|318|SIEBZEHNTES KAPITEL

 

Dr. Sewards Tagebuch

(Fortsetzung)

 

Als wir im »Berkeley Hotel« ankamen, fand van Helsing ein Telegramm vor, das für ihn abgegeben worden war:

»Ich komme mit dem Zug. Jonathan ist in Whitby. Wichtige Neuigkeiten. – Mina Harker«

Der Professor war erfreut. »Diese prächtige Madame Mina«, sagte er, »eine Perle unter den Frauen! Sie kommt hierher, aber ich kann leider nicht bleiben – sie wird also zu Ihnen gehen müssen, Freund John. Sie werden sie am Bahnhof abholen. Bitte telegrafieren Sie ihr en route1, damit sie vorbereitet ist!«

Als das Telegramm aufgegeben war, trank er noch eine Tasse Tee. Dabei erzählte er mir von dem Reisetagebuch Jonathan Harkers und übergab mir eine mit der Maschine geschriebene Kopie desselben. Weiterhin reichte er mir eine Kopie des von Mrs. Harker in Whitby geführten Tagebuches. »Nehmen Sie das«, sagte er, »und lesen Sie es gründlich. Wenn ich zurückkomme, werden Sie die Sachlage kennen, und wir können dann rascher zu den Vorbereitungen übergehen. Bewahren Sie es sorgfältig auf, denn es ruhen Schätze darin! Sie werden beim Lesen all Ihren Glauben benötigen, und dass, obwohl Sie heute bereits eine derartige Erfahrung gemacht haben. Das, was hier erzählt wird«, sagte er, indem er seine Hand ernst und schwer auf das Paket mit den Papieren legte, »ist vielleicht der Anfang von Ihrem, meinem und manch anderer Leute Ende. Oder es ist die Sterbeglocke für die Untoten, die hier auf Erden wandeln. Lesen Sie alles, ich bitte Sie, und denken Sie darüber nach! Und können Sie irgendetwas zu |319|den Inhalten beitragen, so tun Sie es, selbst das Geringste könnte wichtig sein. Sie selbst haben über all diese seltsamen Dinge ja auch ein Tagebuch geführt, nicht wahr? Gut, wir werden das alles miteinander besprechen, sobald ich zurückgekommen bin.« Er machte sich reisefertig und fuhr bald darauf nach Liverpool Station ab. Ich aber begab mich nach Paddington, wo ich fünfzehn Minuten vor Ankunft des erwarteten Zuges eintraf.

Nach dem ersten Gewühl auf dem Bahnsteig verlief sich die Menge der ankommenden Reisenden rasch. Ich wollte gerade unruhig werden, da ich befürchtete, meinen Gast verpasst zu haben, als ein hübsches, zierliches junges Mädchen auf mich zutrat und mit einem prüfenden Blick fragte: »Dr. Seward, nicht wahr?«

»Dann sind Sie Mrs. Harker?«, erwiderte ich, worauf sie mir die Hand reichte.

»Ich habe Sie anhand der Beschreibungen meiner lieben Lucy erkannt, aber …« Sie hielt plötzlich inne, und ihr Gesicht überzog sich rot.

Die Farbe, die auch mir in die Wangen stieg, half uns beiden über die Verlegenheit hinweg. Ich nahm ihr das Gepäck ab, unter dem sich auch eine Schreibmaschine befand, und wir fuhren mit der Untergrundbahn2 nach Fenchurch Street, nachdem ich meine Haushälterin per Telegramm angewiesen hatte, für Mrs. Harker ein Wohn- und ein Schlafzimmer vorzubereiten.

Wir kamen pünktlich an. Mrs Harker war sich natürlich im Klaren darüber, dass meine Arbeitsstätte ein Haus für Geisteskranke ist, aber ich bemerkte dennoch, dass sie beim Eintreten einen leichten Schauder nicht zu unterdrücken vermochte.

Sie fragte mich, ob sie gleich zu mir ins Arbeitszimmer kommen könne, da sie mir vieles mitzuteilen habe. So will ich für heute mein phonographisches Tagebuch schließen und sie hier erwarten. Bis jetzt hatte ich noch keine Gelegenheit, in die Papiere zu schauen, die van Helsing mir übergeben hatte, obgleich |320|sie direkt vor mir liegen. Ich muss versuchen, Mrs. Harker mit irgendetwas anderem zu beschäftigen, damit ich zum Lesen komme. Natürlich kann sie nicht ahnen, wie kostbar meine Zeit ist und welch wichtige Aufgabe wir uns gestellt haben. Ich muss ohnehin vorsichtig sein, sie nicht zu verängstigen. Ah, da ist sie!

 

Mina Harkers Tagebuch

 

29. September

Nachdem ich mich etwas erfrischt hatte, begab ich mich in Dr. Sewards Arbeitszimmer. An der Tür blieb ich zunächst einen Augenblick stehen, da ich ihn mit jemandem sprechen hörte. Da er mir aber gesagt hatte, ich möge mich beeilen, klopfte ich dann doch und trat auf seine Aufforderung hin ein.

Zu meiner großen Überraschung war er allein. Auf dem Tisch, gerade ihm gegenüber, stand aber ein Gerät, in dem ich sofort einen Phonographen erkannte. Ich hatte so etwas noch nie gesehen und interessierte mich deshalb sehr dafür.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht warten lassen«, begann ich. »Aber ich zögerte noch ein wenig an Ihrer Tür, da ich Sie sprechen hörte und glaubte, Sie hätten Besuch.«

»Ach«, antwortete er lächelnd, »ich habe nur Tagebuch geführt.«

»Tagebuch?«, fragte ich zweifelnd.

»Ja«, sagte er, und legte die Hand auf das Gerät. »Ich spreche es hier hinein.« Ich war ganz entzückt von der Sache und rief:

»Oh, das übertrifft ja sogar das Stenografieren! Dürfte ich wohl etwas hören?«

»Gewiss«, erwiderte er lebhaft und stand auf, um den Apparat in Gang zu setzen. Dann hielt er aber plötzlich inne und schien verlegen zu werden.

»Die Sache ist die«, begann er zögerlich, »ich bewahre hier eigentlich nur mein Tagebuch auf, und da dieses ausschließlich – fast |321|ausschließlich – meine privaten Angelegenheiten betrifft, wäre es nicht angemessen … das heißt … ich meine …« Er schwieg, und ich versuchte, ihm aus seiner Verlegenheit zu helfen.

»Sie haben doch die arme Lucy bis zu ihrem Ende gepflegt. Dürfte ich vielleicht etwas über ihr Sterben hören? Für alles, was ich von ihr erfahren dürfte, wäre ich Ihnen äußerst dankbar. Sie war mir nämlich sehr, sehr teuer.«

Zu meiner Überraschung antwortete er mit einer Miene des furchtbarsten Entsetzens:

»Ihnen von ihrem Tod erzählen? Nicht um alles in der Welt!«

»Warum denn nicht?«, fragte ich, und ein unbehagliches Gefühl überkam mich. Wieder schwieg er, und ich konnte deutlich erkennen, wie sehr er sich mühte, eine Entschuldigung zu erfinden. Nach einer längeren Pause stammelte er schließlich:

»Sehen Sie, ich wüsste gar nicht, wie ich einen bestimmten Teil des Tagebuches heraussuchen sollte …« Noch während er dies sagte, schien er diesen Gedanken weiter auszuarbeiten, denn er fuhr plötzlich mit veränderter Stimme und der naiven Zuversicht eines Kindes fort: »Das ist wirklich wahr, auf meine Ehre, Indianerehrenwort!« Ich konnte mich nicht enthalten zu lächeln, worüber er das Gesicht verzog. »Nun, da habe ich mich wohl verraten«, sagte er. »Aber wissen Sie, obwohl ich das Tagebuch seit Monaten führe, kam mir tatsächlich bislang niemals in den Sinn zu ergründen, wie ich es wohl anzustellen habe, einen bestimmten Teil der Aufzeichnungen wiederzufinden, wenn ich ihn benötigen sollte.« Plötzlich begriff ich, dass das Tagebuch des Arztes, der Lucy behandelt hatte, wohl auch geeignet sein würde, unserem Wissen von jenem entsetzlichen Wesen einiges hinzuzufügen, und so sagte ich kühn:

»Dann wäre es vielleicht doch besser, Dr. Seward, wenn Sie mich eine Kopie auf der Schreibmaschine anfertigen lassen würden.« Er wurde leichenblass und entgegnete:

»Nein, nein, nein! Um keinen Preis der Welt dürfen Sie diese schreckliche Geschichte erfahren!«

|322|Also war es wirklich etwas Schlimmes, meine Ahnung hatte mich nicht getäuscht! Einige Augenblicke dachte ich nach, und wie meine Blicke so durch das Zimmer schweiften, unbewusst nach irgendetwas suchend, das mir helfen könnte, blieben sie auf einem großen Paket Aufzeichnungen in Maschinenschrift hängen, das auf dem Tisch lag. Seine Augen folgten unbewusst meiner Blickrichtung, und als sie ebenfalls auf dem Paket angelangt waren, erkannte er sofort meine Gedanken.

»Sie wissen nichts über mich«, sagte ich daher. »Wenn Sie aber diese Papiere gelesen haben werden – es ist mein Tagebuch und das meines Mannes, welches ich mit der Maschine kopiert habe –, dann werden Sie mich etwas kennen. Ich habe keinen Augenblick gezögert, jeden meiner Gedanken hier niederzulegen, aber, wie gesagt, bis jetzt kennen Sie mich nicht, und ich kann also auch nicht erwarten, dass Sie mir Ihr Vertrauen schenken.«

Er ist zweifelsohne ein Mann von noblem Charakter, Lucy hatte ihn ganz richtig beurteilt. Er stand auf und öffnete eine große Schublade, in der mehrere hohle Metallzylinder mit dunklem Wachsüberzug wohlgeordnet beieinanderlagen, und sagte:

»Sie haben recht. Ich habe Ihnen nicht vertraut, weil ich Sie eben nicht kannte. Aber jetzt kenne ich Sie, und lassen Sie mich sagen, ich hätte Sie eigentlich schon länger kennen sollen. Ich weiß, dass Lucy Ihnen von mir erzählt hat; sie hat mir aber auch von Ihnen erzählt. Darf ich Ihnen die einzige Genugtuung geben, die ich Ihnen geben kann? Nehmen Sie diese Zylinder und lassen Sie sich alles von ihnen berichten. Das erste halbe Dutzend bringt rein persönliche Dinge und wird Sie nicht erschrecken, aber Sie werden mich danach besser kennen. Unterdessen wird das Essen fertig sein. Ich werde mich einstweilen damit beschäftigen, einige dieser Dokumente zu lesen, damit ich dann hoffentlich manches besser verstehe.« Er brachte mir den Phonographen in mein Wohnzimmer und bereitete ihn vor. Nun werde ich wohl etwas Nettes zu hören bekommen, nämlich die andere Seite einer wahren Liebesgeschichte, deren eine Seite ich ja bereits kenne …

 

|323|Dr. Sewards Tagebuch

 

29. September

Ich war so vertieft in das merkwürdige Tagebuch Jonathan Harkers und das seiner Frau, dass ich die Zeit verrinnen ließ, ohne mir dessen bewusst zu werden. Auch Mrs. Harker war noch nicht zugegen, als das Mädchen meldete, dass angerichtet sei. Ich sagte deshalb: »Vielleicht ist sie müde, bitte tragen Sie in einer Stunde erneut auf!« Dann fuhr ich mit dem Lesen fort. Gerade hatte ich Mrs. Harkers Tagebuch zu Ende, als sie hereinkam. Sie sah sehr lieblich aus, aber sie war traurig, und ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Irgendwie ging mir das sehr nahe, hatte ich doch vor Kurzem noch weiß Gott selbst genug Ursache zum Weinen gehabt, und dennoch waren mir die erleichternden Tränen versagt geblieben. Der Anblick dieser schönen, vom Weinen noch glänzenden Augen griff mir ans Herz. So freundlich wie möglich sagte ich:

»Ich fürchte sehr, ich habe Ihnen Kummer bereitet.«

»Oh nein«, sagte sie, »es ist nicht mein Kummer, sondern es ist Ihr Leid, dass mich so aufgewühlt hat. Dies ist ein wundervoller Apparat, aber er macht das Geschehene so erschreckend gegenwärtig. Er hat mir durch den Klang Ihrer Stimme Ihren tiefen Schmerz verraten, es war, als riefe eine Seele den Allmächtigen um Hilfe an! Niemand sollte dies noch einmal hören dürfen! Sehen Sie, ich habe versucht, mich nützlich zu machen: Ich habe die Worte mit der Schreibmaschine festgehalten, sodass zukünftig kein anderer mehr Ihr Herz schlagen hören muss, wenn er die Fakten Ihres Tagebuches benötigt.«

»Ja, das geht niemanden etwas an, und keiner soll es wissen«, sagte ich leise. Sie aber nahm meine Hand und entgegnete sehr ernst:

»Doch, die Tatsachen müssen auch andere erfahren.«

»Müssen sie? Warum?«, fragte ich.

»Weil sie einen Beitrag zu der entsetzlichen Geschichte liefern, |324|zur Geschichte von Lucys Sterben, und weil sie von all dem berichten, was dazu führte. In dem großen Kampf, den wir vor uns haben, um die Erde von dem Monster zu befreien, ist jede Erkenntnis, jede Hilfe von Wert. Ich weiß, die Zylinder, die Sie mir gegeben haben, enthielten mehr, als Sie mich eigentlich wissen lassen wollten. Aber sie haben mir auch gezeigt, dass Ihre Aufzeichnungen manches Licht auf das düstere Geheimnis zu werfen vermögen. Sie werden doch zulassen, dass ich Ihnen helfe, nicht wahr? Ich kenne die Lage nun bis zu einem gewissen Punkt, und ich weiß auch, obwohl mich Ihr Tagebuch bislang nur bis zum 7. September geführt hat, wie sehr die arme Lucy heimgesucht worden ist und wie sich der schreckliche Fluch ihrer mehr und mehr bemächtigt hat. Mein Mann und ich haben Tag und Nacht fieberhaft gearbeitet, seit van Helsing bei uns war. Jonathan ist nach Whitby gefahren, um sich genauer zu informieren, und er wird morgen wieder hier sein und uns helfen. Wir dürfen keine Geheimnisse voreinander haben. Gemeinsam und mit gegenseitigem Vertrauen sind wir stark, alleine aber tappt jeder von uns im Dunkeln.« Sie sah mich so flehend an und strahlte gleichzeitig so viel Mut und Entschlossenheit aus, dass ich mich augenblicklich Ihrer Auffassung anschloss. »Einverstanden«, sagte ich, »Sie dürfen in dieser Angelegenheit handeln, wie Sie es für richtig halten. Gott stehe mir bei, wenn ich hiermit einen Fehler begehen sollte, denn Sie werden entsetzliche Dinge zu hören bekommen! Aber da Sie nun schon so weit im Wissen um Lucys Todesumstände vorangeschritten sind, werden Sie über das noch Fehlende nicht im Unklaren bleiben wollen. Nun, das Ende – ihr wirkliches Ende – mag Ihnen immerhin einen Schimmer des Friedens zurückgeben. Doch jetzt kommen Sie bitte, es ist serviert! Wir müssen uns bei Kräften halten für das, was uns bevorsteht, denn wir haben eine grausame und schreckliche Aufgabe zu erfüllen. Wenn Sie gegessen haben, sollen Sie noch das Übrige erfahren. Ich werde Ihnen dann auch auf Ihre Fragen Auskunft geben, denn es ist anzunehmen, dass Sie manches nicht begreifen |325|werden, was uns, die wir zugegen waren, offen vor Augen lag.«

 

Mina Harkers Tagebuch

 

29. September

Nach Tisch holte ich mit Dr. Seward den Phonographen und meine Schreibmaschine aus meinem Raum, und wir gingen in sein Arbeitszimmer. Er schob mir einen bequemen Stuhl hin und stellte den Apparat so auf, dass ich ihn erreichen konnte, ohne aufzustehen. Dann erklärte er mir, wie man das Gerät abstellt, falls ich eine Pause machen wollte. Schließlich setzte auch er sich, und zwar mit dem Rücken zu mir, damit ich so ungestört wie möglich wäre, und begann zu lesen. Ich hielt mir die Hörmuschel ans Ohr und lauschte.

Als ich den furchtbaren Bericht von Lucys Tod und all dem, was danach kam, zu Ende gehört hatte, sank ich erschöpft in meinem Lehnstuhl zurück. Glücklicherweise neige ich nicht zu Ohnmachten, dennoch sprang Dr. Seward, als er meinen Zustand bemerkte, mit einem Schreckensruf auf, holte eine Flasche vom Regal und gab mir etwas Brandy zu trinken, der mich rasch wieder kräftigte. In meinem Kopf drehte sich alles, und nur der Gedanke an den Frieden, den meine geliebte Lucy nach all dem Horror gefunden hatte, ließ mich das Schreckliche ertragen, ohne zusammenzubrechen. Es war alles so wild, geheimnisvoll und befremdlich, dass ich es nie geglaubt haben würde, hätte ich nicht zuvor Jonathans Aufzeichnungen über seine Erlebnisse in Transsilvanien gelesen. Um meiner Verwirrung zu entkommen, wollte ich etwas tun. Ich nahm also den Deckel von meiner Schreibmaschine ab und sagte zu Dr. Seward:

»Lassen Sie mich dies alles übertragen. Wir müssen fertig sein, wenn Dr. van Helsing zurückkehrt. Ich habe an Jonathan ein Telegramm geschickt, dass er sofort hierherkommt, wenn er aus Whitby wieder in London eintrifft. In unserer Sache sind Informationen |326|alles, ich denke, wenn wir das vorhandene Material aufgearbeitet und in chronologische Ordnung gebracht haben, ist ein großer Schritt vorwärts getan. Sie haben mir gesagt, dass Lord Godalming und Mr. Morris auch kommen werden – auch für diese beiden sollte das Material bereit sein.« Dr. Seward stellte den Phonographen etwas langsamer ein, und ich begann, vom siebenten Zylinder an alles niederzuschreiben. Ich gebrauchte Karbonpapier und machte von dem Tagebuch drei Durchschläge, wie ich es auch bei den übrigen Aufzeichnungen getan hatte. Es wurde sehr spät, bis ich endlich fertig war. Dr. Seward hatte währenddessen seinen Rundgang bei den Patienten gemacht und war danach wieder zurückgekommen, um sich lesend in meine Nähe zu setzen, damit ich mich während der Arbeit nicht allzu einsam fühlte. Wie rücksichtsvoll er ist – wenn es auf dieser Welt auch Monstren gibt, so sind wir aber zugleich von vielen guten Menschen umgeben. Bevor ich ihn verließ, fiel mir noch ein, was Jonathan seinem Tagebuch über das Erschrecken van Helsings anvertraut hatte, als dieser am Bahnhof in Exeter die Abendzeitungen durchblätterte. Da ich sah, dass Dr. Seward alle seine Zeitungen aufhob, erbat ich mir die »Westminster Gazette« sowie die »Pall Mall Gazette« und nahm sie mit auf mein Zimmer. Ich dachte daran, wie sehr uns der »Dailygraph« und die »Whitby Gazette«, deren Artikel ich damals ausschnitt, dabei geholfen hatten, die furchtbaren Dinge zu verstehen, die sich in Whitby bei der Landung des Grafen Dracula ereignet hatten. Ich werde also die Zeitungen von diesem Datum an durchsehen, vielleicht bringe ich dadurch ja etwas Neues zutage. Ich bin noch gar nicht müde, die Arbeit wird mir helfen, zur Ruhe zu kommen.

 

|327|Dr. Sewards Tagebuch

 

30. September

Mr. Harker traf um neun Uhr ein. Er hatte das Telegramm seiner Frau erhalten, kurz bevor er von Whitby abfuhr. Ich glaube in seinem Gesicht eine außergewöhnliche Klugheit zu erkennen, auch scheint er voller Energie zu sein. Und wenn sein Tagebuch tatsächlich auf wahren Erlebnissen beruht – in Anbetracht meiner eigenen merkwürdigen Erfahrungen habe ich daran eigentlich keinen Zweifel –, so hat der Mann überdies starke Nerven. Dieser zweite Abstieg zu den Grabgewölben der Burg war ein bemerkenswerter Beweis von Wagemut. Nach der Lektüre seines Berichtes hatte ich jedenfalls einen draufgängerischen Athleten erwartet, nicht aber einen so ruhigen, abgeklärten Gentleman, als der Mr. Harker sich erwies.

 

Später

Nach dem Lunch zogen sich Mr. Harker und seine Gattin in ihr Zimmer zurück, und als ich eine Weile später vorbeiging, hörte ich das Klappern der Schreibmaschine. Sie sind fleißig an der Arbeit. Mrs. Harker sagte, dass sie sich bemühten, jedes, auch das kleinste Beweisstück, in die chronologische Ordnung einzufügen. Harker hat den Briefwechsel zwischen dem Adressaten der Kisten in Whitby und den Spediteuren in London ausfindig gemacht. Nun liest er gerade mein Tagebuch in der Übertragung seiner Frau. Ich möchte wissen, was sie darüber denken. Da kommt er …

Es ist doch merkwürdig, dass mir nie die Idee kam, dass unser Nachbarhaus das Versteck des Grafen sein könnte! Wir hätten es doch aus dem Verhalten des Patienten Renfield schließen müssen. Das Bündel mit Papieren, den Kauf des Grundstücks betreffend, lag bei den Akten. Hätten wir sie nur früher besessen, wir hätten Lucys Leben wohl retten können! Doch halt, solche Gedanken machen uns nur verrückt. Harker ist wieder hinaufgegangen und ordnet sein Material. Er versprach, bei |328|Tisch einen kohärenten Bericht der bisherigen Tatsachen vorlegen zu können, und schlug mir vor, doch inzwischen Renfield zu besuchen, der ja bisher immer eine Art Anzeiger für das Kommen und Gehen des Grafen gewesen war. Bislang glaube ich dies zwar noch nicht so recht, wenn ich aber die Daten vergleiche, so kann ich diese Möglichkeit schwer von der Hand weisen. Es ist gut, dass Mrs. Harker die phonographischen Aufzeichnungen mit der Maschine niederschreibt. Wir hätten die Daten sonst nie genau finden können …

Als ich bei Renfield eintrat, saß er friedlich mit gefalteten Händen da und lächelte gutmütig. In diesem Augenblick kam er mir so vernünftig vor wie jeder normale Mensch. Ich setzte mich zu ihm, plauderte mit ihm über alles Mögliche, und er ging in ungezwungener Weise darauf ein. Er sprach auch, ohne dass ich ihm dazu Veranlassung gegeben hätte, davon, heimgehen zu wollen – ein Thema, das er meines Wissens noch nie berührt hat, solange er hier weilt. Eigentlich redete er von seiner baldigen Entlassung wie von einer ausgemachten Sache. Ich glaube, wenn ich nicht zuvor mit Harker über diese Angelegenheit gesprochen und die Daten seiner Ausbrüche mit den Briefen verglichen hätte, so hätte ich ihm nach einer kurzen Beobachtungszeit den Entlassungsschein ausgestellt. Wie die Sache aber lag, war ich natürlich äußerst argwöhnisch. Alle seine Anfälle waren in irgendeiner Weise mit der Anwesenheit des Grafen verknüpft. Was bedeutete jetzt also diese Miene absoluter Zufriedenheit? War es denn möglich, dass sein Instinkt den endgültigen Sieg des Vampirs erahnte? Doch langsam! Renfield war selbst ein Zoophagus, und in seinen wilden Rasereien draußen vor der Kapellentür des verlassenen Hauses schrie er immer nach seinem »Meister« – das passte alles sehr gut zusammen.

Nach einer Weile ging ich wieder, denn mein Freund war mir zu klarsichtig, als dass ich es wagen wollte, ihm zu viele Fragen zu stellen. Am Ende wäre er mir noch ins Grübeln gekommen, und was das für Folgen haben könnte … Ich bin also gegangen. |329|Und da ich seinem ruhigen Verhalten misstraue, habe ich den Pfleger angewiesen, ein wachsames Auge auf ihn zu haben und für alle Fälle eine Zwangsjacke bereitzuhalten.

 

Jonathan Harkers Tagebuch

 

29. September, im Zug nach London

Nachdem ich Mr. Billingtons freundliche Mitteilung erhalten hatte, dass er mir jede in seinem Vermögen stehende Auskunft erteilen wolle, hielt ich es für das Beste, persönlich nach Whitby zu reisen und die nötigen Nachforschungen an Ort und Stelle anzustellen. Meine vordringlichste Aufgabe war es, den Weg der geheimnisvollen Schiffsladung des Grafen bis zu ihrem Ziel in London zu verfolgen, da wir dieses Wissen sicher benötigen werden. Billington junior, ein netter junger Bursche, erwartete mich auf dem Bahnhof und brachte mich zum väterlichen Haus, wo bereits alles für meine Übernachtung hergerichtet war. Sie waren von einer wahrhaft Yorkshire’schen Gastfreundschaft, die dem Motto zu folgen schien: Gib dem Gast alles, was du hast, aber lass ihm seine Freiheit. Alle waren sich bewusst, dass ich sehr beschäftigt war und dass ich nicht aufgehalten werden durfte. Mr. Billington hatte deshalb schon alle Papiere, die den Transport der Kisten betrafen, bereitgelegt. Ich erschrak, als ich einen der Briefe wiedererkannte, die ich auf dem Tisch im Bibliothekszimmer des Grafen hatte liegen sehen, noch bevor ich von seinen teuflischen Plänen auch nur die geringste Ahnung hatte. Alles war offenbar sorgfältig durchdacht und systematisch und genau ausgeführt worden. Der Graf schien sich auf jedes Hindernis vorbereitet zu haben, das sich der Ausführung seines Planes zufällig in den Weg legen konnte. Um einen Amerikanismus zu gebrauchen, »he had taken no chances«3, und die absolute Genauigkeit, |330|mit der seine Aufträge ausgeführt worden waren, war die logische Folge der von ihm aufgewandten Sorgfalt. Ich fand die Rechnung und machte mir eine Abschrift davon: »Fünfzig Kisten einfacher Erde zur Verwendung für Experimente.« Auch die Kopie des Briefes an Carter Paterson und die Antwort darauf fand ich; von beiden fertigte ich ebenfalls Abschriften. Das war alles, was mir Mr. Billington an Informationen geben konnte, und so begab ich mich zum Hafen hinunter und suchte die Küstenwache, die Zollbeamten und den Hafenmeister auf. Sie wussten alle etwas über das gespenstische Schiff zu sagen, das schon seinen Platz in der Lokalgeschichte gefunden hat, aber keiner von ihnen konnte der dürftigen Beschreibung »fünfzig Kisten einfacher Erde« etwas Wissenswertes hinzufügen. Als Nächstes ging ich zum Bahnhofsvorsteher, der mich in zuvorkommender Weise mit den Leuten bekannt machte, die die Kisten verladen hatten. Ihre Angaben stimmten mit denen meines Scheines überein, aber sie hatten nichts weiter hinzuzufügen, als dass die Kisten »höllisch schwer« und daher ein »gehöriges Stück Arbeit« gewesen seien. Einer von ihnen ergänzte noch, dass sie bedauerten, nicht von einem so freundlichen Gentleman wie mir beauftragt worden zu sein, da sie eine gewisse Anerkennung in flüssiger Form wohl nötig und eigentlich auch verdient gehabt hätten. Darauf warf der andere ein, dass ihre Anstrengung in der Tat so außerordentlich gewesen wäre, dass der daraus entstandene Durst sich bis zum aktuellen Tage nicht gänzlich verflüchtigt hätte. Unnötig zu erwähnen, dass ich diese Quelle von Vorwürfen endgültig und adäquat gestopft habe.

 

30. September

Der Bahnhofsvorsteher von Whitby hatte die Güte gehabt, mir einige Zeilen an seinen alten Freund, den Bahnhofsvorsteher von King’s Cross, mitzugeben. Als ich am Vormittag hier ankam, konnte ich mich damit gleich bei dem Mann nach der Ankunft der Kisten erkundigen. Er vermittelte mir wiederum den Kontakt |331|zu den verantwortlichen Angestellten, von denen ich erfuhr, dass alles entsprechend den ursprünglichen Anweisungen vonstatten gegangen war. Es war zwar äußerst unwahrscheinlich, dass die Männer auch hier sich einen außerordentlichen Durst zugezogen hatten, aber sie behaupteten dies ebenfalls, und so kam ich erneut nachträglich für das Ungemach auf.

Von da begab ich mich zu Carter Patersons Zentralbüro, wo ich mit größter Zuvorkommenheit empfangen wurde. Die Buchhaltung suchte die Transaktion und den dazugehörigen Schriftverkehr für mich heraus, und man telefonierte sogar noch mit dem Büro in King’s Cross für weitere Details. Zum Glück warteten dort gerade die Leute, die damals die Fuhre gemacht hatten, auf Arbeit. Der Bürovorsteher schickte sie herüber und gab ihnen gleich den Frachtbrief und alle Papiere mit, die mit der Ablieferung der Kisten in Carfax in Zusammenhang standen. Auch hier stimmten sämtliche Aufzeichnungen überein, und die Fuhrleute waren imstande, die geschriebenen Worte durch einige Einzelheiten zu ergänzen. Diese bezogen sich, wie ich amüsiert bemerkte, vornehmlich auf die staubige Beschaffenheit der Ladung und den dadurch verursachten Durst der Transporteure. Da ich allerdings noch mehr zu erfahren hoffte, bemühte ich mich zum dritten Mal, diesem Übel nachträglich durch eine Gabe in der Währung unseres Königreiches abzuhelfen. Dies wirkte, denn sogleich sagte einer von ihnen:

»Ja, Sir, das Haus da, in dem wir zu tun hatten, ist das schäbigste, das ich in meinem ganzen Leben gesehen hab’. Weiß der Teufel, es muss mindestens seit hundert Jahren leer stehen. Da lag ein Staub, der war so dicht, dass man darauf hätte schlafen können, ohne sich die Knochen am Boden zu stoßen. Das Ganze war so vernachlässigt, dass es wie das alte Jerusalem roch. Aber die Kapelle erst – die schoss den Vogel ab, wirklich! Ich und mein Kumpel hier, wir konnten gar nicht schnell genug wieder rauskommen. Bei Gott, Sir, nich’ für Geld würd’ ich dort bei Dunkelheit reingehen!«

|332|Da ich das Haus gesehen hatte, konnte ich ihm das wohl nachfühlen. Wenn er aber all das gewusst hätte, was ich weiß, dann hätte er wahrscheinlich noch heftiger reagiert.

Mit etwas bin ich sehr zufrieden: dass nämlich alle Kisten, die auf der »Demeter« von Varna nach Whitby gekommen waren, auch wirklich in der alten Kapelle zu Carfax abgeladen worden sind. Es sollten also genau fünfzig Stück dort sein, es sei denn, man hat zwischenzeitlich einige wieder abgeholt. Nach Dr. Sewards Papieren steht aber genau das zu befürchten.

Ich werde versuchen, den Fuhrmann ausfindig zu machen, der Kisten von Carfax abgeholt hat und dabei von Renfield angegriffen wurde. Dieser Spur nachzugehen könnte uns einige brauchbare Erkenntnisse verschaffen.

 

Später

Mina und ich haben den ganzen Tag gearbeitet, alle Papiere sind nun chronologisch sortiert.

 

Mina Harkers Tagebuch

 

30. September

Ich bin so froh, dass ich mich kaum zu fassen weiß! Vermutlich deshalb, weil die drückende Furcht von mir gewichen ist, dass das Aufrühren der schrecklichen Erlebnisse die kaum vernarbten Wunden Jonathans wieder aufreißen und seinen Gesundheitszustand wieder verschlechtern könnte. Seiner Abreise nach Whitby sah ich so tapfer entschlossen wie möglich zu, aber ich war krank vor Sorge. Die Aktivität hat ihm jedoch gutgetan. Er war noch nie so resolut, so stark und so voll vulkanischer Energie wie gegenwärtig. Es ist ganz so, wie der gute Professor van Helsing sagte: Jonathan ist von echtem Schrot, und der Druck, der eine schwächere Natur umbringen würde, macht ihn nur noch stärker. Er kam zurück voller Leben, Hoffnung und Entschlossenheit. Wir haben für heute Abend alles vorbereitet, und |333|ich bin sehr aufgeregt. Eigentlich müsste man fast Mitleid mit jemandem haben, der so gejagt wird wie der Graf. Aber das ist der Punkt: Das ist kein »jemand«, dieses Ding ist kein Mensch, ja noch nicht einmal ein Tier. Und Dr. Sewards Bericht über den Tod der armen Lucy und all das, was diesem nachfolgte, reicht völlig aus, um alle Quellen des Mitleids zu verschließen.

 

Später

Lord Godalming und Mr. Morris kamen früher als erwartet. Dr. Seward hatte auswärts zu tun, und Jonathan war mit ihm gefahren, so musste ich also die beiden allein empfangen. Es war eine sehr schmerzhafte Begegnung für mich, denn sie rief mir all die Hoffnungen ins Gedächtnis zurück, die die arme Lucy noch vor wenigen Monaten gehegt hatte. Ohne Zweifel hatte Lucy den beiden von mir erzählt, und es scheint, als hätte auch Dr. van Helsing ihnen gegenüber »mein Loblied gesungen«, wie Mr. Morris sich ausdrückte. Die armen Männer, keiner von ihnen ahnte, wie viel Lucy mir von ihnen und ihren Heiratsanträgen erzählt hatte. Und da sie auch in Unkenntnis meines Wissensstandes hinsichtlich Lucys Ende waren, getrauten sie sich kaum, etwas zu sagen. Unser Gespräch drehte sich daher zunächst um nichtige Dinge, bis ich mir die Sache überlegt hatte und zu dem Ergebnis gekommen war, dass es am besten wäre, sie in allen Angelegenheiten auf den neuesten Stand zu bringen. Ich wusste ja aus Dr. Sewards Tagebuch, dass sie beide Lucys Tod – ihren wirklichen Tod – miterlebt hatten, also stand nicht zu befürchten, ihnen vor der Zeit irgendwelche Geheimnisse zu verraten. So erzählte ich ihnen, so gut ich konnte, dass ich alle vorhandenen Papiere und Tagebücher gelesen und gemeinsam mit meinem Mann in die richtige Ordnung gebracht habe, womit wir gerade erst fertig geworden seien. Ich gab darauf jedem von ihnen eine Kopie, die sie in der Bibliothek lesen sollten. Als Lord Godalming seinen ziemlich umfangreichen Papierstapel in der Hand hielt, fragte er:

|334|»Haben Sie dies alles abgeschrieben, Mrs. Harker?«

Ich nickte, und er fuhr fort:

»Ich verstehe Ihren Antrieb zwar nicht recht, aber Sie sind so gut und freundlich und haben so eifrig und energisch gearbeitet, dass ich nichts anderes tun kann, als Ihnen blind zu vertrauen und Sie zu unterstützen. Ich habe über das Akzeptieren von Fakten bereits eine Lektion erhalten, die einen Mann für den Rest seines Lebens demütig machen kann. Außerdem weiß ich, dass Sie meine arme Lucy lieb gehabt haben …« Hier wandte er sich ab und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Mr. Morris legte für einen kurzen Augenblick mitfühlend seine Hand auf die Schulter des Freundes, dann ging er geräuschlos aus dem Zimmer. Ich glaube, es liegt etwas in der Natur der Frauen, das einem Mann erlaubt, seinem Schmerz vor ihnen freien Lauf zu lassen und seine Gefühle zu zeigen, ohne dass er sich dadurch in seiner Männlichkeit eingeschränkt fühlt. Kaum nämlich, dass Mr. Morris das Zimmer verlassen hatte und Arthur sich mit mir allein sah, setzte er sich aufs Sofa und sprach sich rückhaltlos aus. Ich setzte mich neben ihn und hielt seine Hand. Ich hoffe nicht, dass er dies unverschämt fand, und ich hoffe, dass er auch später nicht so darüber denken wird. Doch ich tue ihm Unrecht: Ich weiß, dass er so nicht denkt, denn er ist ein wahrer Gentleman. Ich sah, dass sein Herz gebrochen war, und sagte zu ihm:

»Ich habe Lucy geliebt und weiß, was sie Ihnen bedeutet hat und was Sie ihr waren. Lucy und ich, wir waren wie Schwestern. Nun, da sie von uns gegangen ist, wollen Sie mir nicht erlauben, Ihnen in Ihrem Leid eine Schwester zu sein? Ich weiß, welche Pein Sie auszustehen hatten, wenn ich auch deren Tiefe nicht zu ermessen vermag. Wenn Sympathie und Mitleid imstande sind, Ihnen Ihren Kummer etwas zu erleichtern, wollen Sie mich nicht mittragen lassen – um Lucys willen?«

Da wurde der arme Mann von seinem Schmerz überwältigt. Ich hatte den Eindruck, als würde das ganze Leid, das er die letzten Tage schweigend getragen hatte, nun plötzlich gewaltsam |335|hervorbrechen. Er war völlig fassungslos und rang die Hände in unsäglicher Verzweiflung. Er sprang auf und setzte sich wieder, während ihm zahllose Tränen über die Wangen flossen. Ich fühlte unendliches Mitleid mit ihm und nahm ihn unwillkürlich in meine Arme. Mit einem Seufzer legte er seinen Kopf an meine Schulter und weinte wie ein müdes Kind, während ihn der Schmerz schüttelte.

Wir Frauen haben wohl einen Mutterinstinkt, der uns über alles andere hinwegsehen lässt, wenn er einmal erwacht ist. Ich ließ den Kopf des gramerfüllten Mannes an meiner Brust ruhen, als wäre er das Haupt eines Kindes, das ich noch nicht habe, und ich streichelte sein Haar. Keinen Augenblick kam mir der Gedanke, dass dies vielleicht seltsam sein könnte.

Nach einer Weile ließ sein Schluchzen nach, und er erhob sich mit einer Entschuldigung, wobei er seinen Gefühlsausbruch jedoch nicht verleugnete. Er erzählte mir dann, dass er die vergangenen Tage und schlaflosen Nächte unfähig gewesen war, so mit irgendjemandem zu sprechen, wie man mit einem solchen Kummer sprechen muss. Er kannte auch keine Frau, die ihm ihr Mitgefühl hätte bezeugen oder mit der er hätte reden können, da die grausigen Umstände, mit denen sein Leid verbunden war, eine gewisse Rücksicht forderten. »Jetzt erst weiß ich, was ich gelitten habe«, sagte er, indem er seine Augen trocknete. »Ich kann aber kaum ermessen, niemand kann ermessen, wie viel Ihre Anteilnahme für mich bedeutet. Es wird der Tag kommen, an dem ich dies vielleicht zu beurteilen vermag. Und bitte glauben Sie mir, obwohl ich Ihnen schon jetzt dankbar bin, so wird meine Dankbarkeit immer mehr wachsen, je mehr mir alles zu Bewusstsein kommt. Lassen Sie mich Ihnen ein Bruder sein, mein Leben lang – um Lucys willen!«

»Um Lucys willen«, sagte ich, als wir uns die Hände reichten.

»Ja, aber auch um Ihretwillen«, fügte er hinzu, »denn wenn die Achtung und die Dankbarkeit eines Mannes etwas wert sind, so haben Sie diese heute überreichlich gewonnen. Sollte in Zukunft |336|je eine Zeit kommen, in der Sie der Hilfe eines Mannes bedürfen, so rufen Sie mich. Sie werden nicht umsonst rufen. Gott gebe, dass so eine Zeit für Sie nie kommt, dass der Sonnenschein in Ihrem Leben nie aufhört, aber sollte es sein, so versprechen Sie mir, mich zu benachrichtigen!« Er sagte das so ernst, und sein Schmerz war noch so nah, dass ich fühlte, ich müsse ihn mit meiner Antwort trösten. So sagte ich denn:

»Ich verspreche es.«

Als ich dann auf den Korridor hinaustrat, sah ich Mr. Morris am Fenster stehen. Auf das Geräusch meiner Schritte hin drehte er sich um. »Wie geht es Art?«, fragte er. Da aber mussten ihm schon meine geröteten Augen aufgefallen sein, denn er fuhr fort: »Ah, ich sehe, Sie haben ihn getröstet. Armer alter Knabe, er hat das dringend gebraucht. Einzig eine Frau kann einem Mann helfen, dem das Herz gebrochen ist. Und er kennt niemanden, der ihm diesen Dienst erweisen könnte.«

Mr. Morris trug sein eigenes Leid so tapfer, dass er mich innig rührte. Ich sah das Manuskript in seiner Hand und wusste, dass ihm, wenn er es erst zur Gänze gelesen hatte, auch klar sein musste, in welchem Umfang ich über alles unterrichtet war. Ich sagte also:

»Ich wollte, ich könnte alle trösten, deren Herz blutet. Darf ich auch Ihre Freundin sein, und wollen Sie sich von mir trösten lassen, wenn Sie des Trostes bedürfen? Sie werden später erkennen, warum ich Sie darum bitte.« Er sah, dass es mir ernst war, trat näher, verbeugte sich, ergriff meine Hand und führte sie an seine Lippen. Das schien mir aber ein zu geringer Trost für diese edle, selbstlose Seele zu sein, und unwillkürlich küsste ich ihn auf die Stirn. Tränen traten in seine Augen, und mit leiser Stimme sagte er:

»Kleines Mädchen, Sie sollen Ihre aufrichtige Freundlichkeit nie bereuen, solange Sie leben!« Dann ging er ins Arbeitszimmer zu seinem Freund hinüber.

»Kleines Mädchen!« – dieselben Worte hatte er einst zu Lucy gesagt, und wie sehr hatte er sich als Freund bewährt!