14

Während wir längere Zeit mit Christiansen und seinen Enkeln unterwegs waren, blieb ich in meiner menschlichen Gestalt, und Samuel verwandelte sich in seinen Wolf. Er hatte sich in meinem Haus wieder verändert, weil andere Wölfe die Veränderung leicht spüren können.

David ließ uns etwa eine Meile vom Schauplatz entfernt aussteigen und sagte uns, wie wir an unser Ziel gelangen konnten. Der Plan bestand darin, dass Samuel und ich uns allein anschlichen. Dann würde ich sehen, ob ich mich durch ein Loch in der Seite des Lagerhauses winden konnte, in dem Adam und Jesse eingesperrt waren, und Samuel würde zusammen mit Adams Rudel darauf warten, dass ich sie rief.

Adam und Jesse wurden in einer Baumschule festgehalten, die im Hügelland südlich von Benton City lag, einem kleinen Ort zwanzig Meilen vor Richland.

Die Baumschule war geschlossen, aber es gab immer noch viele Bäume dort. Ich erkannte einige Ahornarten, Eichen, und ein paar Kiefern, als wir vorbeifuhren.

Die riesige Lagerhalle, von der David mir erzählt hatte, stand hinter einem tristen Fertighaus. Fenster und Türen des Wohnhauses waren vernagelt, und es gab ein Schild eines Maklers daneben, das es stolz als VERKAUFT bezeichnete.

Ich hockte zusammen mit Samuel in einem Graben, der von einem Dickicht russischer Oliven umgeben war, und sah mich genau um. Von dort, wo ich saß, konnte ich keine Fahrzeuge entdecken, also waren sie wahrscheinlich alle auf der anderen Seite der Lagerhalle geparkt.

Christiansen hatte berichtet, ein örtlicher Winzer habe die Baumschule erworben, um das Land zum Weinanbau zu verwenden. Da sie erst im Frühjahr pflanzen würden, stünde die gesamte Anlage – Haus und Lagerhalle – bis dahin leer.

Das Maklerschild sagte mir jedoch, dass tatsächlich einer von Adams Wölfen ein Verräter war, und es lieferte mir den Namen gleich dazu.

Ich holte mein Handy heraus und rief Darryls Nummer an.

»Hast du dich schon mit John Cavanaugh in Verbindung gesetzt?«, fragte ich. Cavanaugh war einer der Wölfe, die ich nicht besonders gut kannte, der aber am Tag zuvor auch beim Kriegsrat in Warrens Haus gewesen war.

»Wir haben ihn nicht finden können.«

Ich seufzte erleichtert, was Darryl ignorierte, immer noch verärgert darüber, dass wir ihm nicht genau sagten, was wir vorhatten. Dass er Samuels Befehlen gehorchen sollte, machte es auch nicht besser.

»Wie angewiesen hinterlasse ich keine Nachrichten auf Anrufbeantwortern. Das bedeutet, dass uns einige Leute fehlen werden.«

»Ich habe hier gerade John Cavanaughs Namen auf einem Maklerschild an der Baumschule vor Augen, in der Adam gefangen gehalten wird«, sagte ich.

Es gab eine lange Pause.

»Aha«, sagte er dann nachdenklich und legte auf. Kein Mann für lange Abschiedsworte, unser Darryl, aber ein kluger Kopf. John Cavanaugh würde nicht zu dieser Rettungsaktion gerufen werden – oder zu irgendeiner anderen. Vielleicht hätte es mich ein wenig mehr stören sollen, dass ich gerade das Todesurteil eines Mannes unterzeichnet hatte, aber ich würde erst einmal sehen, wie es Adam und Jesse ging, bevor mir Cavanaugh leid tat.

Hinter mir winselte Samuel leise.

»Schon gut«, sagte ich und fing an, mich auszuziehen. Es war kalt. Nicht so kalt wie in Montana, aber kalt genug, um mir die Kleidung so schnell wie möglich herunterzureißen – während ich sorgfältig darauf achtete, mich nicht an den Dornen der russischen Olive zu verletzen. Ich faltete meine Sachen hastig und schaltete das Handy ab.

»Du brauchst nicht zu warten, bis ich drin bin«, sagte ich abermals.

Er starrte mich nur an.

Ich seufzte dramatisch, dann veränderte ich mich. Wunderbare Wärme umhüllte mich, und ich streckte mich aus, wedelte Samuel zu und eilte zum Lagerhaus. Es war immer noch hell, also wählte ich eine umständliche Stecke, um nicht gesehen zu werden. Ich war mir der Tatsache bewusst, dass Samuel mir folgte, aber ich sah ihn nicht. Recht beeindruckend, wenn man seine Farbe bedachte – Weiß ist gut für einen Winter in Montana, aber die Farben des Winters in Ostwashington sind für gewöhnlich Grau und Braun.

Eine Ecke der Aluminiumverkleidung des Lagerhauses war hochgebogen, nur ein wenig, und genau da, wo Christiansen es beschrieben hatte. Ich musste mich ein bisschen anstrengen, gelangte aber schließlich auf Kosten von etwas Fell hinein. Meine Nase sagte mir, dass ein anderer Kojote und mehrere kleinere Geschöpfe in den letzten Monaten die gleiche Route benutzt hatten. Wenn Gerry oder einer seiner Wölfe meinen Geruch aufnahmen, würden sie mich hoffentlich nur für einen weiteren Zaungast halten.

Im Inneren der gewaltigen Lagerhalle war es nicht wärmer als draußen. Irgendwie hatte ich sie mir leer vorgestellt, obwohl Christiansen gesagt hatte, ich würde kein Problem haben, ein Versteck zu finden. Tatsächlich war sie mit Hunderten, vielleicht sogar Tausenden von riesigen Kisten gefüllt, die auf etwa drei Fuß hohen Sperrholzpaletten standen. Sie reichten bis zur Decke hoch, vielleicht dreißig Fuß über meinen Kopf.

Es roch muffig. Als ich mich umsah, entdeckte ich, dass es eine Berieselungsanlage und Ablaufgräben am Boden gab. Das war wohl nur vernünftig. Mit einer Lagerhalle voller Bäume würden sie die Pflanzen irgendwie feucht halten müssen, bevor sie sie versandten.

Ich fand einen Stapel, auf dessen unterster Kiste ein Fetzen Papier mit dem Text »Hamamelis Virginiana – Vigrinische Zaubernuss 3’ -4’« klebte. Die Kiste war leer, aber der durchdringende Geruch des Buschs hing immer noch an dem grauen Holz. Ich hätte mich in der obersten Kiste verstecken können, wäre aber leicht zu sehen gewesen, wenn ich heraus- oder hineinsprang. Stattdessen rollte ich mich also auf den Zement zwischen der untersten Kiste und der metallenen Außenwand zusammen und fühlte mich so sicher, wie ich unter den Umständen sein konnte.

Der Plan bestand darin, zu warten, bis einer von Davids Söhnen kam und mich abholte. Sie würden die Extraktion (Davids Begriff) in der Nacht vornehmen, deren Anbruch immer noch ein paar Stunden entfernt war.

Gerry hatte Probleme mit Adam gehabt. Betäubungsdrogen hin oder her, es regte ihn zu sehr auf, wenn sich Wachen im gleichen Raum mit ihm befanden. Seine Kidnapper erinnerten sich daran, wie er die Fesseln in seinem Haus zerrissen hatte, also taten sie ihr Bestes, ihn ruhig zu stellen, was bedeutete, dass die meiste Zeit nur eine einzige Wache auf dem gleichen Stockwerk mit ihm und Jesse blieb, und zwar außerhalb des Raums. Gerrys Geruch selbst brachte Adam so sehr in Rage, dass er sich dem Lagerhaus vollkommen fernhalten musste.

Obwohl wir Adam und Jesse erst in ein paar Stunden holen würden, wollte ich mich zu ihnen schleichen und mein Bestes tun, um Adam auf die Rettung vorzubereiten.

Wir hatten darüber gestritten. David hatte warten wollen, bis sein Mann in der Dämmerung Wache hielt, aber ich wollte Adam und Jesse nicht länger allein lassen als unbedingt nötig. David hielt die Gefahr einer Entdeckung für zu groß.

Samuel hatte den Streit schließlich entschieden. »Lassen Sie sie gehen. Sie wird es sowieso tun, und auf diese Weise verringern wir die Gefahr.«

David war nicht glücklich darüber gewesen, aber er hatte sich der höheren Autorität und einem besseren Urteilsvermögen gebeugt. Samuel hatte recht. Ich würde Adam und Jesse nicht ohne Schutz warten lassen, wenn ich bei ihnen sein konnte.

Gerry war der einzige Wolf, der meinen Geruch kannte, und er blieb der Lagerhalle fern. Alle anderen Wölfe würden einfach nur annehmen, dass ich ein Kojote war, von denen es in dieser Gegend genug gab.

Ich musste immer noch auf eine Eskorte warten, die so schnell nicht kommen würde, aber es war sicherer, als mich herumwandern und nachsehen zu lassen, wo sie Adam und Jesse verbargen.

Es ist unmöglich, allzeit bereit zu bleiben, wenn man reglos wartet. Schließlich begann ich einzudösen und schlummerte vielleicht eine Stunde, bevor mich der Geruch von John-Julian weckte.

Ich zwängte mich vorsichtig nach draußen, wo er bereits wartete, meinen Rucksack über einer Schulter. Er sagte kein Wort, drehte sich nur um und ging wieder zwischen den Kisten hindurch zu einem Bereich des Lagerhauses, der aussah, als hätten sich dort einmal Büros befunden. Wie die Kistenstapel reichten riesige Container drei Stockwerke hoch.

Er stieg die Treppe zur mittleren Ebene hinauf, wo die am weitesten abgelegene Tür lag. Sie verfügte über einen hellen, glänzenden Riegel mit Schloss, der sie mehr als die anderen Türen auffallen ließ. Als er den Riegel löste und sie öffnete, schoss ich in den Raum dahinter und blieb gleich wieder stehen.

Kein Wunder, dass Gerry nur eine einzige Wache brauchte – es gab einfach keine Möglichkeit, dass Jesse oder Adam allein entkommen würden.

Jesse lag auf einer nackten Matratze auf einem Bettgestell. Jemand hatte Klebeband um ihren Mund, das Haar und den Hals gewickelt. Es würde schwierig werden, es abzureißen. Ihre Hände waren mit Handschellen gefesselt, und ein Bergsteigerseil sicherte diese Fesseln am Bettrahmen. Die Fußknöchel waren ebenfalls gefesselt, was es ihr unmöglich machte, sich viel zu bewegen.

Sie starrte John-Julian aus matten Augen an und schien mich überhaupt nicht zu bemerken. Sie trug eine Schlafanzughose und ein T-Shirt, wahrscheinlich die Sachen, in denen sie entführt worden war. An der weißen Unterseite ihres linken Arms hatte sie eine dunkle Prellung, die eher schwarz als lila aussah.

Adam saß auf einem Sessel, der offenbar von dem gleichen einfallslosen Handwerker gefertigt worden war, der den Bettrahmen zusammengenagelt hatte. Er war aus starken Brettern und groben Nägeln gezimmert, und dabei hatte Stilkunde wohl keine große Rolle gespielt. Schwere Handfesseln, wie man sie eher in einem Wachsfigurenkabinett oder einer mittelalterlichen Folterkammer erwartet hätte, hielten Adams Handgelenke auf den Armlehnen fest, und ähnliche Modelle drückten seine Fußgelenke an die Sesselbeine. Aber selbst den Sessel zu zerstören, hätte nicht viel geholfen, denn Adam und das Sitzmöbel waren mit genügend Silberketten umwickelt, um ein Jahr lang das lokale Schulsystem zu finanzieren.

»Gerry wird nicht kommen«, sagte John-Julian. Adam öffnet die Augen nur ein winziges bisschen, und ich sah, dass sie gelbgolden und flammend vor Zorn waren. »Seine Gegenwart hat die gleiche Wirkung auf Adam wie die meines Großvaters. Nicht einmal die Droge genügt, damit er ruhig bleibt – also wird Gerry sich fernhalten. Unser Mann befindet sich nur noch fünf Minuten auf Wache. Der Nächste ist der Feind, aber danach wird Shawn, einer von unseren Leuten, für zwei Stunden übernehmen.«

John-Julian gab mir weitere Informationen, die mir bereits bekannt waren, wiederholte sie aber, um sich zu überzeugen, dass ich wirklich alles verstanden hatte. »Shawn wird hereinkommen, um Ihnen zu helfen, wenn er kann. Die Wachen sollen eigentlich unten bleiben, außer wenn sie die Schicht beginnen. Aber Sie müssen beide gefesselt lassen, bis Shawn kommt, falls die anderen sich nicht an ihre Anweisungen halten. Es gibt eine Wache, die direkt für die Gefangenen zuständig ist, und vier Mann patrouillieren auf dem Gelände. Im Wohnhaus haben sie Strom und Satellitenfernsehen, also sind sie außerhalb ihrer Dienstzeit meistens da drin. Niemand erwartet wirklich, dass Adams Rudel diese Anlage so schnell findet, und entsprechend sind sie nicht besonders aufmerksam.«

Davids Männer leisteten offenbar den Löwenanteil bei der Bewachung der Gefangenen, weil Gerry nicht so viele Leute hatte, denen er im Umgang mit einer hilflosen Fünfzehnjährigen trauen konnte – das war kein besonders begehrtes Talent in einer Welt von verrückten Söldnern und Einsamen Wölfen. David sagte, Gerry habe sie bezahlt, um zu bleiben und Wachdienst zu leisten. Er schien zu glauben, dass sich David nicht gegen ihn wenden würde, solange die Bezahlung stimmte.

Während John-Julians kleiner Ansprache sah ich mich im Zimmer um, in dem es nicht gerade von Verstecken wimmelte. Solange die Wachen hereinkamen, würde ich mich hinter der Tür oder in einem großen Schiebtürenschrank verstecken können – einige Klischees sind deshalb Klischees, weil sie funktionieren. Es gab keinen Grund für die Wachen, das Zimmer zu durchsuchen, solange sich Adam und Jesse noch dort befanden.

Jesse regte sich schließlich, als ihr klar wurde, dass er nicht mit ihr sprach. Sie drehte sich ungeschickt herum, bis sie mir einen guten Blick zuwerfen konnte, dann gab sie hinter ihrem Knebel ein heiseres Geräusch von sich.

»Still«, sagte er, und dann wandte er sich wieder mir zu. »Sie haben etwa vier Stunden Zeit. Wir werden eine Ablenkung inszenieren – nicht meine Sache, aber Sie werden wissen, was passiert, wenn Sie es hören. Ihre Aufgabe besteht dann darin, die beiden Gefangenen die Treppe hinunter und zur großen Garage zu bringen. Großvater wird dort zu Ihnen stoßen, und wir holen Sie raus.«

Ich nickte, und er stellte den Rucksack, den er trug, auf den Boden.

»Viel Glück«, sagte er leise, ging und verschloss die Tür hinter sich.

Ich veränderte mich, sobald die Tür sich schloss, öffnete den Rucksack und zog Unterwäsche, ein dunkles T-Shirt und alte Trainingshosen an. Dann legte ich das Schulterhalfter an und ließ die SIG hineinrutschen. Sie war geladen und schussfertig. Ich hatte auch die Smith & Wesson meines Pflegevaters mitgebracht. Sie war zu groß für ein Schulterhalfter, und ich konnte mit ihr nicht so oft feuern, aber die .444 Magnum-Kugeln hatten eine größere Wucht als die 9mm. Wenn alles so lief wie geplant, würde ich jedoch keine der Waffen brauchen.

Ich hörte, dass jemand die Treppe hinaufkam, und erkannte, dass ich nicht einmal wahrgenommen hatte, wie John-Julian nach unten gegangen war – ziemlich gut für einen Menschen! Ich nahm an, die Schritte kämen von der Ablösung, schnappte mir meinen Rucksack und versteckte mich im Schrank, die SIG wieder in der Hand. Der Schrank hatte eine Schiebetür, aber ich ließ die Seite, die am weitesten von der Tür entfernt war, offen, so wie sie es schon zuvor gewesen war.

Ich konnte sehen, wie Jesse sich anspannte und gegen die Seile drückte, als jemand den Riegel zurückzog und die Außentür aufriss.

»He, hübsche Kleine«, sagte die Wache. Ich konnte den Knoblauch riechen, den der Mann vor Kurzem gegessen hatte, und etwas Ungesundes und Säuerliches. Er war kein Werwolf, aber er war auch niemand, den ich gern in Jesses Nähe sah. »Ich bin hier, um dich ins Badezimmer zu bringen. Wenn du nett zu mir bist, lasse ich dich sogar etwas essen. Ich wette, du bist inzwischen ganz schön hungrig.«

Er ging zu Jesse, was mir ein perfektes Schussfeld bot. Die Versuchung, das auszunutzen, wurde noch von der Panik in Jesses Augen vergrößert und von dem Geruch von Angst, der von ihr ausging.

Adam wachte auf, und die Wache zog die Waffe und wandte sich ihm zu. Er schoss sofort, und Jesse gab ein schreckliches, ungläubiges Geräusch von sich. Ich selbst hatte meine Waffe auf den Mann gerichtet und spannte nun selbst den Hahn, bevor mir klar wurde, dass der Schuss nur ein leises Ploppen gewesen war und kein lauter Knall – es handelte sich offenbar um eine Betäubungspistole. Hätte er das Gehör eines Werwolfs gehabt, hätte ich ihn trotzdem erschießen müssen, denn ich hatte mir ein Luftschnappen nicht verkneifen können, als er auf Adam zielte.

»Das wird dich eine Weile beruhigen«, sagte er, wahrscheinlich an den Gefangenen gerichtet. Er steckte die Pistole wieder ein und beugte sich vor, um die Knoten an Jesses Füßen zu lösen. Wenn er sich umgedreht hätte, hätte er mich sehen können – genau, wie Jesse es tat.

Ich schüttelte den Kopf und berührte meine Augen, dann deutete ich auf den Mann. Sie verstand sofort, denn sie hörte auf, mich anzuschauen und starrte stattdessen an die Decke.

Er schien nichts zu bemerken, aber dann kam jemand kam die Treppe heraufgeeilt – offenbar von den Schussgeräuschen alarmiert, so leise sie auch gewesen waren. Die Tür wurde aufgerissen, und der zweite Mann kam herein. Er war ein Werwolf. Ich sah ihn nur von hinten, konnte ihn aber gut riechen.

»Es stinkt hier nach Tier«, verkündete er mit einer Stimme, die wie ein tiefes Grollen klang.

Zunächst war ich überzeugt, dass er mich meinte.

Die Wache, die ich sehen konnte, fuhr herum, offenbar überrascht. Wenn der Mann seinen Blick noch zehn Grad zur Seite gewandt hätte, hätte er mich gesehen, aber stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Werwolf.

»Bist du ein Tier, Jones?«, fragte der mit sanftem Eifer in der Stimme. »Ich bin eins.«

Jones wich zurück, bis er mit der Rückseite der Beine gegen das Bett stieß, und dann setzte er sich halb auf Jesse. Ich hätte ihm sagen können, wie dumm das war. Man wich nicht vor Raubtieren zurück – das kommt einer Einladung gleich.

Als Jones schwieg, lachte der Werwolf. »Ich dachte, der Boss hätte dir gesagt, dass er dich nicht in der Nähe von diesem Kind haben will. Habe ich recht?«

Ich weiß nicht, was der Werwolf tat, aber es musste beunruhigend gewesen sein, denn Jones gab leise Geräusche von sich. Endlich bewegte sich der Werwolf, ein großer, rothaariger Mann mit dunklem, kurz geschnittenem Bart. Er packte Jones, eine Hand an jeder Schulter des Hemdes, und hob ihn mit einem Grunzen der Anstrengung vom Bett. Dann wandte er sich der Tür zu und schleuderte den leichteren Mann quer durch den Raum. Ich sah nicht, wie Jones aufprallte, aber ich hörte ihn keuchen.

»Verschwinde«, sagte der Werwolf.

Ich hörte Jones die Treppe hinuntereilen, aber ich war mir nicht sicher, ob das wirklich eine Verbesserung der Lage darstellte. Der Werwolf wirkte erheblich gefährlicher. Er hatte diese Bemerkung über Tiere gemacht. Hatte er mich gerochen oder Jones nur necken wollen?

Ich blieb reglos liegen, bis auf ein leichtes Zittern, das ich nicht unterdrücken konnte, und versuchte es mit positiven Gedanken. Angst verströmt einen intensiven Geruch, und Jesse hatte genug Angst für uns beide, aber ich hoffte, unbemerkt bleiben zu können.

»Also gut, Engel, ich mache dich jetzt los«, sagte der Werwolf mit sanfter Stimme zu Jesse, die tröstlicher gewesen wäre, hätte ich seine Gier nicht so deutlich riechen können. Jesse konnte das nicht, und ich bemerkte, dass sie sich ein wenig entspannte.

Seine großen Hände leisteten schnelle Arbeit an den Knoten, und dann half er ihr höflich, sich hinzusetzen und gab ihr Zeit, ihren Rücken und ihre Schultern zu lockern. Kluges Mädchen, das sie war, setzte sie sich so, dass sie ihm die Sicht auf den Schrank versperrte.

Dann half er ihr hoch und stützte sie mit leichten Händen, als er sie aus meinem Blickfeld und aus dem Raum führte. Ich lehnte mich gegen die Wand, schloss die Augen und betete, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte und er wirklich nicht mehr tat, als sie ins Bad zu bringen und ihr etwas zu essen zu geben.

In der Zwischenzeit musste ich mich um Adam kümmern.

Der Betäubungspfeil steckte noch in seinem Hals, und als ich in herauszog, fiel er auf den Boden. Adam öffnete die Augen, als ich ihn berührte, aber ich glaube nicht, dass er etwas sah.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte ich zu ihm und rieb sanft über den Blutfleck an seinem Hals. »Ich bin hier, und wir werden dich und Jesse rausholen. Wir kennen zumindest einen der Verräter, und der Rest wird keinen Schaden anrichten können.«

Ich sagte ihm nicht, was »Wir« bedeutete. Ich war ohnehin nicht sicher, ob er mich hören konnte, aber ich wollte ihn lieber beruhigen als gegen mich aufbringen. Es gab einen zweiten Betäubungspfeil im Ärmel seines rechten Arms, und als ich ihn herausholte, beugte ich mich dazu über ihn. Er ließ den Kopf nach vorn fallen, bis er zwischen meiner Schulter und meinem Hals lag. Ich wusste nicht, ob das eine bewusste Bewegung seinerseits gewesen war oder ich ihn angestoßen hatte, aber ich konnte spüren, wie sein Atem schwerer wurde.

»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Schlaf und werde dieses Gift los.«

Ich blieb dort und hielt ihn an mich gedrückt, bis ich hörte, wie jemand die Treppe heraufkam. Also setzte ich Adam zurecht, bis er wieder aussah wie zuvor, wenn auch ohne die Betäubungspfeile, dann kletterte ich rasch wieder in mein Versteck.

Ich wartete nervös, während die Schritte auf der Treppe sich näherten. Erst als der Mann mein Blickfeld wieder betrat, wurde mir klar, dass er Jesse trug. Sie war steif in seinen Armen und starrte an die Wand.

»Tut mir leid, Engel«, gurrte er und band sie sehr wirkungsvoll wieder fest. »Ich hätte dich allein gelassen, wenn es nach mir gegangen wäre, aber das konnten wir nicht riskieren, nicht wahr?«

Ein toter Mann, dachte ich, und prägte mir seine Züge und die Art ein, wie er sich bewegte, damit ich ihn wiedererkennen würde, selbst wenn Gerry zufällig zwei einsfünfundachtzig große Männer von dieser Haarfarbe in seinem Rudel hatte. Ich hörte die Befriedigung in seiner Stimme, und ich bin sicher, dass Jesse das ebenfalls tat. Er wollte ihr Angst einjagen.

Adam regte sich. Ich konnte es hören, obwohl er sich außerhalb meines Blickfelds befand. »Mercy«, sagte er mit heiserer Stimme.

Die Wache lachte. »Mercy- ha! Gnade? Die werden Sie hier nicht finden.« Er griff nach unten und tätschelte Jesses Gesicht. »Bis zum nächsten Mal, Engel.«

Adam nannte sie Engel, erinnerte ich mich, und mir wurde ein bisschen übel. Die Tür fiel zu, und der Riegel wurde vorgelegt. Ich wartete, bis der Mann nach unten gegangen war, bevor ich wieder aus dem Schrank kam. Jesse starrte immer noch die Wand an.

Adams Kopf war wieder nach vorn gefallen, und ich musste ihn einfach noch einmal berühren, um mich zu überzeugen, dass er immer noch atmete. Dann ging ich zu seiner Tochter.

Sie hatte ihre Stellung nicht verändert, seit die Wache sie wieder angebunden hatte. Zwei Stunden vor dem Ausbruch würde es sicher sein, die Fesseln zu lösen, dachte ich, suchte aber im gleichen Moment schon in meinem Rucksack nach etwas, um ihre Seile durchzuschneiden.

Es war einfach unmöglich, sie noch länger in diesem Zustand zu lassen.

Ich weiß nicht, warum ich Zees Dolch mitgebracht hatte oder wieso ich nun nach ihm griff und nicht nach meinem Taschenmesser, aber die Waffe geriet in meine Hand, als gehörte sie dorthin.

Jesse zuckte zusammen, als ich ein Knie auf das Bett stütze, also berührte ich ihre Schulter. »Ich bin’s, Mercy. Niemand wird dir mehr wehtun. Wir müssen noch ein bisschen warten, aber wir werden dich hier rausbringen. Du musst leise sein. Wenn du das für mich tun kannst, werde ich dieses Seil durchschneiden und sehen, was ich wegen des Klebebandes tun kann.«

Sie war vollkommen passiv gewesen, aber nun begann sie zu zittern, als wäre ihr kalt. Es war tatsächlich nicht warm im Zimmer, und sie hatte keine Decke, also nahm ich an, dass das einen Teil des Problems ausmachte. Aber sie atmete auch, so gut sie konnte – eine schwierige Aufgabe, so wie ihr Mund mit dem Klebeband verschlossen war.

Ich berührte die Schneide des Dolchs mit dem Daumen. Sie war scharf, aber nicht scharf genug, um damit einfach durch Kletterseil schneiden zu können.

Ich ließ sie zwischen ein Stück des Seils und den Bettrahmen gleiten und hätte mich beinahe gestochen, als ich sie zurückzog und auf keinen Widerstand stieß. Zuerst glaubte ich, der Dolch sei unter dem Seil abgerutscht – aber das Seil war glatt durchtrennt!

Ich warf der Waffe einen respektvollen Blick zu. Ich hätte wissen sollen, dass ein Dolch, den Zee zu seinem Schutz mit sich führte, für ein paar Überraschungen gut war. Ich schnitt das Seil an Jesses Füßen durch, und sie zog die Knie zur Brust hoch und schlang die Arme darum. Tränen liefen ihr über das Gesicht, und ich rieb ihr eine Minute lang den Rücken. Als sie sich ein wenig zu beruhigen schien, kehrte ich zu dem Rucksack zurück und holte eine kleine Reisedose mit WD-40 heraus.

»Nach Essig und Backpulver stellt WD-40 eine der größten Erfindungen dieses Zeitalters dar«, sagte ich zu ihr. »Jetzt werden wir es benutzen, um dieses Klebeband zu lockern.«

Ich war nicht sicher, ob es funktionieren würde, obwohl ich das Zeug schon oft verwendet hatte, um kleine Bandrückstände von Autos zu lösen.Aber schließlich gelang es mir wirklich, das Tape vorsichtig von ihrer Haut zu ziehen. Als genug gelöst war, schnitt ich es mit Zees Dolch dicht an ihrem Ohr durch. Ihr Haar zu befreien, interessierte mich im Augenblick nicht – ich musste das Klebeband erst einmal von ihrem Gesicht bekommen.

Es löste sich so gut wie die Bandreste, die ich von Autos geholt hatte. Ich brauchte nicht lange, bis ihr Mund frei war; dann schnitt ich den Rest durch, und nur noch die Streifen im Haar blieben.

»Das schmeckt widerlich«, sagte Jesse heiser und wischte sich den Mund mit dem Saum ihres T-Shirts ab.

»Ich mag es auch nicht«, stimmte ich ihr zu, denn ich hatte es ein paar Mal in den Mund bekommen, wenn ich nicht daran gedacht hatte, dass das Zeug noch an meinen Händen klebte. »Wie lange hast du nichts mehr getrunken?«

»Seit sie Dad hier hochgebracht haben«, flüsterte sie ihren Knien zu. »Als ich etwas gesagt habe, ist er aufgewacht, also haben sie mich geknebelt. Ich dachte, Werwölfe seien unempfindlich gegen Drogen.«

»Offenbar nicht gegen dieses Zeug«, stellte ich fest, während ich zu meinem Rucksack zurückkehrte und die Thermosflasche mit dem Kaffee herausholte. »Obwohl ich nicht glaube, dass es so funktioniert, wie sie wollen.

Ich hätte daran denken sollen, Wasser mitzubringen«, sagte ich und hielt Jesse einen Becher mit der unangenehm riechenden schwarzen Flüssigkeit hin. Ich weiß, die meisten Leute mögen den Geruch, aber ich kann das Zeug irgendwie nicht ausstehen.

Als sie sich immer noch nicht bewegte, verlor ich die Nerven: »Komm schon, du hast jetzt keine Zeit, dich im Selbstmitleid zu suhlen. Später in dieser Nacht, wenn du zu Hause bist, kannst du in Winterstarre fallen, wenn du das unbedingt willst. Jetzt musst du mir helfen, deinen Vater auf die Beine zu bringen.«

Ich fühlte mich, als schlüge ich einen winselnden Hund, aber sie setzte sich tatsächlich hin und nahm den kleinen Metallbecher in die zitternde Hand. Ich hatte so etwas erwatet und den Becher nur halb gefüllt. Sie verzog bei dem Geschmack das Gesicht.

»Trink«, sagte ich. »Es ist gut für das, was dir wehtut. Koffein und Zucker. Ich kann das Zeug nicht ausstehen, also bin ich zu eurem Haus gerannt und habe den teuersten Kaffee aus der Tiefkühltruhe geklaut. Es sollte nicht so schlimm sein. Samuel hat mir gesagt, ich soll ihn stark machen und Zucker reinschütten. Es müsste schmecken wie bitterer Sirup.«

Sie lächelte erst dünn, dann ein bisschen breiter, und hielt sich die Nase zu, bevor sie alles in einem Zug trank. »Nächstes Mal«, sagte sie mit heiserer Stimme, »mache ich den Kaffee.«

Ich grinste sie an. »Aber gern.«

»Gibt es eine Möglichkeit, die Handschellen zu knacken?«, fragte sie.

»In ein paar Stunden kommt ein Mitverschwörer«, sagte ich. »Er wird die Schüssel haben.«

»Gut«, erwiderte sie, aber ihre Lippen zitterten. »Aber vielleicht könntest du jetzt schon versuchen, das Schloss zu öffnen. Das hier sind keine Handschellen, wie die Polizei sie hat, sondern eher wie das Zeug, das man in Sado-Maso-Läden findet.«

»Jessica Tamarind Hauptmann«, fragte ich mit entsetzter Stimme, »woher kannst du so etwas wissen?«

Sie bedachte mich mit einem albernen Kichern. »Einer meiner Freunde hat ein Paar, das er auf dem Flohmarkt gekauft hat. Er hat sie benutzt, und dann konnte er den Schlüssel nicht finden. Er war ziemlich in Panik, bis seine Mutter sich um das Schloss gekümmert hat.«

Ich betrachtete forschend das Schlüsselloch. Es sah tatsächlich verdächtig primitiv aus. Ich hatte keine nützlichen Haarnadeln und keine Drahtkleiderbügel dabei, aber die Spitze von Zees Dolch war sehr dünn.

Also griff nach den Handschellen und versuchte, die Dolchspitze in das Schlüsselloch einzuführen. Erst glaubte ich, es würde nicht passen, aber mit ein wenig Druck ging es hervorragend.

»Aua.« Jesse riss die Arme zurück.

Ich zog den Dolch weg und schaute mir den Kratzer an Jesses Handgelenk an. Dann betrachtete ich die Handschellen, wo der Dolch beinahe so einfach durch das Metall geglitten war wie zuvor durch das Seil.

»Wahrhaftig – ein Metallzauber«, murmelte ich.

»Was für eine Art Messer ist das?«, fragte Jesse.

»Ein Dolch. Ein geliehener.« Ich setzte ihn an der Kette zwischen den Handschellen an und sah, wie die Kette einfach unter der dunkelgrauen Klinge dahinschmolz. »Hm. Ich nehme an, ich werde nächstes Mal mehr Fragen stellen, bevor ich mir etwas vom Feenvolk leihe.«

»Kannst du damit ganz durch die Handschellen scheiden?« Jesse hielt die beschädigte Hälfte hoch, die bereits halb durchtrennt war.

Ich achtete vorsichtig darauf, nicht mit dem Dolch ihre aufgescheuerte Haut zu berühren, und ließ ihn vorsichtig zwischen ihr Handgelenk und die Handschelle gleiten. Es sah aus wie ein schlechter Spezialeffekt, als sich das Metall von der Klinge trennte. Ein Filmmacher hätte Funken oder einen hellroten Schein hinzugefügt – alles, was ich bemerkte, war der leichte Geruch nach Ozon.

»Von wem hast du ihn?«, fragte sie, als ich durch die zweite Handschelle schnitt. »Zee?« Ich konnte sehen, wie sein Status sich in ihrem Kopf wandelte – vom mürrischen alten Freund zum faszinierenden Geheimnishüter. »Cool!« Sie klang beinahe wieder wie sie selbst – ein schmerzhafter Kontrast zu der lila Prellung an der Seite ihres Gesichts und den Abschürfungen um ihr Handgelenk.

Ich konnte mich nicht erinnern, diesen Fleck gesehen zu haben, bevor der Werwolf sie nach unten gebracht hatte.

»Hat er dich gerade erst geschlagen?«, fragte ich, berührte ihre Wange und erinnerte mich, wie der Mann sie getragen hatte, während sie versuchte, sich so klein wie möglich zu machen.

Sie zog sich in sich zusammen, das Lächeln verschwand, und ihr Blick wurde matt. »Ich will nicht an ihn denken.«

»Schon gut«, gab ich sofort nach. »Mach dir wegen ihm keine Gedanken mehr.«

Ich würde mich selbst darum kümmern, wenn das sein musste. Die dünne Tünche der Zivilisation fiel offenbar ziemlich leicht von mir ab, dachte ich, als ich nach dem leeren Becher griff und ihn wieder auf die Thermosflasche schraubte. Es hatte nur den Anblick dieses blauen Flecks bedurft, und ich war bereit zu töten.

»Du solltest eigentlich mehr davon trinken«, sagte ich. »Aber ich brauche das Koffein für deinen Vater. Vielleicht wird Shawn etwas mitbringen, wenn er kommt.«

»Shawn?«

Ich berichtete ihr von David Christiansen und dass er versprochen hatte, uns alle herauszuholen.

»Du traust ihnen?«, fragte sie, und als ich nickte, sagte sie schlicht: »Na gut.«

»Komm, sehen wir uns deinen Vater an.«

Nachdem ich Jesse befreit hatte, würde es wenig nützen, Adam in Ketten zu lassen, und all das Silber half sicher nicht, seinen Zustand zu verbessern. Ich griff wieder nach Zees Dolch, aber Jesse hob die Hand.

»Mercy?«, sagte sie leise. »Wenn er anfängt aufzuwachen, ist er …

»Ziemlich erschreckend?« Ich tätschelte ihre Hand. Hin und wieder hatte ich angenommen, dass ihre Erfahrung mit Werwölfen sie dazu gebracht hatte, sie als Haustiere zu betrachten und nicht als gefährliche Jäger. Aber offenbar war das kein Problem. David hatte mir schon berichtet, dass Adam durchgedreht war, als er in diesen Raum kam, und dann musste ich an die Überreste seines Wohnzimmers denken. Vielleicht war Jesse der Schleier ein bisschen zu plötzlich von den Augen gerissen worden.

»Was hast du erwartet, wenn er sich hilflos in den Händen seiner Feinde befindet?«, sagte ich sachlich. »Er versucht, dich so gut wie möglich zu verteidigen. Es muss unglaubliche Willenskraft kosten, das Zeug zu unterdrücken, mit dem sie ihn vollpumpen. Du solltest nicht erwarten, dass er darauf mit übergroßer Freundlichkeit reagiert.«

Ich hatte begonnen, die Silberketten zu entfernen, aber Jesses Nervosität machte mir deutlich, dass es gefährlich war, Adam vor der verabredeten Zeit zu befreien.

Wenn ich Angst vor ihm hatte, würde ich damit das Raubtier wecken.

Entschlossen drückte ich das Messer gegen die schwere Fessel an seinem linken Handgelenk. Ich musste vorsichtig sein, denn die Handschellen waren fester als die von Jesse. Außerdem gab es nicht genug Platz zwischen seiner Haut und dem Metall, um den Dolch hineinzuschieben, ohne ihn zu schneiden. Ich erinnerte mich daran, wie die Klinge auf den kleinen Schnitt von Samuel reagiert hatte, und befürchtete, es könnte ein Problem werden, wenn ich ihn zufällig verletzte. Daher ließ ich die Klinge also einfach von außen auf dem Metall ruhen, ohne Kraft anzuwenden, damit ich sie sofort zurückziehen konnte.

Erst dachte ich, es sei die Wärme meiner Hände am Griff, aber nachdem die Klinge durch die Fessel geglitten war, musste ich sie fallen lassen, weil sie zu heiß geworden war. Adams Hand rutschte von der Sesselarmlehne zu seinem Schoß.

Ich brauchte beinahe eine Stunde, um die restlichen Fesseln und Ketten zu durchtrennen. Jedes Mal, wenn das Messer sich wieder aufheizte, brauchte es anschließend länger, um sich wieder abzukühlen. Als Adam schließlich frei war, gab es Brandstellen auf dem Linoleumboden, und ich hatte ein paar Blasen an den Händen.

Jesse half mir, die Ketten zusammenzusuchen und sie auf das Bett zu legen. Wir mussten vorsichtig sein, sie nicht über den Boden zu ziehen, um keine Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.

Wir legten gerade die letzten Ketten auf die Matratze, als ich hörte, wie die Wache wieder die Treppe heraufkam. Ich ließ Zees Dolch und das Silber auf Jesses Pritsche fallen, schob sie selbst zum Schrank und hob die Schusswaffe. Ich richtete sie etwa in sechs Fuß Höhe auf der Tür, erstarrte und wartete darauf, dass der Riegel zurückgezogen wurde.

Jemand steckte leise pfeifend den Schlüssel ins Schloss, und ich packte die Waffe fester. Falls es ein Problem gab, würde ich den Mann erst mitten in die Brust schießen und dann zweimal in den Kopf. Wenn er dann immer noch lebte, würde er zumindest unfähig sein, irgendetwas zu unternehmen, sodass ich ihm ein Ende machen konnte. Es würde alle wecken, aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich hatte nicht vor, die Gefangenen wieder zu fesseln.

Als ich Luft holte, hörte ich die Stimme eines anderen Mannes, verzerrt von der Tür und der Entfernung, sodass ich nicht ganz verstehen konnte, was er sagte. Aber der andere befand sich direkt vor unserer Tür. Wenn ich jemanden umbringen musste, hoffte ich, es würde derjenige sein, der Jesse geschlagen hatte.

»Ich überprüfe den Gefangenen«, sagte die Stimme. »Es ist ohnehin Zeit, Hauptmann einen neuen Schuss zu setzen.«

»Ich brauche keine Befehle, um auf die Uhr zu sehen«, sagte der zweite Mann. »Hauptmann braucht mehr von der Droge. Er wird nicht wegen einem bisschen Silber tot umfallen. Halte dich daran, was Wallace gesagt hat.«

Ich holte tief Luft, als sich plötzlich Macht von der Treppe aus ausdehnte, nicht so intensiv wie von Adam oder Samuel, aber dennoch genügend, und ich nahm an, der Mann, der da mit unserer Wache sprach, war David Christiansen selbst.

Der Wachtposten knurrte missmutig, aber dann nahm er den Schlüssel aus der Tür und lief wieder die Treppe hinunter. Es kam wohl zu einem kurzen, gemeinen kleinen Streit, und als die Treppe leer blieb, ging ich davon aus, dass Christiansen gewonnen hatte, und steckte die Waffe wieder weg.

»Na gut«, sagte ich zu Jesse und versuchte, ruhiger zu atmen. »Das hat wirklich Spaß gemacht.«

Sie hatte sich unten im Schrank zusammengerollt. Einen Augenblick glaubte ich, sie werde dort bleiben – aber sie war zäher. Sie nahm ihren Mut zusammen und stand auf.

»Was jetzt?«

Ich sah Adam an. Er hatte sich nicht gerührt.

Ich ging durch den Raum und legte die Hand an sein Gesicht. Seine Haut war kalt, was ich für ein schlechtes Zeichen hielt. Wegen ihres hohen Metabolismus fühlen sich Werwölfe für gewöhnlich wärmer an, und ich fragte mich, wie viel von diesem Silber sie in ihn hineingepumpt hatten.

»Ich muss ein bisschen Kaffee in ihn hineinbekommen«, sagte ich zu Jesse. »Und ich habe auch Essen – das sollte helfen.«

Sie kam näher und sah ihn an, und dann wandte sie sich mir zu. »Na gut«, sagte sie schließlich »Ich gebe auf. Wie sollen wir ihn dazu bringen, Kaffee zu trinken?«

Am Ende zerrten wir ihn aus dem Sessel und stützten seinen Kopf gegen Jesses Oberschenkel. Wir tröpfelten den Kaffee, der immer noch warm war, in seinen Mund. Eine kurze Zeit lang wussten wir beide nicht, wie wir ihn dazu bringen sollten, zu schlucken, aber nach den ersten paar Tropfen tat er es von selbst.

Nach dem dritten Schluck öffnete er die Augen, und sie waren nachtdunkler Samt. Er griff nach oben und nahm Jesses Hand, aber sein Blick war auf mich gerichtet.

»Mercy«, murmelte er. »Was zum Geier hast du mit meinem besten Kaffee gemacht?«

Einen Augenblick glaubte ich, dass all meine Sorgen umsonst gewesen waren, bis er Jesses Hand losließ, den Rücken durchbog und seinen Kopf tiefer in ihren Schoß drückte. Seine Haut wurde erst grau, dann fleckig, und seine Hände verkrampften sich. Er verdrehte die Augen, bis nur noch Weiß zu sehen war.

Ich ließ den Kaffee fallen und packte Jesse unter den Schultern, um sie so schnell und weit von Adam wegzuziehen, wie ich konnte.

»Er wird sich den Kopf anschlagen«, widersprach sie, als ihr klar wurde, dass er einen Anfall hatte.

»Er kann einen gebrochenen Schädel heilen, aber du nicht«, sagte ich. »Jesse, er ist ein Werwolf – du darfst ihm nicht zu nahe kommen, wenn er sich in diesen Zustand befindet. Wenn er dich aus Versehen trifft, wird er dir alle Knochen brechen.« Ich dankte Gott, dass Adam Jesses Hand losgelassen hatte, bevor er sie zerquetschte.

Als hätten die gleichen Dämonen, die zu seinen Zuckungen führten, ihn jetzt geweckt, spürte ich, wie Macht von ihm ausging – und alle Werwölfe würden das ebenfalls wahrnehmen können. Und wenn Christiansens Angaben zutrafen, gab es in unmittelbarer Nähe zwölf davon.

»Kannst du schießen?«, fragte ich Jesse.

»Ja.« Jesse wandte den Blick nicht von ihrem Vater ab.

Ich holte die SIG heraus und reichte sie ihr.

»Richte sie auf die Tür«, sagte ich und suchte unten im Rucksack nach der .444. »Wenn, und nur wenn ich dir sage, du sollst schießen, drückst du ab. Sie ist mit Anti-Werwolf-Munition geladen. Aber wir haben hier auch Verbündete, also warte unbedingt auf mein Kommando.«

Ich fand den Revolver. Mir blieb keine Zeit, ihn zu überprüfen, aber ich hatte ihn geladen, bevor ich ihn in den Rucksack gesteckt hatte. Die Smith & Wesson war erheblich schwerer als die SIG und konnte auch erheblich mehr Schaden anrichten.

»Was ist los?«, flüsterte Jesse, und ich erinnerte mich daran, dass sie ein Mensch war und das Lied der Kraft des Alphas nicht spüren konnte.

Die Musik wurde deutlicher und kräftiger, aber dann verebbte die Konzentration, bis ich nicht mehr hätte sagen konnte, ob sie wirklich von Adam ausging. Schnelle Schritte kamen die Treppe herauf. Jesse sah mich immer noch an, aber ich hatte den Revolver gehoben und zielte, als sich die Tür öffnete.

»Nicht schießen«, sagte ich und legte meine Hand auf ihre, um den Lauf der Automatik nach unten zu drücken. »Das ist einer von uns.«

Der Mann in der Tür hatte schokoladenfarbene Haut, grünbraune Augen und trug ein grünes T-Shirt, auf dem DRACHEN HABEN DIE DINOSAURIER UMGEBRACHT stand. Es war dieses T-Shirt, das mir sagte, dass es sich wirklich um einen von Davids Leuten handelte. Er stand sehr still da und ließ uns Zeit, um zu dem Schluss zu kommen, dass er sich auf unserer Seite befand.

»Ich bin Shawn«, stellte er sich vor, und dann sah er Adam an.

»Verdammt.« Er kam ins Zimmer und schloss leise die Tür. »Was ist los?«, fragte er, den Blick auf Adam gerichtet, der gerade flach auf dem Rücken lag und mit Armen und Beinen einen seltsamen, zuckenden Tanz vollführte.

»Ich glaube, er verändert sich«, antwortete Jesse.

»Ein Anfall«, sagte ich. »Ich bin kein Arzt, aber ich würde annehmen, er hat zu viel von dem Silber abbekommen, und das könnte Schaden in seinem Nervensystem angerichtet haben.«

»Wird er wieder in Ordnung kommen?« Jesses Stimme bebte.

»Er ist zäh«, sagte ich und hoffte, dass ihr nicht auffiel, dass ich die Frage nicht wirklich beantwortet hatte. Wie viel Silber brauchte es, um einen Werwolf umzubringen? Und ich wollte gar nicht daran denken, dass es vielleicht auch Werwölfe gab, die einfach empfindlicher waren als andere.

»Ich habe den Wachdienst mit Hamilton getauscht, nachdem der Captain einen Streit mit Connor inszeniert hat und mir das Zeichen gab, mich auf den Weg zu machen«, berichtete Shawn. »Aber ich hatte noch keine drei Schritte hinter mir, als jeder Werwolf in der Nähe sich auf den Captain konzentrierte. Ich nehme an, es gibt etwas, was sie alle spüren können?«

Ich nickte und erklärte beiden so gut ich konnte, was wir vermuteten. »Ich weiß nicht, wie Christiansen das macht, aber er versucht, Adams Macht auf sich zu konzentrieren und sie zu verschleiern. Ich wette, alle werden denken, dass er das ist.«

»Wegen des Streits«, sagte Shawn, dem es nun dämmerte.

Aber ich hatte das Interesse daran verloren, wie schnell Christiansen gewesen war, denn Adam hatte sich ein wenig von dem Anfall erholt und lag nun schlaff da. Jesse wäre zu ihm gegangen, aber ich hielt sie zurück.

»Warte«, sagte ich und nutze die Gelegenheit, mir die Automatik von ihr zurückgeben zu lassen. »Überzeuge dich, dass er wirklich ruhig ist.«

»Er ist nicht tot?«, fragte sie.

»Nein. Ich kann seinen Atem hören. Er ist flach, aber gleichmäßig.«

Ich steckte die Smith & Wesson zurück in meinen Rucksack und die SIG wieder ins Halfter. Dank Christiansen würde sich im Augenblick kein Rudel Wölfe auf uns stürzen, aber das konnte sich jederzeit ändern.

Adam hatte sich nicht gerührt, und seine Atemzüge waren tiefer geworden. Ich wollte Jesse gerade sagen, dass er in Ordnung war, als er sich abrupt auf die Seite drehte und sich mit einem leisen Stöhnen zusammenrollte.