6

Auf dem Nachttisch lag ein Stapel National Geographic-Magazine, und daneben ein Taschenbuchkrimi. Wenn ich mich recht erinnerte, war der Lesestoff zunächst angeschafft worden, um mögliche Gäste für die Abwesenheit eines Fernsehers zu entschädigen. Als ich hier die Zimmer sauber gemacht hatte, hatte es so tief in den Bergen keinen Empfang gegeben. Nun stand eine Satellitenschüssel oben auf dem Motel, und an der Zimmerwand war ein kleiner Fernseher angebracht, den man vom Bett oder dem kleinen Tisch in der Kochecke aus sehen konnte.

Ich interessiere mich nicht für Wiederholungen alter Serien, also blätterte ich lustlos die Zeitschriften durch. Sie kamen mir bekannt vor. Vielleicht war das der gleiche Stapel, der schon hier gewesen war, als ich dieses Zimmer zum letzten Mal geputzt hatte: Bei einem Datum auf der neusten Ausgabe von Mai 1967 wäre das durchaus möglich gewesen. Oder zufällige Stapel von National Geographic erwarben über die Jahre, in denen man sie in Wartezimmern und ähnlichen Räumen liegen ließ, eine gewisse Ähnlichkeit miteinander.

Ich fragte mich, ob Jesse wohl irgendwo in einem Krankenhausbett lag. Dann wechselte das Bild vor meinem inneren Auge in ein Leichenschauhaus, und ich riss mich schnell zusammen. Panik würde mir nicht helfen. Ich tat das Beste, was ich konnte.

Ich griff nach dem Taschenbuch und setzte mich auf das Bett. Der Einband war nicht besonders vielversprechend – er zeigte das Bild einer Scheune in Wisconsin –, aber ich öffnete das Buch dennoch. Dann klappte ich es wieder zu, bevor ich mehr als den ersten Satz gelesen hatte. Ich konnte es einfach nicht über mich bringen, hier zu sitzen und nichts zu tun.

Ich ging nach draußen. Es war kälter als zuvor, und ich trug nur mein T-Shirt, also lief ich hastig zu Nummer eins. Ich hatte den Schlüssel in der Tasche meiner Jeans, aber als ich den Türknauf drehte, ging die Tür von selbst auf.

Adam lag auf dem Bett, auf die Seite gedreht, die Schnauze mit einem festen Riemen umwickelt, und Samuel beugte sich über ihn, bekleidet mit Jeans, Plastikhandschuhen und nichts weiter. Es spricht für meine Sorge um Adam, dass mein Blick nicht an ihm hängen blieb. Charles, der an der Wand lehnte, sah mich an, sagte aber nichts.

»Tür zu«, fauchte Sam ohne aufzublicken. »Verdammt noch Mal, Mercy, du hättest den Knochen einrichten sollen, bevor du ihn ins Auto geworfen hast und den ganzen Tag gefahren bist – ausgerechnet du solltest doch wissen, wie schnell wir heilen! Ich werde sein Bein noch einmal brechen müssen.«

Samuel hatte mich noch nie zuvor angeschrien. Er war der am wenigsten ungeduldige Werwolf, dem ich je begegnet war.

»Ich weiß nicht, wie man Knochen richtet«, erklärte ich und schlang die Arme um den Oberkörper. Aber er hatte recht. Ich wusste, dass Werwölfe unglaublich schnell heilten – ich hatte nur nicht darüber nachgedacht, was das in Bezug auf Knochenbrüche bedeutete. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass sein Bein gebrochen war. Ich war dumm. Ich hätte einfach Darryl anrufen sollen.

»Was braucht es denn schon, um ein Bein zu richten?«, fragte Samuel beinahe sofort. »Du musst es nur geradeziehen.« Seine Hände waren sanft, als er dazu ansetzte, genau das mit Adams Bein zu tun. »Er hat doch sicher in seinem Rudel jemanden mit medizinischer Ausbildung. Den hättest du um Hilfe bitten können, wenn du nicht selbst den Mumm hattest, es zu tun.« Dann sprach er Adam an. »Sammeln Sie sich.« Aus meiner Position an der Tür konnte ich nicht sehen, was er tat, aber dann knackte ein Knochen, und Adam zuckte zusammen und gab ein Geräusch von sich, das ich nie wieder hören möchte.

»Ich habe mir Sorgen gemacht, dass jemand aus seinem Rudel in den Angriff verwickelt war«, flüsterte ich. »Adam war bewusstlos. Ich konnte ihn nicht fragen. Und sie haben niemanden, der stark genug ist, um seinen Wolf zu beherrschen.«

Samuel warf mir einen Blick zu und fluchte. »Wenn du nur jammern willst, dann verschwinde von hier.«

Trotz seines Zustands knurrte Adam und drehte den Kopf, um Samuel anzusehen.

»Tut mir leid«, sagte ich, ging und schloss die Tür fest hinter mir.


Ich hatte zwanzig Minuten damit verbracht, die erste Seite des Krimis anzustarren, als es an die Tür klopfte. Meine Nase sagte mir, dass es Samuel war, also reagierte ich nicht sofort.

»Mercy?« Seine Stimme war leise, genau, wie ich sie in Erinnerung hatte, mit nur einem Hauch walisischen Akzents.

Wenn ich morgen sehr früh abfuhr, konnte ich anfangen, nach Jesse zu suchen, dachte ich, während ich weiterhin die Tür anstarrte. Jemand anders konnte Adam zurückbringen, wenn er wieder reisefähig war. Wenn ich früh genug aufbrach, würde ich vollkommen vermeiden können, mit Samuel zu sprechen.

»Mercy, ich weiß, dass du mich hörst.«

Ich starrte die Tür an, sagte aber nichts. Ich wollte nicht mit ihm reden. Er hatte recht. Ich war dumm gewesen – ich hatte Adam einer sechsstündigen Fahrt ausgesetzt, und das wegen einer zufälligen Bemerkung von Darryl, von der ich inzwischen annahm, dass sie nichts zu bedeuten hatte. Samuel wusste es selbstverständlich besser – das Rudel hätte Adam ebenfalls nach Montana zurückbringen oder zumindest nach einem dominanten Wolf schicken können, bis der Alpha sich wieder unter Kontrolle hatte, aber sie hätten sein Bein sofort gerichtet. Und Darryl und das Rudel hätten sich auch nach Jesse umsehen können, während sich Adam bereits auf dem Weg der Besserung befand, wenn ich nicht so dumm gewesen wäre.

In meiner eigenen Welt von Motoren und Gleichlaufgelenken fiel es mir nicht schwer, kompetent zu sein. Wenn Adam ein Auto gewesen wäre, hätte ich gewusst, was zu tun ist. Aber Aspen Creek … hier war ich nie wirklich gut genug gewesen, und daran hatte sich offenbar nicht geändert.

»Mercy, es tut mir leid. Wenn du dich nicht mit Erster Hilfe auskennst und seinem Rudel nicht trauen konntest, hättest du nichts anders tun können.«

Seine Stimme war sanft und liebenswert, aber meine Mutter hatte mir einmal gesagt, ich solle mich stets darauf verlassen, was zuerst aus dem Mund einer Person kam. Wenn die Leute erst Gelegenheit gehabt hatten, darüber nachzudenken, änderten sie ab, was immer sie sagen wollten, um irgendwie akzeptabler zu sein, ihr Gegenüber glücklicher zu machen oder sich zu verschaffen, was sie haben wollten. Ich wusste, was Sam wollte – was er immer von mir gewollt hatte, selbst wenn er es selbst über die Arbeit an Adams Wunden vergessen haben sollte.

»Adam hat mir fast den Kopf abgerissen, weil ich so barsch zu dir war«, sagte er leise. »Und er hatte recht. Ich war wütend, weil ich niemandem unnötig wehtun möchte, und das habe ich an dir ausgelassen. Kann ich reinkommen und mit dir reden statt mit der Tür?«

Ich rieb mir müde das Gesicht. Ich war keine sechzehn mehr und konnte nicht einfach davonrennen, ganz gleich, wie angenehm diese Vorstellung sein mochte. Und außerdem, dachte ich widerstrebend, musste ich auch mit ihm über einige Dinge reden.

»Also gut«, sagte er. »Also gut, Mercy. Wir sehen uns morgen.«

Er hatte sich schon umgedreht und war auf dem Rückweg, als ich die Tür öffnete.

»Komm rein«, forderte ich ihn zitternd auf, als der Wind durch mein Hemd blies. »Aber du solltest dich lieber beeilen. Es ist hier draußen saukalt.«

Er kam zurück, stampfte fest mit den Füßen auf die Türmatte und ließ dort Schneeklumpen zurück. Er zog seinen Mantel aus und legte ihn auf den Tisch an der Tür, und ich sah, dass er irgendwo ein T-Shirt gefunden hatte. Überall in der Siedlung war Kleidung deponiert, für den Fall, dass jemand sie schnell brauchte, wie Jeans, T-Shirts und Trainingsjacken. Das Hemd, das er trug, war ein wenig klein und klebte an ihm wie eine zweite Haut. Falls er über ein paar Extragramm Fett oder auch nur zu schwach ausgeprägte Muskeln verfügt hätte, wäre das ein alberner Anblick gewesen, aber er war gebaut wie ein Tänzer der Chippendales.

Sein Körper war hinreißend, aber ich weiß nicht, ob irgendwer sonst ihn gut aussehend genannt hätte. Er hatte zweifellos nicht Adams auffallend schöne Züge, sondern tiefliegende Augen, und seine Nase war zu lang und sein Mund zu breit. Seine Farben in menschlicher Gestalt wirkten erheblich weniger faszinierend als die seines Wolfes: helle, blaugraue Augen und braunes Haar, nur ein wenig von der Sonne aufgehellt.

Als ich ihm ins Gesicht sah, war ich allerdings nicht objektiv genug, um zu entscheiden, wie attraktiv er war; er war einfach nur Sam, der mein Freund gewesen war, mein Verteidiger und mein Schatz.

Ich senkte den Blick schließlich, damit er meinen Zorn nicht bemerkte – und die anderen Gefühle, die sich meiner bemächtigten –, bis ich sie wieder beherrschen konnte. Wenn er das falsch interpretieren sollte, konnte ich ihm nicht helfen. Ich hatte ihn nicht hereingelassen, um mich mit ihm zu streiten.

»Ich dachte nicht, dass du noch mir reden würdest«, sagte er mit einem Hauch seiner üblichen Wärme in der Stimme.

»Ich auch nicht«, stimmte ich finster zu – ich hatte nicht vor, mir das hier anzutun und ihn dabei auch noch ansehen zu müssen. »Aber ich sollte mich ebenfalls bei dir entschuldigen.«

»Nein.« Sein Tonfall war misstrauisch. Offenbar war er zu klug, um mir den unterwürfigen Blick abzunehmen. »Es gibt nichts, wofür du dich rechtfertigen müsstest. Ich hatte dich vorhin nicht anfauchen sollen.«

»Schon gut«, erklärte ich. »Wahrscheinlich hattest du recht. Ich habe Mac tot und Adam beinahe im gleichen Zustand vorgefunden und bin in Panik geraten.« Ich ging zum Bett und setzte mich, einfach, weil es so weit weg von ihm stand, wie in diesem Motelzimmer möglich war. Erst dann wagte ich es, ihn wieder anzusehen. »Meine Entschuldigung ist schon seit Jahren überfällig. Ich hätte mir dir reden sollen, bevor ich gegangen bin. Ich hätte dir sagen sollen, dass ich nach Portland gehen würde.« Aber ich hatte Angst, etwas Dummes zu tun, wie dich zu erschießen oder noch mehr zu weinen. Über den Rest brauchte er allerdings nichts zu wissen.

Die Heiterkeit, die kurz sein Gesicht berührt hatte, verschwand wieder und ließ natürliche Wachsamkeit zurück, als hielte er nach einer Falle Ausschau. »Mein Vater sagte, dass er mit dir gesprochen und dich überredet habe, zu deiner Mutter zu gehen, statt mit mir davonzulaufen«, berichtete er.

»Wie lange hast du auf mich gewartet?« Nachdem Bran uns schmusend im Wald gefunden und mir gesagt hatte, er werde mich nach Portland schicken, war Samuel zu dem Schluss gekommen, dass wir beide weggehen sollten. Ich sollte nach draußen schleichen und ihn eine Meile oder so von meinem Haus entfernt im Wald treffen. Aber der Marrok wusste solche Dinge selbstverständlich.

Also kam Bran zu mir und erzählte mir, warum Samuel mich zu seiner Gefährtin machen wollte – kein Grund, den ich akzeptieren konnte.

Während Samuel also auf mich gewartet hatte, fuhr Charles mich nach Libby, damit ich den Morgenzug nach Portland erreichen konnte.

Samuel wandte sich von mir ab, ohne zu antworten.

Auf seine eigene Weise war er die ehrenhafteste Person, die ich je gekannt hatte – etwas, das seinen Verrat noch schmerzlicher machte, denn ich wusste, dass er nie gewollt hatte, dass ich glaubte, er würde mich lieben. Er hatte mir nie gesagt, er werde auf mich warten, und ich wusste, dass er lange genug gewartet hatte, selbst nachdem ihm klar gewesen war, dass ich nicht kommen würde.

»Das hatte ich mir gedacht«, erwiderte ich leise. Verdammt, es sollte mir nicht immer noch so viel ausmachen. Ich stellte fest, dass ich tiefer atmete als normal, nur um seinen Duft aufzunehmen.

»Ich hätte dir sagen sollen, dass ich es mir anders überlegt hatte«, erklärte ich und klammerte mich dabei mühsam an das, was ich ihm sagen musste. »Es tut mir leid, dass ich dich ohne ein Wort zurückgelassen habe. Das war weder richtig noch gut. Ich war feige.«

»Vater hat dir befohlen zu gehen, ohne mit mir zu sprechen«, erwiderte Samuel. Er klang distanziert, aber er hatte mir auch den Rücken zugedreht und starrte einen feuchten Fleck auf dem Teppich in der Nähe seiner Stiefel an.

»Ich gehöre nicht zu seinem Rudel«, fauchte ich. »Das ist mir immer sehr deutlich gezeigt worden. Aber das bedeutet auch, dass ich Bran nicht gehorchen muss. Ich hätte es nicht tun sollen, und das wusste ich damals schon. Ich bedauere es aufrichtig. Nicht die Tatsache, dass ich gegangen bin – das war die richtige Entscheidung –, aber ich hätte dir sagen sollen, was ich vorhatte. Ich war feige.«

»Vater hat mir erzählt, worüber er mit dir gesprochen hat.« Er hatte ruhig begonnen, aber nun lag eine Spur von Zorn in seinen Worten, als er fortfuhr. »Das hättest du allerdings bereits wissen müssen. Ich habe nichts vor dir verborgen.«

In seiner Stimme oder in seiner Haltung lag Trotz – er verstand wirklich nicht, was er mir angetan hatte, so ignorant ihn das in meinen Augen auch machte. Aber irgendwie tat es immer noch gut zu wissen, dass er nicht geplant hatte, mir wehzutun.

Er drehte sich um und sah mich an, und ich spürte dieses Kribbeln, das mir einmal so vertraut gewesen war wie sein Gesicht. Ein Teil davon war die Anziehung zwischen uns, aber ein Teil war auch die Macht des dominanten Wolfs. Die Anziehung brachte mich auf die Beine und halb durchs Zimmer, bevor ich wusste, was ich tat.

»Also gut, Samuel«, sagte ich und blieb abrupt stehen, bevor ich ihn berührte. »Ich bin müde. Es war ein anstrengender Tag. Ich will mich nicht mit dir über die Vergangenheit streiten.«

»In Ordnung«, sagte er leise und nickte kaum merklich. »Wir können morgen weiterreden.«

Er zog den Mantel wieder an und ging auf die Tür zu, dann drehte er sich noch einmal um. »Das hätte ich beinahe vergessen. Charles und Carl haben die Leiche mitgenommen –«

»Mac«, sagte ich mit scharfer Stimme.

»Mac«, verbesserte er sich. Ich wünschte, er hätte das nicht getan, weil sein offensichtliches Mitgefühl mir die Tränen in die Augen trieb. »Sie haben Mac ins Krankenhaus gefahren und deinen Bus dann zurückgebracht. Charles hat mir die Autoschlüssel gegeben. Er hätte sie dir selbst zurückgegeben, aber du warst so schnell wieder weg. Er wusste allerdings, dass ich mich ohnehin entschuldigen wollte, also überließ er sie mir.«

»Ist der Bus abgeschlossen?«, fragte ich. »Ich habe zwei Schusswaffen da drin, die gegen Werwölfe geladen sind –« Die Erinnerung an die Waffen ließ mich an etwas anderes, etwas Seltsames denken. »Oh, und als ich Adam in seiner Wohnung fand, lag in seiner Nähe ein Betäubungspfeil. Den habe ich ebenfalls mitgebracht.«

»Der Bus ist abgeschlossen«, erklärte er. »Charles hat den Pfeil gefunden und ihn ins Labor gebracht, weil er nach Silber roch, und nach Adam. Jetzt, da ich weiß, wo du ihn gefunden hast, werde ich ihn auf jeden Fall bitten, dass er ihn sich genauer ansieht.«

»Mac sagte etwas darüber, dass sie diese Pfeile benutzt haben, um damit zu experimentieren«, sagte ich. »Sie haben angeblich Drogen entwickelt, die auch bei Werwölfen funktionieren.«

Samuel nickte. »Ich erinnere mich, dass du darüber gesprochen hast.«

Er reichte mir meine Schlüssel, und ich nahm sie ihm ab, bemüht, dabei nicht seine Hand zu berühren. Er lächelte, als hätte ich etwas Aufschlussreiches getan, und mir wurde klar, dass ich nicht hätte so vorsichtig sein sollen. Wenn ich nichts für ihn empfand, würde mich auch die Berührung seiner Hand nicht stören. Seit ich unter normalen Menschen lebte, hatte ich vergessen, wie schwierig es war, etwas vor Werwölfen zu verbergen.

»Gute Nacht, Mercy«, sagte er.

Dann war er weg, und das Zimmer fühlte sich leerer an. Ich muss morgen Früh sofort hier verschwinden, dachte ich, als ich zuhörte, wie der Schnee unter seinen Schuhen knirschte.

Ich war gerade damit beschäftigt, Seite vierzehn zum dritten Mal in dieser Nacht zu lesen, als jemand an die Tür klopfte »Ich bringe das Abendessen«, sagte eine angenehme Tenorstimme.

Ich legte das Buch hin und öffnete die Tür.

Ein junger Mann mit hellbraunem Haar und unauffälligem Gesicht in einem dunkelblauen Winterpullover brachte ein Plastiktablett mit zwei eingepackten Sandwiches und zwei Styroporbechern mit heißer Schokolade. Vielleicht lag es am Essen, aber mir fiel auf, dass Bran tatsächlich sehr nach einem typischen Lieferanten aussah, wenn er es darauf anlegte. Er blieb gerne unauffällig.

Er lächelte, als ich in der Tür stehen blieb. »Charles sagt, Adam kommt wieder in Ordnung, und Samuel hat sich zum Narren gemacht.«

»Samuel hat sich entschuldigt«, sagte ich, trat schließlich zurück und ließ ihn herein.

In der Kochnische gab es einen Zwei-Platten-Kocher, einen winzigen Kühlschrank und einen kleinen Resopaltisch mit zwei Stühlen. Bran warf einen Mantel, den er über den Arm gelegt hatte, aufs Bett, stellte das Tablett auf den Tisch und rückte alles zurecht, bis sich auf jeder Seite ein Sandwich und ein Becher befanden.

»Charles hat auch gesagt, du hättest keinen Mantel, also habe ich dir einen gebracht. Ich dachte auch, dass du vielleicht gerne etwas zu essen hättest. Wenn du satt bist, können wir besprechen, was wir im Hinblick auf deinen Alpha und seine verschwundene Tochter unternehmen sollen.«

Er setzte sich nach rechts und bedeutete mir, die linke Seite zu nehmen. Ich ließ mich ebenfalls nieder, und erst dann wurde mir klar, dass ich den ganzen Tag über noch nichts gegessen hatte. Ich hatte keinen Hunger gespürt und war auch jetzt immer noch nicht wirklich hungrig.

Wie versprochen sagte er nichts, während ich aß und trank. Das Sandwich schmeckte nach Kühlschrank, aber im Kakao gab es Marshmallows und echte Vanille.

Er selbst aß schneller als ich, wartete aber geduldig, bis ich fertig war. Das Sandwich war eine dieser riesigen Brotstangen, von denen man im Notfall eine ganze Woche leben konnte. Ich verspeiste einen Teil davon und wickelte den Rest wieder in die Plastikfolie ein, in der er es gebracht hatte. Bran hatte sein Brot bereits vollkommen niedergemacht, aber Werwölfe brauchen auch viel Nahrung.

Meine Pflegemutter hatte oft gesagt: »Lass einen Werwolf nie hungern, oder er könnte dich zum Essen einladen.« Danach hatte sie ihrem Mann immer den Kopf getätschelt, auch wenn er gerade in Menschengestalt war.

Ich weiß nicht, wieso ich gerade jetzt daran denken musste oder warum der Gedanke mir Tränen in die Augen trieb. Meine Pflegeeltern waren beide seit beinahe siebzehn Jahren tot. Sie war gestorben, als sie versuchte, zum Werwolf zu werden, weil sie, wie sie mir sagte, jedes Jahr älter wurde und er nicht. Erheblich weniger Frauen werden zu Werwölfen, weil sie die Verwandlung einfach nicht so gut überleben. Mein Pflegevater starb einen Monat danach, vor Kummer. Ich war damals vierzehn Jahre alt gewesen.

Ich trank einen Schluck Kakao und wartete darauf, dass Bran zu reden begann.

Er seufzte tief und lehnte sich mit dem Stuhl zurück, sodass er auf zwei Beinen balancierte und seine Füße in der Luft baumelten.

»Tu das nicht«, sagte ich.

Er zog eine Braue hoch. »Was?«

»Die Leute machen so etwas nicht – es sei denn, es sind Jungen im Teenageralter, die vor ihren Freundinnen verstecken wollen, wie nervös sie sind.«

Abrupt setzte er die beiden Stuhlbeine wieder auf den Boden. »Danke.« Bran wirkte gerne so menschlich wie möglich, aber seine Dankbarkeit hatte eine gewisse Schärfe an sich. Ich trank schnell noch einen Schluck Kakao, damit er nicht sehen konnte, wie mich das amüsierte.

Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände. »Was hast du jetzt vor, Mercy?«

»Wie meinst du das?«

»Adam ist in Sicherheit, und sein Körper wird heilen. Wir werden herausfinden, wie dein junger Freund umgebracht wurde. Was hast du vor?«

Bran kann wirklich angsteinflößend sein. Er ist ein wenig telepathisch begabt – jedenfalls wird er das behaupten, wenn man fragt. Angeblich kann er mit jedem Werwolf, den er kennt, von Geist zu Geist sprechen. Deshalb hatte Charles im Wald auch als seine Stimme fungieren können. Bran nutzte diese Fähigkeit unter anderem, um die anderen nordamerikanischen Rudel zu beherrschen. Er hatte mir mal erklärt, sein Talent funktioniere nur in eine Richtung, sodass er andere dazu bringen könne, ihn zu hören, aber nicht anders herum.

Im Rudel hingegen wird im Flüsterton behauptet, dass Bran auch noch über andere Talente verfügte, aber niemand weiß genau, worin sie bestehen. Wenn man dem geläufigsten Gerücht glaubt, kann er Gedanken lesen. Er hatte jedenfalls immer ganz sicher gewusst, wer für welchen Unfug in der Siedlung verantwortlich war.

Meine Pflegemutter pflegte bei solchen Gelegenheiten zu lachen und zu erklären, es hinge mit seinem Ruf zusammen, alles zu wissen, was ihn unfehlbar scheinen ließ; er müsse nur hereinkommen und feststellen, wem man sein schlechtes Gewissen von den Augen ablesen könne. Vielleicht hatte sie recht, aber selbst wenn ich versuchte, unschuldig dreinzuschauen, hatte es nie funktioniert.

»Ich breche gleich am Morgen auf.« Früh, dachte ich. Um davonzukommen, ohne noch einmal mit Samuel sprechen zu müssen – aber auch, um mit der Suche nach Jesse anzufangen.

Bran schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Am Nachmittag.«

Ich spürte, wie ich die Brauen hochzog. »Nun ja«, sagte ich leise, »Wenn du schon weißt, was ich machen werde, warum hast du es mir nicht gleich gesagt, statt zu fragen?«

Er sah mich durchdringend an. »Wenn du bis zum Nachmittag wartest, wird Adam reisefertig sein, und Samuel sollte etwas darüber wissen, wie dein junger Mann … wie Alan MacKenzie Frazier starb. Er bleibt heute Nacht auf, um die Autopsie und die Labortests durchzuführen.«

Er beugte sich vor. »Es war nicht deine Schuld, Mercy.«

Ich verschüttete Kakao über mein T-Shirt. »Schei –« Ich brach ab. Bran hatte etwas gegen solche Begriffe. »Du kannst tatsächlich Gedanken lesen.«

»Ich weiß nur, wie Gedanken funktionieren«, sagte er mit einem kleinen Lächeln, das man nicht unbedingt hätte selbstzufrieden nennen können. Aber er war schnell genug dabei, eine Rolle Papiertaschentücher unter dem Spülbecken herauszuholen und mir zu reichen, als ich das T-Shirt von mir wegzog. Der Kakao war immer noch warm, wenn auch nicht heiß.

Während ich mich an der Spüle abtrocknete, fuhr er fort. »Und wenn du dich nicht noch mehr verändert hast, als ich glaube, denkst du, wenn so etwas passiert, wenn jemand verletzt wird, dass es deine Schuld ist. Ich habe die Geschichte von Adam gehört, so weit er sie kennt, und sie hatte nichts mit dir zu tun.«

»Ach was – du kannst Gedanken lesen! Adam ist immer noch in Wolfsgestalt und kann nicht reden.« Ich hatte mit dem T-Shirt getan, was ich konnte, aber ich wünschte mir, ich hätte ein paar von meinen Sachen mitgebracht.

Bran lächelte. »Nein, es ist nichts weiter als das, was ich sage. Manchmal hilft die Veränderung uns, schneller zu heilen. Normalerweise verändern wir uns von Mensch zu Wolf, aber es funktioniert auch in die andere Richtung. Er hat sich ziemlich über Samuel geärgert.« Brans Lächeln wurde ausgeprägter. »Er hat seine ersten Worte darauf verschwendet, ihn zu beschimpfen. Sagte ihm, einen Mann im Feld zu hinterfragen, sei ein Amateurfehler. Er erklärte, er wolle lieber nichts mit jemandem zu tun haben, der nicht weiß, was er tut, und sich trotzdem in seine Heilung einmischt. Er hat auch gesagt, du hättest manchmal eben mehr Mumm als Verstand.« Bran hob seinen Styroporbecher. »Da konnte ich nur zustimmen – weshalb ich Adam auch gebeten habe, dich im Auge zu behalten, als du in sein Territorium gezogen bist.«

Aha, dachte ich und versuchte, mir nicht ansehen zu lassen, wie mich das traf. Er hatte Adam also befohlen, sich um mich zu kümmern? Ich hatte immer angenommen, die seltsame Beziehung zwischen Adam und mir basiere auf etwas anderem. Zu wissen, dass er in Brans Auftrag auf mich aufgepasst hatte, veränderte meinen Rückblick auf jedes Gespräch, das wir jemals geführt hatten, und ließ es irgendwie kleiner werden.

»Ich mag keine Lügen«, stellte Bran fest, und ich wusste sofort, dass es mir nicht gelungen war, meinen Schmerz über seine Worte zu verbergen. »Nicht einmal Auslassungen. Mit harten Wahrheiten kann man umgehen und sich gegebenenfalls auch über sie hinwegsetzen, aber Lügen zerstören die Seele.« Er sah aus, als wüsste er, wovon er sprach. »Das führt mich manchmal dazu, mich einzumischen, wenn ich mich vielleicht zurückhalten sollte.«

Er hielt inne, um mir Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen, aber ich hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.

Er setzte sich und trank noch einen Schluck Kakao. »Es gab Leute, die glaubten, ich hätte dir nicht sagen sollen, wie Bryan gestorben ist.« Bryan war mein Pflegevater gewesen.

Ich erinnerte mich, kurz nach Weihnachten sehr früh am Morgen aufgewacht zu sein, weil ich Brans leise Stimme in der Küche hörte. Als ich aus meinem Zimmer kam, hatte er mir gesagt, die Polizei habe Bryans Leiche im Kootenai gefunden.

Selbstmord ist für Werwölfe nicht einfach. Selbst Silberkugeln setzen sich nicht immer über die Fähigkeit des Wolfs hinweg, sich selbst zu heilen. Enthauptung funktioniert, ist aber bei einem Selbstmord ziemlich schwierig. Ertrinken ist allerdings eine recht sichere Methode. Werwölfe sind sehr muskulös; es fällt ihnen generell schwer zu schwimmen, selbst wenn sie das wollen, denn sie haben wie Schimpansen zu viele Muskeln und nicht genug Fett, um sich treiben zu lassen.

»Einige aus dem Rudel wollten dir lieber sagen, er habe einen Unfall gehabt.« Brans Stimme klang nachdenklich. »Sie waren der Ansicht, vierzehn sei zu jung, um mit einem Selbstmord fertig zu werden, besonders direkt nach dem Tod von Bryans Gefährtin.«

»Sie hieß Evelyn«, sagte ich. Bran neigte dazu, die Frauen rings um sich weniger stark wahrzunehmen als die Männer. Samuel hatte mir einmal gesagt, das läge daran, dass Menschen so zerbrechlich waren, und Bran hatte zu viele von ihnen sterben sehen. Aber ich dachte, wenn ich mit vierzehn mit Evelyns Tod hatte zurechtkommen können, dann sollte Bran ebenfalls dazu im Stande sein.

Er warf mir einen Blick zu, der eine deutliche Zurechtweisung enthielt. Als ich meine Augen nicht senkte, wie es das Protokoll verlangte, fletschte er leicht die Zähne, bevor er es hinter dem Becher verbarg.

»Ja. Evelyn«, sagte er dann und seufzte. »Nachdem du dich entschlossen hattest, allein zu bleiben, statt zu deiner Mutter zurückzukehren, habe ich das ebenfalls unterstützt. Du hast mir gezeigt, was du kannst, und ich dachte, du hättest dir das Recht verdient, deine eigenen Entscheidungen zu treffen.« Er sah sich um. »Erinnerst du dich an das letzte Mal, als wir uns unterhalten haben?«

Ich nickte und setzte mich schließlich wieder hin. Selbst wenn er an diesem Abend nicht auf Förmlichkeit bestand, fühlte es sich unangenehm an, zu stehen, während er auf dem Stuhl saß.

»Du warst sechzehn«, sagte er. »Zu jung für ihn – und zu jung, um zu wissen, was er von dir wollte.«

Als Bran Samuel und mich erwischt hatte, wie wir uns im Wald küssten, hatte er mich nach Hause geschickt und war dann am nächsten Morgen aufgetaucht, um mir zu sagen, er habe bereits mit meiner richtigen Mutter gesprochen, und sie werde mich am Ende der Woche erwarten. Er schickte mich weg, und ich sollte nur mitnehmen, was ich unbedingt brauchte.

Ich packte tatsächlich, aber nicht für Portland; ich packte, um mit Samuel durchzubrennen. Wir würden heiraten, hatte er gesagt. Es wäre mir mit sechzehn niemals eingefallen, dass ich vielleicht Schwierigkeiten haben könnte, die nötigen Papiere zu erhalten. Aber Samuel hätte zweifellos auch dafür eine Lösung gefunden. Wir wollten in eine größere Stadt ziehen und außerhalb jeden Rudels leben.

Ich liebte Samuel, hatte ihn geliebt, seit mein Pflegevater gestorben war und Samuel seine Rolle als mein Beschützer übernommen hatte. Bryan war ein sehr netter Mann gewesen, aber Samuel stellte einen erheblich wirkungsvolleren Beschützer dar. Selbst die Frauen störten mich nicht mehr, seitdem er auf mich aufpasste. Er war witzig und charmant. Unbeschwertheit gehört nicht zu den charakteristischen Eigenschaften vieler Werwölfe, aber Samuel verfügte im Übermaß darüber. Unter seinem Schutz lernte ich wahre Lebensfreude kennen – ein sehr verführerisches Gefühl.

»Du hast mir gesagt, dass Samuel mich nicht liebt«, erwiderte ich, und mein Mund war plötzlich so trocken, als hätte ich auf einem Schwamm gekaut. »Du hast gesagt, er brauche lediglich eine Gefährtin, die seine Kinder zur Welt bringt.«

Menschenfrauen haben bei mehr als der Hälfte der Kinder von einem Werwolfvater Fehlgeburten. Sie tragen nur jene aus, die vollkommen menschlich sind. Und beim ersten Vollmond haben sie ebenfalls Fehlgeburten. Aber Kojoten und Wölfe können gesunde Nachkommen haben, also warum nicht Samuel und ich? Samuel glaubte, dass einige unserer Kinder Menschen sein würden, und vielleicht einige Walker, so wie ich. Und einige würden Werwölfe sein, und sie würden alle leben.

Erst als Bran mir das alles erklärte, verstand ich Leahs Abneigung gegen mich, eine Abneigung, die alle Menschenfrauen von ihr übernommen hatten.

»Ich hätte es dir nicht auf diese Weise beibringen sollen«, stellte Bran fest.

»Versuchst du dich zu entschuldigen?«, fragte ich. Ich konnte nicht verstehen, worauf er hinauswollte. »Ich war sechzehn. Samuel scheint jung zu sein, aber er ist schon erwachsen, seit ich mich erinnern kann – wie alt ist er also? Fünfzig? Sechzig?«

Als ich ihn geliebt hatte, hatte ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Er hatte sich niemals so verhalten, als ob er deutlich älter sei als ich. Werwölfe sprechen für gewöhnlich nicht über die Vergangenheit, nicht so, wie es Menschen tun. Das meiste, was ich von Brans Geschichte wusste, hatte ich von meiner menschlichen Pflegemutter Evelyn aufgeschnappt.

»Ich war jung und dumm«, sagte ich. »Ich musste hören, was du mir zu sagen hattest. Wenn du also nach Absolution suchst, kann ich dir mitteilen, dass das unnötig ist. Danke.«

Er legte den Kopf schief. In seiner Menschengestalt hatte er warme, grünbraune Augen, von der Farbe eines von der Sonne beleuchteten Eichenblatts.

»Ich entschuldige mich nicht«, sagte er. »Nicht dir gegenüber. Aber ich will es dir erklären.« Dann lächelte er, und die Ähnlichkeit mit Samuel, für gewöhnlich nur schwach ausgeprägt, war plötzlich sehr deutlich. »Und Samuel ist ein kleines bisschen älter als sechzig.« Heiterkeit brachte ebenso wie Zorn eine Spur vom alten Land – Wales – in Brans Stimme. »Samuel ist mein Erstgeborener.«

Ich starrte ihn vollkommen überrascht an. Samuel hatte keine der Charakterzüge der älteren Wölfe. Er fuhr Auto und besaß eine Stereoanlage und einen Computer. Er mochte Leute – sogar Menschen –, und Bran setzte ihn als Verbindungsmann zur Polizei und zu anderen Behörden ein, wenn das notwendig wurde.

»Charles kam ein paar Jahre nach deiner Ankunft hier mit David Thompson zur Welt«, sagte ich, als ob Bran das nicht wüsste. »Das war wann … 1812?« Wegen seiner Verbindung zu Bran hatte ich im College viel über David Thompson gelesen. Der walisische Landvermesser und Fellhändler hatte Tagebücher geführt, Bran aber niemals namentlich darin erwähnt. Als ich seine Aufzeichnungen las, hatte ich mich gefragt, ob Bran damals vielleicht einen anderen Namen benutzt hatte, oder ob Thompson wusste, was Bran war, und ihn bewusst aus den Büchern herausgelassen hatte, die er überwiegend für seine Arbeitsgeber und nicht als persönliche Erinnerungen verfasste.

»Ich kam 1809 mit Thompson«, erzählte Bran. »Charles kam, glaube ich, im Frühjahr 1813 zur Welt. Ich hatte Thompson und die Northwest Company bereits verlassen, und die Salish benutzen den christlichen Kalender nicht. Samuel ist der Sohn meiner ersten Frau, aus einer Zeit, als ich noch ein Mensch war.«

Ich hatte ihn noch nie so viel über die Vergangenheit sprechen hören. »Wann war das?«, fragte ich, ermutigt von seiner ungewohnten Offenheit.

»Vor langer Zeit.« Er tat es mit einem Schulterzucken ab. »Als ich an diesem Abend mit dir sprach, habe ich meinem Sohn einen schlechten Dienst erwiesen. Es kann gut sein, dass ich es mit der Wahrheit vielleicht übertrieben habe und dennoch nur einen Teil verriet.«

»Oh?«

»Ich sagte dir, was ich wusste, so viel, wie ich damals für notwendig hielt«, berichtete er. »Aber im Licht der folgenden Ereignisse habe ich meinen Sohn wohl unterschätzt und brachte dich dazu, das Gleiche zu tun.«

Ich hatte es immer gehasst, wenn er so kryptische Dinge erzählte. Ich setzte zu einem scharfen Widerspruch an – dann erkannte ich, dass er sich abgewandt, ja sogar den Blick gesenkt hatte. In den letzten Jahren war ich so daran gewöhnt gewesen, es mit Menschen tun zu haben, die Körpersprache bei der Kommunikation weniger beachten, dass mir das beinahe entgangen wäre. Alphas – besonders dieser Alpha – wandten nie den Blick ab, wenn andere sie beobachteten. Dass er es jetzt tat, machte deutlich, wie schlecht sein Gewissen wirklich war.

Also blieb ich ruhig. »Dann sag es mir jetzt.«

»Samuel ist alt«, sagte er. »Beinahe so alt wie ich. Seine erste Frau starb an der Cholera, seine zweite an Altersschwäche. Seine dritte Frau starb im Kindbett. Zusammen hatten sie achtzehn Fehlgeburten. Eine Handvoll Kinder starb sehr jung, und nur acht erlebten ihren dritten Geburtstag. Eins starb an Altersschwäche, vier starben an der Pest, drei beim Versagen bei der Verwandlung. Keins seiner Kinder lebt noch, und nur eins erreichte das Erwachsenenalter, bevor Samuel sich veränderte.«

Er hielt inne und hob den Blick. »Das zeigt dir vielleicht, wie wichtig es für ihn war, in dir eine Gefährtin zu finden, die ihm gegenüber den Launen des Schicksals weniger verwundbare Kinder schenken konnte, Kinder, die vielleicht geborene Werwölfe sein würden, so wie Charles. Ich hatte lange Zeit, über unser Gespräch nachzudenken, und ich habe begriffen, dass ich dir das ebenfalls hätte mitteilen sollen. Du bist nicht die Einzige, die Samuel für einen jungen Wolf gehalten hat.« Er lächelte dünn. »In den Tagen, als er noch ein Mensch war, war es nicht ungewöhnlich, dass eine Sechzehnjährige einen erheblich älteren Mann heiratete. Manchmal verändern sich die Ideen der Welt darüber, was richtig und was falsch ist, so schnell, dass wir nicht mithalten können.«

Hätte es etwas ausgemacht, wenn ich gespürt hätte, wie sehr Samuel mich brauchte? Ein leidenschaftlicher, liebesbegieriger Teenager, konfrontiert mit kalten Tatsachen? Hätte ich über die Zahlen hinwegsehen und den Schmerz spüren können, den jeder dieser Tode für ihn bedeutet haben musste?

Ich glaube nicht, dass es etwas an meiner Entscheidung geändert hätte. Ich hätte immer noch niemanden geheiratet, der mich nicht liebte, aber ich glaube, ich hätte mehr von ihm gehalten. Ich hätte ihm geschrieben oder ihn angerufen, als ich zu meiner Mutter kam. Vielleicht hätte ich sogar den Mut gefunden, direkt mit ihm zu sprechen, wenn ich nicht so gekränkt und wütend gewesen wäre.

Ich weigerte mich, noch mehr darüber nachzudenken, wie Brans Worte meine Gefühle gegenüber Samuel nun veränderten. Es würde ohnehin nicht zählen. Ich würde morgen wieder nach Hause fahren.

»Es gab also Einiges, wovon ich nicht wusste, wie ich es dir mitteilen sollte.« Bran lächelte traurig. »Irgendwie falle ich manchmal auf meinen eigenen Ruf herein. Ich vergesse, dass ich nicht alles wie … Jedenfalls, zwei Monate, nachdem du gegangen warst, verschwand Samuel.«

»War er wütend, weil du dich in seine Angelegenheiten eingemischt hattest?«

Bran schüttelte den Kopf. »Vielleicht zu Anfang. Aber wir haben darüber gesprochen, nachdem du aufgebrochen warst. Er wäre wütender gewesen, wenn er kein schlechtes Gewissen gehabt hätte, weil er die Bedürfnisse eines Kinds hatte ausnutzen wollen.« Er streckte die Hand aus und tätschelte meine Finger. »Er wusste, was er tat, und er wusste, was du darüber gedacht hättest, ob er sich das nun eingesteht oder nicht. Mach ihn nicht zu einem Opfer.«

Kein Problem. »Nein, das werde ich nicht tun. Aber wenn er nicht wütend auf dich war, warum ist er dann gegangen?«

»Ich weiß, dass du viel von uns verstehst, weil du unter uns aufgewachsen bist«, sagte Bran bedächtig, »Aber manchmal entgeht selbst mir die tiefere Bedeutung einer Sache. Samuel sah in dir die Antwort auf seinen Schmerz, nicht die Antwort auf sein Herz. Aber das war nicht alles, was er für dich empfand – ich bezweifle, dass ihm das selbst wirklich klar war.«

»Wie meinst du das?«

»Nachdem du fort warst, bekam er Sehnsucht nach dir«, sagte Bran, und das altmodische Wort klang seltsam von diesem äußerlich so jungen Mann, der da vor mir saß. »Er nahm ab, er konnte nicht schlafen. Nach dem ersten Monat verbrachte er die meiste Zeit als Wolf.«

»Was glaubst du, dass nicht mit ihm stimmte?«

»Er trauerte um seine verlorene Gefährtin«, sagte Bran. »Wir unterscheiden uns in dieser Hinsicht nicht so sehr von unseren wilden Vettern. Ich brauchte allerdings lange, um das herauszufinden. Und bevor es mir gelang, hatte er uns bereits ohne ein Wort verlassen.

Zwei Jahre warteten wir darauf, dass eine Zeitung darüber berichtete, dass seine Leiche aus einem Fluss gefischt worden war, wie es bei Bryan gewesen war. Charles fand ihn schließlich, als er anfing, das Geld auf seinem Konto zu benutzen. Er hatte sich Papiere gekauft und war aufs College gegangen.« Samuel hatte schon mindestens einmal zuvor das College besucht und Medizin studiert. »Er wurde wieder Arzt und eröffnete eine Weile eine Praxis in Texas, dann kehrte er etwa vor zwei Jahren zu uns zurück.«

»Er hat mich nicht geliebt«, stellte ich fest. »Nicht, wie ein Mann eine Frau liebt.«

»Nein«, stimmte Bran zu. »Aber er hatte dich dennoch als Gefährtin ausgewählt.« Abrupt stand er auf und zog den Mantel an. »Mach dir darüber jetzt keine Gedanken. Ich dachte nur, du solltest es wissen. Und schlaf morgen Früh aus.«