12

Das Rudel ist hier«, sagte ich zu Samuel, als wir langsam an Warrens Haus vorbeifuhren, um die Lage zu checken. »Ich weiß nicht, woran du dich erinnerst, aber Warren hat telefonisch um Hilfe gebeten. Adam schläft offenbar tief und fest und kann nicht aufgeweckt werden.« Nachdem Samuel in Sicherheit war, konnte ich mir auch wieder um Adam Sorgen machen. »Ist das normal?«

Samuel nickte, und eine Welle der Erleichterung überrollte mich. Ich räusperte mich. »Da wir dem Rudel nicht trauen können, wird Warren wohl versuchen, sie von Adam fernzuhalten – was in Ordnung wäre, wenn man einmal davon absieht, dass Darryl Adams Stellvertreter ist.« Und dieser Umstand würde einen Kampf unausweichlich machen.

Samuel hatte mir erzählt, die durchschnittliche Lebenserwartung eines Werwolfs betrage trotz seiner körperlichen Vorzüge nach seiner ersten Verwandlung nur noch zehn Jahre. Leute wie mein alter Freund Dr. Wallace, die innerhalb ihres ersten Jahrs eliminiert werden mussten, leisteten natürlich ihren Beitrag zu diesen Zahlen. Aber die meisten Werwölfe starben bei Dominanzkämpfen mit anderen Wölfen.

Ich wollte ganz bestimmt nicht, dass Warren oder auch Darryl heute Nacht starben – wenn das geschah, würde es mein Fehler sein. Ohne meine Paranoia, dass etwas mit dem Rudel nicht stimmte, würde Warren überhaupt nicht versuchen, Darryl von Adam fernzuhalten.

Es war still in Richland, aber an beiden Seiten der Straße von Warrens Block parkten Autos. Ich erkannte Darryls 67er Mustang, als ich daran vorbeifuhr. Das Rudel war schon da. Ich parkte den Bus einen Block entfernt und eilte zusammen mit Samuel zurück.

Unter dem Verandadach vor Warrens Tür stand eine Frau. Ihr nachtschwarzes Haar war zu einem taillenlangen Pferdeschwanz gebunden. Sie verschränkte die muskulösen, schlanken Arme und stellte sich ein wenig breitbeiniger hin, als sie mich sah. Sie war Chemielehrerin an der Richland High und Darryls Gefährtin.

»Aurelie«, sagte ich und ging die Treppe hinauf, bis ich neben ihr auf der Veranda stand.

Sie schaute mich verächtlich an. »Ich habe ihm gesagt, dass du nichts tun würdest, um Adam zu schaden, und er hat mir geglaubt. Ich sagte, du würdest auch nichts gegen das Rudel unternehmen. Aber du hast uns einiges zu erklären.«

Als Darryls Gefährtin hatte Aurelie eine hohe Stellung im Rudel. Normalerweise hätte ich die Sache höflich mit ihr besprochen – aber ich musste unbedingt an ihr vorbei und in Warrens Haus gelangen, bevor jemand ernsthaft verletzt wurde.

»Gut«, antwortete ich. »Aber ich muss mit Darryl sprechen. Jetzt.«

»Darryl hat zu tun.« Sie war offenkundig nicht beeindruckt. Mir war schon früher aufgefallen, dass man Aurelie dank ihres Berufes nur schwer bluffen konnte.

Ich setzte gerade dazu an, etwas zu sagen, als sie verkündete: »Wir wahren die Stille.«

Die meisten Leute nehmen an, dass Werwölfe nur über wenig Magie verfügen, und damit haben sie auch recht. Manchmal hat ein Werwolf eine besondere Begabung, so wie Charles, aber dann ist das überwiegend auf die Verwandlung selbst beschränkt und vielleicht auf eine Möglichkeit, sich besser zu verbergen. Aber ein wichtiger Teil der Werwolfmagie ist die Stille.

Ich sah mich um und entdeckte vier Personen (es gab zweifellos noch andere, nach denen ich aber hätte länger suchen müssen), die unauffällig in der Nähe von Warrens Doppelhaushälfte standen, die mit geschlossenen Augen uralte Verse rezitierten, um die Stille über die gesamte Umgebung zu legen.

Die Stille sollte verhindern, dass der Streit im Haus nach außen drang, und es bedeutete selbstverständlich, dass der Kampf bereits begonnen hatte. Außerdem bedeutete es, dass das Rudel mich nicht durchlassen würde, da sonst die Magie gestört würde.

»Dieser Kampf ist sinnlos«, sagte ich eindringlich. »Und er ist vollkommen unnötig.«

Sie riss die Augen weit auf. »Da irrst du dich, Mercy. Darryl ist der zweite Wolf, und Warren weigert sich, sich ihm zu beugen. Das kann Darryl sich nicht einfach gefallen lassen. Du kannst mit ihm reden, wenn er diesen Wolf erst diszipliniert hat.« Dann runzelte sie plötzlich die Stirn und starrte Samuel an. Mit einer vollkommen veränderten Stimme fragte sie: »Wer ist das? Es gab fremde Wölfe in Adams Haus.«

»Das hier ist Samuel«, sagte ich und setzte ungeduldig dazu an, die Treppe hinaufzugehen. »Ich werde jetzt reingehen.«

Sie schien mich abfangen zu wollen, aber dann zögerte sie mit einem Blick auf Samuels ungewöhnliche Färbung. »Samuel wer?«, fragte sie.

Zweimal im Jahr treffen sich die Alphas mit Bran in Brans Hauptquartier in Colorado. Manchmal bringen sie dabei ihre Stellvertreter oder sonstige Begleiter mit – aber niemals ihre Gefährtinnen. Das hatte zum Teil ganz praktische Gründe. Alphas fühlen sich außerhalb ihres eigenen Gebietes unbehaglich, und die Interaktion mit den anderen Leitwölfen ist schon schwierig genug. Wenn auch noch ihre Frauen bei ihnen wären, könnten ihre Territorialansprüche und das Unbehagen schnell in Gewalttätigkeit umschlagen.

Das bedeutete, dass Aurelie Samuel nie zuvor begegnet war, aber sie hatte zweifellos von ihm gehört. Weiße Wölfe seines Namens sind nicht sehr verbreitet.

»Das ist Dr. Samuel Cornick«, sagte ich entschlossen. »Lass uns durch. Ich habe Informationen über die Leute, die Adam angegriffen haben.«

Ich war müde und machte mir Sorgen um Warren – und auch um Darryl, dann sonst hätte ich keinen so offensichtlichen Fehler gemacht. Ich bezweifle allerdings, dass sie etwas anderes als meinen Befehlston gehört hatte.

Sie war nicht dumm; sie wusste, dass ich nicht Adams Gefährtin war, ganz gleich, was er dem Rudel über mich erzählt hatte. Ich war kein Werwolf, ich gehörte nicht zum Rudel, ich war nicht dominant, und sie konnte mich nicht durchlassen, ohne ihre eigene Stellung zu gefährden.

Alles Zögerliche verschwand aus ihrer Haltung, und sie wandte sich mir zu. Ich war erheblich größer als sie, aber das hielt sie nicht auf. Sie war ein Werwolf, und als sie die Hände auf meine Schultern legte und mich nach hinten schob, stolperte ich drei oder vier Schritte zurück.

»Du hast hier gar nichts zu melden«, erklärte sie mit einer Stimme, die ihre Schüler im Unterricht sicher in Angst und Schrecken versetzte.

Dann versuchte sie noch einmal, mich nach hinten zu stoßen. Ihr Fehler. Sie war erheblich stärker als ich, verfügte aber über keine Erfahrung darin, in Menschengestalt zu kämpfen. Ich trat beiseite, sodass der größte Teil der Arbeit von ihrem eigenen Schwung erledigt wurde, und beförderte sie nur mit einem leichten Schubs aus dem Gleichgewicht, damit sie die Treppe hinunterfiel. Sie prallte fest gegen das Geländer und schlug mit dem Kopf gegen eine Stufe.

Ich blieb nicht stehen, um mich zu überzeugen, wie es ihr ging. Es brauchte erheblich mehr als einen Treppensturz, um einen Werwolf sonderlich zu verlangsamen. Der Wolf auf der Straße, der mir am nächsten stand, setzte dazu an, sich zu bewegen, hielt dann aber in der Bewegung inne, weil das den Zauber der Stille gebrochen hätte.

Die Haustür war nicht verschlossen, und ich riss sie auf. Samuel drängte sich an mir vorbei. Das Geräusch von Aurelies wütendem Fauchen bewirkte, dass ich ihm sofort folgte.

Warrens Wohnzimmer war ein einziges Durcheinander verstreuter Bücher und zerbrochener Möbel, aber sowohl er selbst als auch Darryl befanden sich noch in Menschengestalt. Das machte mir deutlich, dass beide immer noch versuchten zu verhindern, dass dieser Kampf tödlich endete. Werwölfe in Menschengestalt mögen sehr stark sein, aber sie nicht halb so gefährlich wie ihre Wolfsgestalt.

Warren schlug gerade einen seiner Esszimmerstühle auf Darryls Kopf. Das Geräusch des Schlages konnte ich wegen der Stille nicht hören, aber ich konnte die Wucht anhand des splitternden Holzes und des spritzenden Blutes erahnen.

Mit einer so schnellen Bewegung, dass ich sie nicht ganz erfassen konnte, riss Darryl Warren zu Boden und hing nun über seiner Kehle.

Samuel kam ins Zimmer und schloss sofort das Maul um Darryls Handgelenk – dann tänzelte er rückwärts und außer Reichweite. Die unerwartete Geste – Darryl hatte offenbar nicht einmal gehört, dass wir hereingekommen waren – bewirkte, dass Adams Stellvertreter seinen Griff um Warrens Kehle löste, der sich seinerseits losriss und versuchte, ein wenig Abstand zu gewinnen.

Dadurch konnte Samuel sich zwischen die beiden drängen. Warren ließ sich schwer atmend gegen die Wand sinken und wischte sich Blut aus den Augen. Darryl hatte zwei schnelle Schritte gemacht, bevor er Samuel offenbar erkannte und mit vollkommen verdutzter Miene beinahe rückwärtsgetaumelt wäre, um ihn nicht zu berühren.

Sobald ich sicher war, dass weder Darryl noch Warren weiterkämpfen würden, tätschelte ich Samuels Schulter, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Als er mich ansah, zeigte ich auf meinen Mund und nach draußen. Die Werwölfe draußen erhielten ihre Rezitation aufrecht, aber wir mussten miteinander reden.

Ich erwartet, Samuel werde nach draußen gehen, aber er tat etwas anderes. Seine Macht rauschte plötzlich mit der gleichen Wucht durch das Haus, wie sie entsteht, wenn bei einem Brand ein Idiot die Tür aufreißt, um Luft in ein Zimmer zu lassen, das seit Stunden schwelt. Alles war von seinem Geruch und seiner Kraft erfüllt: Es knisterte und knackte, bis ich das Gefühl hatte, durch brennende Wunderkerzen hindurch zu atmen. Kleine Machtexplosionen tanzten auf meiner Haut, bis ich mich wund fühlte und die Kontrolle über Arme und Beine verlor. Ich sackte hilflos auf die Knie. Mein Blickfeld begann ebenfalls zu funkeln. Schwarze Wirbel und helle, blitzende Lichter ließen mich den Kopf auf die Knie senken, während ich darum rang, bei Bewusstsein zu bleiben.

»Das genügt, Samuel«, sagte eine Stimme, die ich teilnahmslos als die von Adam erkannte. »Ich denke, Sie haben deutlich gemacht, was Sie wollen, was immer das sein mag.«

Ich ließ den Kopf auf den Knien. Wenn Adam wach war, konnte alles andere warten, bis ich wieder Luft bekam.

Dann hörte ich seine nächsten Schritte die Treppe hinunter, und das waren beinahe die vertrauten, leichten, schnellen Bewegungen, die ich für gewöhnlich mit Adam assoziierte – seine Wunden mussten wirklich schnell verheilt sein. Auf dem Weg an mir vorbei legte er mir kurz die Hand auf den Kopf, dann ging er weiter.

»Was ist hier los?«, fragte er.

»Wir suchen dich jetzt seit zweit Tagen, Adam«, berichtete Darryl mit ein wenig verzerrter Stimme. »Alles, was wir hatten, war eine Botschaft auf Elizaveta Arkadyevnas Anrufbeantworter, die angeblich von Mercy stammte – und dein verwüstetes Haus mit drei toten Werwölfen darin, die niemand kannte. Du, Jesse und Mercy waren verschwunden. Wir haben dein Haus weiter beobachtet, aber es war reiner Zufall, dass einer vom Rudel Mercy mit Kyle gesehen hat. Als ich Warren anrief, wollte er nicht zugeben, dass du hier bist, aber er hat es auch nicht abgestritten, also rief ich das Rudel zusammen, und wir kamen her.«

Ich blickte wieder auf, und diesmal drehte sich die Welt nicht mehr um mich. Darryl und Warren knieten beide auf dem Boden in der Nähe der Stelle, wo sie gekämpft hatten. Ich bemerkte auch den Grund für Darryls Ausspracheproblem – einen tiefen Riss in der Oberlippe, der aber bereits heilte.

»Ich konnte Darryl nicht anlügen«, erklärte Warren. »Du hast im Heilschlaf gelegen, und ich konnte dich nicht aufwecken. Ich durfte aber auch niemanden vom Rudel wissen lassen, wie verwundbar du warst.«

Samuel setzte sich neben mich und leckte mit leisem Winseln über mein Gesicht.

»Igitt!«, rief ich und schob ihn weg. »Das ist ja ekelhaft. Hör auf, Samuel! Hat Bran dir den überhaupt keine Manieren beigebracht?«

Es war ein bewusstes Ablenkungsmanöver, damit wir alle Gelegenheit haben würden, zu bemerken, wie wir ohne weiteres Blutvergießen aus dieser Situation herauskommen konnten.

»Warren stand unter meinem Befehl«, sagte Adam träge.

»Aha«, sagte Darryl, und seine Miene verlor jeden Ausdruck.

»Nichts gegen dich.« Adam bewegte die Hand in Brusthöhe – sei nicht gekränkt, sagte die Geste, es war nichts Persönliches.

»Was dann?«

»Das wissen wir nicht«, sagte ich. »Und genau das hat mich gestört.«

»Erzähl ihnen, was in dieser Nacht passiert ist«, forderte Adam mich auf.

Also tat ich das.

Als ich berichtete, dass eine schlechte Vorahnung mich davon abgehalten hatte, das Rudel zusammenzurufen, nickte Darryl zu meiner Überraschung: »Woher wussten diese Leute auch nur, wo Adam wohnte? Oder wann die Besprechung vorbei sein würde? Woher wussten sie, dass er keine Armee in seinem Haus hat, wie einige Alphas sie haben? Und Jesse ist nicht dumm. Sie hätte sie nicht auf sich aufmerksam gemacht – aber diese Leute wussten offenbar ohnehin, wo sie war.«

Ich dachte darüber nach. »Sie haben nur einen Menschen direkt zu ihr geschickt.«

Darryl machte eine umfassende Geste. »Ich will nicht behaupten, dass es keine anderen Erklärungen als einen Verrat im Rudel gäbe – aber du hast die richtige Entscheidung getroffen.«

Eigentlich hätte mich jetzt besser fühlen sollen, aber ich bin wohl ebenso versessen auf ein herablassendes Rückentätscheln wie jede andere Frau.

»Mach weiter, Mercy«, sagte Adam.

So knapp wie möglich fuhr ich mit meinem Bericht fort – was auch bedeutete, dass ich Einzelheiten ausließ, die sie nichts angingen, wie meine frühere Beziehung zu Samuel.

Die anderen aus dem Rudel kamen herein, während ich sprach, und setzten sich auf den Boden, wobei sie, wenn nötig, Möbeltrümmer aus dem Weg schoben. Es waren nicht alle, aber zehn oder fünfzehn von ihnen.

Aurelie setzte sich neben Darryl und lehnte ihre Knie an seine. Sie hatte einen unangenehm aussehenden blauen Fleck an der Stirn, und ich fragte mich, ob sie mich wohl weiterhin mit der kalten Höflichkeit behandeln würde, die sie mir zuvor immer entgegengebracht hatte – oder ob ich jetzt für sie wie für die Frauen in Brans Rudel eine Feindin darstellte.

Warren, dachte ich, hatte mit Adams Unterstützung gerade seinen Status im Rudel gefestigt – zumindest Darryl gegenüber, dessen Körpersprache den anderen deutlich mitteilte, dass Warren nicht in Ungnade gefallen war. Darryl schätzte Loyalität, dachte ich, und war plötzlich sicher, dass er es nicht gewesen war, der Adam verraten hatte.

Wer dann? Ich schaute in die Gesichter, einige vertraut, andere weniger, aber Adam war ein guter Leitwolf, und außer Darryl gab es keine Wölfe, die dominant genug gewesen wären, um selbst zum Alpha aufzusteigen.

Ich kam bei meinem Bericht zu unserem Entschluss, Adam zu Warren zu bringen, erklärte aber nur, dass wir sein Domizil für ein besseres Versteck gehalten hatten als sein oder mein Haus und verstummte dann, weil Darryl sichtlich eine Frage auf den Nägeln brannte.

»Warum haben sie Jesse entführt?«, fragte er.

»Warren sagt, es gibt keine Lösegeldforderung«, warf Adam ein. Er hatte irgendwann während meiner Geschichte angefangen, auf und ab zu gehen. Ich konnte kein Anzeichen mehr erkennen, dass er je verwundet gewesen war, aber ich nehme an, ein Teil davon war seiner Schauspielkunst zu verdanken; ein Alpha gibt dem Rudel gegenüber niemals wirklich Schwäche zu. »Ich habe darüber nachgedacht, aber ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Einer der Wölfe, die bei mir vorbeikamen, war jemand, den ich einmal kannte – vor dreißig Jahren verwandelten wir uns beide zur gleichen Zeit. Seine Verwandlung war sehr qualvoll, denn er musste sie ohne Hilfe erleben.« Ich sah, dass mehrere Wölfe zusammenzuckten. »Er hat deshalb vielleicht ein Problem, aber dreißig Jahre wären wirklich eine lange Zeit, um Rache zu nehmen, wenn das der einzige Grund gewesen sein soll, Jesse mitzunehmen.«

»Gehört er zu einem Rudel?«, fragte Mary Jo, die weiter hinten im Zimmer saß. Mary Jo war Feuerwehrfrau in der Wache Kennewick. Sie war klein und zäh und beschwerte sich manchmal, weil sie so tun musste, als sei sie schwächer als die Männer in ihrem Zug. Ich mochte sie.

Adam schüttelte den Kopf. »David hat sich entschieden, ein Einsamer Wolf zu sein. Er mag Werwölfe nicht.«

»Du sagtest, es waren Menschen und neue Wölfe«, warf Warren ein.

Adam nickte, aber ich dachte immer noch über den Einsamen Wolf nach. Warum lief ein Mann, der dreißig Jahre lang ein Einsamer Wolf gewesen war, plötzlich mit einem Rudel neuer Wölfe herum? Hatte er sie selbst verändert? Oder war er selbst auf seine Weise auch ein Opfer, wie Mac es gewesen war?

Samuel legte die Schnauze auf mein Knie, und ich tätschelte ihn zerstreut.

»Du hast gesagt, sie hätten Silbernitrat, DMSO und Ketamin benutzt«, warf Aurelie, die Chemielehrerin, ein. »Bedeutet das, dass sie mit einem Arzt zusammenarbeiten? Oder vielleicht mit einem Drogendealer? Ketamin ist als illegale Droge nicht so weit verbreitet wie Speed oder Crack, aber manchmal kursiert es trotzdem an unserer Schule.«

Ich richtete mich auf. »Ein Arzt oder Tierarzt«, sagte ich nachdenklich. Samuel neben mir versteifte sich. Ich sah ihn an. »Ein Tierarzt hätte ebenfalls Zugang zu all diesen Dingen, nicht wahr, Samuel?«

Samuel knurrte mich an. Ihm gefiel nicht, was ich dachte.

»Wohin führt uns das?«, fragte Adam und warf Samuel ebenfalls einen Blick zu, obwohl er mit mir sprach.

»Dr. Wallace«, sagte ich.

»Carter Wallace hat Probleme, weil er nicht akzeptieren kann, ein Werwolf zu sein, Mercy. Es ist zu gewalttätig für ihn, und er würde lieber sterben als so zu sein, wie wir sind. Willst du damit andeuten, dass er in diese Intrige verwickelt ist, bei der junge Wölfe in Käfigen gehalten werden, während man mit ihnen experimentiert? Hast du je gehört, was er über Tierversuche und die Kosmetikindustrie zu sagen hat?«

Einen Augenblick war ich überrascht, dass Adam so viel über Dr. Wallace wusste. Aber die Reaktionen der Leute in Aspen Creek hatten mir auch deutlich gemacht, dass Adam schon öfter dort gewesen war. Ich nehme an, es war nur vernünftig davon auszugehen, dass er über Dr. Wallace Bescheid wusste. Nach dem Gemurmel rings um uns galt das allerdings nicht für den Rest des Rudels.

Adam hörte auf, mir zu widersprechen, um allen zu erläutern, wer Dr. Wallace war. Das gab mir Zeit, um nachzudenken.

»Seht mal«, begann ich erneut, als er fertig war. »All diese Chemikalien für die Droge, die sie dir verabreicht haben, sind leicht zu beschaffen – aber wer würde daran denken, sie miteinander zu mischen, und warum? Wer würde einen Werwolf beruhigen wollen? Dr. Wallace jedoch ist tatsächlich in Gefahr, die Beherrschung zu verlieren – das habe ich selbst gesehen. Er hat Angst um seine Familie. Er hat vielleicht versucht, ein wirksames Beruhigungsmittel für Werwölfe zu finden; nicht, um Jesse zu entführen, sondern um zu verhindern, dass er die Kontrolle verliert und als Wolf jemanden angreift.«

»Mag sein«, sagte Adam schleppend. »Ich werde Bran morgen anrufen, dann kann er Dr. Wallace selbst fragen. Niemand ist imstande, Bran anzulügen.«

»Aber was wollen sie damit erreichen, Jesse zu entführen?«, fragte Darryl. »Der Gedanke an eine Geldforderung kommt mir irgendwie lächerlich vor. Es scheint, der Angriff war direkt gegen das Columbia-Rudel gerichtet, gegen den Rudelführer, und nicht gegen den Geschäftsmann Adam Hauptmann.«

»Das denke ich ebenfalls.« Adam runzelte die Stirn. »Vielleicht will jemand das Rudel übernehmen? Es gibt nicht viel, das ich nicht für meine Tochter tun würde.«

Hatten sie es auf das Rudel oder auf Adam selbst abgesehen?, fragte ich mich plötzlich, und besteht wirklich ein Unterschied zwischen beidem?

»Wer immer es ist und was immer sie wollen, wir sollten es bis zur Dämmerung herausfinden. Und es könnte sein, dass ich bereits weiß, wo sie sind«, sagte ich, griff in die Tasche meiner Jeans und holte das Stück Papier heraus, das die Vampire mir gegeben hatten. Dann reichte ich es Adam.

»Zee hat herausfinden können, dass unsere Feinde den Vampiren fast zehntausend Dollar gezahlt haben, damit sie sie in Ruhe lassen, solange sie hier sind«, erklärte ich.

Adam zog die Augenbrauen hoch und griff bereits mit leicht zitternden Fingern nach dem Zettel. »Zehntausend ist viel zu viel«, sagte er. »Ich frage mich, warum sie das getan haben.«

Er warf einen Blick auf das Papier und sah sich um »Darryl, Warren? Hat einer von euch heute Abend Interesse an einem weiteren Abenteuer?«

»Es steht nichts zwischen uns«, erklärte Darryl.

»Nicht mehr«, stimmte Warren zu. »Ich bin dabei.«

»Samuel?«

Der weiße Wolf grinste ihn an.

»Wir können meinen Bus nehmen.«

»Danke«, erwiderte Adam. »Aber du bleibst hier.«

Ich reckte das Kinn, und er tätschelte mir herablassend die Wange. Er lachte, als er meine Miene sah, nicht, als mache er sich über mich lustig, sondern als genösse er einfach die Situation.

»Du bist nicht unersetzlich, Mercedes – und du bist nicht in der Lage, in einem Rudelkrieg zu bestehen.« Dann verschwand das Lächeln von seinen Zügen, und er sah die anderen Anwesenden forschend an.

»Hör zu, Kumpel«, erwiderte ich. »Ich habe zwei Werwölfe umgebracht – das macht unsere Todeslisten in dieser Woche gleich lang –, und ich habe mich auch nicht so schlecht geschlagen, als es darum ging, diese Adresse von den Vampiren zu bekommen.«

»Du hast diese Adresse von den Vampiren?«, fragte Adam mit gefährlich leiser Stimme.


»Arroganter Mistkerl«, murmelte ich, als ich den Bus durch die leeren Straßen von Ost-Kennewick steuerte. »Ich gehöre nicht zum Rudel. Er hat kein Recht, mir zu sagen, was ich tun und lassen soll. Er hat kein Recht, mich anzuschreien, weil ich mit den Vampiren gesprochen habe. Er ist nicht mein Aufpasser.«

Wie ich allerdings zugeben musste, hatte er recht mit der Feststellung, dass ich im Kampf mit einem anderen Rudel von Werwölfen keine große Hilfe sein würde. Warren hatte zumindest versprochen, mich anzurufen, wenn sie fertig waren.

Ich gähnte und erkannte, dass ich seit beinahe zwanzig Stunden wach war – und ich hatte die letzte Nacht unruhig in einem Motelbett verbracht und abwechselnd von Macs Tod und von einer weinenden Jesse geträumt.

Als ich meine Einfahrt erreichte, versuchte ich nicht einmal, den Bus sicher in die Garage zu stellen. Ich würde die Papiere und Socken morgen herausholen und ihn dann wegstellen. Zees Dolch, den ich wieder angelegt hatte, bevor ich Warrens Haus verließ, verwickelte sich in den Sicherheitsgurt. Ich war so müde, dass ich Tränen in den Augen hatte, als ich mich endlich befreien konnte.

Oder vielleicht weinte ich eher, weil ich mich fühlte wie ein Kind, das als Letztes zum Ballspielen ausgewählt wird – und dem man sagt, es soll verschwinden, wenn die anderen spielen.

Ich vergaß dennoch nicht, die anderen Waffen aus dem Bus zu holen und meine Handtasche mitzunehmen. Als ich die Treppe hinaufging, bemerkte ich, dass Elizaveta Arkadyevna es offenbar noch nicht geschafft hatte, die Veranda zu säubern, denn ich konnte immer noch den Geruch von Mac und die deutlichen Ausdünstungen des Todes wahrnehmen.

Nein, dachte ich und zog die Lippen ein wenig zurück, ich weinte, weil ich dabei sein wollte. Diese Leute waren in mein Territorium eingedrungen und hatten Personen wehgetan, die ich gern hatte. Ich hielt es für mein Recht und meine Pflicht, sie zu bestrafen.

Als ob ich wirklich etwas gegen ein Rudel von Werwölfen hätte ausrichten können, legte ich meine Hand aufs Geländer und brach das trockene Holz so leicht entzwei, als läge es im Dojo über Backsteinen. Etwas Kleines und Weiches strich um meine Beine und hieß mich mit herrischem Miauen Willkommen.

»Hallo, Medea«, sagte ich und wischte mir die Augen, bevor ich sie mit meiner waffenfreien Hand hochhob. Ich schloss die Tür auf, schaltete aber nicht einmal das Licht an, als ich die Schusswaffen wegpackte.

Ich steckte das Handy ins Ladegerät neben dem normalen Telefon, dann rollte ich mich mit der schnurrenden Medea auf der Couch zusammen und schlief ein, während ich auf Warrens Anruf wartete.


Ich wurde wach, als mir Sonnenstrahlen in die Augen stachen. Im ersten Moment konnte ich mich nicht erinnern, was ich hier auf der Couch machte. Die Uhr am DVD-Player zeigte neun, was bedeutete, dass es zehn Uhr früh war. Ich schaffte es nie, die Uhr auf Sommerzeit umzustellen.

Ich überprüfte die Nachrichten auf meinem Handy. Es gab einen Anruf von Zee, der mich bat, zurückzurufen, aber das war alles. Also tat ich das und hinterließ wiederum eine Botschaft auf seinem Anrufbeantworter.

Dann rief ich Adams zu Hause an, sein Handy und seinen Pager. Danach wählte ich Warrens Nummer. Ich schlug Darryls Nummer im Telefonbuch nach, rief ihn an und schrieb die anderen Nummern auf, die seine Anrufbeantworter auflistete. Aber er ging ebenfalls nirgendwo an den Apparat.

Einen Augenblick des Nachdenkens später schaltete ich den Fernseher ein und wählte den Lokalsender aus, aber auch dort gab es keine sensationellen Nachrichten. Niemand berichtete über ein Blutband in West-Richland. Aber vielleicht hatten sie die Leichen auch nur noch nicht gefunden.

Ich nahm das Handy, stieg in den Golf und fuhr zu der Adresse, die die Vampire mir gegeben hatten – ich hatte Adam den Zettel vielleicht überlassen, mir die Adresse zuvor aber selbstverständlich gemerkt. Das Haus stand leer, und ein »Zu verkaufen«-Schild stand auf dem Rasen. In der Nähe des Gebäudes lag schwach die Witterung des Rudels in der Luft, aber es gab keinen Hinweis auf Blut und Gewalt.

Wenn die Adresse falsch gewesen war, wo steckten dann alle?

Ich war bereits zur Werkstatt zurückgefahren, bevor mir einfiel, dass Thanksgiving war und mir niemand ein kaputtes Auto bringen würde. Dennoch, es war besser zu arbeiten als zu Hause zu sitzen und mich zu fragen, was geschehen war. Ich öffnete eines der großen Garagentore in der Absicht, mich mit meinem derzeitigen Projekt zu beschäftigen.

Aber das war leichter gesagt als getan. Ich musste das Telefon weglegen, damit ich es nicht vor Nervosität zerbrach, und dann glaubte ich immer wieder, es klingeln zu hören. Aber niemand rief an, nicht einmal meine Mutter.

Ein Auto, das ich nicht kannte, näherte sich der Werkstatt und blieb schließlich stehen. Eine kleine, zierliche Frau in einem roten Trainingsanzug und weißen Tennisschuhen stieg aus. Sie entdeckte mich, nickte und kam zu mir.

»Ich bin Sylvia Sandoval«, sagte sie und streckte die Hand aus.

»Im Augenblick sollten Sie mir lieber nicht die Hand schütteln«, erklärte ich mit professionellem Lächeln. »Ich bin Mercedes Thompson. Was kann ich für sie tun?«

»Sie haben bereits etwas getan.« Sie senkte die Hand und deutete mit dem Kinn zu ihrem Wagen hinüber, einem alten, erfahrenen und trotz Rostflecken und einer Delle an der Stoßstange gut aussehenden Buick. »Seit Ihr Mr Adelbertsmiter den Wagen repariert hat, läuft er wie neu. Ich würde gerne wissen, wie viel ich Ihnen schulde. Mr Adelbertsmiter meinte, dass Sie vielleicht im Austausch für Ihre Zeit und Ihren Aufwand die Arbeit meines Sohnes annehmen würden.«

Ich fand einen sauberen Lappen und begann, mir die schlimmsten Ölflecken von den Händen zu rubbeln, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Es gefiel mir, dass sie sich die Mühe gemacht hatte, sich Zees Namen zu merken und ihn richtig auszusprechen, was für Leute, deren Muttersprache Spanisch war, nicht einfach sein konnte.

»Sie müssen Tonys Freundin sein«, sagte ich. »Ich hatte noch nicht die Zeit, mir Zees Rechnung anzusehen – aber ich brauche tatsächlich Leute. Kennt sich Ihr Sohn ein bisschen mit Autoreparaturen aus?«

»Er kann Öl und Reifen wechseln«, sagte sie. »Den Rest wird er lernen müssen. Aber er ist fleißig, und er lernt schnell.«

Ebenso wie Zee bewunderte ich ihre offene, entschlossene Art und nickte. »Also gut. Dann versuchen wir es. Schicken Sie Ihren Sohn –«. Wann? Ich hatte keine Ahnung, was ich in den nächsten Tagen machen würde. – »Vielleicht Montag nach der Schule vorbei. Er kann die Reparaturen abarbeiten, und wenn wir miteinander zurechtkommen, kann er den Job behalten. Nachmittags nach der Schule und Samstag den ganzen Tag.«

»Die Schule hat Vorrang«, sagte sie.

Ich nickte. »Damit kann ich leben. Wir werden sehen, wie es funktioniert.«

»Danke«, erwiderte sie. »Er wird pünktlich am Montag hier sein.«

Ich sah, wie sie wieder ins Auto stieg. Bran hatte Glück, dass sie kein Werwolf war, oder es wäre ihm vielleicht nicht so leicht gefallen, seine Stellung als Alpha zu wahren.

Dann hielt ich inne und betrachtete meine schmutzigen Hände. Letzte Nacht hatte jemand die Frage gestellt, was die Entführer wollen könnten. Sie brauchten Adams Position im Rudel nicht – nicht, wenn sie ihr eigenes Rudel hatten. Und wenn sie Geld wollten, gab es doch sicher leichtere Ziele als die Tochter des Leitwolfs. Also war etwas Besonderes an Adam. Bei Werwölfen ist es eine Frage der Sicherheit, immer zu wissen, wo man im Rudel steht. In der Hierarchie des Marrok war das nicht so wichtig – solange sich alle erinnerten, dass sich Bran ganz oben befand. Aber die Leute behielten die Rangordnung trotzdem im Auge.

Ich verfüge über eine sehr klare Erinnerung an meinen Pflegevater, wie er vor meinem Stuhl hockte und Namen an den Fingern abzählte, als ich vier oder fünf war. »Bran ist der Erste« sagte er. »Charles ist der Zweite und Samuel der Dritte. Adam im Rudel von Los Alamos ist der Vierte. Everett im Houston-Rudel ist der Fünfte.«

»Bran ist der Erste«, sagte ich jetzt. »Charles ist der Zweite und Samuel der Dritte, beide Brans Söhne. Der Vierte ist Adam, nun im Columbia-Rudel.«

Wenn es an Adam etwas Besonders gab, dann war es diese Position – von Brans Söhnen abgesehen, war er der nächste Herausforderer um den Titel des Marrok.

Zuerst versuchte ich, den Gedanken als zu weither geholt abzutun. Wenn ich gewollt hätte, dass Adam gegen Bran kämpfte, hätte ich ganz bestimmt nicht damit begonnen, seine Tochter zu entführen. Aber vielleicht war das auch nicht die ursprüngliche Absicht dieser Leute gewesen.

Ich setzte mich auf den Fahrersitz des Käfers, und das alte Blech knarrte unter mir. Was, wenn sie gekommen waren, um mit Adam zu sprechen, und nicht, um ihn anzugreifen? Ich schloss die Augen. Vielleicht steckte jemand dahinter, der Adam gut kannte, wie sein alter Kamerad aus der Armee. Adam war aufbrausend, sogar explosiv – aber er konnte auch verdammt gut zuhören, wenn er sich erst einmal ein wenig beruhigt hatte.

Wenn man bedachte, dass der Feind ein Werwolf war, würde er Angst vor Adam haben oder zumindest vorsichtig sein. So funktioniert das Dominanzspiel nun einmal. Einem Alpha auf seinem eigenen Territorium entgegenzutreten, bedeutete, ihn in eine überlegene Position zu bringen. Man kann nicht einfach eine Schusswaffe mit Silbermunition mitbringen, denn das bedeutete automatisch Krieg – der Wolf würde Adam töten müssen oder selbst sterben. Nehmen wir an, sein Feind hatte eine Droge, etwas, was einen Werwolf beruhigte. Etwas, was Adam davon abhalten würde, ihn umzubringen, wenn die Verhandlungen nicht funktionierten.

Und dann war etwas sehr offensichtlich schiefgegangen. Jemand war in Panik geraten und hatte die Person erschossen, die die Tür öffnete – es war durchaus vorstellbar, dass weniger dominante Werwölfe leicht in Panik gerieten, wenn sie ins Haus eines Alphas eindrangen. Nehmen wir an, sie schießen mehrmals auf ihn. Ein Fehler, aber kein nicht wieder gutzumachender Fehler.

Nehmen wir an, dass Adam unmittelbar danach angreift. Also schießen sie auch auf Adam und fesseln ihn, damit sie ihn festhalten können, bis er zuhört. Aber Mac stirbt, und Adam ist nicht in der Stimmung, zuzuhören. Er beginnt sich loszureißen, und nachdem sie ihn mit genug Drogen vollgepumpt haben, um ihn aufzuhalten, ist er zu betäubt, um über irgendetwas sprechen zu können.

Sie geraten in Panik. Sie müssen sich einen neuen Plan ausdenken. Wie können sie Adam zur Zusammenarbeit bewegen?

»Jesse ist oben«, sagte ich und schnippte in schnellem Rhythmus mit den Fingern, der dem Tempo meiner Gedanken entsprach.

Nehmt Jesse und zwingt Adam damit, euch zuzuhören. Oder, wenn er das nicht will, droht ihr ihm damit, Jesse umzubringen.

Diese Version davon, was sich abgespielt hatte, war nicht unlogischer als alle anderen. Was hatte es also mit Mac und den Drogenexperimenten auf sich?

Ich kletterte aus dem Käfer und eilte in mein Büro, um mir ein Notizbuch zu holen. Ich hatte keinerlei Beweise, nur meine Instinkte – aber auf meine Spürnase war für gewöhnlich Verlass.

Auf eine Seite schrieb ich: Drogenexperimente – neue Werwölfe kaufen? Und auf die nächste: Warum Bran durch Adam ersetzen?

Ich stützte die Hüfte gegen einen dreibeinigen Hocker und tippte mit dem Stift auf das Papier. Macs Erfahrungen schienen darauf hinzuweisen, dass noch mehr Drogen getestet worden waren, als die, die ihn schließlich umbrachten. Einen Augenblick später schrieb ich: Sind Ketamin-Silbernitrat-DSMO die einzigen Drogen? Dann notierte ich die Namen der Leute, die etwas über diese Drogen wissen konnten. Samuel, Dr. Wallace, und nach einer nachdenklichen Pause schrieb ich auch Aurelie, die Chemielehrerin, auf. Mit einem Seufzen gab ich zu: Es könnte jeder sein. Dann umkreiste ich störrisch den Namen von Dr. Wallace.

Er verfügte über das Wissen und das Motiv, ein Beruhigungsmittel herzustellen, das ihn für die Menschen, die er liebte, ungefährlich machen würde. Ich hörte auf, mit meinen Stift zu spielen. Oder nicht?

War nicht auch der Kuss eines Vampirs ein Beruhigungsmittel? Es war möglich, dass ein unterwürfiger Werwolf daraus wie jedes andere beruhigte Tier hervorging, vollkommen erschöpft und ruhig. Stefan sagte, dass nur einige Wölfe problematisch wurden. Samuel hatte zunächst gekämpft und sich verwandelt; bereit anzugreifen, genauso, als hätte er in einer Falle gesessen.

Ich musste an die zerbrochenen Handschellen denken, die in Adams Haus zurückgeblieben waren. Ich hatte seine Reaktion Jesses Entführung zugeschrieben, aber vielleicht war das nur ein Teil davon gewesen. Das war jetzt allerdings Nebensache.

Ich konzentrierte mich auf die andere Seite dieser Situation und schrieb erneut: Warum Bran durch Adam ersetzen?

Ich fuhr mit dem Finger über die Worte. Ich war nicht sicher, ob es sich wirklich um das Motiv handelte, aber es schien allemal die Art von Grund zu sein, bei dem man Leichen benutzte, um weitere Einmischung zu entmutigen. Sie hatten Adam jedoch am Leben gelassen, als sie ihn leicht hätten töten können. Also wollten sie etwas von ihm.

Bran war nun beinahe zwei Jahrhunderte Marrok. Warum wollte jemand so verzweifelt etwas daran ändern, wie die Dinge gehandhabt wurden?

Ich schrieb: Sie wollen Veränderung.

Bran konnte ein Mistkerl sein. Er war ein Herrscher im guten, alten, despotischen Stil – aber offenbar passte das ganz gut zu den Werwölfen. Unter seiner Herrschaft waren sie in Nordamerika aufgeblüht, sowohl was ihre Macht als auch was ihre Anzahl anging – während es in Europa immer weiter mit ihnen bergab ging.

Was würde Adam anders machen? Ich konnte mir keine große Veränderung vorstellen, die jemandem nutzen würde. Wenn überhaupt, wäre Adam womöglich ein noch größerer Despot. Samuel sagte, Bran habe daran gedacht, Adam als Vorzeigewerwolf zu benutzen – aber das hätte ohnehin nie funktioniert. Adam war zu aufbrausend. Irgendein Reporter würde ihm eine Kamera ins Gesicht halten und sich flach auf dem Boden wiederfinden.

Das war es.

Ich schnappte nach Luft. Sie wollten keine Veränderung – sie wollen, dass alles beim Alten bleibt. Bran plante, das Geheimnis der Wölfe an die Öffentlichkeit zu bringen, und einige wollten Adam einsetzen, um das zu verhindern.

Plötzlich kam es mir nicht mehr so seltsam vor, dass einer von Adams Wölfen ihn verraten hatte. (Ich war mir allerdings immer noch nicht so sicher, dass meine Instinkte auch hier richtig lagen). Aber ich konnte mir durchaus vorstellen, wie einer vom Rudel zu dem Schluss gekommen war, dem Feind zu helfen, sei kein Verrat. Immerhin bereiteten sie den Weg dafür vor, dass Adam die Macht übernahm. Der Überfall auf sein Haus hätte niemandem schaden sollen – aber die Toten dort hätten auch niemanden entmutigt. Werwölfe starben oft jung, und diese Wölfe waren für eine gute Sache gestorben. Ein Wolf wie Mac, der nicht einmal zum Rudel gehörte, wäre für sie kein großer Verlust gewesen, gemessen an dem, was auf dem Spiel stand.

Jeder konnte der Verräter sein. Keiner aus Adams Rudel schien über persönliche Loyalität gegenüber Bran zu verfügen.

Ich holte die Karte heraus, die Bran mir gegeben hatte, und rief die oberste Nummer an. Er ging beim zweiten Klingeln an den Apparat.

»Bran, hier ist Mercy.« Nun, da ich ihn am Telefon hatte, war ich nicht sicher, wie viel ich ihm erzählen sollte – viel zu viel von dem, was ich mir zusammengereimt hatte, war reine Spekulation. Schließlich fragte ich: »Hat Adam sich bei dir gemeldet?«

»Nein.«

Ich tippte mit dem Zeh auf die Couch. »Ist … ist Dr. Wallace immer noch da?«

Bran seufzte. »Ja.«

»Könntest du ihn vielleicht fragen, ob er an einem Beruhigungsmittel gearbeitet hat, das auch bei Werwölfen funktioniert?«

Seine Stimme wurde schärfer. »Was weißt du?«

»Nichts. Nicht eine einzige verdammte Antwort auf die offenen Fragen, eingeschlossen die Frage, wo Adam und dein Sohn gerade sind. Und das ausgerechnet in dem Moment, wenn du daran denkst, die Werwölfe in die Öffentlichkeit zu bringen.«

»Samuel ist verschwunden?«

»Ich würde nicht so weit gehen. Das ganze Rudel ist bei ihnen – sie lassen sich vielleicht nur nicht dazu herab, sich bei mir zu melden.«

»Gut«, erklärte er, offensichtlich nicht überrascht. »Und zu deiner Bemerkung über die Öffentlichkeit – ich glaube, das ist etwas, das bald passieren muss. Nicht in dieser Woche oder der nächsten, aber es sollte auch kein Jahr mehr dauern. Meine Kontaktleute in den FBI-Laboren sagen mir, dass unsere Existenz im Augenblick beinahe ein offenes Geheimnis darstellt. Wie die Grauen Lords bin ich zu den Schluss gekommen, dass es sich nicht vermeiden lässt, an die Öffentlichkeit zu gehen – aber es ist ungemein wichtig, genau zu planen, wie das geschieht.«

Werwölfe sind wirklich Kontrollfreaks.

»Wie viele Leute … wie viele Wölfe wissen davon?«, fragte ich.

Er schwieg einen Moment. »Denkst du, es könnte mit dem Angriff auf Adam zu tun haben?«

»Ich glaube schon, ja.«

»Die meisten Wölfe hier wissen es«, sagte er. »Ich habe es nicht geheim gehalten. Nächsten Monat beim Konklave werde ich eine allgemeine Ankündigung machen.«

Dann schwieg er einfach und wartete, dass ich ihm den Rest erzählte. Ich zögerte. Wahrscheinlich würde ich mich dadurch lächerlich machen, indem ich überhaupt etwas sagte. Aber als ich dort auf diesem Hocker saß, wurde mir sehr klar, dass ich ebenfalls meine Loyalitäten hatte. Ich mochte kein Werwolf sein, aber Bran war immer noch mein Marrok. Ich musste ihn warnen.

»Ich habe keine Beweise«, fuhr ich fort. »Nur eine Theorie.« Und dann erzählte ich ihm, was ich glaubte, dass geschehen war, und warum.

»Ich habe keine Ahnung, wer es ist«, sagte ich in das Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Oder ob ich recht habe.«

»Wenn es ein Werwolf ist, der sich den Menschen nicht zeigen will, dann kommt es mir seltsam vor, dass Menschen mit ihm zusammenarbeiten wollen«, sagte Bran, aber es klang überhaupt nicht so, als hielte er meine komplette Theorie für dumm.

Die Menschen hätte ich beinahe vergessen. »Stimmt. Und ich habe auch keine bessere Erklärung für die Drogentests, von denen Mac uns erzählt hat, wenn man einmal davon absieht, dass sie sich wegen der Dosierung und der Nebenwirkungen Sorgen gemacht haben. Für Werwölfe zu zahlen, scheint ein großes Risiko mit nur geringem Nutzen zu sein, vor allem, wenn man sie betäuben und schwächen will.«

»Wenn zwei Wölfe kämpfen, könnte es das Ergebnis gewaltig beeinflussen, wenn einer von ihnen unter Drogen steht«, stellte Bran fest. »Deine Theorie gefällt mir, Mercedes. Sie ist nicht vollkommen, aber für mich fühlt es sich an, als wärest du auf der richtigen Spur.«

»Er würde sich wegen der Loyalitäten der Menschen keine Gedanken machen müssen«, sagte ich laut denkend.

»Wer?«

»Adam hat gesagt, einer der Wölfe, die sein Haus angegriffen haben, war jemand, den er kannte – ein Wolf, der sich zur gleichen Zeit verwandelt hat wie er.«

»David Christiansen.«

»Ja.« Es überraschte mich nicht, dass der Marrok wusste, von wem ich sprach. Bran vermittelte immer den Eindruck, als würde er jeden Werwolf persönlich kennen, aber ich hatte das immer für Show gehalten. Vielleicht tat er das aber wirklich.

»David arbeitet mit Menschen zusammen«, sagte Bran bedächtig. »Aber nicht mit anderen Werwölfen. Ich hätte nicht gedacht, dass Christiansen jemals mit etwas zu tun haben würde, was Vergewaltigung einschließt – Veränderungen wie die, die dein Alan MacKenzie Frazier erlebt hat. Dennoch, das ist etwas, worüber ich nachdenken sollte. Ich werde mit Charles sprechen und sehen, was er damit anfangen kann.«

»Ist er immer noch in Chicago?«

»Ja. Du hattest recht, es war Leo. Offenbar genügte sein Gehalt nicht aus, um den Lebensstil zu finanzieren, den er sich wünschte.« Brans Stimme klang neutral. »Er kannte den Wolf nicht, dem er die jungen Opfer verkaufte – insgesamt waren es sechs. Er wusste nicht, wofür er die Jungen wollte. Dumm von ihm. Es war der Stellvertreter des Leitwolfs, der den Handel arrangierte, aber Charles kann im Augenblick nicht mehr Informationen aus dem Mann herausholen, weil er die Stadt verlassen hat. Wir werden vielleicht eine Weile brauchen, um ihn zu finden. Der Rest des Rudels scheint keine Ahnung davon zu haben, was passiert ist, aber wir werden das Rudel ohnehin auflösen.«

»Bran? Wenn du etwas von Samuel oder Adam hörst, würdest du ihnen bitte ausrichten, dass sie mich anrufen sollen?«

»Das werde ich«, sagte er leise und legte auf.