|500|SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

29. Oktober

Dies schreibe ich im Zug von Varna nach Galatz. Gestern Abend versammelten wir uns alle kurz vor Sonnenuntergang. Jeder hatte seine Arbeit so gut getan, wie er es vermochte. Was Nachdenken und Fleiß anbetrifft, sind wir für alle Wechselfälle der Reise gerüstet, und ebenso für das Werk, das in Galatz auf uns wartet. Mrs. Harker machte sich zur üblichen Zeit für die Hypnose bereit, aber van Helsing brauchte diesmal trotz großer Anstrengungen weitaus länger als sonst, um sie in Trance zu versetzen. Genügte zuvor bereits ein Wink, um sie zum Sprechen zu bringen, so musste der Professor sie diesmal ausdrücklich fragen, sehr energisch fragen, bis endlich eine Antwort kam:

»Ich kann nichts sehen, wir liegen still. Keine schlagenden Wellen, nur ein beständiges Gurgeln des Wassers, das sanft um die Taue spült. Ich höre das Rufen von Männerstimmen, nahe und fern, und das Rollen und Knirschen von Rudern in den Dollen. Irgendwo wird ein Schuss abgefeuert, das Echo ist weit entfernt. Ich höre das Trampeln von Füßen über mir, Seile und Ketten werden gezogen. Was ist das? Da ist ein Lichtstrahl, ich spüre einen Luftzug.«

Hier hielt sie inne. Sie setzte sich ruckartig auf dem Sofa auf – sie hatte zuvor gelegen – und streckte beide Hände in die Höhe, die Handflächen aufwärts gerichtet, als ob sie eine Last tragen würde. Van Helsing und ich sahen einander vielsagend an. Quincey zog seine Augenbrauen hoch und blickte scharf zu ihr hinüber, während Harkers Hand instinktiv nach dem Knauf seines Gurkha-Messers griff. Es entstand eine lange Pause. Wir wussten, |501|dass die Zeit, in der sie sprechen konnte, unwiederbringlich dahinfloss, aber wir fühlten auch, dass es zwecklos war, etwas zu sagen. Plötzlich stand sie auf, öffnete die Augen und fragte freundlich:

»Wünscht einer der Herren eine Tasse Tee? Sie müssen doch alle sehr erschöpft sein!« Wir wollten ihr die Freude machen und gingen auf ihren Wunsch ein, worauf sie geschäftig hinauseilte, um den Tee zu holen. Kaum aber hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, sagte van Helsing:

»Sie sehen, meine Freunde, sein Schiff hat Anker geworfen, und er hat seine Erdkiste verlassen. Allerdings ist er selbst noch nicht an Land gegangen, denn wenn er nicht ans Ufer getragen wird oder der Schiffsrumpf selbst an keinen Kai stößt, kann er nicht von Bord. Es gibt also zwei Möglichkeiten: Entweder verlässt er nachts das Schiff, wozu er seine Gestalt ändern und an Land springen müsste, wie er es in Whitby getan hat. Dann wäre er aber seinen Zufluchtsort los. Oder er versteckt sich über Nacht, um sich am Tag hinübertragen zu lassen, was aber das Risiko für ihn birgt, von den Zollbeamten entdeckt zu werden. Für uns bedeutet dies: Wenn er nachts nicht entkommt und morgen tagsüber nicht entladen wird, so könnten wir noch rechtzeitig am darauffolgenden Tag über ihn kommen, wo er uns in seiner Kiste ausgeliefert ist.«

Dem war nichts hinzuzufügen, und so geduldeten wir uns bis zum Morgengrauen, zu welcher Zeit wir hoffen durften, durch Mrs. Harker mehr zu erfahren.

Heute am frühen Morgen nun warteten wir in atemloser Spannung auf ihre in Trance gegebenen Auskünfte. Es dauerte noch länger als am gestrigen Abend, sie in Hypnose zu versetzen, und als es endlich gelungen war, war die Zeit bis zum vollen Sonnenaufgang nur noch so kurz, dass wir schon zu verzweifeln begannen. Van Helsing war aber mit vollem Einsatz bei der Sache, und schließlich gehorchte Mrs. Harker seinem Willen doch noch und antwortete ihm:

|502|»Alles ist dunkel. Ich höre plätscherndes Wasser neben mir und ein Knirschen wie von Holz, das auf Holz reibt …« Sie hielt inne, denn rotleuchtend stieg die Sonne empor. Für Weiteres müssen wir also bis zum Abend warten.

Und so sind wir nun in äußerster Erwartung auf dem Weg nach Galatz. Laut Fahrplan sollen wir dort zwischen zwei und drei Uhr am frühen Morgen eintreffen, aber schon in Bukarest hatten wir drei Stunden Verspätung. Es sieht also so aus, als würden wir keinesfalls vor Sonnenaufgang ankommen. Damit bleiben uns noch zwei weitere Hypnosesitzungen mit Informationen von Mrs. Harker, wenigstens eine von beiden sollte Licht auf die Ereignisse werfen.

 

Später

Sonnenuntergang ist vorüber. Glücklicherweise wurden wir um diese Zeit nicht gestört, denn hätte der Zug gerade auf einer Station gehalten, so hätten wir wohl kaum die notwendige Ruhe und Abgeschiedenheit gewährleisten können. Mrs. Harker ergab sich dem hypnotischen Einfluss wieder nur unter großen Schwierigkeiten. Ich fürchte, dass ihre Fähigkeit, die Gefühle des Grafen zu lesen, gerade dann dahinschwindet, wenn wir ihrer am meisten bedürfen. Auch kommt es mir so vor, als würde sich zunehmend ihre Fantasie einmischen, denn bisher hatte sie sich in Trance auf das Konstatieren von Fakten beschränkt. Wenn das so weitergeht, könnte es uns letztendlich in die Irre führen. Wenn anzunehmen wäre, dass die Macht des Grafen über sie in demselben Maß schwinden würde wie ihre Fähigkeit, seine Wahrnehmungen zu lesen, so wäre das beruhigend für uns. Ich fürchte aber, dass dies nicht so ist. Als sie nämlich sprach, waren ihre Worte rätselhaft:

»Etwas geht heraus, es streift über mich wie ein kühler Wind. Aus weiter Entfernung höre ich undeutliche Geräusche – Männerstimmen in fremdartigen Sprachen, herabstürzendes Wasser und das Heulen von Wölfen.« Sie brach ab, und ein Schauer durchrann sie, der sich einige Sekunden bis zu einem Schütteln |503|steigerte und schließlich in eine Art Starre mündete. Sie sagte kein Wort mehr, auch nicht auf des Professors fordernde Fragen. Als sie aus der Trance erwachte, fror sie und war erschöpft und matt, aber ihr Geist war vollständig klar. Sie konnte sich an nichts erinnern, erkundigte sich aber, was sie gesagt habe. Nachdem wir es ihr mitgeteilt hatten, versank sie auf lange Zeit in ein tiefes, grüblerisches Schweigen.

 

30. Oktober, 7 Uhr morgens

Wir sind nun kurz vor Galatz, und es ist möglich, dass ich später keine Zeit zum Schreiben mehr finde. Der heutige Sonnenaufgang war von uns allen mit ängstlicher Spannung erwartet worden. Eingedenk der Tatsache, dass es immer schwieriger wird, Mrs. Harker in Trance zu versetzen, hat van Helsing diesmal deutlich früher mit dem Hypnotisieren begonnen. Er konnte jedoch trotzdem lange nichts bei ihr erreichen, und als sie ihm schließlich gehorchte, war es bereits eine Minute vor Sonnenaufgang. Der Professor verlor keine Zeit und begann unverzüglich zu fragen, worauf sie ebenso schnell antwortete:

»Alles ist dunkel. Ich höre Wasser neben mir vorbeirauschen, und Holz, das auf Holz knarrt. Kühe, weit entfernt. Da ist noch ein anderer Ton, er klingt seltsam, so wie …«

– sie schwieg und wurde immer blasser.

»Weiter! Weiter! Sprechen Sie, ich befehle es Ihnen!«, rief van Helsing angstvoll, zugleich zeigte sich Verzweiflung in seinen Augen, denn die aufgehende Sonne rötete nun schon Mrs. Harkers bleiches Gesicht. Da öffnete sie die Augen, und wir alle staunten nicht wenig, als sie freundlich und mit großer Sorglosigkeit sagte:

»Ach, Professor, warum verlangen Sie etwas von mir, von dem Sie wissen, dass ich es nicht kann? Ich erinnere mich an gar nichts mehr.« Unsere verblüfften Mienen müssen sie dann verwirrt haben, denn während sie uns der Reihe nach ansah, fügte sie unsicher hinzu:

|504|»Was habe ich gesagt? Was habe ich getan? Ich weiß nichts, außer, dass ich im Halbschlaf hier lag und Sie sagen hörte: ›Weiter! Weiter! Sprechen Sie, ich befehle es Ihnen!‹ Es kam mir so komisch vor, mich von Ihnen schelten zu lassen wie ein unartiges Kind.«

»Oh, Madame Mina«, sagte er traurig, »ein Wort zu Ihrem Besten, strenger gesprochen als sonst, ist nur der Beweis, falls so ein Beweis überhaupt nötig sein sollte, wie sehr ich Sie liebe und verehre. Und es klang Ihnen komisch, da es ein Befehl an diejenige war, der zu gehorchen ich sonst stolz bin.«

Die Zugpfeife ertönt, wir fahren in Galatz ein. Wir glühen vor Aufregung und Tatendrang …

 

Mina Harkers Tagebuch

 

30. Oktober

Mr. Morris begleitete mich ins Hotel, wo unsere Zimmer bereits telegrafisch reserviert waren. Er ist aus unserer Gruppe am leichtesten abkömmlich, da er keine fremde Sprache spricht. Wir haben unsere Kräfte so aufgeteilt wie in Varna auch, nur dass diesmal Lord Godalming zum Vizekonsul gegangen ist, da wir annehmen, dass sein Rang dazu beiträgt, unsere Sache zu beschleunigen. Jonathan und die beiden Ärzte sind zum Schiffsagenten unterwegs, um Näheres über die Ankunft der »Zarin Katharina« zu erfahren.

 

Später

Lord Godalming ist zurückgekehrt. Der Konsul ist verreist, der Vizekonsul krank, und so wurde das alltägliche Geschäft von einem Angestellten geführt. Dieser aber war äußerst zuvorkommend und versprach, alles in seiner Macht Stehende zu tun.

 

|505|Jonathan Harkers Tagebuch

 

30. Oktober

Um neun Uhr sprachen Dr. van Helsing, Dr. Seward und ich bei den Herren Mackenzie & Steinkoff, den Vertretern der Londoner Firma Hapgood, vor. Diese hatten in Reaktion auf Lord Godalmings telegrafische Bitte ein Telegramm aus London erhalten, das sie anwies, uns in jeder Weise behilflich zu sein. Sie waren mehr als zuvorkommend und führten uns augenblicklich an Bord der »Zarin Katharina«, die im Flusshafen vor Anker liegt. Dort trafen wir den Kapitän, Donelson mit Namen, der uns von seiner Reise erzählte. Er meinte, dass er noch nie in seinem Leben unter so günstigen Umständen gesegelt sei.

»Oh Mann«, sagte er, »das war uns schon richtig unheimlich, und wir fürchteten, dass das dicke Ende noch kommen würde, dass wir die schnelle Fahrt mit Schiffbruch oder sonst einem Unglück zu bezahlen hätten. Es ist schon verdammt seltsam, von London bis ins Schwarze Meer hinein vor einem Wind zu laufen, dass man hätte glauben können, der Teufel selbst bliese einem in die Segel, so rasch ging es dahin. Dabei konnten wir fast gar nichts sehen. Wann immer wir uns einem Schiff, einem Hafen oder einem Kap näherten, fiel ein dichter Nebel herab und begleitete uns. Und wenn er sich dann wieder hob und wir Ausschau hielten, lag alles bereits hinter uns. So fuhren wir an Gibraltar vorbei, ohne ein Signal geben zu können. Bis wir in die Dardanellen kamen, wo wir auf unsere Durchfahrtsgenehmigung warten mussten, waren wir von allem abgeschnitten. Anfangs hatte ich manchmal daran gedacht, die Segel zu streichen und den Nebel abziehen zu lassen, dann aber sagte ich mir, dass, wenn es dem Teufel darum zu tun sei, uns so schnell wie möglich ins Schwarze Meer zu bringen, er dies auch tun würde, ob wir nun wollten oder nicht. Auch beim Schiffseigentümer würde uns so eine schnelle Reise nicht in Misskredit bringen, und der Teufel selbst würde sich bestimmt dankbar dafür zeigen, wenn wir uns seinen Plänen |506|nicht widersetzten.« Diese Mischung aus Einfalt und Schlauheit, aus Aberglaube und kaufmännischer Berechnung amüsierte van Helsing, sodass er einwarf:

»Mein Freund, dieser Teufel ist viel schlauer, als manche annehmen, denn er weiß genau, wann er seinen Meister gefunden hat!« Der Seemann fühlte sich geschmeichelt und fuhr fort:

»Als wir den Bosporus passiert hatten, begann meine Mannschaft zu murren. Einige von ihnen, die Rumänen, kamen und baten mich, eine große Kiste über Bord werfen zu dürfen, die ein alter, merkwürdig aussehender Mann kurz vor unserer Abfahrt hatte aufs Schiff bringen lassen. Ich hatte schon in London gesehen, wie sie nach dem Kerl hinschielten und zwei Finger gabelförmig gegen ihn ausstreckten, um sich vor dem Bösen Blick zu schützen. Oh Mann, der Aberglaube dieser Ausländer ist doch wirklich zu lächerlich! Ich schickte sie augenblicklich wieder an ihre verdammte Arbeit, aber als uns gleich darauf ein undurchdringlicher Nebel einschloss, fühlte ich doch ein gewisses Unbehagen, wenn ich auch nicht gerade sagen kann, dass es sich auf die Kiste bezog. Nun, als der Nebel fünf Tage lang nicht wich, beschloss ich, mich vom Wind treiben zu lassen – wenn der Teufel uns irgendwohin bringen wollte, so würde er es ja ohnehin schaffen. Jedenfalls hatten wir die ganze Zeit guten Wind und tiefes Wasser, und als vor zwei Tagen die Morgensonne durch den Nebel drang, befanden wir uns schon im Fluss, Galatz gegenüber. Die verdammten Rumänen waren aufgebracht und verlangten von mir, Recht oder Unrecht, die Kiste in den Fluss zu werfen. Eine Holzlatte hat mir dann beim Diskutieren geholfen, und als der Letzte von ihnen sich mit brummendem Schädel unter Deck verkroch, hatte ich sie überzeugt, dass das Eigentum meiner Auftraggeber bei mir besser aufgehoben ist als auf dem Grunde der Donau, Böser Blick hin oder her. Wissen Sie, die hatten die Kiste nämlich sogar schon auf Deck gebracht, um sie über die Reling zu schmeißen. Und da der Frachtzettel darauf »Galatz via Varna« sagte, dachte ich mir, dann könne sie |507|da gleich stehen bleiben, bis wir sie im Hafen loswerden. Wir haben an dem Tag aber doch nicht mehr viel von unserer Ladung gelöscht und blieben also über Nacht vor Anker. Am Morgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, kam dann so ein Kerl an Bord, der ein Schreiben aus England vorzeigte, dass er eine Kiste abholen darf, die einem Grafen Dracula gehört. Die stand ja nun schon bereit, seine Papiere waren in Ordnung, und ich war herzlich froh, das verdammte Ding loszuwerden, denn mittlerweile war es auch mir nicht mehr geheuer. Hätte der Teufel persönlich sein Gepäck auf meinem Schiff abgeladen, so hätte ich mich nicht schlechter gefühlt.«

»Wie hieß der Mann, der die Kiste in Empfang nahm?«, fragte Dr. van Helsing mit verhaltener Neugier.

»Das kann ich Ihnen gleich sagen«, antwortete der Kapitän. Er stieg in seine Kabine hinunter und brachte sogleich eine Quittung herauf, die mit »Immanuel Hildesheim« unterzeichnet war, Burgenstraße 16 lautete die Adresse. Das war alles, was der Kapitän wusste, und so dankten wir und verabschiedeten uns.

Wir fanden Hildesheim in seinem Büro, einen Juden, wie man ihn auf der Bühne zu sehen bekommt, mit einer großen Nase und einem Fez. Er gab uns zunächst nur in kleiner Münze Auskunft, die wir ihm ebenso heimzahlten, doch nachdem wir ein wenig mit ihm gefeilscht hatten, erzählte er uns schließlich alles, was er wusste. Es war wenig, aber von größter Bedeutung: Er hatte von einem Mr. de Ville aus London einen Brief erhalten mit dem Auftrag, eine Kiste abholen zu lassen, welche auf der »Zarin Katharina« in Galatz ankommen würde. Die Abholung sollte nach Möglichkeit vor Sonnenaufgang erfolgen, um den Zoll zu umgehen. Im Weiteren musste die Kiste dann einem gewissen Petrof Skinsky übergeben werden, der mit den Slowaken in Verbindung stand, welche den Fluss hinunter bis zum Hafen Handel treiben. Hildesheim war für seine Arbeit mit einer englischen Banknote bezahlt worden, die bei der Danube International Bank ordnungsgemäß gegen ihren Goldwert eingewechselt worden war. |508|Skinsky war zu Hildesheim gekommen, und dieser hatte ihn dann gleich selbst mit aufs Schiff genommen, um sich den eigenen Transportanteil zu ersparen. Das war alles, was er wusste.

Wir machten uns nun auf den Weg, diesen Skinsky zu suchen, aber wir konnten ihn nicht auftreiben. Einer seiner Nachbarn, der ihm nicht gerade gewogen schien, sagte, er sei vor zwei Tagen fortgegangen, wohin, das wisse man nicht. Dies wurde von seinem Vermieter bestätigt, dem Skinsky durch einen Boten den Hausschlüssel und die schuldige Miete in englischem Geld übersandt hatte. Das war gestern Nacht zwischen zehn und elf Uhr geschehen – wir waren also wieder an einem toten Punkt angelangt.

Während wir noch mit einigen Leuten im Haus redeten, kam jemand gelaufen und berichtete atemlos, dass man Skinskys Leichnam hinter der Friedhofsmauer von Sankt Peter gefunden habe, seine Kehle sei aufgerissen, wie von einem wilden Tier. Die, mit denen wir eben noch gesprochen hatten, eilten davon, um sich die Bluttat selbst anzuschauen, und die Weiber kreischten: »Das hat ein Slowake getan!« Wir aber machten uns aus dem Staub, weil wir befürchteten, in die Angelegenheit verwickelt und aufgehalten zu werden.

Auf dem Heimweg berieten wir die Sache, konnten uns aber noch zu keinem Entschluss durchringen. Wir sind überzeugt, dass die Kiste auf dem Wasserweg irgendwohin geschafft wurde. Wohin aber, das müssen wir erst noch herausfinden. Mit schweren Herzen kamen wir im Hotel bei Mina an.

In vereinter Runde beschlossen wir darauf als Erstes, Mina wieder völlig ins Vertrauen zu ziehen. Die Dinge stehen nicht gut für uns, sodass wir jede Möglichkeit der Hilfe nutzen müssen, selbst wenn daraus neue Gefahren entstehen könnten. Der gemeinschaftliche Beschluss entband mich von meinem Schweigegelübde ihr gegenüber.

 

|509|Mina Harkers Tagebuch

 

30. Oktober, abends

Sie waren alle so müde, erschöpft und entmutigt, dass ihnen keine Arbeit mehr zugemutet werden konnte, bevor sie sich nicht ausgeruht hatten. Ich bat sie deshalb, sich auf eine halbe Stunde niederzulegen, während ich meine Eintragungen bis zur Stunde ergänzen wollte. Ich bin dem Mann, der die Reiseschreibmaschine erfand, sehr dankbar. Und Mr. Morris ebenso, dass er mir eine solche verschaffte. Ich würde verrückt werden, hätte ich all diese Schreibarbeit mit einem Stift zu erledigen …

Die Arbeit ist getan. Mein lieber, guter Jonathan, was hat er schon gelitten, und was muss er jetzt noch leiden! Er liegt auf dem Sofa und scheint kaum zu atmen, sein Körper sieht aus wie nach einem Zusammenbruch. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen, sein Gesicht ist von Kummer verzerrt. Armer Kerl, vielleicht grübelt er, und seine Stirn liegt vor Anstrengung in Falten. Oh, wenn ich doch nur von Nutzen sein könnte … Ich werde tun, was ich kann.

Ich habe van Helsing gebeten, mir die Papiere zu geben, die ich bis jetzt noch nicht gesehen habe … Während sie ruhen, will ich alles sorgfältig durchgehen, vielleicht kommt mir dabei eine hilfreiche Idee. Ich werde versuchen, dem Beispiel des Professors zu folgen und über die vorliegenden Tatsachen ohne Vorurteil nachzudenken …

 

Ich glaube, durch Gottes Fügung eine Entdeckung gemacht zu haben! Ich muss Landkarten holen und sie studieren …

 

Jetzt bin ich restlos überzeugt, dass ich recht habe. Meine Thesen sind schriftlich ausgearbeitet, und ich will die Männer zusammenholen, um sie ihnen vorzutragen. Sie können dann gleich darüber urteilen, denn jede Minute ist kostbar.

 

|510|Mina Harkers Memorandum

(notiert in ihrem Tagebuch)

 

Grundthese der Untersuchung: Graf Dracula will zu seiner Burg zurückkehren.

 

A) Er muss von irgendjemandem gebracht werden. Das ist evident, denn hätte er die Macht, sich seinem Wunsch entsprechend zu bewegen, so würde er es auch tun, entweder als Mensch, als Wolf, als Fledermaus oder in einer anderen Gestalt. Während des Transportes befindet er sich im Zustand der Hilflosigkeit, denn er ist zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang in seiner Kiste gefangen. Er muss also eine Entdeckung oder Störung unbedingt vermeiden.

 

B) Wie wird er gebracht? Hier hilft uns das Ausschlussverfahren weiter: Straße, Schiene oder Wasser?

 

1. Straße: Die Straßen bergen zahllose Schwierigkeiten, besonders beim Passieren von Städten.

  1. Es gibt viele Leute, und diese sind immer neugierig. Ein Hinweis, eine Vermutung, ein Zweifel über den Inhalt der Kiste könnte ihn vernichten.

  2. Es könnten Behörden- oder Zollstationen zu passieren sein.

  3. Seine Feinde könnten ihn verfolgen. Dies ist sicher seine größte Sorge. Um sich nicht zu verraten, hat er ja sogar auf sein Opfer, auf mich, verzichtet.

2. Schiene: Bei einem Eisenbahntransport gäbe es niemanden, der die Kiste beaufsichtigt. Er müsste Verspätungen hinnehmen, aber jeder Verzögerung wäre fatal für ihn, wenn ihm seine Feinde auf den Fersen sind. Nachts könnte er zwar entkommen, aber was sollte er tun, in unbekannter Gegend und ohne Zuflucht, sich darin zu verstecken? Das ist nicht seine Art, denn er wird kein solches Risiko eingehen wollen.

|511|3. Wasser: Hier haben wir den für ihn in einer Hinsicht sichersten Weg, in einer anderen Hinsicht aber auch den gefährlichsten. Auf dem Wasser ist er machtlos, außer bei Nacht – und selbst dann kann er nur Nebel, Sturm, Schnee oder Wölfe herbeirufen. Würde er Schiffbruch erleiden, so würde ihn das fließende Wasser rettungslos verschlingen, und er wäre verloren. Er könnte das Schiff zwar an Land treiben, aber wäre der Ort dann feindlich für ihn und könnte er sich dort nicht frei bewegen, so wäre seine Lage gleichfalls eine verzweifelte. Wir wissen, dass er sich zuletzt auf dem Wasser befand. Es gilt festzustellen, auf welchem Wasser.

 

In erster Linie müssen wir exakt klären, was er bis jetzt getan hat. Wir können daraus vielleicht auf das schließen, was er weiterhin zu tun beabsichtigt.

Erstens: Wir müssen seine Aktionen in London sauber trennen in Handlungen, die Bestandteile seines Eroberungsplanes waren, und solche, die unter Druck und als Reaktion auf unser Vorgehen erfolgten.

Zweitens: Wir müssen herausfinden, soweit wir dies aus den uns bekannten Tatsachen erschließen können, was er hier getan hat.

 

Zum Ersten: Er hatte offenbar von Anfang an die Absicht, nach Galatz zu reisen, fertigte aber bei den Londoner Schiffseigentümern einen Frachtbrief nach Varna aus, um uns zu täuschen, falls wir erfahren sollten, auf welche Weise er aus London floh. Der direkte und einzige Zweck dieser Handlung war die Flucht. Bewiesen wird dies durch seinen Brief an Immanuel Hildesheim mit der Instruktion, die Kiste vor Sonnenaufgang abzuholen. Dann wären die Instruktionen für Petrof Skinsky zu beachten, über die wir nur mutmaßen können, für die es aber ebenfalls einen Brief oder eine Nachricht gegeben haben muss, da Skinsky von allein zu Hildesheim gekommen ist. Bis hierhin war sein |512|Plan erfolgreich, wie wir wissen. Die »Zarin Katharina« machte eine so außerordentlich rasche Fahrt, dass selbst Kapitän Donelsons Verdacht erregt wurde, aber sein Aberglaube im Verein mit seiner Schlauheit kamen dem Grafen zupass, und Donelson fuhr mit dem günstigen Wind, dem Nebel zum Trotz, bis er ahnungslos in Galatz landete. Dass die Vorbereitungen des Grafen sehr sorgfältig getroffen waren, ist bewiesen. Hildesheim nahm die Kiste in Empfang, brachte sie fort und übergab sie Skinsky. Skinsky übernahm sie, und wir verloren die Spur. Wir wissen nur, dass die Kiste irgendwo auf dem Wasser schwimmt. Zoll und Behörden sind bislang umgangen worden.

Nun kommen wir zum Zweiten: Was hat der Graf hier nach seiner Ankunft an Land getan? Die Kiste war Skinsky vor Sonnenaufgang übergeben worden. Bei Sonnenaufgang aber konnte der Graf in eigener Gestalt erscheinen. Hier müssen wir uns doch fragen, warum Skinsky überhaupt zur Hilfeleistung herangezogen worden ist? Im Tagebuch meines Mannes ist Skinsky als ein Mann erwähnt, der mit den Slowaken, die den Fluss hinunter bis zum Hafen Handel treiben, Verbindung hat, und die Behauptung der Frauen, dass der Mord das Werk eines Slowaken wäre, zeigt die allgemeine Stimmung, die hier gegen dieses Volk herrscht. Der Graf aber wünscht Isolation. Meine Vermutung ist diese: In London beschloss der Graf, auf dem Wasser zu seiner Burg zurückzukehren, also auf dem sichersten und am wenigsten auffallenden Weg. Szigany hatten ihn damals von der Burg weggebracht, und wahrscheinlich haben diese ihre Ladung dann den Slowaken übergeben, die die Kisten nach Varna transportierten. Von dort aus sind sie dann nach London eingeschifft worden. Der Graf kannte also Personen, die eine solche Reise zu organisieren vermochten. Als dann die Kiste an Land war, kam er nach Sonnenuntergang und vor Sonnenaufgang heraus, traf mit Skinsky zusammen und instruierte ihn, wie er den Transport der Kiste auf einem der Flüsse zu organisieren habe. Als das geschehen und alles im Gange war, tötete er seinen Agenten, um, wie er meinte, |513|dadurch seine Spuren zu verwischen. Ich habe nun die Karte studiert und herausgefunden, dass die Flüsse Pruth und Sereth für die Slowaken am ehesten infrage kommen. Ich las in unseren Akten, dass ich in meiner Trance das Plätschern von Wasser direkt neben mir, Kühe und das Knarren von Holz gehört hatte. Der Graf musste also in seiner Kiste in einem offenen Boot auf einem Fluss transportiert worden sein, und zwar mithilfe von Rudern oder Stangen, denn es ging stromaufwärts und die Ufer waren in der Nähe. Wäre das Boot stromabwärts gefahren, so wäre das Krachen der Ruder oder Stangen nicht so laut zu hören gewesen. Ich bin der festen Überzeugung, dass nur der Sereth oder der Pruth in Betracht kommen, trotzdem dürfen wir aber unsere Nachforschungen nicht einstellen. Während der Pruth leichter zu befahren ist, hat der Sereth den Vorzug, dass er sich bei Fundu mit der Bistritza vereinigt, die den Borgopass umfließt. Die Schleife, die der Fluss macht, liegt so nahe an der Burg Dracula, dass diese bequemer gar nicht zu erreichen ist.

 

Mina Harkers Tagebuch

(Fortsetzung)

 

Als ich mit dem Vorlesen fertig war, nahm mich Jonathan in seine Arme und küsste mich. Die anderen schüttelten mir die Hand, und Dr. van Helsing sagte:

»Unsere liebe Madame Mina ist wieder einmal unsere Lehrerin. Ihre Augen allein waren sehend, wo wir blind waren. Jetzt haben wir die verlorengegangene Fährte wieder, und diesmal werden wir Erfolg haben. Unser Feind ist in seinem hilflosesten Zustand, und wenn wir ihn am Tage und auf dem Wasser stellen, so ist er verloren und unsere Aufgabe ist vollendet. Er hat zwar einen Vorsprung, aber er kann die Reise nicht beschleunigen. Und er darf seine Kiste nicht verlassen, um nicht den Verdacht derer zu erregen, die ihn transportieren. Man würde ihn nämlich |514|zweifellos in den Fluss werfen, was dann sein Ende wäre. Das weiß er, und er muss es verhindern. Nun zum Kriegsrat, lassen Sie uns hier und jetzt einem jeden seine Aufgabe zuteilen!«

»Ich besorge ein Dampfschiff und verfolge ihn«, sagte Lord Godalming.

»Und ich nehme Pferde und verfolge ihn am Ufer, falls er anlegen sollte« schloss sich Mr. Morris an.

»Gut,« sagte der Professor, »ich bin mit beidem einverstanden. Aber keiner darf alleine gehen. Sie müssen mächtig genug sein, um nötigenfalls Widerstände überwinden zu können. Die Slowaken sind stark und wild, und sie haben kräftige Arme.« Alle Männer lächelten, denn schließlich hatten sie ein ansehnliches Waffenarsenal dabei. Mr. Morris sagte:

»Ich habe einige Winchesterbüchsen mitgebracht. Die sind selbst im Gewühl sehr handlich und auch gegen Wölfe gut zu gebrauchen. Der Graf wird jedenfalls noch einige andere Vorkehrungen getroffen haben, die Mrs. Harker nicht hören oder nicht verstehen konnte, wir müssen auf alles gefasst sein.« Nun meldete sich Dr. Seward:

»Ich denke, ich gehe mit Quincey. Wir sind durch die Jagd aufeinander eingespielt, und mit guter Bewaffnung dürften wir mit allem fertig werden, was uns begegnet. Art, du darfst aber auch nicht allein reisen. Es könnte mit den Slowaken eine Auseinandersetzung geben, und ein unglücklicher Messerstoß – ich nehme nicht an, dass diese Burschen Feuerwaffen tragen – könnte all unsere Pläne zunichte machen. Diesmal darf es kein Risiko geben, wir dürfen nicht ruhen, bis der Kopf des Grafen von seinem Rumpf getrennt ist und wir sicher sein können, dass er niemals mehr zurückkommt.« Dr. Seward blickte bei diesen Worten auf meinen Jonathan, und Jonathan sah mich an. Ich erkannte, wie sehr der Ärmste innerlich hin und her gerissen war: Natürlich wollte er gern bei mir bleiben, aber andererseits würde die Abteilung auf dem Dampfschiff höchstwahrscheinlich diejenige sein, die den … den … den Vampir vernichtet. (Was hält mich zurück, |515|dieses Wort niederzuschreiben?) Jonathan schwieg, und in sein Schweigen hinein sagte Dr. van Helsing:

»Freund Jonathan, dies ist wirklich Ihre Aufgabe, und zwar aus zwei Gründen: Erstens sind Sie jung und mutig, und Sie können kämpfen. Wir aber müssen alle Kräfte einsetzen, die uns zur Verfügung stehen. Zweitens haben Sie ein Anrecht darauf, ihn zu vernichten, da er ein solches Unglück über Sie und die Ihrige gebracht hat. Sorgen Sie sich nicht um Madame Mina, sie wird unter meiner Obhut stehen, wenn es erlaubt ist. Ich bin alt, meine Beine sind nicht mehr so schnell wie einst, ich bin keine langen Strecken auf dem Pferderücken gewöhnt oder Verfolgungsjagden, wie sie nötig sein werden. Und ich kann auch nicht besonders gut mit Schusswaffen umgehen. Aber ich kann anderweitig nützlich sein, ich kann auf andere Weise kämpfen. Und wenn nötig, so kann ich ebenso gut sterben wie ein Jüngerer. Nun lassen Sie mich also einen Vorschlag machen: Während Sie, Lord Godalming, und Sie, Freund Jonathan, in Ihrem kleinen, flinken Dampfschiff den Fluss hinauffahren, und während John und Quincey das Ufer bewachen, falls er zufällig anlegen sollte, bringe ich Madame Mina direkt ins Herz des Heimatlandes unseres Feindes. Während der alte Fuchs in seiner Kiste auf dem fließenden Wasser dahinschwimmt und nicht an Land kommen kann, während er nicht einmal wagt, den Deckel seines Sarges anzuheben, damit ihn die Slowaken nicht aus eigener Angst vernichten – währenddessen werden wir auf Jonathans Spuren von Bistritz über den Borgopass gehen und den Weg zur Burg Dracula einschlagen. Madame Minas hypnotische Fähigkeiten werden uns beim ersten Sonnenaufgang in der Nähe der Burg sicher von Nutzen sein, und wir werden den Weg schon finden. Auf der Burg dann gibt es viel zu tun, es werden viele Zufluchtsorte zu sterilisieren sein, um dieses Schlangennest ein für alle Mal auszulöschen …« Hier unterbrach ihn Jonathan hitzig:

»Wollen Sie damit sagen, Professor van Helsing, dass Sie vorhaben, Mina in ihrem unglücklichen Zustand, vergiftet mit der |516|schrecklichen Krankheit dieses Teufels, geradewegs in diese Höllenfalle zu bringen? Nicht um alles in der Welt! Nicht um Himmel oder Hölle …« Ihm versagte für ein paar Augenblicke die Stimme, dann fuhr er fort:

»Wissen Sie denn überhaupt, was das für ein Platz ist? Haben Sie diese Höllengrube gesehen, wo selbst das Mondlicht grauenhafte Gespenster gebiert und jedes im Winde wirbelnde Staubkörnchen der Embryo eines Monsters ist? Haben Sie schon einmal die Lippen des Vampirs an Ihrer Kehle gespürt?« Er drehte sich zu mir um, und als seine Augen meine Stirn trafen, warf er die Arme in die Höhe und rief: »Oh mein Gott, was haben wir getan, dass du solche Schrecken auf uns häufst?« Dann brach er auf dem Sofa zusammen. Die klare, freundliche Stimme des Professors aber beruhigte uns alle wieder.

»Mein Freund, verstehen Sie denn nicht, dass ich Madame Mina eben vor dem grauenhaften Platz retten will, den ich betreten muss? Gott behüte, ich werde sie doch nicht mit hineinnehmen! Dort gibt es viel zu tun, Schlimmes zu tun, dessen Zeugin sie nicht werden sollte. Wir alle, außer Jonathan, haben mit unseren eigenen Augen gesehen, was geschehen muss, um so einen Ort zu reinigen. Denken Sie daran, dass wir in einer entsetzlichen Lage sind. Wenn es dem Grafen diesmal gelingt zu entkommen – und er ist immer noch stark und schlau –, so wird er sich vielleicht entschließen, für ein Jahrhundert zu schlafen. Und zur gegebenen Zeit wird unsere verehrte Madame Mina« – er ergriff meine Hand – »zu ihm kommen, um ihm Gesellschaft zu leisten, und sie wäre wie die anderen, die Sie, Jonathan, gesehen haben. Sie haben uns von ihren begehrlichen Lippen erzählt, Sie haben das grausige Gelächter gehört, als sie das zuckende Bündel packten, das ihnen der Graf zuwarf. Sie schaudern? Und dennoch könnte dieser Fall eintreten. Vergeben Sie mir, dass ich Ihnen Schmerz zufüge, aber es muss sein. Mein Freund, es ist eine schreckliche Pflicht, für die ich, wenn es sein muss, mein Leben hingebe. Wenn irgendeiner dort hineingehen muss, auf die |517|Gefahr hin, nicht wieder hinauszukommen, so werde ich das sein.«

»Tun Sie, wie Sie wollen«, sagte Jonathan mit einem Seufzer, der ihn am ganzen Körper zittern ließ. »Wir sind alle in Gottes Hand.«

 

Später

Oh, es tat mir gut zu sehen, wie diese tapferen Männer diskutierten. Wie könnte eine Frau diese Männer nicht lieben, die so ernsthaft, so aufrecht und so mutig sind? Und mir wurde auch wieder einmal die erstaunliche Macht des Geldes vor Augen geführt. Was vermag dieses nicht alles auszurichten, wenn man es richtig verwendet, und was richtet es an, wenn es auf gemeine Weise ausgegeben wird. Ich bin froh, dass Lord Godalming reich ist und dass er und Mr. Morris, der auch über bedeutende Mittel verfügt, unsere Sache so großherzig unterstützen. Denn würden sie das nicht tun, so könnte unsere kleine Expedition nicht so schnell und nicht so wohlausgerüstet starten, wie sie dies in einer Stunde tun wird. Noch keine drei Stunden sind vergangen, seit jedem von uns seine Rolle zugeteilt worden ist, und schon haben Lord Godalming und Jonathan eine schöne Barkasse, die unten am Fluss unter Dampf liegt, um jeden Augenblick abfahren zu können. Dr. Seward und Mr. Morris haben ein halbes Dutzend guter Pferde mit voller Ausrüstung erworben, und wir haben Karten und Reiseutensilien aller Art gekauft, die für unseren Zweck irgend in Betracht kommen könnten. Van Helsing und ich wollen mit dem Zug um 11:40 Uhr nachts nach Veresti reisen, um von dort aus eine Kutsche zum Borgopass zu nehmen. Wir haben ziemlich viel Bargeld bei uns, da wir den Wagen und die Pferde kaufen wollen. Wir werden selbst kutschieren, denn wir haben niemanden, dem wir in dieser Sache trauen könnten. Der Professor spricht viele fremde Sprachen, sodass wir uns wohl zu helfen vermögen. Alle sind bewaffnet, selbst ich habe einen großkalibrigen Revolver, denn Jonathan verlangte dies. Leider kann ich ein |518|anderes Kampfmittel, über das die anderen verfügen, nicht an mir tragen: Die Narbe auf meiner Stirn gestattet es nicht. Der gute Dr. van Helsing tröstete mich und sagte, ich sei hinreichend bewaffnet, um mich gegen Wölfe zur Wehr setzen zu können. Das Wetter wird stündlich kälter, und hin und wieder fegen schon Schneeschauer wie Drohungen über das Land.

 

Später

Ich musste meine ganze Kraft zusammennehmen, um mich von meinem geliebten Mann zu verabschieden. Wer weiß, ob wir uns lebend wiedersehen. Mut, Mina! Der Professor sieht mich scharf an, sein Blick ist eine Warnung: Es darf jetzt keine Tränen geben, so lange nicht, bis Gott mir wieder Freudentränen schenkt.

 

Jonathan Harkers Tagebuch

 

30. Oktober, nachts

Ich schreibe beim Schein des Dampfkessels unseres Schiffes, Lord Godalming heizt gerade ein. Er hat durchaus Erfahrungen damit, da er über mehrere Jahre ein eigenes Dampfboot auf der Themse, und ein zweites auf den Norfolk Broads1 hatte. Bezüglich unserer Reisepläne sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass Minas Schlussfolgerungen zutreffen: Wenn der Graf für die Flucht auf seine Burg einen Wasserweg gewählt hat, dann den Sereth und die Bistritza. Wir gehen davon aus, dass etwa auf 47 Grad nördlicher Breite die günstigste Stelle ist, um die Landstrecke zwischen dem Fluss und den Karpaten zu überwinden. Auf dem Fluss lässt es sich auch des Nachts mit einer guten Geschwindigkeit fahren, denn er ist nirgends zu flach, und die Ufer sind weit genug entfernt. Lord Godalming forderte mich auf, ein wenig zu schlafen, denn es sei gegenwärtig völlig hinreichend, wenn einer |519|von uns beiden wache. Aber ich kann nicht schlafen. Wie wäre das denkbar, da ich weiß, in welcher Gefahr mein Liebling schwebt, und welch schrecklichem Ort sie sich nähert … Mein einziger Trost ist, dass wir alle in Gottes Hand sind. Allerdings stirbt man für diesen Glauben leichter, als dass man mit ihm lebt. Mr. Morris und Dr. Seward haben ihren langen Ritt angetreten, noch bevor wir abfuhren. Sie beabsichtigen, sich auf dem rechten Ufer zu halten, und zwar weit genug vom Fluss entfernt, um von den Höhen aus längere Strecken übersehen zu können und sich von den Windungen unabhängig zu machen. Sie haben für die ersten Etappen zwei Leute engagiert, um die Reservepferde zu reiten und zu führen, von denen sie vier dabei haben. Auf diese Weise erregen sie weniger Aufmerksamkeit. Nachdem sie die Leute entlassen haben, was in Kürze der Fall sein wird, müssen sie die Pferde dann selbst übernehmen. Wenn es nötig werden sollte, unsere Kräfte zu vereinigen, sind also ausreichend Pferde für unsere ganze Gruppe vorhanden. Einer der Sättel ist sogar derart, dass er bei Bedarf rasch in einen Damensattel für Mina verwandelt werden kann.

Es ist ein wildes Abenteuer, in das wir uns gestürzt haben. Wir eilen durch die Dunkelheit, die Kälte des Flusses steigt herauf und legt sich über uns, und die Geräusche der Nacht klingen wie geheimnisvolle Stimmen. Alles kehrt zurück. Wir treiben auf unbekannten Wegen unbekannten Zielen entgegen, in eine Welt finsterer und schrecklicher Dinge. Godalming schließt die Kesseltür …

 

31. Oktober

Wir eilen noch immer dahin. Der Tag ist angebrochen und Godalming schläft, ich halte Wache. Der Morgen ist bitterkalt, und obwohl wir in dicke Pelze gehüllt sind, tut uns die Hitze des Kessels wohl. Bis jetzt haben wir lediglich ein paar offene Boote überholt, aber keines von ihnen hatte eine Kiste oder andere Ladung von der Größe an Bord, wie wir sie suchen. Die Schiffer erschraken |520|jedes Mal, wenn das Licht unserer elektrischen Lampe sie anstrahlte. Sie sanken dann auf die Knie und beteten.

 

1. November, abends

Den ganzen Tag nichts Neues, es war nichts zu entdecken, was dem Gesuchten auch nur ähnlich gewesen wäre. Wir sind jetzt in die Bistritza übergewechselt, wenn unsere Annahmen falsch waren, dann ist unsere Chance nun vertan. Zahllose Boote haben wir überholt, große und kleine. Heute Vormittag hielt man uns einmal für ein Regierungsschiff und grüßte uns entsprechend. Das brachte uns auf den Gedanken, auf diese Weise eventuelle Schwierigkeiten zu umgehen, und wir beschafften uns in Fundu, wo sich die Bistritza mit dem Sereth vereinigt, eine rumänische Flagge, die nun recht auffällig im Wind flattert. Bei sämtlichen Booten, die wir seitdem inspiziert haben, war uns dieser Trick von großem Nutzen. Man begegnete uns allenthalben mit der größten Bereitwilligkeit, und wir trafen nicht auf den geringsten Widerstand, was wir auch fragen oder tun mochten. Einige Slowaken haben uns berichtet, dass sie von einem großen Boot überholt worden seien, dessen außergewöhnliche Eile und doppelte Rudermannschaft ihnen aufgefallen war. Das sei aber schon gewesen, bevor sie Fundu erreicht hatten, sie konnten uns also nicht sagen, ob dieses Boot in die Bistritza eingebogen oder weiter den Sereth hinaufgefahren war. In Fundu selbst hatten wir von dieser Sache nichts gehört, deshalb mussten wir hoffen, dass das Fahrzeug dort in der Nacht vorbeigekommen war. Ich bin sehr müde, vielleicht trägt auch die Kälte dazu bei, jedenfalls brauche ich dringend Ruhe. Godalming besteht darauf, die erste Wache zu übernehmen. Gott segne ihn für all das Gute, das er mir und meiner lieben Mina tut.

 

2. November, morgens

Es ist heller Tag. Der gute Godalming hat mich nicht geweckt, er sagte, dies wäre eine Sünde gewesen, da ich so friedlich geschlummert |521|und wenigstens für ein paar Stunden alle meine Sorgen vergessen hätte. Ich selbst mache mir Vorwürfe, dass ich in meinem geradezu verwerflichen Egoismus so lange geschlafen und ihn die ganze Nacht allein habe wachen lassen. Allerdings hatte er recht: Ich fühle mich heute Morgen wie neugeboren. Während ich hier sitze und ihm beim Schlafen zusehe, habe ich zugleich die Maschine im Blick, steuere und halte Ausschau. Ich spüre, dass meine Kraft und meine Energie wieder zu mir zurückkehren. Gerne wüsste ich, wo Mina und van Helsing gerade sind. Sie müssten am Mittwoch gegen Mittag in Veresti angekommen sein. Dann wird es wohl einige Zeit gekostet haben, Kutsche und Pferde zu beschaffen. Wenn sie danach aber gut vorangekommen sind, könnten sie jetzt schon in der Nähe des Borgopasses sein. Gott leite und schütze sie! Ich schrecke davor zurück, was alles passieren könnte. Wenn wir doch schneller wären! Aber dass ist unmöglich, die Maschine keucht und leistet ihr Äußerstes. Auch wüsste ich gerne, wie Dr. Seward und Morris vorankommen. Es scheint zahllose Bäche zu geben, die von den Bergen in diesen Fluss münden. Da aber keiner von ihnen gegenwärtig besonders breit ist, werden unsere Reiter durch sie wohl auch keine Schwierigkeiten haben – im Winter und bei Schneeschmelze wäre das zweifellos anders. Ich hoffe, dass wir die beiden noch vor Strasba zu Gesicht bekommen, denn sollten wir den Grafen bis dahin noch nicht eingeholt haben, wäre es nötig, miteinander über das weitere Vorgehen zu beraten.

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

2. November

Drei Tage im Sattel. Keine Nachrichten. Hätte auch keine Zeit, sie niederzuschreiben, da jeder Augenblick kostbar ist. Wir haben nur die für die Pferde erforderlichen Pausen eingelegt, aber wir befinden uns dabei prächtig. So manche Erfahrung aus gemeinsamen |522|Abenteuern erweist sich jetzt als hilfreich für uns. Wir müssen gleich weiter, denn wir haben keine Ruhe, bis wir unser Dampfschiff wieder in Sicht haben.

 

3. November

Wir erfuhren in Fundu, dass unsere Barkasse die Bistritza hinaufgefahren ist. Ich wünschte, es wäre nicht so kalt. Es gibt Anzeichen dafür, dass Schnee bevorsteht, und sollte dieser stark werden, so könnte er uns aufhalten. In diesem Fall müssten wir uns wohl einen Schlitten besorgen und unsere Verfolgung nach russischer Art fortsetzen.

 

4. November

Heute erfuhren wir, dass die Barkasse aufgehalten worden war. Es hatte beim Überwinden von Stromschnellen wohl einen Unfall gegeben. Die Slowaken kommen problemlos über derartige Stellen hinweg, sie ziehen ihre Boote an Seilen hinüber, und der Steuermann ist mit den Tücken des Flusses vertraut. Godalming ist ein Hobbyschlosser, offenbar hat er das Schiff selbst notdürftig reparieren können. Nachdem sie dann mithilfe der Ortsansässigen die Stromschnellen bezwungen hatten, haben sie ihre Jagd wieder aufgenommen. Ich fürchte aber, dass das Dampfschiff durch den Unfall gelitten hat. Die Bauern berichteten jedenfalls, dass die Maschine auch im ruhigeren Wasser immer wieder ausfiel, und zwar bis sie das Schiff aus den Augen verloren hatten. Wir müssen uns noch mehr beeilen, vielleicht braucht man unsere Hilfe.

 

Mina Harkers Tagebuch

 

31. Oktober

Wir sind mittags in Veresti angekommen. Der Professor erzählte mir, dass er mich heute Morgen kaum zu hypnotisieren vermochte. Das Einzige, was ich gesagt habe, wäre gewesen: »Dunkel |523|und ruhig.« Er ist jetzt gerade unterwegs, um Wagen und Pferde zu besorgen. Er meinte, wir würden dann später noch Reservepferde dazukaufen, damit wir sie unterwegs wechseln könnten, schließlich haben wir etwas mehr als siebzig Meilen vor uns. Die Landschaft ist lieblich und sehr interessant. Wie herrlich wäre es doch, wenn wir uns unter besseren Umständen an dieser Schönheit erfreuen könnten! Welche Wonne wäre es für Jonathan und mich, gemeinsam dieses Land zu bereisen, hier und dort zu verweilen, um das Volk zu studieren, um etwas über sein Leben und seine Sitten zu erfahren, kurz: unsere Seele und unser Gedächtnis mit all der Farbe und Schönheit dieses wilden, zauberhaften Landes samt seiner malerischen Bewohner zu erfüllen. Aber leider …

 

Später

Dr. van Helsing ist zurück, er hat einen Wagen und Pferde gekauft. Wir wollen nun etwas essen und dann in einer Stunde abreisen. Die Wirtin packt uns gerade einen mächtigen Korb mit Lebensmitteln auf das Gefährt, er scheint für eine Kompanie Soldaten berechnet zu sein. Der Professor hatte sie jedoch dazu ermuntert, da er meint, dass vielleicht eine ganze Woche vergehen könne, bis wir wieder etwas Anständiges zu essen bekämen. Er hat noch eine Menge anderer Dinge besorgt, eine prächtige Kollektion aus Pelzmänteln, Decken und verschiedenen wärmenden Kleidungsstücken. Es besteht keine Gefahr, dass wir frieren werden …

Wir brechen gleich auf. Ich wage es nicht, mir vorzustellen, was uns alles zustoßen könnte. Wir sind wirklich in Gottes Hand. Er allein weiß, was die Zukunft birgt, und ich flehe ihn aus der Tiefe meiner traurigen Seele an, dass er meinen geliebten Mann beschützen möge. Was auch immer kommen mag, Jonathan soll wissen, dass ich ihn mehr liebe und verehre, als Worte imstande sind, es auszudrücken. Mein letzter und innigster Gedanke wird ihm gelten.