|360|NEUNZEHNTES KAPITEL

 

Jonathan Harkers Tagebuch

 

1. Oktober, 5 Uhr früh

Ich ging relativ unbeschwert mit den Übrigen auf die Suche nach unserem Feind, denn ich hatte Mina schon lange nicht mehr so gesund und stark gesehen wie an diesem Abend. Zugleich war ich über ihre Einwilligung froh, zurückzubleiben und uns Männer allein handeln zu lassen, denn es war mir von Anfang an unbehaglich, sie in dieses gefährliche Unternehmen mit hineinzuziehen. Nun aber, da ihr Werk getan ist und das ganze Material dank ihrer Energie, ihres Verstandes und ihrer Voraussicht in einer Weise zusammengestellt und geordnet ist, die unsere Arbeit ungemein erleichtern wird, sieht sie wohl selbst ein, dass sie ihren Beitrag geleistet hat und dass sie das Übrige getrost uns überlassen kann. Wir waren alle durch die Szene in Renfields Zimmer sehr erregt, denn als wir wieder herauskamen, sprach keiner von uns ein Wort, bis wir das Arbeitszimmer Dr. Sewards erreicht hatten. Dann sagte Mr. Morris zu Dr. Seward:

»Sag mal, Jack, wenn dieser Mensch uns nicht täuschen wollte, so ist er der weitaus vernünftigste Irre, den ich je gesehen habe. Ich weiß es natürlich nicht genau, aber ich vermute, dass er wirklich einen ernsthaften Grund für seine Bitte gehabt hatte. Wenn das der Fall war, so war es natürlich ziemlich hart für ihn, abgewiesen zu werden.« Lord Godalming und ich schwiegen, aber van Helsing fügte hinzu:

»Freund John, Sie verstehen mehr von Irren als ich. Das freut mich, denn ich fürchte, ich hätte den Mann vor seinem letzten hysterischen Anfall freigelassen. Aber wir leben, um zu lernen, und für unsere Aufgabe gilt, wie mein Freund Quincey sagen |361|würde: ›We must take no chance!‹ Alles ist also gut so, wie es ist.«

Dr. Seward schien mit seinen Gedanken woanders zu sein, als er ihnen beiden zugleich antworte:

»Mir fällt dazu nichts weiter ein, als dass ich mit Ihnen übereinstimme. Wenn dieser Mensch ein gewöhnlicher Irrer wäre, so wäre ich wohl das Risiko eingegangen, ihm zu vertrauen. Aber er scheint so sehr mit dem Grafen verbunden zu sein, als eine Art Anzeiger seiner Gegenwart zu fungieren, dass ich fürchtete, einen Fehler zu begehen, wenn ich seine Wünsche erfüllt hätte. Ich konnte nicht vergessen, dass er fast mit der gleichen Leidenschaft einmal um eine Katze bat, um kurz darauf einen Versuch zu unternehmen, mir mit den Zähnen die Kehle zu zerreißen. Außerdem hat er den Grafen seinen ›Herrn und Meister‹ genannt; vielleicht wollte er also hinaus, um diesem auf irgendeine teuflische Art beizustehen. Dieses scheußliche Ding herrscht über Wölfe, Ratten und seine eigenen Artgenossen, wir dürfen also annehmen, dass es nicht unter seiner Würde ist, für seine Zwecke auch einen respektablen Verrückten zu benutzen. Renfield schien es andererseits mit Sicherheit ernst zu sein. Ich hoffe nur, dass wir das Richtige getan haben. Diese seltsame Sache und die schwere Aufgabe, die vor uns liegt – das könnte einen Mann wohl verunsichern.« Der Professor trat an ihn heran, legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach ihm im bedächtigen, freundlichen Ton zu:

»Freund John, fürchten Sie nichts! Wir versuchen alle, in dieser traurigen und schlimmen Sache nur unsere Pflicht zu tun, und wir können nichts anderes tun als das, was uns als das Beste erscheint. Worauf sonst sollten wir denn hoffen, wenn nicht auf die Gnade Gottes?« Lord Godalming war für einige Minuten verschwunden gewesen, und er kehrte jetzt zurück. Er zeigte uns eine kleine silberne Trillerpfeife und erklärte:

»Dieses alte Gemäuer wird bestimmt voller Ratten sein. Ich habe uns also ein Gegenmittel besorgt!« Nachdem wir die Mauer |362|überstiegen hatten, gingen wir geradewegs auf das Haus zu. Wir hielten uns sorgfältig im Schatten, den die Bäume im Mondlicht auf das Gras warfen. Als wir an der Tür ankamen, öffnete der Professor seinen Koffer und zog verschiedene Gegenstände heraus, die er auf den Treppenstufen bereitlegte. Er ordnete sie in vier Gruppen an, anscheinend eine für jeden von uns. Dann sagte er:

»Meine Freunde, wir begeben uns jetzt in große Gefahr, und wir brauchen Waffen der verschiedensten Art. Unser Feind ist ja nicht nur ein spiritueller, sondern er besitzt auch die Kraft von zwanzig Männern! Denken Sie also daran, dass Hals und Rückgrat bei uns die gewöhnlichen Eigenschaften haben, also zerbrochen oder zerquetscht werden können, dass ihm aber mit bloßer Stärke nicht beizukommen ist! Eine große Anzahl von Männern könnte ihn wohl für eine bestimmte Zeit festhalten, aber sie könnten ihn nicht verletzen, wie er uns Menschen verletzen kann. Wir müssen uns deshalb vor seiner Berührung schützen. Bitte tragen Sie alle das hier in der Nähe Ihres Herzens« – bei diesen Worten hob er ein kleines silbernes Kruzifix auf und reichte es mir, da ich gleich neben ihm stand – »und hängen Sie sich diese Blumen um den Hals« – hier reichte er mir einen Kranz verwelkter Knoblauchblüten. »Für Feinde, die mehr von dieser Welt sind, sind hier Revolver und Messer, und für alle Fälle gibt es noch diese kleinen elektrischen Lampen, die Sie an der Brust befestigen können. Zum Schluss aber und als höchsten Schutz dies, das wir jedoch niemals ohne Not verwenden dürfen!« Er übergab mir eine Anzahl in ein Futteral eingeschlagener, geweihter Hostien. Die anderen Männer rüsteten sich in gleicher Weise aus. »Nun, Freund John«, sagte van Helsing, »wo sind die Dietriche? Wenn wir so ins Haus kommen, müssen wir nicht durchs Fenster einbrechen wie damals bei Miss Lucy.«

Dr. Seward probierte einige Nachschlüssel aus, wobei ihm seine Geschicklichkeit als Chirurg zustatten kam. Bald hatte er einen passenden gefunden; er drehte ihn ein paar Mal hin und her, dann gab der Riegel nach und bewegte sich mit einem schrillen |363|Quietschen im Schloss. Wir stemmten uns dagegen, die rostigen Angeln kreischten, und langsam ging die Tür auf. Ich fühlte mich an die Beschreibung der Öffnung von Miss Westenras Gruft erinnert, wie sie in Dr. Sewards Tagebuch geschildert wird, und auch die anderen schienen so zu empfinden, denn wir alle schraken zunächst zurück. Der Professor war der Erste, der sich vorwärts bewegte und durch die offene Tür trat.

»In manus tuas Domine1, sagte er, indem er sich beim Überschreiten der Schwelle bekreuzigte. Wir schlossen die Tür wieder, um mit unseren Lampen keine Aufmerksamkeit von der Straße aus zu erregen. Der Professor prüfte noch sorgfältig das Schloss, damit wir auch imstande wären, es rasch wieder von innen zu öffnen, wenn ein plötzlicher Rückzug notwendig würde, dann ließen wir unsere Lampen leuchten und machten uns auf die Suche.

Unsere sich kreuzenden Lichtstrahlen zauberten seltsame Effekte an die Wände, während unsere Körper große Schatten warfen. Mich beschlich plötzlich das unabweisliche Gefühl, dass sich noch jemand Weiteres unter uns befand. Ich sagte mir, dies wäre die Erinnerung an die schrecklichen Erlebnisse in Transsilvanien, die mich aufgrund der schauerlichen Umgebung mit Macht einzuholen versuchten, doch dann stellte ich fest, dass es den anderen ähnlich gehen musste, denn auch sie sahen bei jedem Geräusch und bei jedem neuen Schatten über ihre Schultern, ganz wie ich es tat.

Alles war mit dichtem Staub bedeckt. Auf dem Fußboden lag er anscheinend mehrere Zoll tief, außer an den Stellen, die frische Fußspuren aufwiesen, in denen ich beim Schein meiner Lampe die Abdrücke von Sohlen mit Nägeln erkennen konnte. Die Wände waren ebenfalls dick mit Staub überzogen, und in den Winkeln hingen Unmengen von Spinnweben, auf denen sich |364|so viel Staub angesammelt hatte, dass sie zerfetzten Lumpen glichen, besonders da, wo sie durch das Gewicht des Staubes heruntergerissen waren. Auf einem Tisch im Hausflur lag ein großer Schlüsselbund, bei dem jeder einzelne Schlüssel mit einem vergilbten Zettel versehen war. Sie mussten schon öfter benutzt worden sein, denn als van Helsing das Schlüsselbund aufhob, sahen wir einen Abdruck, der in der Staubdecke des Tisches mehrfach zu finden war. Der Professor wandte sich zu mir und sagte:

»Sie kennen diesen Ort, Jonathan. Sie haben sich Skizzen davon gemacht und wissen hier also besser Bescheid als wir. Welches ist der Weg zur Kapelle?« Ich wusste ungefähr die Richtung, obgleich ich bei meinem früheren Besuch nicht hineingelangen konnte. So führte ich die anderen, und nachdem wir ein paar Mal fehlgegangen waren, standen wir schließlich vor einer niedrigen, gewölbten Eichentür, die starke eiserne Beschläge aufwies.

»Dies ist der richtige Punkt«, sagte der Professor und richtete seine Lampe auf unseren kleinen Lageplan des Hauses – eine Kopie jener Skizze, die ich seinerzeit meiner Originalkorrespondenz über den Hauskauf beigefügt hatte. Nach kurzer Suche fanden wir im Bund den richtigen Schlüssel und stemmten uns gegen die Tür. Wir waren natürlich auf unangenehme Überraschungen gefasst, denn schon durch die Ritzen der verschlossenen Tür schien ein leicht übler Geruch zu strömen. Niemand von uns aber hatte mit solch einem Gestank gerechnet, als wir die Tür schließlich geöffnet hatten. Keiner der anderen war dem Grafen bislang nahe gekommen, und als ich ihn gesehen hatte, war er entweder in seinen Räumen und ernährte sich nicht, oder er lag, wenn er mit frischem Blut angefüllt war, in der zerfallenen, vom Wind durchzogenen Gruft. Hier aber befanden wir uns in einem kleinen und engen Raum, dessen jahrhundertelange Nichtnutzung alleine schon die Luft stockig und faulig gemacht hatte. Dazu kam ein Geruch nach Erde sowie ein schwer zu beschreibender Pesthauch. Es roch nach einer Ansammlung der |365|schlimmsten Krankheiten, zu der sich der penetrante, süßliche Gestank des Blutes addierte. Es war ein Leichendunst, als ob die Fäulnis selbst wieder in Fäulnis übergegangen wäre. Pfui Teufel, selbst die Erinnerung lässt mich speien! Jeder Atemzug, den dieses Scheusal tat, schien sich in diesem Raum festgesetzt und die Widerwärtigkeit der Atmosphäre verstärkt zu haben.

Unter gewöhnlichen Verhältnissen hätte der Gestank wohl unserem Unternehmen ein Ende gemacht. Aber das war ein außergewöhnlicher Fall, und der erhabene und fürchterliche Zweck unseres Kommens gab uns eine über das normale Maß hinausgehende Widerstandsfähigkeit. Nachdem wir das unwillkürliche erste Schwindelgefühl überwunden hatten, gingen wir ohne Ausnahme an unser Werk, als wäre der verpestete Raum ein Rosengarten.

Wir unternahmen eine gründliche Durchsuchung des Ortes, die der Professor mit den Worten eröffnete:

»In erster Linie handelt es sich darum, herauszubekommen, wie viele Kisten noch hier sind. Danach müssen wir jedes Loch, jeden Winkel und jede Ritze durchsuchen und hoffen, irgendeinen Aufschluss über den Verbleib der übrigen Kisten zu erhalten.« Ein rascher Blick genügte, um die Summe der vorhandenen Kisten festzustellen, denn die Behältnisse waren sehr groß, ein Irrtum bezüglich ihrer Anzahl war gänzlich ausgeschlossen. Von den fünfzig Kisten waren nur noch neunundzwanzig übrig!

Da bemerkte ich, dass Lord Godalming plötzlich herumfuhr und durch das Türgewölbe in den finsteren Gang hineinstarrte, der sich dahinter befand. Ich sah ebenfalls in die Richtung, und mein Herz stand still: In der Dunkelheit meinte ich die böse Fratze des Grafen zu erkennen, die scharfe Nase, die rotglühenden Augen, die roten Lippen, die schreckliche Blässe. Es war nur ein kurzer Augenblick, denn schon sagte Lord Godalming: »Ich dachte gerade, ich hätte ein Gesicht gesehen, aber es waren wohl nur Schatten.« Und er drehte sich wieder zurück. Ich aber hob meine Lampe hoch und trat in den Gang hinein. Es war nichts zu |366|entdecken, ringsum festes Mauerwerk, kein Zeichen der Anwesenheit von irgendjemandem außer uns. Und da sich in der Passage keine Winkel, keine Türen und keine Öffnungen befanden, bot sich auch kein Versteck, nicht einmal für ihn. Also schrieb auch ich die Erscheinung meiner durch Furcht angeregten Fantasie zu und sagte nichts weiter.

Wenig später sah ich Morris plötzlich aus einem Winkel zurückprallen, den er gerade durchsucht hatte. Augenblicklich richteten wir alle unsere Augen auf die Stelle und erblickten einen phosphoreszierenden Schimmer, der wie Sternenlicht flackerte. Instinktiv rückten wir zusammen, und der ganze Raum begann, vor Ratten zu wimmeln.

Einen Moment waren wir alle erschrocken, alle außer Lord Godalming, der auf einen solchen Fall vorbereitet schien. Er sprang rasch auf das große, eisenbeschlagene Außentor der Kapelle zu, dessen andere Seite Dr. Seward beschrieben hatte und die auch ich kannte, drehte den Schlüssel im Loch um, zog die immensen Riegel zurück und riss den Flügel mit einem mächtigen Schwung auf. Dann zog er sein silbernes Pfeifchen aus der Tasche, setzte es an die Lippen und ließ einen lauten, schrillen Pfiff ertönen. Von Dr. Sewards Haus her antwortete Hundegebell, und nach wenigen Sekunden kamen drei Terrier um die Ecke gesprungen. Unwillkürlich hatten wir uns alle zur offenen Pforte hin bewegt, und ich bemerkte, dass der Staub hier sehr zusammengetreten war; die Kisten waren also auf diesem Wege entfernt worden. Seit unserem Schreck war nur eine sehr kurze Zeit vergangen, aber dennoch hatten sich die Ratten bereits bis ins Ungeheuerliche vermehrt. Der Raum schien überflutet, überall wogten sie umher. Der Schein unserer Lampen zeigte nur noch wimmelnde, schwarze Körper, und die glitzernden, bösen Augen dieser Pest umgaben uns selbst an den Wänden wie eine Wolke von Leuchtkäfern. Endlich waren die Hunde da, aber auf der Schwelle blieben sie plötzlich stehen und knurrten, um dann gleichzeitig die Nasen zu heben und ein klägliches Geheul anzustimmen. Die |367|Ratten aber mussten mittlerweile in die Tausende gehen, und wir flohen aus der Kapelle.

Lord Godalming packte einen der Hunde, hob ihn hoch und warf ihn über die Schwelle ins Innere. Kaum berührten dessen Pfoten den Boden, da schien auch sein Mut zurückgekehrt zu sein, und er verbiss sich tobend in seine Feinde. Die Ratten aber verflüchtigten sich so rasch, dass er nur knapp zwanzig von ihnen das Leben aus dem Leibe schütteln konnte. Die anderen beiden Hunde aber, die auf dieselbe Weise hineingeworfen worden waren, machten fast gar keine Beute mehr, so schnell war die unheimliche Meute wieder verschwunden.

Zugleich mit ihrem Verschwinden löste sich auch ein Druck von uns, und mein seit dem Eintreten ins Haus vorhandenes Gefühl, dass etwas um uns wäre, verflog. Die Hunde wurden lebhaft und bellten fröhlich, wobei sie noch einmal über ihre niedergestreckten Feinde herfielen, sie umherdrehten und wütend in die Luft warfen. Wir alle fühlten unsere Stimmung steigen, und wir fühlten uns erlöst, da wir uns im Freien befanden. Durch das geöffnete Tor drang reine Luft in die Kapelle und verdrängte die verdorbene Atmosphäre. Das unbehagliche Gefühl, das wir bisher empfunden hatten, war von uns gewichen, ohne dass wir aber im Geringsten in unserem Entschluss schwankend geworden wären. Wir gingen also wieder hinein, verschlossen und verriegelten das äußere Kapellentor wieder und setzten mit den Hunden unsere Durchsuchung des Hauses fort. Wir fanden nichts weiter als ungeheure Mengen von Staub, der noch die Fußspuren meines ersten Besuches zeigte. Die Hunde gaben keine Zeichen der Angst mehr von sich, und selbst als wir in die Kapelle zurückkehrten, sprangen sie fröhlich umher, als gelte es einer Kaninchenjagd im sommerlichen Wald.

Der Morgen erwachte schon im Osten, als wir das Haus schließlich durch die Haupttür wieder verließen. Dr. van Helsing hatte den großen Schlüssel vom Bund genommen und schloss sorgfältig ab, dann steckte er den Schlüssel in die Tasche.

|368|»Bislang«, sagte er, »war unsere Nacht außerordentlich erfolgreich. Uns ist kein Leid geschehen, wie ich befürchtet hatte, und wir wissen nun, wie viele Kisten fehlen. Mehr als alles andere aber freut mich der Umstand, dass dieser erste und vielleicht schwierigste und gefährlichste Schritt getan ist, ohne dass unsere verehrte Madame Mina mit hineingezogen worden ist, dass wir ihr Wachen und ihre Träume vor dem Entsetzlichen, was wir sehen, hören und riechen mussten, bewahrt haben, denn sie könnte es nimmer vergessen. Und eine weitere Lektion haben wir heute gelernt, wenn es erlaubt ist, a particulari2 zu argumentieren: dass die scheußlichen Tiere, über die der Graf gebietet, selbst nicht mit seinen übernatürlichen Kräften ausgestattet sind. Denn die Ratten kamen zwar auf seinen Ruf hin wie damals die Wölfe, als er Mr. Harker am Verlassen der Burg hindern und als er die jammernde Frau töten wollte, aber obgleich sie seinem Ruf Folge leisteten, flohen sie doch Hals über Kopf vor den Hunden unseres Freundes Arthur. – Wir haben nun andere Dinge vor uns, andere Gefahren, andere Sorgen, und dieses Monster hat heute Nacht sicher nicht das einzige und nicht das letzte Mal seine Macht über die Tiere gegen uns ins Feld geführt. Augenblicklich mag er fort sein, gut! Wir haben jedenfalls Gelegenheit gehabt, ihm in diesem Spiel, wo es um Menschenseelen geht, Schach zu bieten! Und nun wollen wir nach Hause gehen. Der Morgen ist nahe, wir haben alle Ursache, mit dem Erfolg dieser ersten Nacht zufrieden zu sein. Es mag uns vorherbestimmt sein, noch viele Tage und Nächte voller Gefahren durchleben zu müssen. Aber wir müssen vorwärts und dürfen vor keiner Gefahr zurückschrecken!«

Das Haus war still, als wir heimkamen, nur in weiter Ferne heulte irgendeine arme Kreatur in ihrer Zelle, und aus Renfields Zimmer kamen leise, klagende Laute. Der Mann peinigte sich zweifellos nach der Art der Irren mit unnützen, qualvollen Gedanken.

|369|Ich trat auf Zehenspitzen in unseren eigenen Raum und fand Mina schlafend. Sie atmete so leise, dass ich mein Ohr auf ihre Brust legen musste, um überhaupt etwas zu hören. Sie sieht blasser aus als sonst. Hoffentlich hat die abendliche Besprechung sie nicht allzu sehr angegriffen. Ich bin wirklich froh, dass sie künftig von unserer Arbeit und sogar von unseren Beratungen fernbleibt – die Belastung wäre doch zu groß für eine Frau. Anfangs war ich ja nicht dieser Ansicht, aber heute weiß ich es besser. Gut, dass das geklärt ist. Bei den Beratungen werden sicher Dinge zu erörtern sein, die zu hören sie verängstigen würde. Und ihr etwas zu verheimlichen, wäre wohl noch schlimmer, denn sie würde dies spüren. Nein, besser ist es, unser weiteres Werk ist für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Bis wir ihr dann endlich mitteilen können, dass alles vorüber und die Erde von dieser Ausgeburt der Hölle befreit ist. Es wird nicht leicht für mich sein, mich nach dem Vertrauen, das ihr bisher alle erwiesen haben, nun plötzlich in undurchdringliches Schweigen zu hüllen. Aber ich muss stark sein! Morgen werde ich über die Ereignisse dieser Nacht Stillschweigen bewahren und mich weigern, über irgendetwas zu sprechen, was wir heute gesehen und erlebt haben. Ich werde mich jetzt aufs Sofa legen, um sie nicht zu stören.

 

1. Oktober, später

Ich glaube, es ist verständlich, dass wir alle heute etwas verschlafen haben, denn den gestrigen Tag über waren wir ja schon sehr beschäftigt, in der Nacht aber gab es so gut wie gar keine Ruhe. Sogar Mina muss sehr erschöpft gewesen sein, denn ich war, obgleich ich schlief, bis die Sonne hoch am Himmel stand, doch immer noch vor ihr wach und musste sie zwei oder drei Mal rufen, ehe sie zu sich kam. Sie war noch so schlaftrunken, dass sie mich einige Augenblicke gar nicht erkannte, sondern mich schreckerfüllt anstarrte wie jemand, der aus einem bösen Traum erwacht. Sie klagte dann über Müdigkeit, weshalb ich sie noch etwas schlafen ließ. – Wir wissen nun, dass einundzwanzig Kisten fehlen, |370|und wenn diese auf einmal abtransportiert worden sind, so kommen wir ihnen sicher leicht auf die Spur. Das wird unsere Arbeit bedeutend erleichtern, und je eher wir die Sache in Ordnung bringen, desto besser. Ich werde heute noch Thomas Snelling aufsuchen.

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

1. Oktober

Es war bereits gegen Mittag, als der Professor in mein Zimmer trat und mich weckte. Er war fröhlicher und freundlicher als in der letzten Zeit; es ist offenkundig, dass das Werk der vergangenen Nacht eine drückende Last von seiner Seele genommen hat. Nachdem wir unser Abenteuer noch einmal erörtert hatten, sagte er plötzlich:

»Ihr Patient interessiert mich außerordentlich! Wäre es wohl möglich, ihn in Ihrer Begleitung heute Vormittag zu besuchen? Oder, wenn Sie zu sehr beschäftigt sein sollten, kann ich ihn ja auch allein aufsuchen. Es ist eine gänzlich neue Erfahrung für mich, einen Irren derart philosophieren und diskutieren zu hören.« Ich hatte tatsächlich einiges an dringender Arbeit zu erledigen und sagte ihm also, dass es mir ganz recht wäre, wenn er ohne mich zu Renfield ginge, denn andernfalls müsste ich ihn warten lassen. Ich rief einen Pfleger herbei und gab ihm die nötigen Instruktionen. Ehe der Professor das Zimmer verließ, warnte ich ihn noch eindringlich davor, sich ein falsches Bild von diesem Patienten zu machen. »Ich will ihn nur dazu veranlassen«, antwortete er, »über sich selbst und über seine Wahnvorstellungen zu sprechen, lebende Wesen konsumieren zu müssen. Wie ich in Ihrem gestrigen Tagebucheintrag erfahren habe, hat er Madame Mina gegenüber dieses Verlangen gestanden. – Warum müssen Sie darüber lächeln, Freund John?«

»Entschuldigen Sie«, sagte ich, »aber die Antwort ist bereits hier drin enthalten.« Ich legte meine Hand auf den Stapel |371|Schreibmaschinenblätter. »In dem Augenblick, als unser gesunder und gelehrter Narr erklärte, dass er die Gewohnheit, Lebewesen zu verschlingen, gehabt habe, war sein Mund in Wirklichkeit noch von den Fliegen und Spinnen verklebt, die er nur einen Augenblick, bevor Mrs. Harker den Raum betrat, verschlungen hatte.« Nun musste auch van Helsing lächeln. »Richtig!«, sagte er. »Sie haben ein vorzügliches Gedächtnis, ich hätte mich ebenfalls daran erinnern sollen. Gerade diese Unregelmäßigkeiten des Denkens und der Erinnerung machen das Studium der Geisteskrankheiten ja so fesselnd. Vielleicht ist mehr aus den Narrheiten dieses Wahnsinnigen zu lernen als aus den Werken der weisesten Gelehrten, wer weiß?« Ich machte mich wieder an meine Arbeit und hatte das vor mir Liegende bald erledigt. Die Zeit von van Helsings Abwesenheit schien mir tatsächlich äußerst kurz gewesen zu sein, als er wieder in meinem Arbeitszimmer erschien. »Störe ich?«, fragte er, höflich an der Tür stehen bleibend.

»Nicht im Geringsten«, antwortete ich, »kommen Sie nur herein. Meine Arbeit ist getan, und ich bin frei. Ich kann nun mit Ihnen kommen, wenn Sie wollen.«

»Das ist nicht mehr nötig, ich war schon bei ihm.«

»Und?«

»Ich fürchte, er hat keine sehr hohe Meinung von mir. Unser Gespräch war äußerst kurz. Als ich in sein Zimmer kam, saß er in dessen Mitte auf einem Stuhl, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht trug den Ausdruck äußerster Unzufriedenheit. Ich sprach ihn so freundlich an, wie ich nur konnte, und mit so viel Respekt, wie es mir geboten schien. Er antwortete mir überhaupt nicht. ›Kennen Sie mich denn nicht mehr?‹, fragte ich ihn. Seine Antwort war nicht gerade schmeichelhaft: ›Ich kenne Sie recht gut, Sie sind der alte Trottel van Helsing. Ich wollte, Sie scherten sich mitsamt Ihren idiotischen Gehirntheorien zum Teufel. Verdammter holländischer Dickschädel!‹ Das war alles, was ich von ihm zu hören bekam. Er saß dann einfach weiter in seiner unversöhnlichen Verdrossenheit da und tat so, als wäre |372|ich gar nicht im Zimmer. So schwand also meine Hoffnung, von diesem gewitzten Irrren etwas lernen zu können, fürs Erste dahin. Ich werde mich jetzt, wenn Sie gestatten, durch ein paar freundliche Worte mit der guten Seele Madame Mina wieder aufheitern. Lieber Freund, ich kann Ihnen kaum sagen, wie froh ich darüber bin, dass sie nichts mehr mit der schrecklichen Geschichte zu tun hat und sich nicht mehr darum sorgen muss. Wenn wir auch ihre Hilfe sehr vermissen werden, ist es doch auf jeden Fall besser so.«

»Da gebe ich Ihnen vollkommen recht«, antwortete ich nachdrücklich, denn ich wollte ihn in dieser Angelegenheit nicht wankend werden lassen. »Mrs. Harker hält sich besser von diesen Dingen fern. Die Sachen stehen schon für uns übel genug, die wir Männer von Welt sind und wohl auch schon in so mancher schlimmen Klemme gesteckt haben. Für eine Frau ist das aber ganz und gar nichts, und wenn sie noch länger mit der Angelegenheit zu tun hätte, würde sie unfehlbar Schaden nehmen.«

Van Helsing ist nun unten und unterhält sich mit Mrs. Harker und ihrem Mann. Quincey und Art sind unterwegs und suchen Hinweise auf den Verbleib der Erdkisten. Ich mache mich jetzt an meine Pflichten, denn am Abend werden wir alle wieder zusammenkommen.

 

Mina Harkers Tagebuch

 

1. Oktober

Es ist seltsam für mich, so über alles im Unklaren gelassen zu werden, wo ich doch über so viele Jahre an Jonathans vollständiges Vertrauen gewöhnt bin. Nun vermeidet er mir gegenüber bestimmte Themen, und zwar ausgerechnet jene, die gegenwärtig die einzig wichtigen sind. Ich schlief heute nach den Anstrengungen des gestrigen Tages sehr lange, und Jonathan war, obwohl auch er sehr lange schlief, noch immer früher auf als ich. Er war, bevor er wegging, liebenswürdig und freundlich wie immer, |373|aber er erwähnte mit keinem Wort etwas davon, was sich die letzte Nacht bei ihrem Besuch im Haus des Grafen ereignet hatte. Dabei musste er doch wissen, wie schrecklich gespannt ich war! Der arme Mann, ich glaube beinahe, das Ganze lastet noch mehr auf ihm als auf mir. Sie waren sich alle einig darüber, dass ich nicht weiter an der Sache beteiligt sein sollte, und auch ich habe meine Zustimmung gegeben. Aber es bedrückt mich dennoch, dass Jonathan etwas vor mir geheim hält! Und nun weine ich wie eine alberne Närrin, obwohl ich weiß, dass die Maßregel einzig aus der Liebe meines Mannes und aus der Fürsorge jener anderen starken Männer entspringt …

So, das hat mir gutgetan. Jonathan wird mir eines Tages alles erzählen. Damit er aber niemals denken muss, dass auch ich etwas vor ihm geheim halten würde, will ich mein Tagebuch weiterführen wie gewohnt. Wenn er an mir zweifeln sollte, werde ich es ihm zeigen, und jede Regung meines Herzens wird für seine Augen aufgezeichnet sein. Ich fühle mich heute so merkwürdig traurig und niedergeschlagen, wahrscheinlich ist es die Reaktion auf die schreckliche Aufregung.

Gestern Nacht begab ich mich, sobald die Männer gegangen waren, zu Bett, und zwar einzig deshalb, weil sie es mir geraten hatten. Ich fühlte mich nicht müde, verzehrte mich aber vor Angst um sie. Ich dachte darüber nach, was sich alles ereignet hatte, seit Jonathan mich damals in London besucht hatte, und es schien mir eine grausige Tragödie zu sein, in der das Schicksal unerbittlich auf ein unabwendbares Ende hindrängt. Alles, was wir tun, und mag es noch so richtig sein, führt immer nur zu dem am meisten zu bedauernden Ergebnis. Wäre ich nicht nach Whitby gekommen, vielleicht weilte unsere gute Lucy heute noch unter uns. Es wäre ihr ohne mich gar nicht eingefallen, den Friedhof auf dem Cliff zu besuchen, und wenn sie tagsüber nie dorthin gekommen wäre, so wäre sie auch schlafwandelnd nicht hinaufgegangen. Und wenn sie nicht nachts und im Schlafe dort gewesen wäre, dann hätte jenes Scheusal sie nicht zugrunde richten können. |374|Oh Gott, warum musste ich nur nach Whitby kommen? So, jetzt weine ich schon wieder! Was ist heute denn nur mit mir los? Ich muss es unbedingt vor Jonathan verbergen, dass ich heute Vormittag schon zweimal geweint habe – ich, die ich noch nie um mich selbst Tränen vergossen habe und der er noch nie einen Anlass dazu gegeben hat. Mein armer Mann würde sich vor Sorge verzehren, wüsste er davon. Ich werde eine mutige Miene aufsetzen, und wenn mir wieder weinerlich zumute ist, so soll er es nicht merken. Das gehört wohl zu den Dingen, die wir Frauen beherrschen müssen …

Ich kann mich eigentlich gar nicht daran erinnern, wie ich letzte Nacht eingeschlafen bin. Ich weiß nur noch, dass plötzlich die Hunde bellten und dass recht merkwürdige Laute aus Renfields Zimmer drangen, die wie eine laute Litanei oder ein Gebet klangen – Renfields Raum muss irgendwo unter dem unseren liegen. Dann aber herrschte plötzlich Stille, eine so schreckliche Stille, dass ich beunruhigt aufstand und zum Fenster hinaussah. Draußen war alles finster und still, und die schwarzen Schatten, die das Mondlicht warf, schienen voller kleiner Geheimnisse zu stecken. Nichts rührte sich, alles war starr und unheimlich wie der Tod oder das Schicksal, sodass mir ein feiner weißer Nebelstreifen, der mit fast unmerklicher Geschwindigkeit über das Gras auf das Haus zugekrochen kam, in all der Bewegungslosigkeit beinahe wie etwas Lebendiges erschien. Ich glaube, die Ablenkung meiner Gedanken hatte mir gutgetan, denn als ich wieder in mein Bett zurückging, überkam mich eine angenehme Trägheit. Ich lag dann eine Zeit lang da, konnte aber immer noch nicht schlafen. So stand ich denn wieder auf und sah erneut zum Fenster hinaus. Der Nebel breitete sich aus und war nun ganz nahe am Haus. Schon legte er sich dicht um die Mauern, so als wollte er sich zu den Fenstern hinaufstehlen. Der arme Patient unter mir wurde immer lauter, und obgleich ich keines seiner Worte verstand, konnte ich doch aus seinem Tonfall entnehmen, dass er flehentlich um etwas bat. Dann meinte ich einen Kampf zu vernehmen |375|und wusste, dass sich die Pfleger seiner angenommen hatten. Das verängstige mich so sehr, dass ich zurück in mein Bett kroch, die Decke über den Kopf zog und mir die Ohren zuhielt. Ich war nicht im Geringsten müde, oder wenigstens dachte ich so, aber ich muss dennoch eingeschlafen sein, da ich mich mit Ausnahme von Träumen an gar nichts weiter erinnern kann, bis Jonathan mich schließlich am Morgen weckte. Ich glaube, es hat mich einige Zeit und Mühe gekostet, mir bewusst zu werden, wo ich mich befand und dass es Jonathan war, der sich über mich beugte. Mein Traum war sehr merkwürdig und typisch dafür, wie sich die Gedanken des Wachenden in die Träume des Schlafenden stehlen und darin fortsetzen …

Mir war, als ob ich schliefe und auf Jonathans Rückkehr wartete. Ich sorgte mich sehr um ihn und war zugleich unfähig, irgendetwas zu tun – meine Füße, meine Hände und meine Gedanken waren mir so schwer, dass nichts mit der normalen Geschwindigkeit abzulaufen schien. So schlief ich unruhig und grübelte vor mich hin. Dann fühlte ich plötzlich, dass die Luft schwer, feucht und kalt wurde. Ich schlug das Bettlaken von meinem Gesicht zurück und bemerkte zu meinem Erstaunen, dass es um mich herum ganz finster geworden war. Das Gaslicht, das ich zwar etwas heruntergedreht, für Jonathans Heimkehr jedoch hatte brennen lassen, schimmerte nur noch als schwacher roter Funken durch den Nebel, der offenbar dicker geworden und ins Zimmer eingedrungen war. Sollte ich, vor dem erneuten zu Bett gehen, vielleicht vergessen haben, das Fenster zu schließen? Um mich zu vergewissern, hätte ich noch einmal aufstehen müssen, aber meine Glieder waren von einer bleiernen Lethargie erfasst, und mein Wille nicht minder. Ich konnte nur still daliegen und den Zustand über mich ergehen lassen, das war alles. Obwohl mir die Augen zusanken, vermochte ich immer noch durch die Augenlider zu sehen – es ist schon merkwürdig, was uns unsere Träume manchmal vorgaukeln und wie willig wir diesen Einbildungen nachgeben. Der Nebel wurde immer dichter, und nun konnte ich |376|auch erkennen, wie er hereinkam: Er strömte wie Rauch oder wie der Dampf kochenden Wassers in mein Zimmer, und zwar nicht durch das Fenster, sondern durch den Türspalt. Immer dicker und dicker wurde er, bis er sich schließlich in der Mitte des Raumes zu einer Art Säule zusammenballte, durch deren Spitze ich das schwache Gaslicht wie ein rotes Auge glimmen sah. Die Gedanken in meinem Kopf begannen zu kreisen, wie auch die Nebelsäule vor mir herumzuwirbeln begann, und plötzlich kamen mir die Bibelworte in den Sinn: »… bei Tag in einer Wolkensäule, bei Nacht in einer Feuersäule.«3 Sollte mir wirklich im Schlaf eine spirituelle Orientierung gegeben werden? Diese Säule aber war aus den Tages- und Nachtelementen zugleich zusammengesetzt, denn das rote Auge bestand ja aus Feuer. In der Folge dieser Überlegung erwachte eine Faszination für dieses Auge in mir. Während ich es fixierte, schien es sich zu teilen, sodass es aussah, als würden mich durch den Nebel zwei rote Augen anstarren. Von einem solchen Anblick hatte damals wohl auch Lucy gesprochen, als wir auf dem Cliff spazieren gingen und sie die Spiegelung des Abendlichtes auf den Fenstern der St. Mary’s Church sah. Plötzlich packte mich ein jäher Schrecken, denn mir fiel ein, dass Jonathan jene entsetzlichen Weiber sich ebenfalls aus einem Staubwirbel im Mondlicht hatte materialisieren sehen. Ich muss darauf im Schlafe ohnmächtig geworden sein, denn alles um mich herum wurde plötzlich schwarz. Das letzte bewusste Aufbäumen meiner Vorstellungskraft zeigte mir noch ein weißes Gesicht, das sich aus dem Nebel zu mir herabneigte. – Ich muss mich vor solchen Träumen hüten, denn sie können einem wohl den Verstand rauben, wenn sie sich wiederholen. Ich würde gerne Dr. van Helsing oder Dr. Seward um ein Schlafmittel bitten, aber ich fürchte, sie dadurch zu beunruhigen. Ein solcher Traum in unserer gegenwärtigen Lage würde ihre Sorgen um mich nur unnötig vergrößern. |377|Heute Nacht will ich mich noch einmal anstrengen, auch ohne künstliche Hilfsmittel einzuschlafen. Wenn es mir nicht gelingen sollte, kann ich sie morgen Abend immer noch bitten, mir etwas Chloral zu geben – eine einmalige Dosis wird mir schon nicht schaden, mir aber zu einer erholsamen Nacht verhelfen. Die letzte Nacht hat mich nämlich müder gemacht, als wenn ich überhaupt nicht geschlafen hätte.

 

2. Oktober, 10 Uhr abends

Letzte Nacht habe ich geschlafen, aber nicht geträumt. Ich muss sehr fest geschlafen haben, denn ich wachte nicht auf, als Jonathan ins Bett kam, aber der Schlaf hat mich dennoch nicht gestärkt. Ich fühle mich heute sehr schwach und mutlos. Den ganzen gestrigen Tag habe ich erfolglos versucht zu lesen, oder ich habe im Halbschlaf vor mich hin geträumt. Nachmittags ließ Renfield fragen, ob er mich sprechen könne. Armer Mann, er war sehr höflich zu mir, und als ich mich verabschiedete, küsste er meine Hände und segnete mich. Der Besuch bei ihm hat mich ziemlich aufgeregt, und ich muss weinen, wenn ich nur an ihn denke. Die Tränen sind anscheinend eine neue Schwäche von mir, vor der ich mich hüten muss. Jonathan wäre unglücklich, wenn er wüsste, dass ich geweint habe. Er war genau wie die anderen bis kurz vor dem Abendessen unterwegs, und alle kamen recht ermüdet nach Hause. Ich tat mein Möglichstes, Jonathan aufzuheitern, und ich glaube, dies tat auch mir gut, da ich darüber vergaß, wie müde ich eigentlich war. Nach Tisch baten mich die Herren schlafen zu gehen. Sie erklärten, nur noch ein wenig miteinander rauchen zu wollen, aber ich wusste sehr wohl, dass sie sich darüber austauschen wollten, was im Laufe des Tages alles vorgefallen war. An Jonathans Verhalten meinte ich sogar erkennen zu können, dass er wichtige Mitteilungen zu machen hatte. Ich war nicht so müde, wie ich eigentlich hätte sein müssen, und bat deshalb vor dem Gehen Dr. Seward, mir ein kleines Schlafmittel zu geben, da ich die vorangegangene Nacht nicht |378|gut geschlafen hätte. Er bereitete mir mit großer Freundlichkeit einen Trank zu und reichte ihn mir mit den Worten, dass mir das Mittel nicht schaden würde, da es sehr mild sei … Ich habe es genommen und warte nun auf den Schlaf, der sich aber immer noch fernhält … Ich hoffe, ich habe keine Dummheit gemacht, denn jetzt, wo meine Lider langsam zusinken, ergreift mich wieder Furcht: War es vielleicht falsch von mir, mich mit dem Schlafmittel selbst meines Willen und der Fähigkeit zum Wachbleiben zu berauben? Ich könnte beides nötig haben … Aber hier kommt der Schlaf, gute Nacht!