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Ein T3-VW-Bus erinnert vor allem an einen Klotz auf Rädern, einen drei Meter langen, zwei Meter breiten Klotz mit den aerodynamischen Eigenschaften eines Scheunentors. In den zwölf Jahren, in denen VW-Kleinbusse in die Vereinigten Staaten importierte, hatten sie nichts Größeres geschickt als den Vier-Zylinder-Wasserboxer-Motor dieser Transporter. Mein Vierradantrieb von 1989 verfügte über überwältigende neunzig PS.

Für einen Laien bedeutete das, dass ich mit einer Leiche und einem verwundeten Werwolf mit sechzig Meilen in der Stunde auf dem Highway unterwegs war. Mit Rückenwind und bergab hätte das Gefährt sogar fünfundsiebzig schaffen können. Ich wäre gern wenig schneller gefahren, aber das hätte dem Motor wahrscheinlich bald den Garaus gemacht, und aus irgendeinem Grund genügte der Gedanke daran, mit meiner Fracht am Straßenrand zu stranden, damit ich nur halbherzig aufs Gaspedal trat.

Der Highway wand sich in sanften Kurven vor mir, die überwiegend leer waren. Links und rechts zogen die landschaftlichen Attraktionen der Gegend vorüber, immer vorausgesetzt, dass man Buschwüste mehr mag als ich das tue. Ich wollte lieber nicht an Mac denken, oder an Jesse, die verängstigt und allein sein musste – oder an Adam, der vielleicht sterben würde, weil ich mich entschlossen hatte, ihn zu bewegen, statt sein Rudel zu rufen. Also griff ich nach meinem Handy.

Als Ersten rief ich meine Nachbarn an. Dennis Carther war ein Rohrverleger im Ruhestand, und seine Frau Anna hatte früher als Krankenschwester gearbeitet. Sie waren vor zwei Jahren eingezogen, und nachdem ich ihren Traktor repariert hatte, hatten sie mich quasi adoptiert.

»Hallo?« Nach dem Morgen, den ich hinter mir hatte, klang Annas Stimme so normal, dass ich einen Augenblick brauchte, um reagieren zu können.

»Tut mir leid, dass ich so früh anrufe«, sagte ich. »Aber ich muss weg, wegen eines familiären Notfalls. Wahrscheinlich brauche ich nicht lange – einen Tag oder zwei –, aber ich habe mich nicht mehr überzeugen können, ob Medea auch genug Futter und Wasser hat.«

»Mach dir keine Sorgen, Liebes«, sagte sie. »Wir kümmern uns schon um sie. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.«

Ich musste einfach einen Blick nach hinten zu Adam werfen. Er atmete immer noch. »Es ist nicht einfach. Jemand aus meiner Pflegefamilie ist schwer verletzt.«

»Kümmere dich in Ruhe um alles«, sagte sie sachlich. »Wir behalten die Dinge hier im Auge.«

Erst nach dem Gespräch fragte ich mich, ob ich sie vielleicht in Gefahr gebracht hatte. Mac hatte immerhin aus einem bestimmten Grund auf meiner Schwelle gelegen – als Warnung, mich aus den Angelegenheiten anderer Leute herauszuhalten. Und nun war ich nicht nur tief darin verwickelt, sondern begann auch noch damit, andere Leute mit hineinzuziehen.

Ich tat so viel wie möglich für Adam, aber mir fiel ein, dass ich vielleicht auch etwas für Jesse tun konnte. Ich rief Zee an.

Siebold Adelbertsmiter, kurz Zee genannt, hatte mir alles beigebracht, was ich über Autos wusste. Die meisten vom Feenvolk sind sehr empfindlich gegen Eisen, aber Zee war ein Metallzauberer – unter diese ziemlich unspezifische Kategorie werden die wenigen Angehörigen des Feenvolks gefasst, die Metall berühren können. Zee zog jedoch den modernen amerikanischen Begriff »Gremlin« vor, was auch viel besser zu seinen Begabungen passte. Ich rief ihn allerdings nicht deshalb an, sondern wegen seiner Beziehungen.

»Ja?«, sagte eine missmutige Männerstimme auf Deutsch.

»Hallo, Zee, hier ist Mercy. Du musst mir einen Gefallen tun.«

»Sicher, Liebling«, fuhr er in der gleichen Sprache fort. »Was ist denn?«

Ich zögerte. Selbst nach all dieser Zeit fiel es mir schwer, die Regel zu brechen, Rudelärger im Rudel zu halten – aber Zee kannte nun einmal alle in der Feenvolk-Gemeinde.

Ich umriss den letzten Tag, so gut ich konnte.

»Du glaubst also, dieser Baby-Werwolf hätte all diesen Ärger mitgebracht? Warum haben sie unsere kleine Jesse mitgenommen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich ehrlich. »Ich hoffe, wenn es Adam erst besser geht, kann er mehr in Erfahrung bringen.«

»Du bittest mich also, mich zu erkundigen, ob jemand, den ich kenne, diese seltsamen Wölfe gesehen hat, in der Hoffung, Jesse zu finden?«

»Mindestens vier Werwölfe sind durch die Tri-Cities gezogen. Das sollte jemandem beim Feenvolk doch eigentlich aufgefallen sein.« Da die Tri-Cities so dicht am Walla-Walla-Feenvolk-Reservat lagen, wohnen dort viel mehr von ihnen als in irgendeiner anderen menschlichen Stadt.

»Ja«, stimmte Zee mit einem tiefen Seufzer zu. »Das sollte man annehmen. Ich werde mich erkundigen. Jesse ist ein liebes Mädchen, sie sollte auf keinen Fall in den Händen dieser Schurken bleiben.«

»Und könntest du bitte in der Werkstatt vorbeigehen und etwas für mich ins Fenster stellen?«, bat ich. »Unter der Theke im Büro liegt ein ›Über die Feiertage geschlossen‹-Schild.«

»Glaubst du, sie werden sich auf mich stürzen, wenn ich für dich aufmache?«, fragte er. Zee führte die Werkstatt oft, wenn ich nicht in der Stadt war. »Also gut. Aber heute und übermorgen werde ich die Garage aufmachen.«

Es war lange her, seit man Siebold Adelbertsmiter aus dem Schwarzwald besungen hatte, so lange, dass diese Lieder aus der Erinnerung verschwunden waren, aber er hatte immer noch etwas von den alten deutschen Heldensagen an sich.

»Ein Werwolf braucht nicht mal ein Schwert oder ein Gewehr, um dich in Stücke zu reißen.« Ich konnte einfach nicht anders, als ihn zu warnen, obwohl ich es besser wusste, als mich mit dem alten Gremlin zu streiten, nachdem er sich erst einmal zu etwas entschlossen hatte. »Ja«, fuhr ich fort, nachdem ich noch einmal nachgedacht hatte. »Deine Metallmagie wird dir gegen einen von denen nicht viel helfen.«

Er schnaubte. »Mach dir keine Sorgen um mich, Liebling. Ich habe in diesem Land schon Werwölfe umgebracht, als es noch eine Kolonie der Wikinger war.« Die Mitglieder des geringen Feenvolks sprachen gern darüber, wie alt sie waren, aber Zee hatte mir erzählt, dass ihre Lebensspanne meist die der Menschen nicht weit übertraf. Er selbst jedoch war erheblich älter als das.

Ich seufzte und gab nach. »Also gut. Aber sei vorsichtig. Und falls du tatsächlich aufmachst, ich habe Eratzteile bestellt, die heute eintreffen sollten. Könntest du das für mich überprüfen? Ich habe bisher noch nichts von dieser Firma bestellt, aber meine übliche Quelle konnte nicht liefern.«

»Sicher. Überlass das mir.«

Mit dem nächsten Anruf erreichte ich Stefans Anrufbeantworter.

»Hallo, Stefan«, sagte ich. »Hier spricht Mercy. Ich bin unterwegs nach Montana. Ich weiß nicht, wann ich wieder zurück sein werde. Wahrscheinlich später in dieser Woche. Ich rufe dich an.« Ich zögerte, denn es gab wirklich keine nette Möglichkeit, das Nächste zu sagen. »Ich musste deinen Bus benutzen, um eine Leiche zu transportieren. Er ist in Ordnung; Elizaveta Arkadyevna hat ihn gereinigt. Ich werde dir nach meiner Rückkehr alles erklären.«

Elizaveta zu erwähnen, erinnerte mich an etwas anderes, das ich tun musste. Adams Haus stand am Ende der Straße, aber es war vom Fluss aus deutlich zu sehen. Früher oder später würde jemandem auffallen, dass die Couch auf den Blumenbeeten stand, und diese Person würde die Polizei anrufen.

Elizavetas Nummer war in meinem Handy gespeichert, obwohl bisher für mich noch nie Grund bestanden hatte, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Ich erreichte ihren Anrufbeantworter und hinterließ die Nachricht, dass ein Toter auf meiner Veranda lag, Jesse verschwunden war und ich Adam, der verwundet war, an einen sicheren Ort brachte. Dann klappte ich das Telefon zu und steckte es weg. Ich wusste nicht, was in Adams Haus passiert war, aber das hielt mich nicht davon ab, mich schuldig und verantwortlich zu fühlen. Hätte ich mich letzte Nacht nicht eingemischt, als die beiden Schurken kamen, um Mac zu suchen, wären dann alle immer noch am Leben? Hätte ich Mac nach Montana zum Marrok geschickt, statt ihn von Adam übernehmen zu lassen, hätte das etwas geändert?

Aber Mac zum Marrok zu bringen, wäre mir nie eingefallen. Ich hatte nicht mehr mit Bran in Verbindung gestanden, seit er mich vom Rudel weggeschickt hatte, und er hatte sich auch nicht gemeldet. Ich warf einen raschen Blick hinter meinen Sitz auf die blaue Plane, unter der sich Macs Leiche befand. Nun ja, zumindest brachte ich ihn jetzt zu ihm.

Dann fiel mir das schüchterne Grinsen wieder ein, das Mac aufgesetzt hatte, als ich ihm meinen Namen sagte. Ich wischte mir die Wangen ab und blinzelte wild gegen Tränen an, aber es hatte keinen Sinn. Ich weinte um ihn, und um seine Eltern und seinen Bruder, die nicht einmal wussten, dass er tot war. Wahrscheinlich saßen sie jetzt alle an den Telefonen und warteten darauf, dass er wieder anrief.

Ich fuhr nach Spokane hinein, als dringlichere Sorgen mich von meiner Schuld und meinem Kummer ablenkten: Adam begann sich zu rühren. Meine Angst, dass er sterben würde, wurde sofort von der Sorge beiseitegedrängt, er würde zu schnell heilen.

Ich hatte immer noch über zweihundert Meilen vor mir, und die meisten davon auf einem keinen Berg-Highway, der sich durch Dutzende von Siedlungen zog und den man nur mit etwa fünfundzwanzig Meilen die Stunde zurücklegen konnte. Die letzten sechzig Meilen waren auf der staatlichen Karte mit »sonstige« markiert, um den Gegensatz zu einem normalen Highway oder einer Straße zu bezeichnen. Wenn ich mich recht erinnerte, handelte es sich überwiegend um einen Kies- und Schotterweg. Ich nahm an, dass die gesamte Strecke mich mindestens vier weitere Stunden kosten würde.

Dominante Werwölfe heilen schneller als unterwürfige. Nach meiner Einschätzung hätte es zwei Tage dauern sollen, bevor Adam wieder gesund genug war, um seinen Wolf zu beherrschen – aber er würde auch schon viel früher Ärger machen können. Ich brauchte Bran, bevor Adam sich besser bewegen konnte, und er rührte sich bereits. Und ich brauchte wirklich Glück, um das rechtzeitig zu schaffen.

Als ich nach Coeur d’Alene kam, wo ich von der Interstate abbiegen musste, fuhr ich als Erstes zu einer Tankstelle und dann zu dem ersten Fast-Food-Laden am Weg, und kaufte dreißig Cheeseburger. Das erstaunte Teenagermädchen, das mir die Tüten durch das Fenster reichte, starrte mich neugierig an. Ich erklärte nichts, und sie konnte wegen der Vorhänge des Busses nicht sehen, wer meine Mitfahrer waren.

Ich fand einen Parkplatz, schnappte mir ein paar Tüten, stieg über Mac hinweg und begann, die Brötchen vom Fleisch zu trennen. Adam war zu schwach, um mehr zu tun als mich anzuknurren und sich das mit Käse und Ketchup überzogene Fleisch zu schnappen, so schnell ich es ihm zuwerfen konnte. Er aß beinahe zwanzig Burger, bevor er wieder zurück in seinen vorherigen komatösen Zustand sank.

Als ich nach Norden abbog, begannen die ersten Schneeflocken zu fallen.


Als Troy, Montana, vor mir lag, verfluchte ich den schweren, nassen Schnee, der mich so abgelenkt hatte, dass mir die Abzweigung mehrere Meilen zuvor entgangen war. Ich tankte also noch einmal, ließ mir alles genau beschreiben, legte die Schneeketten an und kehrte wieder um.

Der Schnee war schnell genug gefallen, dass die Räummannschaften nicht mehr mithalten konnten. Die Spuren der Autos vor mir füllten sich rasch mit frischen Flocken.

Die Angaben des Mannes an der Tankstelle frisch im Kopf, wurde ich langsamer, als ich den Yaak erneut überquerte. Verglichen mit dem Kootenai, an dem ich in den letzten paar Stunden entlanggefahren war, war er nur ein kleines Flüsschen.

Ich behielt den Straßenrand sehr gut im Auge, und das erwies sich als gute Idee. Das kleine grüne Schild für die Abzweigung war halb mit Schnee bedeckt.

Es gab nur eine einzige Autospur, die diese Abzweigung entlangführte, und die zog sich bald in eine kleine Einfahrt. Danach musste ich mir den Weg die Straße entlang selbst suchen, indem ich dort fuhr, wo es keine Bäume gab. Zum Glück waren die Bäume dicht und zeigten mir den Weg sehr deutlich.

Die Straße wand sich weiter das schmale Flusstal entlang, und ich war dankbar für den Vierradantrieb. Einmal überquerten zwei Columbia-Maultierhirsche direkt vor mir den Fahrweg. Sie starrten mich verärgert an und trabten davon.

Mein letzter Besuch hier lag lange zurück – damals hatte ich noch nicht einmal einen Führerschein gehabt. Die Straße war mir nicht vertraut, und ich fing an, mir Gedanken zu machen, dass ich auch die nächste Abzweigung verpassen würde. Dann lag die Kreuzung vor mir, ein Weg klar gekennzeichnet, der andere, den ich nehmen musste, kaum breit genug für den Bus.

»Also gut«, sagte ich zu Adam, der winselte. »Wenn wir in Kanada landen und du mich dann immer noch nicht gegessen hast, können wir vielleicht umkehren und es noch mal versuchen.«

Ich war gerade zu dem Schluss gekommen, dass mir genau das bevorstand, als ich das Ende einer langen Steigung erreichte und ein handgeschnitztes Schild sah. Ich hielt den Bus an.

Aspen Creek verkündete das Schild in anmutiger Schrift, weiß auf einem dunkelbraunen Hintergrund. 23 Meilen. Als ich den Bus herumzog, um dem Pfeil zu folgen, fragte ich mich, wann Bran wohl erlaubt hatte, es anzubringen. Vielleicht hatte er genug davon, Führer zu schicken – aber als ich Montana verlassen hatte, war er noch eisern gewesen, was das »möglichst unauffällig bleiben« anging.

Keine Ahnung, wieso ich angenommen hatte, dass sich hier oben nichts veränderte. Immerhin hatte ich mich in den Jahren, seit ich das letzte Mal hier gewesen war, selbst gewaltig verändert. Ich hätte erwarten können, dass auch Aspen Creek nicht so geblieben war wie in meiner Erinnerung, aber es musste mir nicht auch noch gefallen.


Man konnte Nichteingeweihten verzeihen, wenn sie annahmen, dass es in Aspen Creek nur vier Gebäude gab: die Tankstelle mit der Post, die Schule, die Kirche und das Motel. Sie würden die Wohnhäuser nicht bemerken, die unauffällig an den Hängen und unter Bäumen standen. Vor der Tankstelle parkten ein paar Autos, aber ansonsten wirkte der Ort verlassen. Ich wusste es besser. Es gab immer Leute, die alles im Auge behielten, aber sie würden mich nicht stören, solange ich nichts Ungewöhnliches tat – wie einen verwundeten Werwolf aus meinem Auto zu zerren.

Ich blieb direkt unter dem Aspen-Creek-Motel-Schild stehen, welches ziemlich gut zu dem Schild passte, dem ich in die Siedlung gefolgt war. Das alte Gebäude war nach dem Vorbild anderer Motels in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts errichtet worden – ein lang gezogenes, schmales, kunstloses Haus, bei dem Gäste ihre Autos vor ihren Zimmern parken konnten.

Niemand befand sich im Büro, aber die Tür war nicht verschlossen. Das Motel war eindeutig renoviert worden, seit ich zum letzten Mal hier gewesen war, und das Ergebnis verlieh der Herberge einen gewissen ländlichen Charme, was immer noch besser war, als das abgerissene 50er-Jahre-Ambiente, das zuvor hier geherrscht hatte.

Ich sprang über die Rezeption hinweg und nahm mir den Schlüssel mit der Nummer eins. Nummer eins war das sicherste Zimmer des Marrok, besonderes entworfen für Werwölfe, die nicht kooperieren konnten oder wollten.

Dann fand ich ein Stück Papier und schrieb: Verwundeter in Nummer eins. Bitte nicht stören darauf, ließ es auf dem Tisch liegen, und kehrte zum Bus zurück, um zum Zimmer zu fahren.

Adam aus dem Auto zu bekommen, würde schwierig werden. Als ich ihn in den Bus gezerrt hatte, war er zumindest bewusstlos gewesen. Ich öffnete die verstärkte Metalltür des Motelzimmers und sah mich um. Das Mobiliar im Raum war neu und sehr schlicht, nur ein Bett und ein Nachttisch, fest an Wand und Boden befestigt – nichts, was mir helfen würde, einen Werwolf, der doppelt so schwer war wie ich, aus dem Bus zu hieven, ohne einem von uns dabei wehzutun. Es gab auch keine Veranda wie an Adams Haus, was für einen Abstand von über einem Meter von Bus zum Boden sorgte.

Am Ende kam ich zu dem Schluss, dass es besser wäre, um Hilfe zu rufen, als Adam weiter zu verletzen. Ich kehrte ins Büro zurück und griff nach dem Telefon. Seit ich Aspen Creek verlassen hatte, hatte ich Sam nicht mehr angerufen, aber dennoch war ich mit ihm verbunden. Er mochte der Grund gewesen sein, wieso ich diesen Ort verlassen hatte, aber er war der Erste, an den ich dachte.

»Hallo?«, antwortete eine Frauenstimme, die mir vollkommen unbekannt vorkam.

Ich brachte keinen Ton heraus. Mir war nicht klar gewesen, wie sehr ich damit gerechnet hatte, Samuel zu hören, bis die Stimme einer anderen Person erklang.

»Marlie? Stimmt etwas nicht im Motel? Soll ich Carl rüberschicken?« Sie sieht die Nummer wohl auf dem Display, überlegte ich einfältig.

Sie klang hektisch, aber zumindest erkannte ich ihre Stimme nun und spürte eine Woge der Erleichterung. Ich weiß nicht, wieso Lisa Stoval an Samuels Apparat gegangen war, aber dass sie Carl erwähnte und die plötzliche Anspannung in ihrer Stimme verriet sie. Ich nehme an, sie hatte einfach nie fröhlich geklungen, wenn sie mit mir sprach.

Einiges mochte sich verändert haben, aber andere Dinge hatte ich wohl einfach vergessen. Annähernd fünfhundert Personen lebten in Aspen Creek, und nur etwa siebzig davon waren Werwölfe. Über die menschliche Bevölkerungsmehrheit hatte ich jedoch selten nachgedacht. Lisa und ihr Mann Carl waren beide Menschen, ebenso wie die sechsjährige Marlie, oder zumindest waren sie das gewesen, als ich aufgebrochen war.

»Ich weiß nicht, wo Marlie ist«, sagte ich. »Hier spricht Mercedes, Mercedes Thompson. Das Büro des Motels ist leer. Und ich wäre wirklich dankbar, wenn du Carl vorbeischicken oder mir sagen könntest, wen ich sonst anrufen soll. Ich habe den Leitwolf des Columbia-Rudels in meinem Auto. Er ist schwer verwundet, und ich brauche Hilfe, um ihn in das Motelzimmer zu schaffen. Es wäre noch besser, wenn ich wüsste, wo ich Bran finden kann.«

Bran hatte zu Hause kein Telefon, oder zumindest war das so gewesen, als ich ging. Er hätte jetzt durchaus ein Handy haben können.

Wie die meisten Frauen von Aspen Creek hatte Lisa mich nie leiden können. Aber sie gehörte nicht zu den Leuten, die sich von solchen Kleinigkeiten davon abhalten ließen, das zu tun, was richtig war.

»Bran und ein paar andere sind mit den neuen Wölfen auf ihrer ersten Jagd. Marlie hockt wahrscheinlich irgendwo und weint. Lee, ihr Bruder, war einer von denen, die versucht haben, sich zu verändern. Er hat es nicht geschafft.«

Das hatte ich vergessen. Wie hatte das passieren können? Beim letzen Oktobervollmond konnten sich alle versammeln, die versuchen wollten, Werwölfe zu werden. In einer förmlichen Zeremonie wurden sie von Bran oder einem anderen Wolf, der sie liebte, brutal angegriffen, in der Hoffnung, dass sie sich danach verwandelten. Die meisten schafften es nicht. Ich erinnerte mich an die Spannung und die Traurigkeit, die im November stets über dem Ort lag. Thanksgiving hatte für die Bewohner von Aspen Creek eine andere Bedeutung als für den Rest von Amerika.

»Tut mir leid«, sagte ich eher lahm, denn ich fühlte mich wirklich nicht in der Lage, mich mit noch mehr toten jungen Leuten zu beschäftigen. »Lee war ein guter Junge.«

»Ich schicke Carl.« Lisas forsche Stimme schnitt mein Recht, zu trauern oder Mitleid zu haben, ab. Sie legte auf, ohne sich zu verabschieden.

Ich vermied es, weiter nachzudenken oder die Plane mit Mac darunter zu betrachten, während ich im Bus saß und auf Hilfe wartete. Stattdessen verfütterte ich die restlichen Hamburger an Adam, während wir warteten. Sie waren kalt und zäh, aber das schien dem Wolf nichts auszumachen. Nachdem er sie gefressen hatte, schloss er die Augen und ignorierte mich.

Schließlich parkte Carl einen verbeulten Jeep neben dem Bus und stieg aus. Er war groß und kräftig und immer mehr ein Mann der Tat als des Wortes gewesen. Er umarmte mich und tätschelte mir den Rücken.

»Tu nicht so, als wärst du eine Fremde Mercy«, sagte er, dann lachte er über mein erschrockenes Gesicht und zauste mein Haar. Ich hatte vergessen, wie gern er so etwas machte, vergessen, wie leicht er anderen seine Zuneigung zeigen konnte, sogar Bran. »Lisa sagte, du hast Adam mitgebracht, und er ist in schlechter Verfassung?«

Selbstverständlich würde er wissen, wer der Anführer des Columbia-Rudels war. Adams Rudel waren die nächsten Werwolf-Nachbarn von Aspen Creek.

Ich nickte und öffnete die Rückseite des Busses, damit er sehen konnte, womit wir es zu tun hatten. Adam machte einen besseren Eindruck, als noch vor ein paar Stunden, aber das bedeutete nicht viel. Ich konnte die Knochen seiner Rippen nicht mehr sehen, aber sein Fell war von Blut verfilzt und voller Wunden.

Carl stieß einen leisen Pfiff aus, sagte aber nur: »Wir müssen ihm die Schnauze zubinden, bis wir ihn reingeschafft haben. Ich habe etwas im Jeep, was wir benutzen können.«

Er holte eine Art Sportbandage heraus und schlang sie um Adams Schnauze. Der Wolf öffnete kurz die Augen, wehrte sich aber nicht.

Es brauchte etliche Grunzer, einige Flüche und viel Schweiß, aber es gelang es uns beiden schließlich, Adam ins Zimmer zu bringen.

Sobald wir ihn im Bett hatten, bat ich Carl, zurückzutreten, bevor ich den Verband abwickelte und den Wolf befreite. Ich war schnell, aber Adam erwischte meinen Unterarm dennoch mit einem Reißzahn und riss ihn auf. Ich sprang zurück, als er sich auf die Seite rollte und versuchte, aufzustehen, weil er sich gegen die Schmerzen, die wir ihm verursacht hatten, verteidigen wollte.

»Raus«, sagte Carl und hielt die Tür für mich auf.

Ich gehorchte, und wir schlossen die Tür hinter uns. Carl drückte sie zu, während ich den Schlüssel einsteckte. Anders als bei den meisten Motelzimmern funktionierte das Schloss von Nummer eins von beiden Seiten und war genau für solche Situationen wie die gedacht, in der wir uns gerade befanden. Die Fenster des Zimmers waren vergittert, die Luftschlitze versiegelt. Nummer eins diente als Gefängnis oder als Krankenstation, und manchmal als beides.

Adam befand sich in Sicherheit – zumindest im Augenblick. Sobald er wieder ein wenig zu Kräften gekommen war, konnte es jedoch immer noch problematisch werden, bis ich Bran fand.

»Weißt du, wohin Bran die neuen Wölfe gebracht hat?«, fragte ich und schloss die Hintertür des Busses. Carl hatte mich nicht nach Mac gefragt – er hatte keine Wolfsnase, die ihm sagte, was sich unter der Plane befand –, und ich war zu dem Schluss gekommen, dass Mac noch eine Weile länger im Bus bleiben konnte. Bran würde dann entscheiden, was aus der Leiche werden sollte.

»Den solltest du jetzt lieber nicht suchen, Mercy«, sagte Carl. »Zu gefährlich. Warum kommst du nicht mit mir nach Hause? Wir geben dir etwas zu essen, während du wartest.«

»Wie viele Wölfe sind noch in der Siedlung geblieben?«, fragte ich. »Gibt es jemanden, der sich Adams Wolf widersetzen könnte?«

Das war der Nachteil der Dominanz. Wenn man mondsüchtig wurde, riss man jeden, der weniger dominant war, mit sich.

Carl zögerte. »Adam ist noch ziemlich schwach. Bran wird bei Anbruch der Dunkelheit zurück sein.«

Etwas warf sich im Motelzimmer gegen die Tür, und wir zuckten beide zusammen.

»Er hat sie in die Schlucht der Liebenden gebracht«, sagte Carl resigniert. »Sei vorsichtig.«

»Bran wird die Neuen schon beherrschen«, sagte ich. »Es wird alles gut gehen.«

»Ich mache mir keine Sorgen wegen der Neuen. Aber du hast hier immer noch ein paar Feinde, Mädchen.«

Ich lächelte angespannt. »Ich kann nicht ändern, was ich bin. Wenn sie meine Feinde sind, dann nicht, weil ich das so wollte.«

»Das weiß ich. Aber sie werden dich immer noch umbringen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen.«


Die Liebenden waren zwei Bäume, die nahe dem Eingang zu einer kleinen Schlucht etwa zehn Meilen nördlich der Stadt standen. Ihre Stämme waren miteinander verschlungen. Ich parkte neben zwei älteren Landrovers, einem relativ neuen Chevy Tahoe und einem HumVee – der teuren Version. Charles, Brans Sohn, war ein Finanzgenie, und das Rudel des Marrok würde niemals an Straßenecken betteln müssen. Als ich von Aspen Creek aufgebrochen war, hatte ich zehntausend Dollar auf dem Konto gehabt, Ergebnis meiner minimalen Verdienste, die Charles investiert hatte.

Ich zog mich im Bus aus, sprang in den knietiefen Schnee und schloss die Tür. Hier in den Bergen war es kälter als in Troy, und der Schnee hatte eine Kruste aus harten Kristallen, die in die nackte Haut meiner Füße schnitten.

Ich veränderte mich so schnell ich konnte. Es wäre vielleicht sicherer gewesen, als Mensch unterwegs zu sein, aber ich hatte keine passende Kleidung für eine Winterwanderung in Montana. Ich bin nicht einmal sicher, ob so etwas überhaupt existiert. In der Kojotengestalt macht mir die Kälte nicht viel aus.

In den letzten Jahren hatte ich mich an Stadtgeräusche und -gerüche gewöhnt. Die Waldgerüche waren nicht weniger ausgeprägt, aber anders: Fichten, Zitterpappeln und Tannen statt Abgasen, gebratenem Fett und Menschen. Ich hörte das laute Klappern eines Spechts und dann schwach das Heulen eines Wolfs – zu tief für einen Timberwolf.

Der frische Schnee, der immer noch fiel, hatte ihre Spuren gut verborgen, aber ich konnte sie immer noch riechen. Bran und seine Gefährtin Leah hatten die Zweige einer weißen Kiefer gestreift. Und wo der Boden halb von Felsen bedeckt war, bemerkte ich Charles’ Spuren. Sobald meine Nase mich an die richtigen Orte führte, konnte ich sehen, wo ihre Pfoten den alten Weg berührt hatten, und dann fiel es mir nicht mehr schwer, ihnen zu folgen.

Ich zögerte allerdings, als diese Wolfsspuren sich trennten. Bran hatte die neuen Wölfe genommen – es schien drei von ihnen zu geben – und Leah und seine Söhne Charles und Samuel hatten einen anderen Kurs eingeschlagen, wahrscheinlich, um Wild zu finden und es zu dem Rest zurückzutreiben.

Ich musste Bran finden und ihm berichten, was geschehen war, damit er sich um Adam kümmern konnte – aber stattdessen folgte ich Sams Spur. Ich konnte einfach nicht anders. Ich hatte ihn geliebt, seit ich vierzehn war.


Nicht, dass ich ihn jetzt noch liebe, versicherte ich mir selbst, als ich der Spur einen Steilhang hinab folgte und dann eine Hügelkette hinauf, wo der Schnee wegen des stetigen Windes nicht so tief war.

Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war ich noch ein Teenager, dachte ich. Seitdem hatte ich nicht mehr mit ihm gesprochen, und er hatte nicht versucht, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Dennoch, es war seine Nummer gewesen, die ich angerufen hatte. Ich hatte nicht einmal daran gedacht, mich an jemand anderen zu wenden.

Bei diesem Gedanken fiel mir auf, wie still der Wald hinter mir geworden war.

Winterliche Wälder waren im Allgemeinen still. Die Vögel, von ein paar Kleibern, Seidenschwänzen und dem Specht, den ich gehört hatte, abgesehen, waren nach Süden gezogen. Aber nun lag eine Unheil verkündende Note in der Stille hinter mir, zu schwer, um einfach nur vom Wetter zu stammen. Ich wurde verfolgt.

Ich sah mich nicht um, und ich wurde auch nicht schneller. Werwölfe jagen die Beute, die davonläuft.

Ich war nicht wirklich verängstigt. Bran befand sich irgendwo da draußen, und Samuel war noch näher bei mir. Ich konnte den irdenen Duft von Gewürz und Moschus wittern, der nur ihm allein gehörte – der Wind trug ihn zu mir. Die Spuren, denen ich folgte, waren vor mehreren Stunden entstanden. Er musste auf dem gleichen Weg zurückgekehrt sein, sonst wäre er für diesen Geruch zu weit entfernt gewesen.

Die neuen Wölfe befanden sich alle bei Bran, und der, der mir folgte, war allein; wenn es mehr als einer gewesen wäre, hätte ich das gemerkt. Also brauchte ich mir keine Gedanken zu machen, dass die neuen Wölfe mich aus Versehen umbrachten, weil sie mich für eine Kojotin hielten.

Ich ging auch nicht davon aus, dass Charles mich verfolgte. Es wäre unter seiner Würde, mich zu erschrecken. Samuel spielte gerne Streiche, aber der Wind lügt nicht, und er sagte mir, dass Sam sich vor mir befand.

Ich war ziemlich sicher, dass es sich um Leah handelte. Sie würde mich nicht umbringen, ganz gleich, was Carl angedeutet hatte – nicht, solange sie nicht sicher sein konnte, dass Bran es nicht herausfinden würde –, aber sie würde mir wehtun, weil sie mich nicht mochte. Keine der Frauen in Brans Rudel mochte mich.

Der Wind, der Samuels Geruch mit sich trug, kam überwiegend aus dem Westen. Die Bäume auf dieser Seite waren junge Tannen, wahrscheinlich nach einem Feuer gewachsen, das vor etwa einem Jahrzehnt gebrannt haben musste. Sie standen in einer dichten Schonung beisammen, die mich nicht verlangsamen würde, aber ein Werwolf war ein bisschen größer als ich.

Ich kratzte mich mit der Hinterpfote am Ohr und nutzte die Bewegung, um hinter mich zu schauen. Es gab nichts zu sehen, also musste sich meine Verfolgerin weit genug hinter mir befinden, dass ich die dichteren Bäume erreichen konnte. Ich nahm den Fuß herunter und flitzte in die Schonung.

Die Wölfin hinter mir heulte ihr Jagdlied. Ein Wolf auf der Jagd wird vom Instinkt geleitet, sonst hätte Leah niemals ein Geräusch gemacht – denn sofort antwortete ein Chor anderer Wölfe. Die meisten klangen, als wären sie eine Meile oder so weiter in den Bergen, aber Samuel antwortete ihrem Ruf keine hundert Schritt vor mir. Ich änderte meinen Weg entsprechend und schlängelte mich durch das Baumdickicht zur andern Seite, wo Samuel sein musste.

Er blieb starr stehen, als er mich sah – ich nehme an, er erwartete einen Hirsch oder ein Wapiti, keine Kojotin. Und ganz sicher nicht mich.

Samuel war groß, selbst für einen Werwolf. Sein Fell war winterweiß, und seine Augen schienen beinahe die gleiche Schattierung zu haben, ein eisiges Weißblau, kälter als der Schnee, durch den ich lief, und noch verblüffender wegen des schwarzen Rings um die Iris. Es gab genug Platz für mich, unter seinem Bauch hindurch und zu der anderen Seite wegzuflitzen, was ihn zwischen mich und meine Verfolgerin brachte.

Bevor er Gelegenheit hatte, mehr zu tun als mich verblüfft anzusehen, erschien Leah, eine gold- und silberfarbene Jägerin, auf ihre eigene Weise ebenso schön wie Samuel, Licht und Feuer, wo er Eis war. Sie entdeckte ihn und kam mit einem unschönen Rutschen zum Stehen. Ich nahm an, sie war so auf die Jagd konzentriert gewesen, dass sie nicht auf Samuels Ruf geachtet hatte.

Ich konnte spüren, wie ihm klar wurde, wer ich war. Er legte den Kopf schief und erstarrte. Ja, er erkannte mich eindeutig, aber ich hätte nicht sagen können, was er davon hielt. Einen Augenblick später drehte er sich zu Leah um.

Leah duckte sich und rollte auf den Rücken – dabei hätte sie als Brans Gefährtin einen höheren Rang haben sollen als Samuel. Wenig beeindruckt von dem Theater fletschte er die Lippen und knurrte, ein grollendes Geräusch, das tief in meiner Brust widerhallte. Es fühlte sich an wie alte Zeiten. Samuel beschützte mich vor dem Rest des Rudels.

Ein Wolf heulte in größerer Nähe als zuvor, und Samuel hörte lange genug auf zu knurren, um zu antworten. Er schaute erwartungsvoll nach Norden, und ein paar Minuten später kamen zwei weitere Wölfe in Sicht. Der Erste hatte die Farbe von Zimt und vier schwarze Füße. Er war sogar noch eine Spur größer als Samuel.

Der zweite war erheblich kleiner. Aus einem gewissen Abstand hätte er als einer der Wölfe durchgehen können, die erst in diesem Jahrzehnt angefangen hatten, nach Montana zurückzukehren. Sein Fell hatte alle Schattierungen von Weiß und Schwarz, die sich zu einem mittleren Grau verbanden. Seine Augen waren golden, und sein Schwanz hatte eine weiße Spitze.

Charles, der zimtfarbene Wolf, blieb am Rand der Bäume stehen und fing an, sich zu verwandeln. Er stellte unter Werwölfen eine Seltenheit dar, denn er war ein natürlich geborener Werwolf. Niemand hatte ihn zu dem gemacht, was er war. Charles war der Einzige seiner Art, von dem ich je gehört hatte.

Charles’ Mutter war eine Eingeborene gewesen, eine Salish, die Tochter eines Medizinmanns. Sie hatte im Sterben gelegen, als Bran ihr kurz nach seiner Ankunft in Montana begegnet war. Wenn ich meiner Pflegemutter glauben durfte, die mir die Geschichte erzählte, war Bran von ihrer Schönheit so beeindruckt gewesen, dass er sie nicht einfach sterben lassen konnte, und so hatte er sie verändert und zu seiner Gefährtin gemacht. Ich hatte mir nie vorstellen können, dass Bran einmal auf den ersten Blick so verliebt gewesen sein sollte, aber vielleicht war er vor zweihundert Jahren wirklich anders gewesen.

Als sie schwanger wurde, nutzte sie jedenfalls das magische Wissen, das ihr Vater ihr gegeben hatte, um sich zum Herbstmond nicht zu verändern. Weibliche Werwölfe können keine Kinder bekommen; die Veränderung ist zu brutal, als dass der Fötus überleben könnte. Aber Charles’ Mutter, die Tochter ihres Vaters, verfügte über ein wenig eigene Magie. Es gelang ihr, Charles auszutragen, aber das schwächte sie so, dass sie kurz nach seiner Geburt starb. Sie hinterließ ihrem Sohn zwei Talente. Das erste bestand darin, sich leichter und schneller verändern zu können als andere Werwölfe. Das zweite war eine magische Begabung, die bei Werwölfen ungewöhnlich ist. Brans Rudel brauchte keinen Hexer einzustellen, um hinter ihnen aufzuräumen, sie hatten Charles.

Bran, der kleinere der beiden Wölfe, ging weiter zu der Stelle, wo ich auf ihn wartete. Samuel trat widerstrebend beiseite, obwohl er sich immer noch vorsichtig zwischen Leah und mir hielt.

Bran strahlte keinerlei Macht aus, nicht wie seine Söhne oder Adam – ich bin nicht sicher, wie er das anstellte. Man hat mir erzählt, dass manchmal selbst ältere Werwölfe, deren Sinne schärfer sind als meine, ihn wegen seiner geringen Größe schon für einen echten Wolf oder gar einen Wolfshund gehalten haben.

Ich weiß nicht, wie alt er ist, nur, dass er schon alt war, als er im 18. Jahrhundert als Fallensteller in dieses Land kam. Er begleitete den walisischen Kartographen David Thompson in diesen Bereich von Montana und ließ sich dann mit seiner Salish-Gefährtin dort nieder.

Nun kam er auf mich zu und berührte mich mit der Schnauze hinter dem Ohr. Ich brauchte nicht unterwürfig niederzusinken, um kleiner als er zu sein, aber ich hockte mich dennoch hin. Er umschloss meine Nase mit dem Maul und ließ sie wieder los – gleichzeitig Willkommen und sanfter Tadel, obwohl ich nicht sicher war, um was es bei dem Tadel ging.

Sobald er mich losgelassen hatte, stolzierte er an Samuel vorbei und starrte seine Frau nieder, die immer noch im Schnee lag. Sie winselte nervös, und er fletschte unzufrieden die Zähne. Offenbar betrachtete er mich nicht als Freiwild, obwohl er mich einmal gebeten hatte, zu gehen.

Bran wandte Leah den Rücken zu, um Charles anzusehen, der die Verwandlung beendet hatte und nun hoch aufgerichtet als Mensch dastand. Charles’ Züge waren vollkommen indianisch, als wäre das Einzige, das er von seinem Vater geerbt hatte, die Fähigkeit zur Verwandlung.

Man hatte mir erzählt, dass amerikanische Eingeborene dazu tendierten, im Bezug auf ihren Körper schüchtern zu sein. Auf Charles traf das zweifellos zu. Er hatte seine Magie genutzt, um sich Kleidung zu verschaffen, und stand nun in einer fellbesetzten Bärenhaut da, die aussah, als stamme sie aus einem anderen Jahrhundert.

Ich hingegen fühlte mich wie die meisten Gestaltwandler nackt beinahe ebenso wohl wie bekleidet – außer mitten im November in den Rockies, wenn ein kalter Wind aus dem Nordwesten blies und die Temperatur noch weiter senkte und überdies Schnee fiel. Und sobald Charles dazu ansetzte, etwas zu sagen, würde ich zum Menschen werden müssen, damit ich mit ihm reden konnte.

»Mein Vater heißt dich auf dem Territorium des Marrok willkommen«, verkündete Charles in dem flachen Tonfall der Salish und mit einer kleinen Spur walisischen Lispelns, die bei Bran eigentlich nie zu hören war, es sei denn, er war wirklich wütend. »Er fragt sich jedoch, wieso du dich entschieden hast, gerade jetzt zu uns kommen.«

Ich nahm Menschengestalt an, trat rasch den Schnee weg und kniete mich dann hin, um weiterhin kleiner als Bran zu sein. Die Kälte des Windes und des Schnees unter meinen Schienbeinen raubte mir einen Moment lang den Atem. Samuel stellte sich zwischen mich und den schlimmsten Wind, aber selbst das half nicht viel.

»Ich bin in einer Rudelangelegenheit hier«, sagte ich.

Charles zog die Brauen hoch. »Du riechst nach Blut und Tod.« Er hatte immer eine gute Nase gehabt.

Ich nickte. »Ich habe den Alpha des Columbia-Rudels hergebracht. Er ist schwer verwundet. Ich habe auch die Leiche eines anderen Wolfs dabei, in der Hoffnung, dass jemand hier mir sagen kann, wie er gestorben ist, und wer ihn umgebracht hat.«

Bran gab ein leises Geräusch von sich, und Charles nickte. »Sag uns, was jetzt gleich geschehen muss. Du kannst uns die Einzelheiten später berichten.«

Also fasste ich zusammen, was ich wusste, und so knapp wie möglich, angefangen mit Macs Geschichte, wie er sie mir erzählt hatte, bis hin zu Macs Tod, Adams Wunden und Jesses Entführung. Als ich fertig war, klapperten meine Zähne so sehr, dass ich mich selbst kaum verstehen konnte. Selbst als ich mich wieder in die Kojotin verwandelte, wurde ich nicht wirklich warm.

Bran warf einen Blick zu Samuel hinüber, der einmal bellte und schnell davonrannte.

»Bran wird die Jagd mit den Neuen beenden«, sagte Charles. »Es ist ihre erste Jagd, und sie sollte nicht abgebrochen werden. Samuel kehrt zurück, um sich um Adam zu kümmern – er nimmt einen kürzeren Weg als die Autos, also wird er vor uns dort sein. Ich fahre mit dir zurück und kümmere mich um deinen Toten.«

Nach Charles’ Worten trabte Bran in den Wald, ohne mir noch einen weiteren Blick zu gönnen. Leah erhob sich aus ihrer unterwürfigen Pose und knurrte mich an – als wäre es mein Fehler, dass sie sich Ärger eingebrockt hatte – und folgte ihm.

Charles, immer noch in Menschengestalt, ging in Richtung der Autos davon. Er war nie sonderlich gesprächig gewesen, und da ich mich immer noch auf vier Beinen befand und deshalb stumm war, machte er sich nicht die Mühe, etwas zu sagen. Höflich wartete er auf der Beifahrerseite des Busses, während ich mich wieder verwandelte und schnell meine Sachen überzog.

Er hatte nichts dagegen, dass ich fuhr, wie es bei Samuel der Fall gewesen wäre. Ich hatte Charles nie am Steuer eines Autos gesehen; er zog es vor, auf einem Pferderücken oder als Wolf unterwegs zu sein. Er setzte sich auf den Beifahrersitz und schaute nur einmal hinter sich zu der Leiche unter der Plane. Ohne einen Kommentar legte er den Gurt an.

Als wir das Motel erreichen, parkte ich an der Bürotür. Drinnen wartete Carl mit einer jungen Frau mit verweinten Augen – das war wohl Marlie, obwohl ich nichts von der Sechsjährigen, die ich gekannt hatte, wiedererkennen konnte.

»Mercedes braucht ein Zimmer«, sagte Charles.

Carl stellte keine Fragen, sondern reichte mir nur einen Schlüssel. »Das hier liegt auf der von der Straße abgewandten Seite, so weit entfernt von Nummer eins entfernt wie möglich.«

Mein Blick fiel auf die Nummer 18, die sich auf dem Schlüssel befand. »Weiß du nicht, dass du keine Zimmernummern mehr auf den Schlüssel schreiben sollst?«, fragte ich.

»Wir haben hier nicht viel Ärger mit Einbrüchen«, antwortete Carl lächelnd. »Außerdem weiß ich, dass du ein paar Jahre hier gearbeitet hast. Wenn man von Nummer eins einmal absieht, gibt es nur drei unterschiedliche Schlüssel für alle Zimmer.«

Ich lächelte ihn an und warf den Schlüssel einmal hoch, um ihn wieder einzufangen. »Stimmt.«

Charles öffnete die Tür für mich. »Wenn du dein Gepäck holst und mir deine Wagenschlüssel gibst, kümmere ich mich um die Leiche.«

Ich muss wohl überrascht ausgesehen haben..

»Keine Sorge«, sagte er trocken. »Ich lasse Carl fahren.«

»Kein Gepäck«, sagte ich. Ich holte die Schlüssel heraus, reichte sie ihm und berührte dabei seine Hand, bevor er sie zurückziehen konnte. »Mac war ein guter Mann«, sagte ich, ohne wirklich zu wissen, wieso ich das tat.

Charles neigte nicht zu beiläufigen Gesten. Ich hatte immer angenommen, dass er mich verachtete, obwohl er mich mit der gleichen zerstreuten Höflichkeit behandelte wie alle anderen. Aber nun legte er die freie Hand auf meinen Hinterkopf und zog meine Stirn kurz an seine Schulter.

»Ich werde mich um ihn kümmern«, versprach er, als er zurücktrat.

»Sein voller Name lautete Alan MacKenzie Frazier.«

Er nickte. »Ich sorge dafür, dass er gut behandelt wird.«

»Danke«, sagte ich, dann drehte ich mich um und ging auf mein Zimmer, damit die anderen nicht sahen, dass ich wieder zu weinen begann.