11

Hinter einer der Türen im Flur gab es einen Fahrstuhl. Stefan lehnte sich erschöpft an die Wand; er trug Samuel, der blutig und reglos war, aber immer noch atmete.

»Bist du sicher, dass er wieder in Ordnung kommt?«, fragte ich nicht zum ersten Mal.

»Er wird nicht daran sterben«, erklärte Stefan, was nicht ganz das Gleiche war.

Der Fahrstuhl kam kaum merklich zu Stehen, und die Türen öffneten sich und gaben den Blick auf eine Küche frei. Helles Licht schimmerte auf Ahornholz und cremefarbenen Arbeitsplatten aus Stein. Es gab keine Fenster, aber man hatte auf sehr kluge Art Spiegel eingesetzt, und von hinten beleuchtete Buntglaspaneele entschädigten ebenfalls für den Mangel an Ausblick. Nahe dem Kühlschrank befand sich etwas, was mich noch mehr interessierte: eine Tür, die nach draußen zu führen schien. Ich wartete nicht auf Stefan, sondern riss sie auf und eilte hinaus auf den gepflegten Rasen. Erst als ich bebend einatmete und die Luft eher nach Staub und Abgasen roch als nach den Vampiren, erkannte ich, dass ich gerade das Haupthaus verlassen hatte.

»Die Häuser sind durch die Tunnel miteinander verbunden«, stellte ich fest, als Stefan die Hintertreppe herunterkam.

»Keine Zeit zum Reden«, knurrte er.

Ich sah ihn an und bemerkte, dass er mit Samuels Gewicht rang.

»Ich dachte, Vampire wären stark genug, um Bäume auszureißen«, sagte ich.

»Nicht, nachdem Marsilia ein Hühnchen mit ihnen gerupft hat.« Er veränderte seinen Griff, um Samuel besser halten zu können.

»Warum kein Feuerwehrgriff?«, fragte ich.

»Weil ich ihn nicht so tragen will, wenn er aufwacht – er wird kein sehr glücklicher Wolf sein. So kann ich ihn absetzen und schnell aus dem Weg gehen, wenn ich muss.«

»Ich trage ihn«, erklang plötzlich eine fremde Stimme.

Stefan drehte sich mit einem Fauchen um, und zum ersten Mal sah ich seine Reißzähne weiß und spitz in der Nacht leuchten.

Ein anderer Vampir stand neben uns, in Jeans und einem bis zur Taille offenen weißen Piratenhemd, die man üblicherweise auf Mittelaltermärkten und in Errol-Flynn-Filmen sieht. Es sah nicht gut an ihm aus. Seine Schultern waren zu schmal, und sein flacher Bauch wirkte eher leichenhaft als sexy – oder vielleicht hatte ich an diesem Abend auch einfach genug von Vampiren, um ihn toll zu finden.

»Friede, Stefan.« Der Vampir hob die Hand. »Marsilia dachte, du könntest Hilfe brauchen.«

»Du meinst, sie will Dr. Cornick lieber nicht hier haben, wenn er aus dem Bann des Kusses erwacht.« Stefan entspannte sich ein wenig. »Also gut.«

Sie luden Stefan von einem Vampir zum andern – der Neue litt offenbar nicht unter Stefans Problemen, denn er hob sich den Werwolf problemlos auf die Schulter.

Die Nacht war still, aber etwas lauerte in ihr, etwas, das ich von der Jagd her kannte. Jemand mit großer Selbstbeherrschung beobachtete uns – keine große Überraschung. Schweigend gingen wir weiter durch den Garten und das Haupttor, das in der Zwischenzeit weit geöffnet worden war.

Ich schob die Tür des Busses auf und zeigte auf die lange Bank. Der wie ein Pirat gekleidete Vampir nahm Samuel von seiner Schulter und legte ihn auf den hinteren Rücksitz. So viel Kraft wirkte auf mich bei Vampiren noch viel unheimlicher als bei Werwölfen – die Wölfe sahen zumindest meist aus wie Leute, die stark sein sollten.

Nachdem Samuel sicher untergebracht war, wandte sich der Vampir mir zu.

»Mercedes Thompson«, begann er. »Meine Herrin dankt Ihnen für Ihren Besuch, der uns gestattet hat, Probleme zu entdecken, die wir anderweitig nicht bemerkt hätten. Sie bedankt sich auch dafür, dass Sie ihr erlaubten, ihre Ehre und die ihres Vasallen Stefano Uccello zu wahren.« Er bemerkte meine Skepsis und lächelte. »Sie sagt, sie sei noch nie von einem Schaf zurückgestoßen worden. Kreuze, Schriften und Weihwasser, ja, aber kein Schaf.«

»Das Lamm Gottes«, erklärte Stefan. Er sah beinahe wieder aus wie immer, mit einem Ellbogen an die Tür des Busses gelehnt. »Ich dachte auch nicht, dass es funktionieren würde. Sonst hätte ich es selbstverständlich Estelle geben müssen.«

»Selbstverständlich.« Der andere Vampir schenkte mir ein weiteres schnelles, liebenswertes Lächeln. »In jedem Fall möchte ich Signora Marsilias Entschuldigungen auch ausdehnen auf alles Unbehagen, das Sie oder einer der Ihren in dieser Nacht erfahren haben, und ich hoffe, Sie werden in unserem Namen auch gegenüber Dr. Cornick unser Bedauern ausdrücken. Bitte erklären Sie ihm, dass die Herrin ihn nicht verletzen wollte, ihre Indisposition der letzten Zeit jedoch dazu führte, dass einige ihrer Leute … widerspenstig wurden. Man wird sie bestrafen.«

»Sagen Sie der Signora, ihre Entschuldigungen sind sehr großmütig, und ich bedauere ebenfalls jede Unannehmlichkeit, die sie diese Nacht erlitt«, log ich. Aber ich hatte es offenbar gut gemacht, denn Stefan nickte unauffällig und anerkennend.

Der Vampir verbeugte sich, dann reichte er mir Samuels Kreuz, das er vorsichtig an der Kette hielt, und ein kleines Blatt Papier von der dicken, handgemachten Art. Es roch nach den gleichen Kräutern wie das Haus, und in einer fließenden Handschrift, die offenbar ihre ersten Schreibversuche mit einer Feder vollzogen hatte, war eine Adresse in Kennewick notiert.

»Die Herrin hat vorgehabt, Ihnen dies selbst zu geben, bat mich aber, Ihnen noch mehr zu auszurichten. Die Wölfe haben uns für das Recht, diese Adresse für zwei Monate zu nutzen, knapp zehntausend Dollar gezahlt.«

Stefan richtete sich auf. »Das ist zu viel. Warum hat sie ihnen so viel berechnet?«

»Das hat sie nicht. Sie haben uns ohne Verhandlungen bezahlt. Ich habe meiner Sorge wegen der Seltsamkeit dieser Transaktion Ausdruck verliehen, aber …« Er warf Stefan einen Blick zu und zuckte die Achseln.

»Marsilia ist nicht mehr sie selbst, seit sie aus Mailand hierher ins Exil geschickt wurde«, erklärte Stefan. Er sah den anderen Vampir an. »In dieser Hinsicht ist das, was heute Nacht passierte, gut. Unsere Herrin wieder mutig zu sehen, ist ein wahres Wunder, Andre.«

»Wunder« war nicht unbedingt das Wort, das ich gewählt hätte.

»Das hoffe ich«, erklärte der andere heiser. »Aber sie hat zwei Jahrhunderte geschlafen. Wer weiß, was nun geschehen wird? Du bist diesmal vielleicht schlauer gewesen, als gut für dich ist.«

»War ich nicht«, murmelte Stefan. »Jemand hat versucht, uns Ärger zu machen. Unsere Herrin sagte, ich dürfe mich umhören.«

Die beiden Vampire starrten einander an, und keiner von ihnen atmete.

Schließlich fuhr Stefan fort: »Was immer sie wollten, es ist ihnen gelungen, sie endlich zu wecken. Wenn sie meine Gäste nicht in Gefahr gebracht hätten, würde ich niemals etwas gegen sie unternehmen.«

Vampirpolitik, dachte ich. Menschen, Werwölfe oder Vampire, das ist alles gleich; bring mehr als drei von ihnen zusammen, und sie rangeln sofort um die Machtpositionen.

Mit dieser Situation kannte ich mich aus. Ältere Wölfe zogen sich oft aus der sich so schnell verändernden Welt zurück, und einige lebten wie Eremiten in ihren Höhlen und kamen nur zur Jagd heraus. Irgendwann verloren sie dann auch daran das Interesse. Es klang, als habe Marsilia sich in einem ähnlichen Zustand befunden. Offenbar fanden einige Vampire es ganz in Ordnung, von ihrer Herrin vernachlässigt zu werden, aber Stefan nicht. Dieser Andre klang, als wisse er nicht, auf welcher Seite er stand. Ich befand mich selbstverständlich auf der Seite, auf welcher man in Ruhe gelassen wird.

»Die Herrin hat mich auch beauftragt, dir etwas zu geben«, sagte Andre gerade zu Stefan.

Es gab ein Geräusch wie das Krachen einer Kugel, und Stefan taumelte plötzlich gegen den Bus, eine Hand am Gesicht. Erst als die schwache Rötung eines Handabdrucks auf seiner Wange erschien, wurde mir klar, was geschehen war.

»Ein Vorgeschmack«, sagte Andre. »Heute hat sie zu tun, aber morgen wirst du in der Abenddämmerung vorbeikommen. Du hättest ihr sagen sollen, was Mercedes Thompson ist, als du es erfahren hast. Du hättest die Herrin warnen sollen, damit sie es nicht selbst herausfinden musste, als der Walker sich gegen ihre Magie stellte. Du hättest sie nicht hierher bringen dürfen.«

»Sie hat keinen Pfahl und kein Weihwasser mitgebracht.« Stefan ließ sich nicht anmerken, ob der Schlag ihn gestört hatte. »Sie stellt keine Gefahr für uns dar – sie versteht kaum, was sie ist, und es gibt niemanden, der es sie lehrt. Sie jagt keine Vampire und greift auch die, die sie in Ruhe lassen, nicht an.«

Andre riss den Kopf schneller herum, als jemand es können sollte, und sah mich an. »Stimmt das, Mercedes Thompson? Sie jagen uns nicht?«

Ich war müde, machte mir Sorgen um Samuel und war irgendwie überrascht, meine Begegnung mit Signora Marsilia und ihren Leuten unversehrt überlebt zu haben.

»Ich jage nur hin und wieder einen Hasen, eine Maus oder einen Fasan«, sagte ich. »Jedenfalls bis zu dieser Woche.« Und wenn ich nicht so müde gewesen wäre, hätte ich diesen letzten Satz nie von mir gegeben.

»Und was ist mit dieser Woche?« Es war Stefan, der das fragte.

»Kürzlich habe ich zwei Werwölfe umgebracht.«

»Sie haben zwei Werwölfe getötet?« Andre warf mir einen Blick zu, den man kaum als schmeichelhaft bezeichnen konnte. »Ich nehme an, Sie mussten sich verteidigen und hatten zufällig eine Waffe dabei.«

Ich schüttelte den Kopf. »Einer von ihnen war mondsüchtig – er hätte jeden in seiner Nähe umgebracht. Ich habe ihm die Kehle aufgerissen, und er ist verblutet. Den anderen habe ich erschossen, bevor er den Alpha umbringen konnte.«

»Ihm die Kehle aufgerissen?«, murmelte Stefan, während Andre eindeutig nicht wusste, was er glauben sollte oder nicht.

»Ich war in Kojotengestalt und versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen, damit er mich jagte.«

Stefan sah mich stirnrunzelnd an. »Werwölfe sind schnell.«

»Das weiß ich«, sagte ich gereizt. »Aber ich bin schneller.« Ich musste an die wilde Jagd mit Brans Gefährtin denken und fügte hinzu: »Meistens jedenfalls. Ich hatte nicht vor, ihn umzubringen –«

Jemand schrie auf und unterbrach mich. Wir warteten, aber es wiederholte sich nicht mehr.

»Ich sollte mich lieber um die Signora kümmern«, sagte Andre und war dann einfach verschwunden.

»Ich fahre«, sagte Stefan. »Du solltest hinten bei Dr. Cornick bleiben, damit jemand, dem er vertraut, bei ihm ist, wenn er aufwacht.«

Ich gab ihm die Schlüssel und sprang in den Bus.

»Was wird passieren, wenn er wach wird?«, fragte ich, als ich mich auf den Rücksitz niederließ und Samuels Kopf hob, um ihn in meinen Schoß zu legen. Meine Hand strich über sein Haar und seinen Nacken. Seine Halswunden waren bereits verschorft und rau unter meiner leichten Berührung.

»Vielleicht gar nichts«, sagte Stefan, setzte sich auf den Fahrersitz und ließ den Bus an. »Aber manchmal reagieren sie nicht gut. Signora Marsilia hat einmal Wölfe einer normaler Beute vorgezogen – deshalb hat sie ihren Platz in Italien verloren und wurde hierher geschickt.«

»Ist es tabu, sich von Werwölfen zu ernähren?«, fragte ich.

»Nein.« Er wendete den Bus und fuhr wieder die Einfahrt hinauf. »Sich vom Werwolf des Herrn der Nacht zu ernähren, ist tabu.«

Er sprach von diesem Herrn der Nacht, als hätte ich wissen sollen, wer er war, also fragte ich: »Wer ist der Herr der Nacht?«

»Der Meister von Mailand – zumindest war das einmal so.«

»Wann?«

»Vor mehr oder weniger zweihundert Jahren. Er schickte Signora Marsilia hierher ins Exil, zusammen mit denen, die Ihr Gefolgschaft schuldeten.«

»Vor zweihundert Jahren gab es hier überhaupt nichts«, stellte ich fest.

»Es heißt, sie haben eine Nadel in eine Landkarte gesteckt. Du hast recht, es gab hier nichts. Nichts als Wüste, Staub und Indianer.« Er rückte den Rückspiegel zurecht, damit er mich sehen konnte, und sein Blick traf den meinen, als er fortfuhr. »Indianer und etwas, das wir nie zuvor gesehen hatten, Mercy. Gestaltwandler, die nicht vom Mond gerufen wurden. Männer und Frauen, die die Gestalt eines Kojoten annehmen konnten, wenn sie das wollten. Sie waren immun gegen die Magie, die uns gestattete, unentdeckt unter Menschen zu leben.«

Ich starrte ihn an. »Ich bin nicht immun gegen Magie.«

»Das habe ich auch nicht gesagt«, antwortete er. »Aber etwas von unserer Magie geht an dir vorbei. Warum, glaubst du, konntest du dich gegen Marsilias Zorn stellen, als wir anderen zu Boden fielen?«

»Das Lamm.«

»Es war nicht dein Schaf. Früher einmal hätte das, was du bist, dein Todesurteil bedeutet, Mercedes. Wir haben deine Art getötet, wo immer wir sie fanden, und sie taten das Gleiche mit uns.« Er lächelte mich an, und mein Blut gerann bei dem Ausdruck in diesen alten, kalten Augen. »Es gibt überall Vampire, Mercedes, und du bist der einzige Walker hier.«

Ich hatte Stefan immer für meinen Freund gehalten. Selbst mitten in der Siedhe hatte ich seine Freundschaft nicht in Frage gestellt, nicht wirklich. Wie dumm von mir.

»Ich kann mich selbst nach Hause fahren«, sagte ich.

Er richtete den Blick wieder auf die Straße vor sich und lachte leise, als er an den Straßenrand fuhr und parkte. Er stieg aus, ließ den Motor aber laufen. Ich ließ Samuels Schulter los und zwang mich, die Sicherheit des Rücksitzes zu verlassen.

Ich sah Stefan weder noch roch ich ihn, als ich ausstieg und zum Fahrersitz ging, aber ich konnte seinen Blick auf meinem Rücken spüren. Ich setzte dazu an loszufahren, dann nahm ich den Fuß wieder von Gas und trat auf die Bremse.

Ich rollte das Fenster herunter und sagte zur Dunkelheit: »Ich weiß, dass du dort nicht wohnst – du riechst nach Holzrauch und Popcorn. Soll ich dich nach Hause bringen?«

Er lachte. Ich zuckte zusammen, dann tat ich es noch einmal, als er sich ins Fenster lehnte und mir die Schulter tätschelte.

»Geh heim, Mercy«, sagte er und war verschwunden – diesmal wirklich.


Ich rollte hinter Lastern und Familienkutschen her und dachte an das, was ich gerade erfahren hatte.

Natürlich wusste ich, dass Vampire ebenso wie das Feenvolk, die Werwölfe und ihre Verwandten aus der Alten Welt stammten. Ihre Gründe, nach Nordamerika zu kommen, hatten sich nicht sonderlich von denen der meisten Menschen unterschieden: Sie hatten Wohlstand, Macht und Land erlangen oder sich vor Verfolgung und Not schützen wollen.

In der Renaissance waren Vampire ein offenes Geheimnis gewesen. In den italienischen und französischen Städten gelangten die Vampire zu Macht und Prestige. Dennoch gab es nie wirklich viele. Ebenso wie Werwölfe starben Menschen, die Vampire werden wollten, häufiger, als sie ihr Ziel erreichten. Die meisten Fürsten und Adligen, die vorgaben, Vampire zu sein, waren in Wirklichkeit einfach nur kluge Menschen, die diese Behauptung aufstellten, um mögliche Rivalen zu beeindrucken.

Die Priester sahen das anders. Als die Spanische Inquisition in der Neuen Welt begann, ihre Truhen zu füllen, damit die Kirche nicht mehr von der Gunst der Adeligen abhing, begann sie, die Vampire ebenso zu jagen wie alle anderen Übernatürlichen, die sie finden konnte.

Hunderte, wenn nicht Tausende starben, des Vampirismus, der Hexerei oder des Werwesentums bezichtigt. Nur ein kleiner Prozentsatz dieser Personen war tatsächlich Vampire, aber sie erlitten dennoch gewaltige Verluste – und die Menschen (ein Glück für sie) vermehren sich viel schneller als die Untoten.

Also kamen die Vampire in die Neue Welt, ebenso Opfer von religiöser Verfolgung wie die Quäker und Puritaner – nur ein wenig anders als diese. Werwölfe und ihre Verwandten kamen ebenfalls, um neue Jagdreviere zu finden. Das Feenvolk kam, um dem kalten Eisen der industriellen Revolution zu entkommen, das ihnen dennoch gnadenlos folgte. Zusammen zerstörte diese Einwanderung die meisten übernatürlichen Geschöpfe, die bis dahin in Amerika gelebt hatten, bis am Ende selbst die Geschichten über ihre Existenz beinahe verschwunden waren.

Und das war offenbar auch meiner Art geschehen.

Als ich die Einfahrt zum Highway nach Richland nahm, erinnerte ich mich an etwas, was meine Mutter mir einmal gesagt hatte. Sie hatte meinen Vater nicht besonders gut gekannt. In ihrer ansonsten beinahe leeren Schmuckschatulle befand sich eine silberne Gürtelschnalle, die er bei einem Rodeo gewonnen und ihr gegeben hatte. Mutter sagte, seine Augen hätten die Farbe von der Sonne beleuchteter Root Beers gehabt, und dass er schnarchte, wenn er auf dem Rücken schlief. Darüber hinaus weiß ich nur, dass er vielleicht überlebt hätte, wenn ihn jemand nach dem Unfall früher gefunden hätte. Er war nicht sofort tot gewesen. Etwas Scharfes hatte eine große Ader aufgerissen, und er war verblutet.

Hinten im Bus erklang ein Geräusch. Ich drehte den Rückspiegel, bis ich den Rücksitz sehen konnte. Samuel war wach, und er zitterte heftig.

Stefan hatte mir nicht gesagt, worin die Reaktion auf den Kuss bestehen konnte, aber ich war ziemlich sicher, dass ich es jetzt herausfinden würde. Ich kam gerade an der Abfahrt zum Columbia Park vorbeikam, und ich konnte noch rechtzeitig abbiegen, ohne dass mich jemand von hinten rammte.

Ich fuhr weiter, bis ich einen kleinen Parkplatz nahe einer Wartungshütte erreichte. Dort hielt ich an, schaltete das Licht aus, schlüpfte zwischen den Sitzen hindurch und näherte mich Samuel vorsichtig.

»Sam?«, sagte ich, und einen Herzschlag lang verlangsamte sich sein Kampf.

Seine Augen glitzerten im Schatten der Tiefe des Busses. Ich roch Adrenalin, Angst, Schweiß und Blut.

Ich musste mich gewaltig anstrengen, nicht auf der Stelle zu fliehen. Ein Teil von mir wusste, dass mein Fluchtreflex gerechtfertigt war, und der Rest fand bald heraus, warum einige Werwölfe so schlecht auf den Kuss eines Vampirs reagierten – aufzuwachen, sich nicht bewegen zu können und sich daran zu erinnern, dass jemand einem das Blut ausgesaugt hat, hätte wohl bei jedem Werwolf Panik ausgelöst.

»Ruhig«, sagte ich und hockte mich in den Raum zwischen dem zweiten Sitz und der Schiebetür. »Die Vampire sind weg, aber du spürst immer noch die Folgen ihres Bisses. Es macht ihre Opfer reglos, damit sie sich ernähren können, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Aber diese Wirkung lässt bei dir jetzt nach – Stefan sagte, es wird nicht mehr schlimmer werden.«

Er begann mir zuzuhören. Ich konnte es daran erkennen, wie sich die Verspannung seiner Schultermuskeln löste – und dann klingelte mein Handy.

Ich nahm den Anruf entgegen, aber der plötzliche Lärm war zu viel gewesen. Der Bus wackelte, als Samuel über den Rücksitz in den Gepäckraum dahinter kletterte.

»Hallo«, sagte ich leise.

»Mercy.« Warren klang eindringlich. »Du musst so schnell wie möglich herkommen – und bring Samuel mit.«

Samuel gab hinter dem Sitz gequälte Geräusche von sich. Die Veränderung ist immer schmerzhaft für Wölfe – selbst wenn es ihnen gut geht und sie versessen darauf sind, zu jagen. Sich zu verändern, wenn der Geruch von Angst und Blut schwer in der Luft hängt, ist noch schlimmer.

»Samuel geht es nicht gut«, sagte ich, als er aufschrie, ein verzweifeltes Brüllen. Er kämpfte gegen die Veränderung an.

Warren fluchte. »Dann sag mir eins – befürchtet Adam, dass jemand aus dem Rudel ihn verraten hat?«

»Es war wahrscheinlich mein Fehler, in dieser Hinsicht misstrauisch zu sein«, erwiderte ich. »Wieso, kommt das Rudel zu deinem Haus?«

Er knurrte. Ich nahm an, das sollte ein Ja sein.

»Sag es Adam.«

»Ich habe Steaks gemacht und ihn vor etwa einer Stunde gefüttert, und er schläft jetzt. Ich habe versucht, ihn zu wecken, bevor ich anrief, aber er hat sich tief in eine Heiltrance versetzt. Ich weiß nicht, was es brauchen würde, um ihn aufzuwecken.«

»Dr. Cornick würde es wissen«, murmelte ich und zuckte bei den Geräuschen zusammen, die Sam hinten im Bus von sich gab. »Aber er kann leider nicht ans Telefon kommen.«

»Schon gut, Mercy.« Warren klang plötzlich ruhiger. »Ich kümmere mich schon darum. Wenn das, was ich da höre, Samuel mitten in einer unfreiwilligen Verwandlung ist, dann musst du dort verschwinden und ihm Zeit geben, sich zu beruhigen.«

»Was? Und ihn allein mitten in Kennewick auf die Jagd gehen lassen? Ich glaube nicht.«

»Er wird dich nicht erkennen – nicht, wenn er sich so verändert. Es wird nicht Samuel, Brans Sohn, sein, sondern nur der Wolf.«

Die Geräusche hinter dem Sitz klangen nun mehr hündisch und weniger menschlich.

»Mercy, verschwinde aus dem Auto!«

»Es ist alles in Ordnung, Warren«, sagte ich und hoffte sehr, recht zu behalten.

Wölfe, die echten Wölfe, sind normalerweise keine bösartigen Tiere, es sei denn, sie sind verängstigt oder fühlen sich in die Enge gedrängt. Werwölfe hingegen sind immer bösartig und immer bereit, zu töten.

»Wenn es nicht funktioniert … sag Adam, dass die Vampire mich erwischt haben«, sagte ich. »Ich glaube nicht, dass er sich erinnern wird. In gewisser Weise wird es sogar stimmen. Die Vampire haben diese Veränderung erzwungen. Sag ihm das.« Ich legte auf.

Es war schon zu spät, um davonzulaufen, aber das hätte ich ohnehin nicht getan. Samuel mit dem Nachspiel seiner Wolfswut allein fertig werden lassen? Samuel war ein Heiler, ein Beschützer der Schwachen. Ich wusste nicht, ob er mit unschuldigem Blut an seinen Händen hätte weiterleben können.

Und ich hatte ihn schon einmal verlassen, vor langer Zeit. Das würde ich nicht noch einmal tun.

Die Geräusche wurden leiser, und nun konnte ich nur noch sein raues Hecheln hören und seinen Zorn spüren. Ich hielt mich nicht damit auf, mich auszuziehen, bevor ich die Gestalt veränderte – es hätte zu lange gedauert. Als Samuels weißer Kopf über dem Sitz erschien, schüttelte ich mir gerade T-Shirt und BH aus dem Fell.

Dann hörte ich mit allem auf, was ich tat, und duckte mich auf den Boden des Busses, den Schwanz zwischen den Beinen. Ich blickte nicht auf, aber ich hörte die Sprungfedern knarren, als Samuel langsam über die Banklehne kletterte und sich auf den Sitz stellte.

Ich hatte solche Angst, dass ich kaum atmen konnte. Ich wusste, was ich jetzt machen musste, war mir aber nicht sicher, ob ich es schaffen würde. Wenn ein Teil von mir nicht vollkommen überzeugt gewesen wäre, dass Sam, mein Sam, mir nie wehtun könnte, wäre ich nicht imstande gewesen, die nächsten Momente hinter mich zu bringen.

Er war vollkommen still. Wenn sie in Montana auf der Jagd sind, heulen und schreien die Wölfe, aber in der Stadt geschieht alles lautlos. Knurren, Winseln und Bellen, das sind alles Bluffs – es ist der stille Wolf, der dich töten wird.

Während Samuel reglos auf dem Rücksitz stand, rollte ich mich auf den Rücken und bot meinen Bauch seinen Zähnen dar. Ich reckte das Kinn, sodass meine Kehle ebenfalls leicht zugänglich war.

Es gehörte zu den schwierigsten Dingen, die ich je getan hatte. Selbstverständlich hätte er mich auch töten können, wenn ich auf dem Bauch lag, aber es war einfach schlimmer, ihm meine Unterseite zu präsentieren. Unterwürfig zu sein, geht mir wirklich gegen den Strich.

Der Bus wackelte erneut, als Samuel vom Sitz sprang und beinahe auf mir landete. Ich konnte seinen Zorn riechen – der säuerliche Geruch seiner Angst war mit seiner Menschlichkeit verschwunden und hatte nur den Wolf zurückgelassen. Heißer Atem wehte über mein Fell, als er mich beschnüffelte und seine Nase mein Haar scheitelte. Langsam verging sein Zorn zusammen mit der Intensität, die mir erlaubt hatte, zu spüren was er empfand.

Ich legte den Kopf schief und riskierte einen Blick. Samuel befand sich auf dem Platz zwischen der kurzen Bank und der Schiebetür. Gefangen unter ihm, mit seinen Vorderpfoten auf beiden Seiten meiner Schultern, verspürte ich plötzlich Platzangst und versuchte instinktiv, mich zu drehen.

Ich hielt in der Bewegung fast sofort inne, aber Samuel warf sich dennoch nach vorn, gab ein warnendes Knurren von sich und brachte seine Zähne näher an mein Gesicht. Ich versuchte, mich mit dem Gedanken zu trösten, dass er mich wahrscheinlich nicht umbringen würde – aber ich war mir der aufbrausenden Natur der Werwölfe sehr bewusst.

Er schloss das Maul um meinen Hals – aber mit zu viel Abstand für einen Adernbiss. Ich konnte seine Zähne durch das Fell an meinem Hals spüren, aber sie hielten inne, sobald sie meine Haut berührten.

Ich betete, dass Bran recht hatte, und Samuels Wolf mich tatsächlich als seine Gefährtin betrachtete. Wenn er sich geirrt haben sollte, würden sowohl Samuel als auch ich dafür bezahlen müssen.

Ich blieb reglos liegen, während mein Herz verzweifelt versuchte, sich einen Weg aus meinem Brustkorb zu schlagen. Samuel ließ mich schließlich los, knabberte noch einmal sanft an meiner Nase und bewegte sich dann lautlos von mir weg.

Ich rollte mich herum und schüttelte mich, damit mein Fell sich wieder setzte, und wurde dabei endlich den BH los. Samuel lag auf dem Rücksitz ausgestreckt und beobachtete mich mit seinen wunderbaren weißen Augen. Er blinzelte einmal, dann legte er die Schnauze auf die Vorderpfoten und schloss die Augen, was so klar wie Worte sagte, dass die beiden Hälften seiner Seele wieder vereint waren.

Dann hörte ich einen großen Motor leise den Weg zum Parkplatz entlangschnurren. Ich verwandelte mich so schnell ich konnte wieder in einen Menschen und begann, nach meiner Kleidung zu suchen. Meine Unterwäsche war hellgrün und relativ leicht zu finden. Ich konnte den Sport-BH schneller an- als ausziehen und fand mein T-Shirt, als mein Fuß es berührte.

Das Auto wurde langsamer, als es näher kam, und die Scheinwerfer leuchteten durch die Fenster meines Busses.

»Hose, Hose, Hose«, murmelte ich und suchte hektisch den Boden ab. Ich fand sie gerade, als Reifen auf Kies knirschten, und das Auto hinter uns parkte. Ich fand auch Zees Dolch und schob ihn unter die Gummimatte nahe der Seite des Busses, die am weitesten von der Schiebetür entfernt war.

Fieberhaft zog ich die Hose hoch, zog den Reißverschluss zu und knöpfte sie zu, gerade, als sich die Fahrertür des anderen Autos öffnete. Schuhe. Zum Glück waren sie weiß, und ich packte sie und zog sie über die nackten Füße, ohne sie aufzuschnüren.

Ich sah das riesige Tier, das auf dem Rücksitz des Busses lag, hektisch an. Samuel würde sich noch eine Weile nicht zurückverwandeln können, wahrscheinlich ein paar Stunden. Nach einer erzwungenen Veränderung brauchte ein Wolf immer Zeit, um sich davon zu erholen, selbst wenn er so viel Macht wie Samuel besitzt, und es war zu spät, um ihn zu verbergen.

»Sei ein guter Hund, Samuel«, sagte ich also mit strenger Stimme. »Jag den netten Polizisten keinen Schrecken ein. Wir haben keine Zeit, uns zum Revier eskortieren zu lassen.«

Der Lichtkegel einer Taschenlampe fand mich, und ich winkte, dann öffnete ich langsam die Schiebetür.

»Ich bin hier, um zu joggen«, sagte ich. Die Taschenlampe verhinderte, dass ich das Gesicht des Mannes sehen konnte.

Wir schwiegen beide einen Moment. »Es ist ein Uhr morgens, Ma’am.«

»Ich konnte nicht schlafen«. Ich bedachte ihn mit einem bedauernden Lächeln.

»Allein bei Nacht zu joggen, ist eine riskante Sache, Ma’am.« Er senkte die Taschenlampe, und ich blinzelte schnell und hoffte, dass die tanzenden Nachbilder auf meiner Netzhaut bald verschwinden würden.

»Deshalb nehme ich immer ihn hier mit«, sagte ich und wies mit dem Daumen hinten in den Bus.

Der Polizist stieß einen spontanen Fluch aus. »Entschuldigung, Ma’am. Das ist ganz bestimmt der größte Hund, den ich je gesehen habe – und ich bin mit Bernhardinern aufgewachsen.«

»Fragen Sie mich nicht, was er ist«, sagte ich, schlüpfte durch die Tür, und stellte mich neben den Mann. »Ich habe ihn im Tierheim gefunden, als er ein Welpe war. Mein Tierarzt sagt, er könnte ein Irischer Wolfshund sein, vielleicht gekreuzt mit einem Husky oder Wolfsspitz.«

»Oder einem sibirischen Tiger«, murmelte er ohne zu wollen, dass ich er hörte. Mit lauterer Stimme sagte er dann: »Warum zeigen Sie mir nicht Ihren Führerschein, die Autopapiere und die Versicherungskarte, Ma’am?« Er war nun entspannt und erwartete offenbar keinen Ärger mehr.

Ich öffnete die vordere Beifahrertür und holte meine Handtasche aus dem Behälter zwischen den vorderen Sitzen, in den ich sie gesteckt hatte, als wir bei Onkel Mike gewesen waren. Direkt neben den Autopapieren steckten die Versicherungskarte und meine SIG.

Das hier würde so viel einfacher verlaufen, wenn der nette Polizist die Waffe nicht bemerkte – ebenso wenig wie die .444 Marlin weiter unten im Behälter. Ich hatte einen Waffenschein, der mir erlaubte, die Marlin mitzuführen, aber das wollte ich im Augenblick lieber verschwiegen. Besonders, wenn man Stefan glauben durfte, dass der Besitz von so etwas wie Zees Dolch in diesem Bundesstaat tatsächlich verboten war.

Ich griff also schnell nach der Versicherungskarte und den Autopapieren, dann schloss ich den Container vorsichtig wieder, damit die SIG nicht klapperte. Ich hätte mir keine Gedanken machen müssen. Als ich mich nach ihm umsah, saß der Polizist in der Bustür auf dem Boden und streichelte Samuel.

Bei jedem anderen Werwolf, den ich kenne, hätte mich das nervös gemacht – sie sind nun wirklich keine Haustiere, und einige von ihnen wollen ganz bestimmt nicht so behandelt werden. Samuel jedoch legte nur den Kopf schief, damit die Finger des Polizisten die richtige Stelle zum Kraulen hinter seinem Ohr fanden, und stöhnte vor Wonne.

Samuel mochte Menschen. Ich erinnere mich daran, wie ich mit den Schulkindern von Aspen Valley – alles Menschen – in der Pause zu ihm ging. Die meisten Werwölfe gehen Kindern aus dem Weg, aber nicht Samuel. Meine Mitschüler wussten alle, wer er war, und wenn sie ihm als Mann begegneten, sprachen sie ihn mit Dr. Cornick an und behandelten ihn wie jeden anderen Erwachsenen. Aber wenn er als Wolf zur Schule kam, ließen sie ihn Pony spielen und betrachteten ihn als wilden, aber treuen Wolfsfreund. Und er war mit der gleichen intensiven Freude dabei gewesen wie sie.

»Er ist wunderschön«, sagte der Polizist, stand schließlich wieder auf und nahm meine Papiere. »Wie groß ist er, wenn er steht?«

Ich schnippte mit den Fingern. »Samuel, komm.«

Er stand auf der Bank auf, und sein Rücken streifte das Dach des Busses. Dann streckte er sich und sprang vom Sitz direkt auf den Kiesweg hinaus. Er bewegte sich bewusst wie ein großer Hund, ein wenig ungeschickt und träge. Sein dichtes weißes Winterfell und die Nacht boten einige Tarnung gegenüber den Unterschieden, die keine Zucht wirklich hätte erklären können.

Die Vorderbeine von Werwölfen sind eher wie die eines Bären oder Löwen gebaut als wie die eines Timberwolfs. Wie die ersten beiden nutzen Werwölfe ihre Klauen, um etwas zu zerreißen, und das bedeutet, dass sie über eine andere Muskulatur verfügen.

Der Polizist stieß einen leisen Pfiff aus und ging um Samuel herum. Er achtete sorgfältig darauf, ihm dabei nicht mit der Taschenlampe in die Augen zu leuchten. »Sieh dich nur an!«, murmelte er. »Kein Gramm Fett am Leib und mindestens zweihundert Pfund.«

»Glauben Sie? Ich habe ihn nie gewogen. Ich bin sicher, er ist schwerer als ich, und das zu wissen, genügt mir.«

Der Polizist gab mir den Führerschein und die anderen Papiere zurück, ohne sie sich wirklich angesehen zu haben. »Es wäre mir immer noch lieber, wenn sie bei Tag joggen würden. Ma’am. Und dieser Park ist nachts geschlossen – so ist es sicherer für alle.«

»Danke, dass sie sich um mein Wohlergehen sorgen«, erklärte ich mit ernster Stimme und tätschelte dem Werwolf dabei leicht den Kopf.

Der Polizist kehrte zu seinem Auto zurück, aber er wartete, bis ich Samuel wieder in den Bus führte, und folgte mir aus dem Park bis zur Auffahrt zum Highway – was verhinderte, dass ich anhalten und meine Socken anziehen konnte. Ich hasse es, in ledernen Tennisschuhen barfuß zu sein.

Samuel hockte sich auf den Beifahrersitz, steckte den Kopf aus dem Fenster und legte die Ohren an.

»Hör auf damit«, tadelte ich ihn. »Behalte deine Körperteile gefälligst im Bus.«

Er ignorierte mich, öffnete das Maul und ließ die Zunge ebenso zurückwehen wie die Ohren. Nach einer Weile zog er den Kopf wieder ein und grinste mich an.

»Das wollte ich auch immer schon mal tun«, gestand ich. »Wenn das hier alles vorbei ist, kannst du vielleicht fahren, und ich strecke den Kopf aus dem Fenster.«

Er drehte sich zu mir um und setzte die Vorderpfoten auf den Boden zwischen den Sitzen. Dann stupste er meine Taille mit der Nase an und winselte.

»Schluss damit!«, rief ich und versetzte ihm einen Klaps auf die Schnauze. »Das ist einfach unhöflich.«

Er zog den Kopf zurück und sah mich fragend an. Ich nutzte die Gelegenheit zu einem Blick auf den Tacho, um mich zu überzeugen, dass ich nicht zu schnell fuhr.

»Samuel Llewellyn Cornick, du wirst noch einen Unfall verursachen! Hör auf, deine Nase in meine Angelegenheiten zu stecken.«

Er schnaubte und legte eine Pfote auf mein Knie, schubste es zweimal – und dann berührte er meinen Nabel noch einmal mit der Nase. Diesmal war er schneller als mein Klaps und zog sich sofort wieder den ganzen Weg bis zu seinem Sitz zurück.

»Die Tätowierung?«, fragte ich, und er kläffte – ein reichlich basshaltiges Kläffen. Direkt unter dem Nabel hatte ich die Tätowierung eines Pfotenabdrucks. Er musste ihn gesehen haben, als ich wieder in meine Kleidung schlüpfte. Ich habe auch ein paar Tätowierungen auf meinen Armen.

»Karen, mit der ich im College ein Zimmer teilte, hatte Kunst als Hauptfach. Sie verdiente sich ihr Geld damit, Leute zu tätowieren. Ich half ihr bei der Vorbereitung auf ihre Chemieprüfung, und sie bot mir im Austausch dagegen ein kostenloses Tattoo an.«

Die beiden Jahre zuvor bei meiner Mutter hatte ich mit dem angestrengten Versuch verbracht, die perfekte Tochter zu sein, weil ich befürchtete, meinen Platz in meinem zweiten Zuhause so schnell zu verlieren wie den im ersten. Mir wäre nie etwas so Ungeheuerliches eingefallen, wie mich tätowieren zu lasen.

Mutter gibt immer noch Karen die Schuld dafür, dass ich meinen Abschluss vom Ingenieurswesen zur Geschichte verlagerte und hält das für direkt verantwortlich für meine derzeitige Beschäftigung. Wahrscheinlich hat sie damit sogar recht, aber ich bin mit diesem Leben sicher zufriedener, als ich als Bauingenieurin gewesen wäre.

»Sie gab mir ein Buch mit Tätowierungsfotos, das sie zusammengestellt hatte, und dort befand sich etwa auf halbem Weg das Bild von jemandem, der auf dem Rücken von einer Hüfte zur gegenüber liegenden Schulter mit Wolfspfoten-Abdrücken tätowiert war. Ich wollte etwas Kleineres, und wir haben uns auf diesen einzigen Pfotenabdruck geeinigt.«

Mutter und ihre Familie wussten selbstverständlich, was ich war, aber sie hatten keine Fragen gestellt, und ich hatte mein Kojoten-Ich vor ihnen verborgen und versucht, zu jemandem zu werden, der besser in ihr Leben passte. Kojoten sind sehr anpassungsfähig.

Ich erinnere mich noch gut, wie ich den Rücken des Mannes auf dem Foto angestarrt und begriffen hatte, dass ich mich zwar vor allen anderen verstecken musste, es aber nicht mehr vor mir selbst tun konnte. Also hatte ich Karen die Tätowierung mitten auf meinem Körper anbringen lassen, wo ich mein Geheimnis schützen konnte. Ich hatte schließlich zu genießen begonnen, was ich war, statt mir zu wünschen, ich wäre ein Werwolf oder ein Mensch, um besser in die Welt zu passen.

»Es ist ein Kojotenabdruck«, sagte ich entschlossen »Nicht der eines Wolfs.«

Er grinste mich an und steckte wieder den Kopf aus dem Fenster, diesmal gefolgt von den Schultern.

»Wenn du so weitermachst, wirst du noch rausfallen.«