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Mir war nicht sofort klar, dass ich einen Werwolf vor mir hatte. Mein Geruchssinn war durch Schmierfett und verbranntes Öl ein wenig eingeschränkt, und es passiert schließlich auch nicht jeden Tag, dass ein streunender Werwolf vorbeikommt. Als sich also jemand in der Nähe meiner Füße höflich räusperte, hielt ich ihn für einen ganz normalen Kunden.

Ich lag gerade unter einem Jetta und brachte ein neu zusammengesetztes Getriebe an. Einer der Nachteile einer Ein-Frau-Autowerkstatt besteht darin, dass ich jedes Mal aufhören und später wieder anfangen muss, wenn das Telefon klingelt oder jemand vorbeikommt. Dann bekomme ich schlechte Laune, und das ist nicht gut, wenn man mit Kunden zu tun hat. Mein treuer Handlanger im Büro war inzwischen an der Uni, und ich hatte noch keinen Ersatz für ihn gefunden – es ist nicht leicht, jemanden aufzutreiben, der freiwillig all die Dinge übernimmt, zu denen ich keine Lust habe.

»Eine Sekunde bitte«, sagte ich und strengte mich an, nicht allzu missmutig zu klingen. Ich tue mein Bestes, um meine Kunden nicht zu verschrecken.

Winden und Hebebühnen hin oder her, es gibt wirklich nur eine einzige Möglichkeit, ein Getriebe in einen alten Jetta zu wuchten: Muskelkraft. Manchmal ist es bei meiner Arbeit nützlich, eine Frau zu sein – meine Hände sind klein, also kann ich Stellen erreichen, die für die meisten Männer schwer zugänglich sind. Aber selbst Gewichtheben und Karate können mir nicht die Körperkraft eines starken Mannes geben. Hin und wieder kann ich mir mit Hebelwirkung helfen, aber oft gibt es einfach keinen Ersatz für Muskeln, und ich hatte so gerade eben genug Kraft, um meine Aufgabe zu erledigen.

Grunzend vor Anstrengung schob ich das Getriebe also mit den Knien und einer Hand an die richtige Stelle. Mit der anderen Hand brachte ich die erste Schraube an und drehte sie fest. Damit war es natürlich nicht getan, aber das Getriebe würde zumindest bleiben, wo es war, solange ich mit meinem Kunden sprach.

Bevor ich mich unter dem Auto hervorrollte, holte ich tief Luft und setzte zu Übungszwecken schon mal ein Lächeln auf. Draußen angekommen, griff ich nach einem Lappen, um mir das Öl von den Händen zu wischen, und sagte: »Was kann ich für Sie tun?«, noch bevor ich den Jungen gut genug zu Gesicht bekam, um feststellen zu können, dass er vermutlich kein Kunde war – er sah allerdings eindeutig so aus, als bräuchte er Hilfe.

Seine Jeans waren an den Knien zerrissen und fleckig von altem Blut und Dreck. Über einem schmutzigen T-Shirt trug er ein zu enges Flanellhemd – viel zu wenig Kleidung für den November im Osten von Washington.

Er wirkte ausgemergelt, als hätte er eine Weile ohne Essen zurechtkommen müssen, und nun sagte meine Nase mir auch über den Geruch von Benzin, Öl und Frostschutz hinweg, der überall in der Werkstatt hing, dass er ebenso lange nicht mehr geduscht hatte. Und unter dem Dreck, dem alten Schweiß und der Angst lag eindeutig der Geruch eines Werwolfs.

»Ich frage mich, ob ich wohl irgendwelche Hilfsarbeiten für Sie erledigen könnte?«, sagte er zögernd. »Ich suche nicht wirklich einen Job, Ma’am. Nur was für ein paar Stunden.«

Ich konnte seine Nervosität riechen, bevor sie von einem Schwall Adrenalin überdeckt wurde, als ich nicht sofort ablehnte. Er begann, immer schneller zu sprechen, bis seine Worte sich überschlugen. »Richtige Arbeit wäre selbstverständlich auch okay, aber ich habe keine Sozialversicherungskarte, also müssten Sie mich unter der Hand bezahlen.«

Die meisten Leute, die nach dieser Art von Job suchen, sind Illegale, die sich zwischen Ernte- und Anpflanzzeit über Wasser halten wollen. Dieser Junge jedoch war ein typischer weißer Amerikaner – wenn man einmal davon absah, dass er ein Werwolf war. Er hatte rötlichbraunes Haar und braune Augen, und bei einigen Leuten wäre er vermutlich für achtzehn durchgegangen, aber ich habe ein ziemlich gutes Gespür, was diese Dinge angeht, und schätzte ihn eher auf fünfzehn. Seine Schultern waren breit, aber knochig, und seine Hände wirkten zu groß für seine Arme, so als müsse er noch ein bisschen in den Mann hineinwachsen, der er einmal sein würde.

»Ich bin stark«, sagte er. »Ich kenne mich nicht besonders mit Autoreparaturen aus, aber ich habe meinem Onkel immer geholfen, seinen Käfer wieder zum Laufen zu bringen.«

Ich glaubte gerne, dass er stark war – das sind Werwölfe eigentlich immer. Sobald ich den unverwechselbaren Geruch nach Moschus und Minze wahrgenommen hatte, verspürte ich den Drang, ihn so schnell wie möglich aus meinem Territorium zu vertreiben. Aber da ich kein Werwolf bin, beherrsche ich meine Impulsivität und lasse mich nicht von ihr kontrollieren. Und außerdem weckte der Junge, der dort im feuchtkalten Novemberwetter zitterte, auch andere, stärkere Instinkte in mir.

Es ist für mich sehr wichtig, nicht gegen die Gesetze zu verstoßen. Ich halte mich an Tempolimits, versichere meine Autos und zahle paar Dollar mehr Steuern als unbedingt nötig. Sicher, ich stecke vielleicht hin und wieder Leuten, die mich darum bitten, einen Zwanziger zu, aber ich hatte noch nie jemanden in der Werkstatt beschäftigt, der nicht in meinen Büchern auftauchen konnte. Zu meiner Gesetzestreue gesellte sich das Problem hinzu, dass er ein Werwolf war, und auch noch ein neuer, wenn ich das richtig beurteilte. Die Jungen können ihre inneren Wölfe schlechter beherrschen als die, die schon an dieses Leben gewöhnt sind.

Aber er hatte immerhin keine Bemerkung darüber gemacht, wie seltsam es war, einen weiblichen Automechaniker zu sehen. Gut, er hatte mich eine Weile beobachtet und sich an den Gedanken gewöhnet – aber dennoch, er hatte nichts dazu gesagt, und das brachte ihm ein paar Pluspunkte ein. Wenn auch nicht genug, um wirklich zu rechtfertigen, was ich als Nächstes tun würde.

Er rieb sich die Hände und pustete darauf, um seine Finger zu wärmen, die rot vor Kälte waren.

»Also gut«, sagte ich. Das war nicht die klügste Antwort, aber als ich sah, wie sehr er fror, konnte ich einfach nicht anders. »Wir werden mal sehen, ob es mit uns funktioniert. Hinter dieser Tür gibt es einen Raum mit einer Waschmaschine und einem Trockner, und außerdem eine Dusche.« Ich zeigte auf die Tür hinten in der Werkstatt. »Mein letzter Helfer hat ein paar von seinen Overalls hiergelassen. Sie hängen an Haken im Waschraum. Wenn du geduscht hast, kannst du die Sachen, die du jetzt trägst, in die Waschmaschine stecken. Es gibt auch einen Kühlschrank mit Brot, Schinken und ein paar Getränkedosen. Iss was, und dann komm wieder her, wenn du fertig bist.«

Ich sprach dieses »Iss was« sehr nachdrücklich aus; ich hatte nicht vor, mit einem hungrigen Werwolf zusammenzuarbeiten, nicht einmal, wenn es bis zum nächsten Vollmond noch zwei Wochen dauern würde. Es gibt Leute, die behaupten, dass Werwölfe ihre Gestalt nur bei Vollmond verändern können, aber die Leute sagen schließlich auch, es gäbe keine Geister. Als er meinen Befehlston hörte, erstarrte er und hob den Blick, um mich anzusehen.

Einen Augenblick später bedankte er sich leise, ging durch die Tür und schloss sie sanft hinter sich. Ich wagte wieder zu atmen. Ich sollte es wirklich besser wissen und einem Werwolf keine Befehle geben – das löst nur ihren Dominanz-Reflex aus.

Die Instinkte von Werwölfen sind unbequem, weshalb viele nicht besonders lange leben, und genau diese Instinkte sind auch der Grund, wieso ihre wilden Brüder nichts mit der Zivilisation anfangen können, während Kojoten selbst in Großstädten wie Los Angeles wachsen und gedeihen.

Die Kojoten, das sind meine Brüder. Oh, ich bin keine Werkojotin, wenn es denn überhaupt so etwas geben sollte. Ich bin ein Walker.

Der Begriff leitet sich von »Skinwalker« ab, den Hexern der südwestlichen Indianerstämme, die Haut verwenden, um sich in einen Kojoten oder ein anderes Tier zu verwandeln, und in dieser Gestalt Krankheit und Tod zu bringen. Die weißen Siedler benutzten dieses Wort für alle eingeborenen Gestaltwandler, und obwohl das falsch war, blieb es schließlich hängen. Wir sind wohl kaum in der Position, Einspruch zu erheben – selbst wenn wir an die Öffentlichkeit gehen würden, wie es die Geringeren vom Feenvolk getan haben, gibt es nicht genug von uns, um großes Aufsehen zu erregen.

Ich glaubte nicht, dass der Junge wusste, was ich war, oder er wäre nie imstande gewesen, mir, einem anderen Raubtier, den Rücken zuzuwenden und durch die Tür zu gehen, um sich zu duschen und umzuziehen. Wölfe mögen einen sehr guten Geruchssinn haben, aber in der Werkstatt gab es viele seltsame Düfte, und ich bezweifelte, dass er je etwas wie mich gewittert hatte.

»Du hast einen Ersatz für Tad eingestellt?«

Ich drehte mich um und sah, wie Tony durch die offenen Werkstattore kam, wo er offenbar schon länger gewartet und das kleine Intermezzo zwischen dem Jungen und mir beobachtet hatte. Tony kannte sich gut mit solchen Lauschaktionen aus – das war sein Job.

Er hatte das schwarze Haar mit Gel zurückgekämmt und zu einem kurzen Zopf gebunden und war glatt rasiert. In seinem rechten Ohr befanden sich, wie mir auffiel, inzwischen vier Löcher mit drei kleinen Ringen und einen Diamantstecker, was bedeutete, dass er seit unserer letzten Begegnung zwei hinzugefügt hatte. Ein offen getragener Kapuzensweater über einem dünnen T-Shirt, das die Ergebnisse von vielen Stunden im Fitnesscenter gut umriss, ließ ihn aussehen wie das Rekrutierungsposter für eine Hispano-Gang.

»Wir stehen in Verhandlungen«, sagte ich. »Im Augenblick erst einmal kurzfristig. Bist du im Dienst?«

»Nein. Sie haben mir wegen guter Führung einen Tag frei gegeben.« Er dachte allerdings wohl immer über meinen neuen Helfer nach, denn er fügte hinzu: »Ich habe ihn die letzten paar Tage hier in der Nähe gesehen. Er scheint in Ordnung zu sein – wahrscheinlich ein Ausreißer.« In Ordnung bedeutete, keine Drogen und nicht gewalttätig. Insbesondere das Letztere fand ich tröstlich.

Als ich vor etwa neun Jahren anfing, in der Werkstatt zu arbeiten, betrieb Tony eine kleine Pfandleihe um die Ecke. Damals befand sich dort auch der nächste Getränkeautomat, also sah ich ihn ziemlich oft. Nach einer Weile ging die Pfandleihe in andere Hände über. Ich dachte nicht groß darüber nach, bis ich Tony eines Tages roch, als er an einer Straßenecke stand, mit einem Schild mit der Aufschrift ARBEITE FÜR ESSEN um den Hals.

Ich sage, ich roch ihn, weil der hohläugige Junge mit dem Schild dem erheblich älteren stillen, freundlichen Mann, der die Pfandleihe betrieben hatte, nicht sonderlich ähnlich sah. Verblüfft grüßte ich ihn dennoch mit dem Namen, unter dem ich ihn gekannt hatte. Der Junge starrte mich nur an, als hätte ich den Verstand verloren, aber am nächsten Morgen wartete Tony vor der Werkstatt. Damals erzählte er mir, wovon er lebte – ich hatte nicht angenommen, dass ein Ort von der Größe der Tri-Cities über seine eigenen verdeckt arbeitenden Ermittler verfügte.

Danach war er hin und wieder vorbeigekommen, zunächst jedes Mal in einer anderen Verkleidung. Die Tri-Cities sind nicht allzu groß, und meine Werkstatt liegt am Rand eines Bereichs, der wohl Kennewicks besten Versuch zu einem Viertel mit hoher Kriminalitätsrate darstellt. Angeblich besuchte er mich nur, wenn er sowieso in der Gegend zu tun hatte, aber ich fand bald heraus, dass der wahre Grund in seiner Verblüffung darüber lag, dass ich ihn erkannt hatte. Ich konnte ihm wohl kaum sagen, dass ich ihn einfach erschnuppert hatte.

Seine Mutter stammte aus Italien, sein Vater aus Venezuela, und diese genetische Mischung verlieh ihm ein Gesicht und eine Hautfarbe, die ihm gestatteten, sowohl für einen Mexikaner als auch für einen Afroamerikaner durchzugehen. Wenn es sein musste, konnte er auch immer noch wie achtzehn aussehen, aber in Wirklichkeit musste er mehrere Jahre älter sein als ich – Mitte dreißig oder so. Er sprach fließend Spanisch und konnte sein Englisch mit einem halben Dutzend von Akzenten anreichern.

All diese Eigenschaften halfen bei seiner Tätigkeit, aber es war die Körpersprache, die ihn zu einem wirklich guten Undercover-Cop machte. Er konnte ebenso leicht den lässigen Gang so vieler gut aussehender hispanischer Männer annehmen wie mit der nervösen Energie eines Drogenabhängigen umhertänzeln.

Nach einer Weile akzeptierte er, dass ich seine Verkleidungen immer durchschauen konnte; sogar solche, die seinen Boss und, wie er behauptete, sogar seine eigene Mutter hinters Licht führten, und bis dahin waren wir längst Freunde. Er kam weiterhin mitunter auf eine Tasse Kaffee oder eine heiße Schokolade und ein Schwätzchen unter Freunden vorbei, wenn er in der Nähe zu tun hatte.

»Du siehst sehr jung und sehr machomäßig aus«, sagte ich. »Sind die Ohrringe der neueste Look bei der Polizei? Die Cops in Pasco haben zwei, also müssen die Bullen von Kennewick vier haben?«

Er grinste mich an, und das ließ ihn gleichzeitig älter und unschuldiger aussehen. »Ich habe die letzten Monate in Seattle gearbeitet«, erzählte er. »Ich habe auch eine neue Tätowierung. Zum Glück da, wo meine Mutter sie nie sehen wird.«

Tony tat immer so, als lebte er in Angst und Schrecken vor seiner Mutter. Ich war ihr nie selbst begegnet, aber er roch nach Glück, nicht nach Angst, wenn er von ihr sprach, also wusste ich, dass sie nicht die furchterregende Kneifzange sein konnte, die er so gern beschrieb.

»Was bringt dich in die Gegend?«, fragte ich.

»Ich wollte dich um einen Gefallen bitten und dich fragen, ob du dir vielleicht das Auto eines Freundes ansehen könntest«, antwortete er.

»Ein VW?«

»Ein Buick.«

Ich zog überrascht die Brauen hoch. »Klar, ich sehe es mir gern mal an, aber ich bin nicht für amerikanische Autos eingerichtet – dazu habe ich nicht die Computer. Dein Freund sollte es zu jemandem bringen, der sich mit Buicks auskennt.«

»Sie hat es schon in drei verschiedene Werkstätten gebracht – sie haben den Sauerstofffühler, die Zündkerzen und sonst alles Mögliche ausgetauscht. Es will immer noch nicht so recht laufen. Der letzte Mechaniker sagte ihr, sie brauche einen neuen Motor, und er könne das für doppelt so viel erledigen, wie die Kiste wert ist. Sie hat nicht viel Geld, aber sie braucht das Auto.«

»Ich verlange nichts dafür, es mir anzusehen, und wenn ich es nicht reparieren kann, werde ich ihr das sagen.« Dann kam mir plötzlich ein Gedanke, denn ich hatte die Spur von Ärger in seiner Stimme gehört, als er von ihren Problemen sprach. »Ist das deine Lady?«

»Sie ist nicht meine Lady«, protestierte er wenig überzeugend.

Die letzten drei Jahre hatte er sich für eine der Polizistinnen in der Funkzentrale interessiert, eine Witwe mit einem Haufen Kinder. Er hatte allerdings nie wirklich etwas unternommen, weil er seinen Job liebte – und sein Job, erklärte er wehmütig, vertrug sich nicht mit Verabredungen, Eheringen und Nachkommenschaft.

»Sag ihr, sie soll ihn vorbeibringen. Wenn sie ihn einen oder zwei Tage hierlassen kann, sehe ich mal, ob Zee ihn sich anschauen kann.« Zee, mein ehemaliger Boss, war in den Ruhestand gegangen, als er mir die Werkstatt verkaufte, aber hin und wieder schaute er herein, um »noch ein bisschen im Geschäft zu bleiben«. Er wusste mehr über Autos und wie sie funktionierten als ein ganzes Team von Ingenieuren aus Detroit.

»Danke, Mercy. Nett von dir.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich muss los.«

Ich winkte ihm hinterher, dann kehrte ich wieder zu dem Getriebe zurück. Das Auto arbeitete mit, wie sie es nur selten tun, also brauchte ich nicht lange. Bis mein neuer Helfer satt, sauber und in einem alten Overall von Tad zurückehrte, war ich schon damit beschäftigt, alles wieder zusammenzubauen. Selbst der Overall würde nicht warm genug für draußen sein, aber in der Werkstatt, in der mein großes Heizgerät lief, würde er genügen.

Der Junge war schnell und effizient, und mir wurde bald klar, dass er tatsächlich ein paar Stunden unter der Motorhaube eines Autos verbracht hatte. Er stand nicht herum und sah zu, sondern reichte mir die Teile und Werkzeuge, bevor ich fragte, und spielte die Rolle des Zuarbeiters, als wäre er schon lange daran gewöhnt. Entweder war er von Natur aus schweigsam, oder er hatte gelernt, wie man den Mund hielt, denn wir arbeiteten ein paar Stunden überwiegend wortlos zusammen. Am Ende wurden wir mit dem ersten Auto fertig und fingen mit dem zweiten an, bevor ich mich entschloss, ihn ein wenig zum Reden zu bringen.

»Ich heiße übrigens Mercedes, und du kannst mich duzen«, sagte ich, während ich den Riemen einer Lichtmaschine löste. »Wie soll ich dich nennen?«

Seine Augen blitzten. »Du heißt Mercedes und reparierst Volkswagen?« Dann wurde seine Miene sofort wieder verschlossen, und er murmelte: »Entschuldigung. Ich wette, den Witz hast du schon öfter gehört.«

Ich grinste, reichte ihm die Schraube, die ich herausgeholt hatte, und widmete mich der nächsten. »Ja. Aber ich arbeite auch an Mercedes-Modellen – an allen deutschen Autos, Porsche, Audi, BMW und hier und da auch an einem Opel. Meist alte Autos, bei denen die Händlergarantie abgelaufen ist, aber ich habe auch die Programme für die meisten neueren Modelle, falls eins reinkommen sollte.«

Ich wandte den Kopf ab, um die störrische Schraube besser sehen zu können. »Du kannst mich Mercedes oder Mercy nennen, wie es dir passt. Und wie ist dein Name?«

Ich dränge Leute nicht gern in die Ecke, in der sie dich anlügen müssen. Wenn er ein Ausreißer war, würde er wahrscheinlich nicht seinen richtigen Namen nennen, aber ich brauchte etwas, damit ich ihn nicht nur mit »Junge« oder »He, du« ansprechen musste, wenn ich mit ihm zusammenarbeiten wollte.

»Nenn mich einfach Mac«, sagte er nach einiger Zeit.

Die Pause verriet eindeutig, dass das nicht der Name war, auf den er normalerweise hörte. Aber im Augenblick würde es genügen.

»Also gut, Mac«, sagte ich. »Würdest du bitte den Besitzer des Jetta anrufen und ihm mitteilen, dass sein Auto so weit ist?« Ich nickte in Richtung des ersten Autos, mit dem wir fertig waren. »Die Rechnung liegt auf dem Drucker, komplett mit seiner Nummer und dem Endbetrag für den Austausch des Getriebes. Wenn ich mit diesem Riemen fertig bin, gehen wir was essen – das gehört mit zur Bezahlung.«

»Okay«, sagte er ein wenig verloren. Er wollte zu der hinteren Tür gehen, aber ich rief ihn zurück. Waschraum und Dusche lagen hinten in der Werkstatt, aber das Büro befand sich an der Seite, neben einem Parkplatz, den die Kunden benutzten.

»Zum Büro geht es durch die graue Tür«, sagte ich. »Neben dem Telefon liegt ein Tuch, mit dem du den Hörer halten kannst, damit er nicht fettig wird.«

Als ich an diesem Abend nach Hause fuhr, machte ich mir Gedanken um Mac. Ich hatte ihn in bar für seine Arbeit bezahlt und ihm gesagt, er könne gerne wiederkommen. Er lächelte zögernd, steckte das Geld ein und ging. Ich hatte das zugelassen, obwohl ich wusste, dass er keinen Platz für die Nacht hatte, weil mir nichts anderes übrig blieb.

Ich hätte ihn ja gefragt, ob er mitkommen wollte, aber das wäre für uns beide gefährlich gewesen. Er schien seine Nase nur wenig zu benutzen, aber irgendwann würde er herausfinden, was ich war – und Werwölfe, selbst in Menschengestalt, haben tatsächlich die Kraft, die man ihnen in den alten Filmen so gerne zuschreibt. Ich bin gut in Form und habe einen violetten Gürtel vom Dojo auf der anderen Seite der Eisenbahnstrecke – von meiner Werkstatt aus gesehen –, aber mit einem Werwolf kann ich es nicht aufnehmen. Mac war zu jung, um über die Selbstbeherrschung zu verfügen, die er brauchte, um jemanden nicht zu töten, den er als rivalisierendes Raubtier in seinem Territorium wahrnahm.

Und dann gab es da noch meinen Nachbarn.

Ich wohne in Finley, einer eher ländlichen Gegend, die etwa zehn Minuten von meiner Werkstatt entfernt liegt, in einem älteren Teil des Industriegeländes von Kennewick. Mein Zuhause ist ein schmales Wohnmobil von Hausgröße – was hierzulande »Trailer« genannt wird –, beinahe so alt wie ich es bin, und mein mobiles Zuhause steht in der Mitte eines großen eingezäunten Grundstücks. Es gibt viele Grundstücke mit solchen Trailern und allen Arten von Fertigbauhäusern und Wohnmobilen in Finley, aber näher am Fluss stehen auch Herrenhäuser wie das, in dem mein Nachbar wohnt.

Ich bog in meine knirschende Kieseinfahrt ein und blieb mit dem alten Golf Diesel vor meinem Haus stehen. Die Katzenbox vor der Tür auf der Veranda fiel mir auf, sobald ich aus dem Auto stieg. Medea gab ein klägliches Maunzen vor sich, aber ich griff als Erstes nach dem Zettel, der mit Klebeband oben an der Box befestigt war, und las ihn, bevor ich sie herausließ.

MS. THOMPSON, stand dort in dicken Blockbuchstaben, BITTE SORGEN SIE DAFÜR, DASS IHRE KATZE SICH VON MEINEM EIGENTUM FERN HÄLT. WENN ICH SIE DORT NOCH EINMAL ERWISCHE, WERDE ICH SIE ESSEN.

Keine Unterschrift.

Ich löste den Verschluss, hob die Katze heraus und rieb mein Gesicht in ihrem kaninchenweichen Fell.

»Hat der böse alte Werwolf das kleine Kätzchen in die Box gesteckt und hiergelassen?«, fragte ich.

Sie roch nach meinem Nachbarn, was mir sagte, dass sie einige Zeit auf Adams Schoß gesessen haben musste, bevor er sie hierher brachte. Die meisten Katzen mögen Werwölfe nicht, und auch keine Walker wie mich, aber Medea, das arme alte Vieh, kann eigentlich jeden leiden, selbst meinen mürrischen Nachbarn. Deshalb endete sie häufig in der Katzentransportbox auf meiner Veranda.

Adam Hauptmann, mit dem ich den rückwärtigen Zaun teilte, war der Alphawolf, der Leitwolf des hiesigen Werwolf-Rudels. Dass es überhaupt ein Werwolf-Rudel in den Tri-Cities gab, stellte eigentlich eine Kuriosität dar, denn Rudel lassen sich für gewöhnlich eher an größeren Orten nieder, wo sie sich besser verstecken können, oder – seltener – an kleinen Orten, die sie dann vollkommen übernehmen. Aber sie kamen im Allgemeinen auch im Militär sehr gut zurecht, und in geheimen Regierungsorganisationen, deren Namen alle Akronyme sind. In die Kernkraftanlage bei Hanford waren auf die eine oder andere Weise eine Menge Buchstabenagenturen verwickelt.

Dass der Alpha-Werwolf ausgerechnet das Grundstück in meiner Nähe erworben hatte, hing, wie ich annehme, eher mit dem Drang der Werwölfe zusammen, alle zu beherrschen, die sie als schwächer ansehen, als mit dem großartigen Blick auf den Fluss.

Es gefiel ihm nicht, dass mein Haus den Wert seines ausgedehnten Adobe-Gebäudes verringerte – obwohl mein Trailer, wie ich ihm mehrmals erklärt hatte, schon dagestanden hatte, als er das Grundstück kaufte und darauf baute. Er nahm auch jede Gelegenheit wahr, mich daran zu erinnern, dass er mich hier nur duldete: Ein Walker konnte es niemals mit einem Werwolf aufnehmen.

In Reaktion auf solche Beschwerden senkte ich den Kopf, verhielt mich respektvoll, wenn ich ihm gegenüberstand – jedenfalls die meiste Zeit –, und stellte den rostigen alten Golf, den ich zum Ausschlachten gekauft hatte, auf das hintere Feld, wo Adam ihn von seinem Schlafzimmerfenster aus deutlich sehen konnte.

Ich war beinahe sicher, dass er Medea nicht essen würde, aber ich würde sie die nächsten paar Tage im Haus lassen, um ihm den Eindruck zu vermitteln, dass ich mich seiner Drohung beugte. Der Trick bei Werwölfen besteht darin, sich ihnen niemals direkt entgegenzustellen.

Medea miaute und bewegte den Stummelschwanz, als ich sie hinsetzte und ihren Fressnapf füllte. Sie war mir zugelaufen, und ich hatte zunächst angenommen, jemand habe sie misshandelt und ihr den Schwanz abgeschnitten, aber der Tierarzt sagte, sie sei eine Manx und schon mit Stummelschwanz zur Welt gekommen. Ich streichelte sie noch einmal, dann ging ich zum Kühlschrank und versuchte, selbst etwas zum Abendessen zu finden.

»Ich hätte Mac ja mitgebracht, aber ich glaube nicht, dass Adam das zulassen würde«, sagte ich zu ihr. »Werwölfe finden die Gesellschaft von Fremden nicht sonderlich angenehm. Sie bestehen auf Unmengen an Protokoll, wenn ein neuer Wolf das Territorium eines anderen betritt, und irgendwie weiß ich, dass sich Mac noch nicht an das Rudel gewandt hat. Ein Werwolf wird nicht erfrieren, wenn er draußen schläft, ganz gleich, wie schlecht das Wetter ist. Es wird ihm eine Weile nichts ausmachen.

Dennoch«, fuhr ich fort, während ich ein paar Spaghettireste aus dem obersten Fach holte und in die Mikrowelle stellte. »Wenn Mac Ärger hat, könnte Adam ihm vielleicht helfen.« Es würde wohl das Beste sein, das Thema vorsichtig anzuschneiden, wenn ich die Geschichte des Jungen ein wenig besser kannte.

Ich aß im Stehen und spülte dann den Teller ab, dann rollte ich mich auf der Couch zusammen und schaltete den Fernseher ein. Medea sprang mir schon vor der ersten Werbeeinblendung auf den Schoß und begann zu schnurren.


Am nächsten Tag tauchte Mac nicht auf. Es war allerdings Samstag, und vielleicht wusste er nicht, dass ich oft auch samstags arbeitete, wenn es etwas zu tun gab. Oder er war weitergezogen.

Ich hoffte nur, dass Adam oder einer seiner Wölfe ihn nicht fanden, bevor ich Gelegenheit gehabt hatte, ihnen vorsichtig von seiner Anwesenheit zu berichten. Die Regeln, die den Werwölfen gestatteten, Hunderte von Jahren unentdeckt unter Menschen zu leben, hatten leider für jene, die sie brachen, oft fatale Folgen.

Ich arbeitete bis zum Mittag, dann rief ich das nette junge Paar an, um ihnen mitzuteilen, dass ihrem Auto nicht mehr zu helfen war. Den Motor zu ersetzen, würde mehr kosten, als das Auto wert war. Solche Anrufe mochte ich am wenigsten. Als Tad, mein alter Assistent, noch da gewesen war, hatte ich ihn das meist übernehmen lassen. Als ich auflegte, war ich beinahe so deprimiert wie die Besitzer des gut gepflegten, mit vielen Extras ausgestatteten, sehr geliebten Wagens, der nun seine letzte Fahrt zu einem Autofriedhof antreten würde.

Ich wusch mich und holte so viel von dem klebrigen Zeug unter meinen Fingernägeln hervor wie möglich, dann begann ich mit der endlosen Büroarbeit, die früher ebenfalls Tad zugefallen war. Ja, ich freute mich, dass sein Stipendium ihm ermöglichte, jetzt Harvard zu besuchen, aber er fehlte mir wirklich. Nach zehn Minuten kam ich zu dem Schluss, dass es nichts gab, was ich nicht auf Montag verschieben konnte. Und am Montag würde ich hoffentlich eine dringende Reparatur hereinbekommen und imstande sein, die Büroarbeit bis Dienstag aufzuschieben.

Ich zog saubere Jeans und ein T-Shirt an, griff nach meiner Jacke und ging zum Essen zu O’Leary’s. Danach erledigte ich ein paar eher planlose Lebensmitteleinkäufe und erwarb eine kleine, tiefgefrorene Pute, um sie mit Medea zu teilen.

Meine Mutter rief auf dem Handy an, als ich gerade wieder ins Auto stieg, und versuchte, mir ein schlechtes Gewissen einzureden, damit ich zu Thanksgiving oder Weihnachten nach Portland kam. Ich entzog mich beiden Einladungen – in den zwei Jahren, in denen ich bei ihr gewohnt hatte, war ich auf genug Familientreffen für ein ganzes Leben gewesen.

Nicht, dass sie schlimm gewesen wären – genau das Gegenteil ist der Fall. Curt, mein Stiefvater, ist ein zurückhaltender, sachlicher Mensch – genau das richtige Gegengewicht zu meiner Mutter. Ich fand erst später heraus, dass er nichts von mir gewusst hatte, als ich mit sechzehn auf seiner Schwelle stand. Aber er hatte mich ohne weitere Fragen in seinem Haus aufgenommen und mich wie sein eigenes Kind behandelt.

Meine Mutter Margi ist lebhaft und auf eine sehr vergnügte Art durchgedreht. Es fällt mir überhaupt nicht schwer, mir vorzustellen, dass sie eine Beziehung zu einem Rodeoreiter hatte (meinem Vater) oder von zu Hause ausgerissen war, um sich dem Zirkus anzuschließen. Dass sie Vorsitzende der örtlichen Elternvereinigung sein sollte, war da schon verblüffender.

Ich mag meine Mutter und meinen Stiefvater. Ich mag sogar all meine Halbgeschwister, die mein plötzliches Auftauchen in ihrem Leben begeistert begrüßt hatten. Sie wohnen alle zusammen, eine dieser einander sehr nahestehenden Familien, wie sie das Fernsehen so gerne als normal darstellt. Ich bin sehr glücklich zu wissen, dass es solche Menschen gibt – aber ich selbst gehöre nicht zu ihnen.

Ich besuche sie zweimal im Jahr, damit sie nicht zu mir nach Hause kommen, und achte darauf, es nicht an einem Feiertag zu tun. Meine Besuche fallen meist ziemlich kurz aus. Ich habe sie alle wirklich gern, aber aus der Ferne sind sie mir einfach lieber.

Als ich auflegte, hatte ich tatsächlich ein schlechtes Gewissen und war deprimiert. Ich fuhr nach Hause, schob die Pute zum Tauen in den Kühlschrank und fütterte die Katze. Es versetzte mich auch nicht gerade in bessere Stimmung, den Kühlschrank sauber zu machen, selbst wenn ich das aus irgendeinem unverständlichen Grund erwartet hatte. Am Ende stieg ich wieder ins Auto und fuhr hinaus zum Hanford-Reach-Park.

Ich gehe nicht oft dorthin. Es gibt nähere Orte, um zu joggen, und wenn mir nach Auto fahren zumute ist, sind die Blue Mountains nicht weit entfernt. Aber manchmal sehnt sich meine Seele nach der trockenen Einöde des Wildreservats – besonders nach einen Gespräch mit meiner Mutter.

Ich parkte den Wagen und ging eine Weile weiter, bis ich einigermaßen sicher sein konnte, dass niemand in der Nähe war. Dann zog ich meine Sachen aus, steckte sie in den kleinen Rucksack und verwandelte mich.

Werwölfe brauchen bis zu einer Viertelstunde, um ihre Gestalt zu verändern, und es ist immer schmerzhaft für sie – etwas, das man sich merken sollte. Sie sind ohnehin nicht gerade die freundlichsten Zeitgenossen, aber wenn sie sich gerade verändert haben, ist es eine gute Idee, sie eine Weile in Ruhe zu lassen.

Die Verwandlung der Walker – oder zumindest meine, denn ich kenne keine anderen – geschieht hingegen schnell und schmerzlos. Einen Augenblick bin ich noch ein Mensch, im nächsten ein Kojote – es ist reine Magie. Ich gehe einfach von einer Gestalt zur nächsten über.

Um das letzte Kribbeln der Veränderung zu verscheuchen, rieb ich die Nase an meinem Vorderbein. Es braucht immer einen Moment, bis ich mich daran gewöhnt habe, dass ich mich jetzt auf vier Beinen bewege statt auf zweien. Ich weiß, weil ich es nachgelesen habe, dass Kojoten anders wahrnehmen als Menschen, aber meine Sehschärfe ist in jeder Gestalt so ziemlich die Gleiche. Mein Gehör wird ein wenig besser und mein Geruchssinn ebenfalls, obwohl ich selbst in Menschengestalt über bessere Sinne verfüge als die meisten anderen.

Ich packte den nun mit meiner Kleidung gefüllten Rucksack und schob ihn tiefer in ein Gebüsch. Dann warf ich alle Erinnerungen an meine menschliche Existenz ab und eilte in die Wüste.

Nachdem ich drei Kaninchen gescheucht und einem Paar in einem Boot auf dem Fluss einen Blick auf meine entzückende pelzige Person gegönnt hatte, ging es mir erheblich besser. Ich muss mich nicht mit dem Lauf des Mondes verändern, aber wenn ich zu lange auf zwei Beinen bleibe, werde ich ruhelos und launisch.

Angenehm müde, wieder in Menschengestalt und angezogen, stieg ich in mein Auto und sprach mein übliches Stoßgebet, als ich den Schlüssel drehte. Diesmal sprang der Dieselmotor sofort an und begann zu schnurren. Ich weiß nie, ob der Golf funktionieren wird oder nicht. Ich fahre ihn, weil er billig ist, nicht etwa, weil ich ihn für ein gutes Auto halte.


Am Sonntag ging ich zur Kirche. Meine Kirchengemeinde ist so klein, dass sie sich den Pastor mit drei anderen teilt – eine dieser nicht konfessionsgebundenen Gruppen, die so damit beschäftigt sind, niemanden zu verdammen, dass sie nicht gerade über sonderlich große Anziehungskraft verfügen. Es gibt nicht viele Leute, die regelmäßig kommen, und wir lassen einander überwiegend in Ruhe. Da ich mich in der wahrhaft einzigartigen Position befinde, mir vorstellen zu können, wie die Welt ohne Gott und seine Kirchen aussähe, die das schlimmste Böse in Schach halten, nehme ich stets fromm an den sonntäglichen Gottesdiensten teil.

Es liegt nicht an den Werwölfen. Werwölfe können gefährlich sein, wenn man ihnen in die Quere kommt, aber wenn man vorsichtig ist, lassen sie einen in Ruhe. Sie sind nicht schlimmer als ein Grizzly oder ein großer weißer Hai.

Es gibt jedoch auch andere Geschöpfe, die sich im Dunkeln verbergen und erheblich übler sein können – und Vampire stellen dabei nur die Spitze des Eisbergs dar. Sie können ihr Wesen sehr gut vor der menschlichen Bevölkerung verstecken, aber ich bin kein Mensch. Ich erkenne sie, wenn ich ihnen begegne, und sie kennen mich ebenfalls; also gehe ich jede Woche zur Kirche.

An diesem Sonntag war unser Pastor krank, und der Mann, der für ihn einsprang, hatte als Thema seiner Predigt Exodus 22, 17 ausgewählt: »Die Hexen sollst du nicht am Leben lassen.« Bei seiner Interpretation schloss er auch das Feenvolk ein, und er verströmte eine solche Aura von Angst und Wut, dass ich beide Gefühle von meinem Platz aus beinahe körperlich wahrnehmen konnte. Es waren Menschen wie er, die dafür gesorgt hatten, dass der Rest der übernatürlichen Gemeinschaft sich weiterhin versteckte, beinahe zwei Jahrzehnte, nachdem das geringere Feenvolk gezwungen gewesen war, sich der Öffentlichkeit zu stellen.

Vor etwa dreißig Jahren begannen die Grauen Lords, die machtvollen Magier, die über das Feenvolk herrschen, sich wegen der Fortschritte in den Naturwissenschaften Sorgen zu machen – besonders, was die forensische Wissenschaft anging. Sie sahen voraus, dass die Zeit des Versteckens bald ein Ende finden würde. Also beschlossen sie, den Schaden so gut wie möglich zu begrenzen und dafür zu sorgen, dass die Menschen die Magie der Welt so unbedrohlich wie möglich wahrnahmen. Sie warteten auf eine passende Gelegenheit.

Als Harlan Kincaid, der ältere Immobilienmakler-Milliardär, tot neben seinen Rosenbüschen gefunden wurde, eine Gartenschere im Hals, fiel der Verdacht auf seinen Gärtner Kieran McBride, einen Mann mit leiser Stimme und freundlichem Gesicht, der viele Jahre für Kincaid gearbeitet und einige Preise für seine Gärtnerei gewonnen hatte.

Wie beinahe alle Amerikaner sah ich Ausschnitte der Verhandlung im Fernsehen. Der sensationelle Mord an einem der reichsten Männer des Landes, der zufällig mit einer sehr beliebten jungen Schauspielerin verheiratet gewesen war, sicherte den Fernsehstationen hohe Einschaltquoten.

Mehrere Wochen beschäftigte der Mord die Nachrichtenkanäle. Die Welt bekam Carin Kincaid zu sehen, über deren von der Sonne Kaliforniens gebräunte Wangen Tränen liefen, als sie beschrieb, wie sie ihren toten Mann neben seinem liebsten Rosenbusch fand, der in Stücke gehackt worden war. Ihr Auftritt vor Gericht wäre sicher einen Oscar wert gewesen, aber was als Nächstes geschah, spielte sie locker an die Wand.

Kieran McBride wurde von einer teuren Gruppe von Anwälten verteidigt, die unter viel Publicity zugestimmt hatte, den Fall umsonst zu übernehmen. Sie riefen ihren Mandanten in den Zeugenstand und brachten den Staatsanwalt geschickt dazu, McBride zu bitten, die Gartenschere in die Hand zu nehmen.

Er versuchte es. Aber seine Hände begannen beinahe sofort zu qualmen, und er ließ die Schere fallen. Auf Bitten seines Anwalts zeigte er den Geschworenen die von Blasen überzogene Haut der Handflächen. Er konnte auf keinen Fall der Mörder sein, sagte der Anwalt dem Richter, den Geschworenen und dem Rest der Welt, denn Kieran McBride gehöre zum Feenvolk. Er war ein Gartenkobold, und er konnte kein kaltes Eisen anfassen, nicht einmal mit den dicksten Lederhandschuhen.

In einem dramatischen Augenblick ließ McBride den Schutzzauber fallen, der ihn hatte menschlich wirken lassen. Er sah nicht gut aus, ganz im Gegenteil, aber jeder, der einmal einen Shar-Pei-Welpen gesehen hat, weiß, welches Charisma in einer gewissen Art von Hässlichkeit liegt. Einer der Gründe, wieso die Grauen Lords McBride ausgewählt hatten, bestand darin, dass Gartenkobolde sanftmütig und putzig anzuschauen sind. Seine bekümmerten, übergroßen braunen Augen zierten wochenlang die Titelblätter von Zeitschriften, für gewöhnlich zusammen mit alles andere als schmeichelhaften Fotos von Kincaids Frau, die später des Mordes an ihrem Mann überführt wurde.

Und so traten die geringeren Angehörigen des Feenvolks, die Schwachen und Ansehnlichen, auf Geheiß der Grauen Lords in die Öffentlichkeit. Die Großen und Schrecklichen, die Mächtigen oder mächtig Hässlichen aber blieben verborgen und warteten die Reaktion der Welt auf ihre verträglicheren Artgenossen ab. Hier, sagten die Imageberater der Grauen Lords, die auch McBrides Anwälte gewesen waren, hier sind die, die sich bisher verborgen hielten: die sanftmütige Koboldin, die zu einer Kindergärtnerin wurde, weil sie Kinder so liebt, der junge Mann, der eigentlich ein Selkie, ein Wassergeschöpf, ist und sein Leben aufs Spiel setzte, um die Opfer eines Schiffsunglücks zu retten.

Zuerst sah es so aus, als würde sich die Strategie der Grauen Lords für alle Übernatürlichen positiv auswirken, Feenvolk oder nicht. In New York und L.A. entstanden Restaurants, in denen sich die Reichen und Berühmten von Waldelfen und kleinen Erdgeistern bedienen ließen. Hollywood-Mogule drehten eine Neufassung von Peter Pan mit einem Jungen, der wirklich fliegen konnte, und einer echten Fee als Tinkerbell – der Film spielte an den Kinokassen Rekordgewinne ein.

Aber von Beginn an gab es auch Ärger. Ein bekannter Tele-Evangelist nutzte die Angst vor dem Feenvolk, um seinen Zugriff auf seine Herde und deren Bankkonten zu festigen. Konservative Gesetzgeber brachten mit Propaganda eine neue Registrierungspolitik ins Rollen. Die Regierungsagenturen legten insgeheim Listen von Angehörigen des Feenvolks an, die sie für nützlich hielten – oder die gefährlich werden konnten, denn auch überall in Europa und in Teilen von Asien waren die Geringeren aus dem Feenvolk von den Grauen Lords aus ihren Verstecken gezwungen worden.

Als die Grauen Lords Zee, meinen alten Boss, vor fünf oder sechs Jahren anwiesen, sich zu zeigen, verkaufte Zee mir erst einmal die Werkstatt und ging dann in den Ruhestand. Er hatte gesehen, was einigen vom Feenvolk zugestoßen war, die versucht hatten, weiterzuleben, als wäre nichts passiert.

Es war in Ordnung, solange jemand im Unterhaltungsgeschäft oder als Touristenattraktion arbeitete, aber die Kobold-Kindergärtnerin wurde bald schon unauffällig in Pension geschickt. Niemand wollte so jemanden als Lehrer, Mechaniker oder Nachbar.

Die Fenster von Angehörigen des Feenvolks, die in teureren Vorstädten lebten, wurden eingeschlagen, und boshafte Graffiti wurden auf ihre Häuser gesprüht. Jene, die an weniger gesetzestreuen Orten wohnten, wurden überfallen und geschlagen. Sie konnten sich nicht verteidigen, weil sie Angst vor den Grauen Lords hatten. Was immer die Menschen ihnen antaten, die Grauen Lords würden schlimmer sein, wenn sie sich wehrten.

In den Staaten führte die Welle von Gewalt schließlich zur Schaffung von vier großen Reservaten. Zee erzählte mir, es gebe Angehörige des Feenvolks in der Regierung, die die Reservate als Schadenskontrolle betrachteten und legale und illegale Mittel einsetzten, um den Rest des Kongresses zu überzeugen.

Wenn ein Angehöriger des Feenvolks zustimmte, in einem solchen Reservat zu leben, bekam er ein Haus und ein monatliches Gehalt. Ihre Kinder (wie Zees Sohn Tad) erhielten Stipendien für gute Universitäten, wo sie nützliche Angehörige der Gesellschaft werden konnten … immer vorausgesetzt, sie fanden nach ihrem Abschluss eine Stelle.

Die Reservate riefen auf beiden Seiten eine kontroverse Diskussion hervor. Ich persönlich dachte, die Grauen Lords und die Regierung hätten sich besser erst einmal die unzähligen Probleme in den Eingeborenenreservaten ansehen sollen, aber Zee war überzeugt, dass all das nur einen ersten Schritt in den Plänen der Grauen Lords darstellte. Ich wusste gerade so eben genug über sie, um zuzugeben, dass er recht haben könnte – aber ich machte mir trotzdem Gedanken. Wie auch immer, das Reservats-System verringerte zunächst einmal die schlimmsten Probleme zwischen den Menschen und dem Feenvolk, zumindest in den Staaten.

Menschen wie dieser Pastor jedoch bewiesen, dass Vorurteile und Hass weiterwucherten. Jemand hinter mir murmelte, er hoffe, dass Pastor Julio sich vor dem Ende der nächsten Woche wieder erholen werde, und eine Welle der Zustimmung im Flüsterton heiterte mich ein wenig auf.

Ich habe von Leuten gehört, die Engel gesehen oder ihre Präsenz gespürt haben. Ich weiß nicht, ob es Gott ist oder einer seiner Engel, was ich wahrnehme, aber in den meisten Kirchen kann ich eine freundliche Präsenz spüren. Während der Pastor mit seiner von Angst getriebenen Predigt weitermachte, fühlte ich, wie dieses Wesen immer trauriger wurde.

Der Pastor schüttelte mir die Hand, als ich das Gebäude verließ.

Ich gehöre nicht zum Feenvolk, so weit man den Begriff auch dehnen mag. Meine Magie stammt aus Nordamerika und nicht aus Europa, und ich brauche keinen Schutzzauber, um mich unter die menschliche Bevölkerung zu mischen. Dennoch, dieser Mann hätte mich gehasst, wenn er gewusst hätte, was ich bin.

Ich lächelte ihn an, bedankte mich für den Gottesdienst und wünschte ihm alles Gute. Liebe deine Feinde, heißt es in der Schrift. Meine Pflegemutter fügte immer noch hinzu: »Zumindest kannst du höflich zu ihnen sein.«