zwei |380|Teile Londons zu beschränken. Bis jetzt war er an den äußersten Osten des nördlichen, an den Osten des südlichen Randes und an den Süden gebunden. Den Norden und den Westen der Stadt hatte er aber sicher nicht aus seinen teuflischen Plänen ausgeklammert, noch viel weniger wohl die City selbst und das Herz des vornehmen London im Westen und Südwesten! – Ich wandte mich daher noch einmal an Smollet und fragte ihn, ob vielleicht noch weitere Kisten aus Carfax abgeholt worden seien.

Er antwortete:

»Nun, Sir, Sie haben mich so freundlich bedient« – ich hatte ihm einen halben Sovereign gegeben –, »da werde ich Ihnen alles sagen, was ich weiß. Ich hörte einen Mann namens Bloxam vor vier Tagen im »Hare’n’Hounds« in der Pincher’s Alley erzählen, dass er eine recht staubige Arbeit in einem alten Haus in Purfleet verrichtet habe. Sehr oft kommen solche Aufträge in dieser Gegend ja nicht vor, ich glaube also, dass Sam Bloxam Ihnen vielleicht einiges dazu erzählen kann.« Ich bat ihn, mir zu sagen, wo ich den Mann wohl finden könnte, und fügte hinzu, dass mir die genaue Adresse wohl einen weiteren halben Sovereign wert wäre. Er stürzte daraufhin den Rest seines Tees hinunter, stand auf und erklärte, er wolle sich augenblicklich auf die Suche machen. An der Tür drehte er sich aber wieder um und sagte:

»Schauen Sie, Sir, es hat ja überhaupt keinen Sinn, dass Sie hier warten. Entweder finde ich Sam, oder ich finde ihn nicht, wahrscheinlich wird er aber um diese Stunde sowieso nicht mehr in der Verfassung sein, Ihnen viel erzählen zu können – Sam bechert nämlich sehr gerne. Geben Sie mir einen Umschlag mit einer Marke und Ihrer Adresse drauf, dann finde ich für Sie Sams Aufenthaltsort heraus und sende Ihnen die Nachricht noch heute Nacht. Aber seien Sie darauf gefasst, dass Sie morgen sehr früh los müssen, um ihn zu erwischen. Sam ist nämlich ein Frühaufsteher, ganz gleich, wieviel er die Nacht zuvor gefeiert hat.«

Das schien mir zweckmäßig zu sein, und so machte sich eines seiner Kinder mit einem Penny auf den Weg, um einen Bogen |381|Papier nebst Umschlag zu holen; das Restgeld sollte ihm gehören. Als das Kind zurückkam, adressierte ich den Umschlag, frankierte ihn und machte mich schließlich, nachdem Smollet mir versprochen hatte, die gefundene Adresse sofort abzuschicken, auf den Heimweg. Wir sind auf der Fährte! Ich bin müde heute, und ich muss schlafen. Mina schläft fest, sie ist ein wenig zu blass, und ihre Augen sehen aus, als hätte sie geweint. Die Ärmste, ich habe keinen Zweifel daran, dass es sie quält, im Dunkeln gelassen zu werden. Wahrscheinlich ist sie deswegen sogar doppelt so besorgt um mich und die anderen. Und doch ist dies das Beste; besser, sie ist auf diese Art enttäuscht und besorgt, als dass Ihr Gemüt ernsthaften Schaden nimmt. Die Ärzte hatten ganz recht, darauf zu bestehen, dass sie aus dieser entsetzlichen Geschichte herausgehalten wird, und ich muss standhaft sein, denn auf mir lastet diese Schweigepflicht besonders schwer. Ich darf unter keinen Umständen über diese Dinge mit ihr sprechen. Vielleicht wird das aber auch gar nicht so schwierig, denn Mina selbst ist zu diesem Thema äußerst zurückhaltend geworden und hat den Grafen und seine Untaten nicht einmal mehr erwähnt, seit wir unsere Entscheidung getroffen hatten.

 

2. Oktober, abends

Ein langer, ermüdender, aufregender Tag. Mit der ersten Post erhielt ich den von mir adressierten Umschlag, in dem ein schmutziger Zettel lag. Darauf stand, von einer ungefügen Hand mit einem Zimmermannsstift geschrieben:

»Sam Bloxam, Korkrans, 4, Poters Cort, Bartel Street, Walworth. Fragin Se nachm Vertreta.«

Ich erhielt den Brief im Bett und stand sofort auf, ohne Mina zu wecken. Sie sah müde, abgespannt und bleich aus, und es schien ihr alles andere als gutzugehen. Ich bat die Dienstboten also, sie nicht zu wecken, und beschloss, Vorbereitungen für ihre Rückkehr nach Exeter zu treffen, sobald ich von Sam Bloxam |382|zurück wäre. Ich glaube, sie wird sich in unserem eigenen Heim und inmitten ihrer alltäglichen Verrichtungen glücklicher fühlen als hier unter uns. Im Haus traf ich einzig auf Dr. Seward, dem ich erzählte, wohin ich aufbrach. Ich versprach ihm, sobald ich Ergebnisse vorweisen könne, wieder zurückzukommen und alle zu informieren. Dann fuhr ich nach Walworth und fand nach einigen Schwierigkeiten Potter’s Court – Mr. Smollets Rechtschreibung hatte mich in die Irre geführt, denn ich fragte immer nach »Poters« statt nach »Potter’s Court«. Nachdem ich aber doch endlich Potter’s Court gefunden hatte, war es nicht mehr schwer, Corcoran’s Lodge zu entdecken. Ich fragte den Mann an der Tür nach dem »Vertreter«, er aber schüttelte den Kopf und sagte: »Kenn’ ich nich’. So einer wohnt hier nich’, hab mein Lebtag noch nich’ von dem gehört. Glaub auch nich’, dass es hier oder in der Nähe so einen gibt!« Ich zog Smollets Brief heraus, und als ich ihn ansah, wurde mir klar, dass nicht nur Quartier und Hausname falsch geschrieben sein mussten. Ich fragte den Mann also nach seiner Funktion in diesem Haus.

»Ich bin der Verwalter«, antwortete er. Augenblicklich war mir klar, dass ich auf der richtigen Spur war. Eine halbe Krone Trinkgeld, und alles, was der Verwalter wusste, stand zu meiner Verfügung. Ich erfuhr von ihm, dass Bloxam, der die Nachwirkungen seines gestrigen Bierabends tatsächlich im Corcoran’s Lodge hinweggeschlafen hatte, heute früh um fünf zu seiner Arbeit in Poplar aufgebrochen sei. Die genaue Anschrift dieser Arbeitsstelle konnte mir der Verwalter nicht mitteilen, aber er hatte in undeutlicher Erinnerung, dass es wohl ein »neumodisches Lagerhaus« wäre. Mit diesen mageren Hinweisen begab ich mich darauf nach Poplar. Es wurde zwölf Uhr, bis ich endlich einen hilfreichen Hinweis auf ein solches Gebäude bekam, und ich erhielt ihn in einem kleinen Café, wo einige Arbeiter beim Mittagessen saßen. Einer von ihnen erinnerte sich, dass an der Ecke der Cross Angel Street ein neues Kühlhaus errichtet worden war, und da diese Beschreibung einigermaßen dem entsprach, was |383|man sich auch unter einem »neumodischen Lagerhaus« vorstellen konnte, fuhr ich sofort dorthin. Eine Unterredung mit dem groben Aufseher und dem noch gröberen Vorarbeiter, die ich beide mit einer kleinen Münze freundlicher stimmen konnte, brachte mich dann auf Bloxams Spur. Ich versprach dem Vorarbeiter, ihm seinen Tageslohn zu zahlen, wenn er mir einige Worte mit Bloxam in einer Privatsache zu sprechen erlaubte, woraufhin er Bloxam herbeiholen ließ. Dieser war ein gewitzter Bursche, aber etwas ungehobelt in Ausdruck und Benehmen. Nachdem ich ihm versprochen hatte, für die Auskunft zu bezahlen, und diese Absicht durch einen Vorschuss bewiesen hatte, erzählte er mir, dass er zweimal von Carfax zu einem Hause in Piccadilly gefahren sei und dabei neun große, »verdammt schwere« Kisten transportiert habe. Pferd und Wagen hätte er eigens zu diesem Zweck gemietet gehabt. Ich fragte ihn nach der Nummer des Hauses in Piccadilly, und er erwiderte:

»Nun, Sir, die Nummer habe ich vergessen, aber es war nur ein paar Türen von einer großen, weißen Kirche entfernt, oder sowas Ähnlichem, jedenfalls etwas Neuem. Es war ein staubiges, altes Haus, aber noch lange nicht so schlimm wie das Haus, aus dem wir die verflixten Kisten abgeholt haben.«

»Wie kamen Sie denn in die Häuser hinein, wenn sie doch beide, wie Sie sagen, unbewohnt waren?«

»Der alte Herr, der mir den Auftrag erteilt hatte, erwartete mich im Haus in Purfleet. Er half mir sogar dabei, die Kisten hinauszutragen und auf den Wagen zu laden. Hol’s der Teufel, er war der stärkste Mann, den ich je gesehen habe! Und dabei war er schon sehr alt, mit weißem Schnurrbart und so mager, dass man meinen konnte, er werfe keinen Schatten.«

Wie mich diese Redensart erzittern ließ!

»Ja, und er hob die Kisten an seinem Ende hoch, als wären sie Teebeutel, während ich vor Keuchen und Stöhnen das andere Ende kaum heben konnte. Und ich bin doch weiß Gott kein schwacher Kerl!«

|384|»Und wie gelangten Sie in das Haus in Piccadilly?«, wollte ich daraufhin wissen.

»Da war er auch. Er muss in Carfax sofort aufgebrochen und noch vor mir in Piccadilly angekommen sein, denn als ich die Klingel zog, öffnete er selbst die Tür und half mir wieder, die Kisten in den Flur tragen.«

»Alle neun?«, fragte ich.

»Jawohl, in der ersten Ladung waren es fünf, in der zweiten vier. Es war eine verdammt trockene Arbeit, und ich weiß gar nicht mehr, wie ich eigentlich wieder heimgekommen bin …« Ich unterbrach ihn:

»Sie haben die Kisten alle in der Eingangshalle abgestellt?«

»Ja, es war ein großer Flur, und es stand nichts anderes darin.« Ich macht einen weiteren Versuch, noch etwas Nützliches zu erfahren:

»Sie hatten also nie einen Schlüssel?«

»Ich brauchte gar keinen Schlüssel oder dergleichen. Der alte Knabe öffnete die Tür höchstselbst, als ich kam, und verschloss sie wieder, als ich wegfuhr. An die letzte Ladung erinnere ich mich schon gar nicht mehr, aber das wird wohl am Bier liegen.«

»Und Sie können sich wirklich nicht mehr an die Hausnummer erinnern?«

»Nein, Sir. Aber es wird Ihnen nicht schwerfallen, das Haus zu finden. Es ist hoch und hat eine Steinfassade mit einem großen Torbogen. Zur Tür führt eine steile Treppe hinauf – ich kenne die Stufen genau, denn ich musste die schweren Kisten hinauftragen. Musste mir dazu sogar drei Nichtstuer von der Straße holen, denen ich ein paar Kupferpfennige versprach. Der alte Knabe gab jedem von ihnen dann aber einen Shilling, und als sie sahen, dass sie so gut entlohnt wurden, dachten sie wohl, sie könnten noch mehr herausholen. Er aber nahm einen von ihnen bei den Schultern und drohte, ihn die steile Treppe hinunterzuwerfen, worauf die ganze Bande fluchend davonrannte.« Ich dachte, dass mit dieser Beschreibung das Haus wohl zu finden sein müsste, bezahlte |385|meinen Freund für die Information und machte mich nach Piccadilly auf. Dass der Graf offenbar in der Lage war, die Erdkisten auch ganz allein zu bewegen, war eine neue, schmerzhafte Erkenntnis für mich. Wenn es sich tatsächlich so verhielt, dann war unsere Zeit noch kostbarer, denn nachdem er die grobe Verteilung der Kisten in der bekannten Weise hatte vornehmen lassen, konnte er alles Weitere ganz allein, unbeobachtet und wann immer er wollte bewerkstelligen. Am Piccadilly Circus entließ ich meine Kutsche und ging zu Fuß in Richtung Westen. Jenseits des Junior Constitutional Club1 entdeckte ich das beschriebene Haus, und ich war sofort überzeugt, dass es sich hier um den zweiten uns bekannten Schlupfwinkel Draculas handelte. Das Gebäude war ganz offensichtlich seit langem unbewohnt. Die Fenster waren dick verstaubt und die Läden standen offen. Die Holzrahmen waren vom Alter geschwärzt, und von den Eisenteilen hatte sich die Farbe fast völlig abgelöst. Augenscheinlich war bis vor Kurzem an der Vorderwand des Balkons ein Schild angebracht gewesen; es musste aber in roher Weise heruntergerissen worden sein, denn die Haken, an denen es einst befestigt war, ragten noch hervor. Hinter den Gitterstäben des Balkons bemerkte ich einige lose Bretter, deren Ränder weiß aussahen. Was hätte ich nicht dafür gegeben, die Tafel noch intakt zu sehen, denn sicher hätte sie mir den Besitzer des Hauses verraten. Ich erinnerte mich, wie ich Carfax ausfindig gemacht und gekauft hatte: Wenn ich hier auf die gleiche Weise den früheren Hauseigentümer ermitteln könnte, so würde sich sicher auch ein Weg finden, ins Haus zu gelangen.

Von der Piccadilly-Seite aus konnte ich nichts Weiteres unternehmen, also begab ich mich auf die Rückseite des Gebäudes, um zu erkunden, ob sich vielleicht von hier aus etwas erspähen ließe. Die rückwärtige Gasse mit den Stallungen und Kutschenhäusern war ziemlich belebt, da die meisten Piccadilly-Häuser bewohnt |386|sind. Ich fragte einige Stallburschen, die herumstanden, ob sie mir etwas über das leere Haus sagen könnten. Einer von ihnen erzählte mir, dass es vor Kurzem vermietet worden sei, an wen, das wisse er aber nicht. Er fügte jedoch hinzu, dass noch vor wenigen Tagen ein »Zu verkaufen!«-Schild angebracht gewesen sei, und dass vielleicht Mitchell, Sons & Candy, die Makler des Hauses, mir mehr sagen könnten – wenn er sich an den Firmennamen auf dem Schild recht erinnere. Ich wollte nicht zu neugierig erscheinen oder meinen Informanten zu viel wissen oder erraten lassen, also dankte ich ihm beiläufig und schlenderte davon. Es begann bereits zu dämmern, und bald würde die Herbstnacht hereinbrechen; ich hatte also keine Zeit zu verlieren. Nachdem ich mir die Adresse von Mitchell, Sons & Candy aus einem Adressbuch im »Berkeley« herausgesucht hatte, stand ich sehr bald schon in deren Büro in der Sackville Street.

Der Gentleman, der mich empfing, war von besonders zuvorkommenden Manieren, aber leider auch in ebensolchem Maße unkommunikativ. Nachdem er mir einmal gesagt hatte, dass das Haus in Piccadilly – er nannte es während unserer gesamten Unterredung »Herrensitz« – verkauft sei, schien er mein Geschäft als erledigt zu betrachten. Als ich ihn fragte, wer es denn erworben habe, machte er seine Augen eine Winzigkeit größer, pausierte für einige Sekunden und entgegnete dann:

»Es ist verkauft, Sir.«

»Pardon,« sagte ich ebenso höflich, »aber ich habe einen besonderen Grund, mich dafür zu interessieren, wer es gekauft hat.«

Wieder folgte ein Pause, diesmal länger als die erste, dann hob er seine Augenbrauen noch etwas höher: »Es ist verkauft, Sir!«, war die erneute Antwort.

»Aber es wird Ihnen doch sicher nichts ausmachen«, insistierte ich, »mich wissen zu lassen, an wen.«

»Doch, es macht mir etwas aus«, antwortete er. »Die Angelegenheiten unserer Klienten sind bei Mitchell, Sons & Candy absolut |387|vertraulich.« Er war offensichtlich ein Musterschüler, ein Streit mit ihm hätte sicherlich keine Ergebnisse gebracht. Ich hielt es daher für das Beste, ihm in seiner eigenen Art zu begegnen, und sagte:

»Ihre Klienten, Sir, dürfen glücklich sein, einen so zuverlässigen Hüter ihrer Privatangelegenheiten zu besitzen. Ich weiß das zu würdigen, da ich ebenfalls zur Branche zähle.« Ich überreichte ihm mein Karte. »In dieser Sache handle ich nicht aus Neugier, sondern ich handle im Auftrag von Lord Godalming, der einiges über das Grundstück, das bis vor Kurzem zu verkaufen war, erfahren möchte.« Diese Worte brachten einen auffallenden Wechsel in seinem Verhalten hervor. Er sagte:

»Ich möchte Ihnen gern gefällig sein, Mr. Harker, und ganz besonders auch Seiner Lordschaft. Wir haben früher schon einmal einen kleinen Mietsauftrag für ihn erledigt, als er noch nicht Lord Godalming war. Wenn Sie die Güte haben wollen, mir Seiner Lordschaft Adresse zu hinterlassen, will ich die Firma in dieser Angelegenheit konsultieren und werde auf jeden Fall Seiner Lordschaft noch mit der heutigen Abendpost Nachricht zukommen lassen. Es wird uns ein Vergnügen sein, ausnahmsweise von unserem Geschäftsprinzip abzugehen, um Seiner Lordschaft gefällig sein zu können.«

Ich wollte ihn lieber als Helfer gewinnen, als ihn mir zum Feind zu machen, deshalb bedankte ich mich, gab Dr. Sewards Adresse an und empfahl mich. Es war schon dunkel, und ich war müde und hungrig. Ich trank bei Aerated Bread Company2 einen Tee und fuhr dann mit dem nächsten Zuge nach Purfleet.

Alle Freunde waren schon zu Hause. Mina sah müde und blass aus, aber sie bemühte sich tapfer, fröhlich und frisch zu erscheinen. Es tat mir weh, dass ich etwas vor ihr zu verbergen hatte und ihr dadurch Kummer verursachen musste. Gott sei Dank, es ist heute die letzte Nacht, dass sie unseren Konferenzen zusehen |388|muss, ohne dass wir sie, so leid es mir tut, einweihen können. Ich musste meine ganze Willenskraft aufbieten, um zu dem vernünftigen Beschluss zu stehen, sie von unserem Unternehmen fernzuhalten. Sie selbst scheint sich mit dieser Tatsache allerdings schon fast abgefunden zu haben. Oder aber die ganze Angelegenheit stößt sie mittlerweile ab, denn wenn eine zufällige Anspielung gemacht wird, erschaudert sie förmlich. Ich bin froh, dass wir den Entschluss noch frühzeitig gefasst haben, denn mit einer solchen Gemütsverfassung wäre die Kenntnis unseres beständig anwachsenden Wissens die reine Folter für sie.

Ich konnte den Kameraden von den Erlebnissen des Tages erst erzählen, als wir allein waren. Nach Tisch – wir hatten noch ein wenig Musik gehört, um auch uns selbst gegenüber den Schein zu wahren – brachte ich Mina auf unser Zimmer und bat sie, sich niederzulegen. Sie war leidenschaftlich erregt und klammerte sich an mich, als wollte sie mich nicht von sich lassen. Aber es war noch sehr viel zu erledigen, und so trennte ich mich bald von ihr. Zum Glück hat dieses Schweigen noch keinen Schatten auf unsere Liebe geworfen.

Als ich wieder hinunterkam, waren die anderen schon alle im Arbeitszimmer versammelt. Ich hatte mein Tagebuch aktualisiert und las es ihnen vor, weil ich es für das Beste hielt, sie rasch mit dem bekannt zu machen, was ich festgestellt hatte. Als ich mit dem Vorlesen fertig war, sagte van Helsing:

»Das war ein schönes Stück Arbeit, Freund Jonathan! Zweifellos sind wir den fehlenden Kisten auf der Spur. Wenn wir sie alle in jenem Haus beieinanderfinden, wird unsere Arbeit nicht mehr lange dauern. Sollten aber einige fehlen, so müssen wir suchen, bis wir sie gefunden haben. Dann werden wir unseren Hauptstreich führen und den Verruchten in seinen endgültigen Tod hetzen.« Wir alle saßen darauf eine Weile schweigend da, bis Mr. Morris plötzlich fragte:

»Sagen Sie einmal, wie kommen wir denn in jenes Haus hinein?«

|389|»Ach, wir sind ja auch in das andere hineingekommen,« antwortete Lord Godalming unbekümmert.

»Aber Art, das ist doch ein Unterschied! Wir sind in Carfax eingebrochen, da war es Nacht, und eine hohe Mauer schützte uns vor fremden Blicken. Es ist aber eine ganz andere Angelegenheit, einen Einbruch in Piccadilly zu veranstalten, ob bei Tag oder bei Nacht. Ich muss gestehen, ich sehe keinen Weg hineinzukommen, außer dass dieser eingebildete Agent uns irgendeinen Schlüssel beschafft. Vielleicht wissen wir mehr, wenn morgen sein Brief eintrifft.« Lord Godalming zog die Augenbrauen zusammen, stand auf und ging im Zimmer auf und nieder. Dann blieb er stehen und sagte, uns alle der Reihe nach ansehend:

»Quincey ist ein heller Kopf. Unsere Einbruchstouren beginnen sich auszuwachsen. Einmal sind wir heil davongekommen, aber nun haben wir einen wirklich schwierigen Job vor uns, wenn wir nicht zufällig das Schlüsselbund des Grafen finden sollten.«

Da wir vor dem Morgen nichts mehr tun konnten, und da es überdies ratsam war, zumindest den Brief von Mitchell an Lord Godalming abzuwarten, entschieden wir, vor dem Frühstück keine weiteren aktiven Schritte zu unternehmen. Eine ganze Weile saßen wir darauf noch rauchend beieinander und diskutierten die Angelegenheit unter den verschiedensten Gesichtspunkten. Ich nutzte die Gelegenheit, dieses Tagebuch bis zum aktuellen Augenblick zu ergänzen. Nun bin ich sehr müde, und ich werde zu Bett gehen …

Noch ein paar Worte. Mina liegt in tiefem Schlummer und atmet regelmäßig. Ihre Stirn ist in Falten gezogen, als ob sie sogar im Schlaf nachdenke. Sie ist immer noch so bleich, aber sie sieht nicht mehr so abgehärmt aus wie heute früh. Der morgige Tag wird, so hoffe ich, all dem ein Ende bereiten, denn sie wird dann wieder daheim in Exeter sein. Oh, was bin ich müde!

 

|390|Dr. Sewards Tagebuch

 

1. Oktober

Renfields Verhalten gibt mir wieder neue Rätsel auf. Die Stadien wechseln so rasch, dass es mir unmöglich ist, sie einzeln festzuhalten. Da sie aber immer weitaus mehr betreffen, als nur sein eigenes Wohlergehen, sind sie ein hochinteressantes Studiengebiet für mich. Heute früh, kurz nachdem er sich van Helsing gegenüber so abweisend gezeigt hatte, suchte ich ihn auf. Er trug die Miene eines Mannes zur Schau, der dem Schicksal gebietet. Und in der Tat gebot er – wenigstens subjektiv – dem Schicksal. Er schien sich nicht mehr um die weltlichen Dinge zu kümmern, er war oben in den Wolken und sah auf die Schwächen und Mängel von uns Sterblichen herunter. Ich dachte, die Gelegenheit zu nutzen und etwas zu lernen, und fragte ihn also:

»Wie steht es denn jetzt mit den Fliegen?« Er lächelte mich auf eine stille, überlegene Weise an, ganz, als wäre er zu Malvolio3 geworden, und antwortete:

»Die Fliege, Sir, hat einen auffallenden Zug: Ihre Flügel sind sinnbildlich für die ätherischen Kräfte der Psyche. Die Alten wussten recht wohl, warum sie die Seele als Schmetterling darstellten.«

Ich beschloss, seine Analogie bis an ihre logische Grenze zu treiben, und entgegnete schnell:

»Oh, dann sind Sie jetzt also hinter Seelen her, oder?« Sein Wahnsinn schien seine Vernunft jetzt wieder zu durchkreuzen, denn ein verwirrter Ausdruck trat auf sein Gesicht. Er schüttelte den Kopf so energisch, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte, und sagte:

»Oh nein, oh nein! Ich brauche keine Seelen. Leben ist alles, was ich will!« Jetzt wurde er fröhlicher. »Im Moment ist mir das aber alles gleichgültig. Mein Leben ist gut, ich habe alles, was ich |391|brauche. Sie müssen sich wohl einen neuen Patienten suchen, Doktor, wenn Sie noch weiter Zoophagie studieren wollen!«

Das verwirrte mich, und so drang ich weiter in ihn:

»Dann sind Sie selbst also Herr über das Leben, Sie sind ein Gott, nehme ich an?« Er lächelte mit einer unsäglich gütigen, überlegenen Miene.

»Oh nein! Es liegt mir fern, mir selbst die Attribute einer Gottheit anzumaßen. Bin ich ja doch nicht einmal der geistigen Fähigkeiten Gottes teilhaftig. Wenn ich meine intellektuelle Stellung in rein irdischen Dingen präzisieren darf, so bin ich etwa auf der Stufe, die Enoch in religiöser Hinsicht einnahm!«4 Das war mir nun eine recht harte Nuss. Ich konnte mir im Augenblick nicht ins Gedächtnis zurückrufen, welche Eigenschaften Enoch besessen hatte, musste also, wenn ich ihm folgen wollte, direkt fragen, wenn ich mir auch darüber klar war, dass ich mir damit in den Augen des Kranken eine Blöße geben würde.

»Warum vergleichen Sie sich mit Enoch?«

»Weil er mit Gott gehen durfte.« Ich begriff nicht ganz, was er meinte, wollte mir dies aber auch nicht anmerken lassen. Ich griff deshalb noch einmal auf das zurück, was er schon verneint hatte, und fragte:

»So wollen Sie also nichts mehr mit dem Leben zu schaffen haben und bedürfen keiner Seelen? Warum denn nicht?« Ich stellte die Frage schnell und in einem ziemlich strengen Ton, um ihn zu verblüffen. Die Absicht gelang, denn augenblicklich fiel er wieder in seinen alten, servilen Habitus zurück. Er verbeugte sich und schmiegte sich förmlich an mich, als er antwortete:

»Ich will keine Seelen, wirklich nicht, nein, wirklich nicht! Ich könnte gar nichts mit ihnen anfangen, wenn ich welche hätte. Ich könnte sie ja doch nicht essen oder …« – er hielt plötzlich inne, und der altbekannte, verschmitzte Ausdruck huschte über sein Gesicht, ganz wie ein Windstoß über einen Wasserspiegel. »Herr |392|Doktor, was das Leben anbetrifft, worum geht es denn da? Alles zu haben, was man braucht, und zu wissen, dass es einem nie an etwas mangeln wird – das ist doch schon alles! Ich habe Freunde, gute Freunde wie Sie, Dr. Seward …« – er blickte bei diesen Worten hinterhältig –, »und ich weiß zugleich, dass mir niemals die Mittel des Lebens fehlen werden.«

Ich glaube, dass er in diesem Moment durch die Wolken seiner Krankheit hindurch in mir trotz allem den Gegner erkannte, denn plötzlich flüchtete er sich in seine letzte Verteidigungsbastion, ein hartnäckiges Schweigen. Nach kurzer Zeit war ich mir im Klaren darüber, dass es jetzt zwecklos war, noch weiter in ihn zu dringen. Er schmollte, und so ging ich fort.

Später am Tag schickte er wieder nach mir. Unter gewöhnlichen Verhältnissen hätte ich seine Bitte wohl nicht erfüllt, aber sein gegenwärtiger Zustand interessierte mich so sehr, dass ich die Mühe nicht scheute. Außerdem war ich froh, dass ich etwas hatte, um mir die Zeit zu vertreiben. Harker war ausgegangen, um die Spuren des Grafen weiterzuverfolgen, ebenso Lord Godalming und Quincey. Van Helsing sitzt in meinem Arbeitszimmer und brütet über den von den Harkers zusammengestellten Akten. Er scheint zu hoffen, dass eine genaue Kenntnis sämtlicher Details uns ein paar entscheidende Hinweise zu geben vermöchte, und er hat darum gebeten, ihn nicht ohne einen wichtigen Grund in seiner Arbeit zu stören. Ich hätte ihn ganz gern wieder zu meinem Patienten mitgenommen, dachte mir aber, dass er nach der erlebten Zurückweisung dazu keine besondere Lust mehr haben werde. Außerdem hatte ich noch einen anderen Grund: Renfield würde in Gegenwart eines Dritten nicht so frei sprechen, wie wenn wir beide allein sind.

Ich fand ihn mitten im Zimmer auf seinem Stuhl sitzend vor, eine Gewohnheit, aus der ich bei ihm immer auf eine geistige Arbeit schließen konnte. Kaum war ich eingetreten, da sagte er, als hätte er die Frage schon auf den Lippen gehabt:

»Wie ist das nun mit den Seelen?« Ich hatte also mit meiner |393|Mutmaßung recht gehabt, das Unbewusste hatte auch in diesem Irren weitergearbeitet. Ich beschloss, der Sache noch weiter auf den Grund zu gehen. »Was halten Sie denn selbst davon?«, fragte ich ihn. Er antwortete nicht sofort, sondern sah sich nach allen Richtungen hin um, als erwartete er von irgendwoher eine Inspiration.

»Ich will keine Seelen!«, sagte er dann in einem kraftlosen, entschuldigenden Ton. Die Sache schien sich seines Denkens bemächtigt zu haben, und so beschloss ich, mir dies zunutze zu machen – ›zur Grausamkeit zwingt bloße Liebe mich‹5. Ich fragte ihn also:

»Sie lieben das Leben, und Sie wollen das Lebendige?«

»Ja, aber das ist alles in Ordnung. Sie brauchen sich darum keine Sorgen zu machen.«

»Aber«, fragte ich, »wie können wir denn das Leben bekommen, ohne zugleich auch eine Seele zu erhalten?« Dies schien ihn zu verwirren, und so legte ich gleich nach:

»Eine hübsche Himmelfahrt werden Sie einmal haben, wenn die Seelen von zahllosen Fliegen, Spinnen, Vögeln und Katzen rings um Sie herum summen, zwitschern und miauen. Sie haben ihnen schließlich das Leben genommen, da werden Sie dereinst dann wohl auch ihre Seelen ertragen müssen.« Das schien seine Fantasie zu packen, denn er steckte sich die Finger in die Ohren und kniff seine Augen so fest zusammen wie ein kleiner Junge, dem man das Gesicht einseift. Es lag etwas ergreifend Hilfloses in seiner abwehrenden Geste, das mich berührte. Zugleich zeigte es mir, dass ich es hier mit einem Kind zu tun habe – er ist nur ein Kind, mögen seine Züge auch verwittert und die Stoppeln auf seinem Kinn auch grau sein. Offenbar machte er gerade eine Phase mentaler Zerrüttung durch. Da ich wusste, wie fremdartig er die Welt in seinen verschiedenen Gemütslagen interpretierte, wollte ich auch jetzt versuchen, so weit in seine Gedanken |394|einzudringen, wie ich es vermochte. Der erste Schritt dazu konnte nur darin liegen, sein Vertrauen zurückzugewinnen, also fragte ich ihn möglichst laut, damit er es durch seine verschlossenen Ohren auch hören konnte:

»Möchten Sie nicht gern etwas Zucker haben, um wieder Fliegen fangen zu können?« Er schien plötzlich zu erwachen und schüttelte den Kopf. Mit einem Lachen antwortete er:

»Nein, eigentlich nicht. Fliegen sind doch ziemlich armselige Geschöpfe!« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Außerdem will ich nicht, dass ihre Seelen um mich herumsummen.«

»Dann vielleicht Spinnen?«, fuhr ich fort.

»Vergessen Sie die Spinnen! Wofür sollen die denn gut sein? Da ist ja gar nichts dran, um es zu essen oder zu …« – hier unterbrach er sich, ganz als würde er sich plötzlich besinnen, ein verbotenes Thema zu meiden.

›So, so‹, dachte ich, ›das wäre also bereits das zweite Mal, dass er bei dem Wort „trinken“ stockt. Was mag das zu bedeuten haben?‹ Aber auch Renfield schien gemerkt zu haben, dass ihm ein Lapsus unterlaufen war, denn er fuhr eilig fort, als wolle er meine Aufmerksamkeit ablenken:

»Ich habe überhaupt kein Interesse an solchen Dingen. ›Mäus und Ratten und solch Getier‹6, wie Shakespeare sie nennt, sind doch nur Hühnerfutter! Ich bin über jeden derartigen Unsinn hinaus. Sie könnten eher jemanden dazu bringen, mit einem Paar Ess-Stäbchen Moleküle zu verzehren, als mich für die niedere Fleischfresserei zu begeistern! Ich weiß schließlich, was noch alles auf mich wartet!«

»Ich begreife«, sagte ich, »Sie wollen große Dinge, damit Sie Ihre Zähne ordentlich hineinschlagen können? Wie wäre es denn mit einem Elefanten zum Frühstück?«

»Was für einen lächerlichen Blödsinn reden Sie denn da!« Er |395|wurde mir schon wieder zu aufgeweckt, also beschloss ich, ihm gehörig zuzusetzen. »Ich frage mich«, sagte ich nachdenklich, »wie wohl die Seele eines Elefanten beschaffen sein mag.«

Der beabsichtigte Effekt stellte sich ein, denn augenblicklich fiel er von seinem hohen Ross herunter und wurde wieder zum Kind:

»Ich will keine Elefantenseele, überhaupt keine Seele«, jammerte er. Einige Momente saß er niedergeschlagen da. Plötzlich aber sprang er auf, mit funkelnden Augen und allen Anzeichen höchster geistiger Erregung: »Zur Hölle mit Ihnen und Ihren Seelen«, brüllte er. »Warum plagen Sie mich mit den Seelen? Habe ich denn nicht auch so schon genug Kummer und Sorgen?« Er sah mich so feindselig an, dass ich jeden Augenblick einen Angriff befürchtete, also gab ich ein kurzes Signal mit meiner Pfeife. Im selben Moment aber wurde er schon wieder ruhig und entschuldigte sich:

»Verzeihen Sie mir, Doktor, ich habe mich vergessen. Sie brauchen keine Hilfe. Ich bin so von Sorgen erfüllt, dass ich leicht reizbar bin. Wenn Sie eine Ahnung von dem Problem hätten, dem ich gegenüberstehe und das ich zu lösen habe, würden Sie mich bemitleiden, mich verstehen und mir verzeihen. Ich bitte Sie, lassen Sie mich nicht in die Zwangsjacke stecken! Ich muss nämlich nachdenken, und denken kann ich nur, wenn mein Körper nicht beengt ist. Ich bin sicher, dass Sie das verstehen!« Er hatte sich ganz offensichtlich wieder in der Gewalt. Als die Pfleger hereinstürmten, beruhigte ich sie daher und schickte sie wieder weg. Renfield sah ihnen nach, und als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sagte er mit beachtlicher Würde und Freundlichkeit:

»Dr. Seward, Sie haben sehr rücksichtsvoll gegen mich gehandelt. Glauben Sie mir, ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar dafür!« Ich hielt es für das Beste, ihn jetzt in diesem Zustand zu verlassen, und ging. Es ist im Verhalten dieses Mannes etwas, was zu denken gibt. Einzelne seiner Eigenheiten scheinen das zu ergeben, |396|was die amerikanischen Reporter eine »Story« nennen, wenn man sie in den richtigen Zusammenhang zu bringen weiß. Hier sind sie:

  • Will das Wort »trinken« nicht aussprechen.

  • Fürchtet sich vor dem Gedanken, mit der »Seele« von irgendetwas belastet zu werden.

  • Hat keine Sorge, zukünftig ausreichend »Leben« zu besitzen.

  • Verabscheut die niederen Formen des Lebens, obgleich er fürchtet, von ihren »Seelen« verfolgt zu werden.

Von ihrer Logik her weisen alle diese Punkte in die gleiche Richtung: Er hat irgendeine Art von Zusicherung, dass er zu einer höheren Lebensform aufsteigen wird. Zugleich fürchtet er aber die Konsequenz dieser Transformation – die Last einer Seele. Es ist also ein menschliches Leben, auf das er es abgesehen hat … Und die Zusicherung? – Gütiger Gott, der Graf muss bei ihm gewesen sein, uns stehen neue Schrecken bevor!

 

Später

Ich ging nach meiner Runde zu van Helsing und berichtet ihm von meinem Verdacht. Er wurde sehr ernst, und nachdem er eine Weile über die Sache nachgedacht hatte, bat er mich, ihn zu Renfield zu bringen, was ich tat. Als wir an dessen Tür kamen, hörten wir ihn innen vergnügt singen, wie er es früher manchmal getan hatte, zu Zeiten, die nun lange zurückzuliegen scheinen. Bei unserem Eintritt bemerkten wir zu unserem Erstaunen, dass er nun doch wieder seinen Zucker ausgestreut hatte, und die Fliegen, die schon herbstmüde waren, summten herein. Ich versuchte, ihn über das Thema unseres letzten Gespräches zum Reden zu bringen, aber er ging nicht darauf ein, sondern sang ruhig weiter, als wären wir gar nicht vorhanden. Er hatte ein Stückchen Papier in der Hand, das er sorgfältig zusammenfaltete. Um nichts klüger, als wir gekommen waren, zogen wir uns wieder zurück.

|397|Jedenfalls ist das eine ganz absonderliche Geschichte, und wir müssen heute Nacht sehr gut auf ihn aufpassen.

 

Brief von Mitchell, Sons & Candy an Lord Godalming

 

1. Oktober

Mylord,

es ist uns eine außerordentliche Ehre, Ihnen zu Diensten zu sein. Wir freuen uns, Euer Lordschaft gemäß dem uns durch Mr. Harker übermittelten Auftrag Nachfolgendes über den Kauf und Verkauf des Hauses No. 347, Piccadilly, mitteilen zu können: Die ursprünglichen Verkäufer sind die Testamentsvollstrecker des verstorbenen Mr. Archibald Winter-Suffield. Der Käufer ist ein ausländischer Adliger, ein Count de Ville7, der das Geschäft persönlich tätigte, indem er den Kaufpreis »bar auf den Tisch legte«, wenn Euer Lordschaft uns diesen vulgären Ausdruck anzuwenden gestatten. Darüber hinaus ist uns nichts weiter über den Käufer bekannt.

Wir sind, Mylord,

Ihre ergebensten Diener,

Mitchell, Sons & Candy

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

2. Oktober

Ich habe die letzte Nacht einen Mann im Korridor postiert und ihn angewiesen, auf jedes Geräusch aus Renfields Raum zu achten und mich augenblicklich zu informieren, sobald ihm etwas auch nur im Geringsten seltsam vorkomme. Nach dem gestrigen Abendessen hatten wir Männer uns alle im Arbeitszimmer versammelt, |398|Mrs. Harker war zu Bett gegangen, und wir besprachen die Unternehmungen und Erlebnisse des Tages. Harker war der Einzige, der wirkliche Resultate aufzuweisen hatte, und wir hegen die begründete Hoffnung, auf der richtigen Fährte zu sein.

Bevor ich zu Bett ging, machte ich noch eine Runde durch den Patiententrakt. An Renfields Tür schaute ich durch den Beobachtungsschlitz; mein Freund lag im tiefsten Schlummer, seine Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen.

Heute früh erzählte mir der Pfleger dann, dass Renfield kurz nach Mitternacht unruhig geworden sei und von da an ununterbrochen laut gebetet habe. Ich fragte ihn, ob das alles wäre, worauf er entgegnete, dies wäre alles, was er »gehört« habe. Diese Formulierung erschien mir verdächtig, weshalb ich ihn fragte, ob er denn eingeschlafen sei. Er verneinte das, gab aber zu, etwas »gedöst« zu haben. Es ist traurig, dass man den Menschen anscheinend nur trauen kann, wenn man sie zugleich auch beaufsichtigt.

Heute ist Harker fort, um seinen Hinweisen nachzugehen, und Art und Quincey sehen sich nach Pferden um. Godalming findet es wichtig, gute Pferde in Bereitschaft zu haben, denn wenn wir erst über die gesuchten Informationen verfügen, wird keine Zeit zu verlieren sein. Wir müssen die gesamte importierte Erde zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang sterilisieren, damit wir den Grafen in seiner Schwächephase erwischen können, ohne dass ihm ein Zufluchtsort verbleibt. Van Helsing ist ins British Museum gegangen, um dort einige maßgebliche Werke der Medizin früherer Zeitalter zu konsultieren. Die alten Ärzte bezogen ja Aspekte in ihre Wissenschaft mit ein, die heute schon längst nicht mehr anerkannt werden – der Professor will sich speziell über Hexen- und Dämonenaustreibungen informieren, um für unseren Fall Nutzen daraus zu ziehen.

Manchmal denke ich, wir sind alle verrückt und gehören in Zwangsjacken, bis wir wieder gesund erwachen.

 

|399|Später

Wir sind wieder zusammengekommen. Es sieht so aus, als wären wir endlich auf der Fährte, unser morgiges Tagwerk könnte der Anfang vom Ende Draculas sein. Ich würde gerne wissen, ob Renfields Ruhe damit in irgendeinem Zusammenhang steht. Seine Stimmungen haben sich ja immer in so auffallender Weise nach dem Verhalten des Grafen gerichtet, dass er sicher auch auf irgendeine Art von der bevorstehenden Vernichtung dieses Monsters weiß. Wenn wir nur herausfinden könnten, was gestern zwischen unserer Unterhaltung und seiner Wiederaufnahme der Fliegenfängerei in seinem Kopf vorgegangen ist, so hätten wir sicherlich eine entscheidende Information. Er ist nun schon seit langer Zeit ruhig … wirklich? Jetzt scheinen gerade Schreie aus seiner Zelle zu kommen …

Soeben kam der Pfleger in mein Zimmer gestürzt und teilte mir mit, dass Renfield einen Unfall hatte. Der Pfleger hatte ihn brüllen gehört und war sofort in seine Zelle geeilt. Dort hatte er ihn mit dem Gesicht nach unten und blutüberströmt auf dem Boden gefunden. Ich muss augenblicklich zu ihm …