9

Samuel und Warren saßen an entgegengesetzten Enden des Wohnzimmers, als ich hereinkam, und es roch regelrecht nach Zorn. Nur vom Sehen her konnte ich nicht wissen, ob sie aufeinander wütend waren oder auf etwas anderes. Aber Werwölfe sind immer bereit, auf etwas wütend zu sein. Ich hatte fast vergessen, wie sie untereinander waren.

Selbstverständlich war ich nicht die Einzige mit einer guten Nase. Warren, der am nächsten zur Tür saß, holte tief Luft.

»Sie war mit Kyle zusammen«, sagte er tonlos. »Sie riecht wie das Eau de Toilette, das ich ihm geschenkt habe. Du hast es ihm gesagt.«

Er fluchte, aber es lag mehr Schmerz als Zorn darin. Ich spürte den scharfen Stich von Schuldgefühlen.

»Du hättest es nie getan«, erklärte ich. Aber das war keine Entschuldigung. »Und er hat verdient zu wissen, mit welchem Mist er fertig werden muss.«

Warren schüttelte den Kopf und sah mich verzweifelt an. »Willst du so unbedingt sterben? Adam könnte dich und Kyle dafür hinrichten lassen. Ich habe so etwas schon gesehen.«

»Nur mich, nicht Kyle«, sagte ich.

»Nein, verdammt noch mal, auch Kyle.«

»Nur, wenn Ihr Geliebter zu den Nachrichten oder zur Polizei rennt.« Samuels Stimme war sanft, aber Warren starrte ihn trotzdem wütend an.

»Du hast zu viel riskiert, Mercy«, erklärte Warren und wandte sich wieder mir zu. »Was glaubst du, wie ich mich fühlen würde, wenn ich euch beide verlöre?« Dann war plötzlich all sein Zorn verschwunden, und nur Elend blieb zurück. »Aber vielleicht hattest du recht. Es war immer noch meine Sache. Mein Risiko. Wenn er es wissen sollte, hätte ich es ihm sagen sollen.«

»Nein. Du gehörst zum Rudel und hast Gehorsam geschworen.« Adam stand leicht schwankend oben auf der Treppe und stützte sich auf seinen Stock. Er trug ein weißes Hemd und Jeans, die ihm leidlich passten. »Wenn du es ihm gesagt hättest, wäre mir keine Wahl geblieben: Ich hätte mich auf das Gesetz berufen oder einen Aufstand im Rudel riskieren müssen.«

Er setzte sich ein wenig abrupter auf die oberste Stufe, als er wohl vorgehabt hatte, und grinste mich an. »Samuel und ich können beide bezeugen, dass Warren Kyle kein Wort gesagt hat, sondern dass du es warst. Entgegen Warrens ausdrücklichem Wunsch, wie ich betonen möchte. Und, wie du immer wieder sagst, du gehörst nicht zum Rudel.« Er schaute Warren an. »Ich hätte es dir schon lange gestattet, aber ich muss mich ebenfalls an Befehle halten.«

Ich starrte ihn einen Moment an. »Du wusstest, dass ich es tun würde.«

Er lächelte. »Sagen wir einfach, dass ich schon daran dachte herunterzukommen und dir ausdrücklich befehlen zu müssen, es ihm auf keinen Fall zu sagen, damit du endlich zur Tür rausstürmst.«

»Du manipulativer Mistkerl«, fauchte ich mit einer Spur von Ehrfurcht. Er hatte es geschafft – bald würde an diesem alten VW hinter meinem Haus ein Reifen fehlen.

»Danke.« Er lächelte bescheiden.

Und wenn Jesse erst wieder da war, konnte sie mir mit dem Graffiti helfen.

»Wie hat er es aufgenommen?« Warren war von der Couch aufgestanden und starrte aus dem Fenster. Seine Hände hingen locker und entspannt an den Seiten und verrieten nichts über seine Gefühlen.

»Er wird nicht zur Polizei gehen«, sagte ich. Ich suchte nach etwas Aufschlussreicherem, aber ich wollte Warrens Erwartungen nicht beeinflussen, falls ich mich irren sollte.

»Er sagte, er wird mit dir darüber reden«, fuhr ich schließlich fort. »Wenn diese andere Sache erledigt ist.«

Warren schlug abrupt die Hände vors Gesicht, in einer Geste, die Kyle sehr ähnelte »Zumindest ist es noch nicht vorbei.«

Er sprach nicht von einem von uns, aber ich konnte die Trostlosigkeit in seiner Stimme nicht ertragen. Ich berührte seine Schulter und sagte: »Bau keinen Mist mehr, und ich denke, alles kommt in Ordnung.«


Samuel und ich machten uns auf den Weg zu Zee und seiner Informantin, und ich versuchte immer noch herauszufinden, ob ich hätte wütend sein sollen, weil Adam mich so geschickt manipulierte. Nur, dass er mich gar nicht wirklich beeinflusst hatte, oder? Er hatte hinterher bloß das Verdienst für das, was ich getan hatte, eingeheimst.

Eine Ampel wurde rot, und ich kam hinter einem Minivan zum Stehen, ein wenig näher als normal. Samuel stützte sich am Armaturenbrett ab und holte tief Luft. Ich schnitt dem Jungen auf dem hinteren Sitz des Minivan, der sich umgedreht hatte, um uns anzustarren, eine Grimasse. Er zog die Unterlider herunter und streckte die Zunge heraus.

»Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, in einen Autounfall verwickelt zu werden«, sagte Samuel. »Ich fahre nur lieber mit Absicht jemandem in den Kofferraum.«

»Was?« Ich schaute zu ihm hinüber und blickte dann wieder nach vorn. Die Rückseite des anderen Wagens bildete einen großen Wall vor unserer Windschutzscheibe. Ich musste grinsen. »VW-Busse haben keine Schnauze«, sagte ich sanft. »Unsere Stoßstange befindet sich etwa einen Fuß von deinen Zehen entfernt. Du könnest zwischen den Autos durchgehen.«

»Ich könnte die Hand ausstrecken und dieses Kind berühren«, sagte er. Der Junge schnitt eine weitere Grimasse, und Samuel grimassierte zurück, steckte die Daumen in die Ohren und spreize die Finger wie Elchschaufeln. »Weißt du, eine von Adams Aufgaben bestand darin, dafür zu sorgen, dass du nicht in der Gegend herumrennst und den Leuten launige Geschichten über Werwölfe erzählst.«

Die Ampel wurde grün, und der Junge winkte traurig, als sein Auto beschleunigte und auf die Interstate abbog. Ich gab ebenfalls Gas.

Ich schnaubte. »Kyle ist nicht die Welt.« Ich warf ihm einen Blick zu. »Außerdem wusstest du ebenso gut wie Adam, was ich vorhatte. Wenn du wirklich etwas dagegen tun wolltest, hättest du mich aufhalten können, bevor ich gegangen bin.«

»Vielleicht halte ich Kyle für vertrauenswürdig.«

Ich schnaubte. »Vielleicht besteht der Mond aus grünem Käse. Es ist dir egal. Du denkst ohnehin, die Werwölfe sollten sich der Welt endlich stellen, so wie das Feenvolk.« Samuel hatte nie Angst vor Veränderungen gehabt.

»Wir werden uns nicht viel länger verstecken können«, bestätigte er meine Worte. »Als ich wieder zur Uni ging, wurde mir klar, wie weit die forensische Medizin inzwischen fortgeschritten ist. Vor zehn Jahren, als wir uns nur wegen des Militärs und des FBI Sorgen machen mussten, genügte es, ein paar Wölfe an den richtigen Orten zu haben. Aber wir sind nicht genug, um jedes Kleinstadtlabor zu infiltrieren. Seit das Feenvolk sich gezeigt hat, haben die Wissenschaftler mehr auf Anomalien geachtet, die sie früher Laborfehlern oder einer Verseuchung der Beweisstücke zugeschrieben hätten. Wenn mein Vater nicht bald den richtigen Augenblick findet, wird er uns finden.«

»Wahrscheinlich bist du der Grund, wieso er überhaupt darüber nachdenkt.« Das war nur vernünftig. Bran hatte Samuels Rat stets hoch geschätzt.

»Er ist nicht dumm. Sobald er begriffen hat, was uns bevorsteht, kam er zu dem gleichen Schluss. Er hat für das nächste Frühjahr eine Versammlung aller Alphas anberaumt.« Er hielt inne. »Er dachte daran, Adam dafür einzusetzen, um an die Öffentlichkeit zu gehen – den gut aussehenden Helden aus dem Vietnamkrieg.«

»Warum nicht dich?«, fragte ich. »Den gut aussehenden, selbstlosen Arzt, der seit Jahrhunderten Menschen am Leben erhält?«

»Genau deshalb ist er der Boss und du nur ein kleines Licht«, sagte er. »Vergiss nicht, dass die Popkultur behauptet, ein Werwolf müsse dich nur beißen, und dann wirst du selbst einer – so ähnlich wie bei einem HIV-Infizierten. Es wird eine Weile dauern, bis die Leute sich daran gewöhnen, dass wir uns in ihrer Nähe befinden. Sollen sie lieber denken, dass alle Wölfe in der Armee und der Polizei sind. Du weißt schon ›Polizei – dein Freund und Helfer‹.«

»Ich bin kein kleines Licht«, widersprach ich hitzig. »Kleine Lichter sind Gefolgsleute.« Er lachte, erfreut darüber, mich wieder gegen sich aufgebracht zu haben.

»Es stört dich also nicht, dass ich es Kyle früher gesagt habe?«, fragte ich nach einer Weile.

»Nein, du warst im Recht. Er hat zu viel zu verlieren, wenn er zur Presse geht, und außerdem ist er die Art von Mann, die wir gut brauchen können – um den Pöbel unter Kontrolle zu halten.«

»Gebildet, eloquent und ein Anwalt aus guter Familie?«, zählte ich Kyles Vorzüge auf. »Aber nicht unbedingt ein Durchschnittsmann.«

Samuel zuckte die Achseln. »Schwul zu sein hat dieser Tage gewisse Vorteile.«

Ich musste daran denken, was mir Kyle über seine Familie erzählt hatte, und kam zu dem Schluss, dass Samuel sich irrte, zumindest, was gewisse Gesellschaftsschichten anging. »Ich werde Kyle sagten, dass er bei dir bestimmte Vorteile hat.«

Unerwartet grinste Samuel. »Es wäre mir lieber, wenn du das nicht tun würdest. Er wird nur noch heftiger mit mir flirten.«

»Da wir gerade von Unbehagen reden«, stellte ich fest, »Wieso waren Warren und du so angespannt?«

»Es lag überwiegend an Warren«, sagte er. »Ich bin ein Fremder, ein dominanter Wolf in seinem Territorium – und er war ohnehin schon durcheinander, weil er befürchtete, die Liebe seines Lebens zu verlieren. Wenn mir klar gewesen wäre, wie dominant er ist, hätte ich die Nacht anderswo verbracht. Wie werden zurechtkommen, aber es wird nicht angenehm sein.«

»Er ist Adams dritter Mann.«

»Wäre nett gewesen, wenn sich jemand die Mühe gemacht hätte, mir das zu sagen«, grollte Samuel gutmütig. »Jetzt, da Adam verwundet ist und sein Stellvertreter nicht da, ist Warren in der Rolle des Leitwolfs – kein Wunder, dass er so angespannt war. Ich war schon bereit, aufzustehen und spazieren zu gehen, als du aufgetaucht bist.« Er warf mir einen undeutbaren Blick zu. »Seltsam, dass du gekommen bist, um ihn zu beruhigen. Genauso, als wärest du Adams Stellvertreter – oder seine Gefährtin.«

»Ich gehöre nicht zum Rudel und habe keinen Status darin«, sagte ich knapp. »Ich habe keine Beziehung dieser Art zu Adam. Was ich tatsächlich hatte, war ein lange überfälliges Gespräch mit Kyle – und das hat Warren selbstverständlich beschäftigt.«

Samuel beobachtete mich weiter. Er hatte die Mundwinkel hochgezogen, und in seinen Augen standen viele Dinge, die ich nicht begreifen konnte. Schließlich sagte er: »Adam hat dich vor seinem Rudel als Gefährtin beansprucht. Wusstest du das?«

Das hatte ich nicht gewusst. Es ließ mich zornig nach Luft schnappen, bevor mir klar wurde, wieso er das vielleicht getan hatte.

»Er musste sein Rudel irgendwie davon abhalten, mich umzubringen. Wölfe töten Kojoten, die sich auf ihrem Territorium befinden. Ein förmlicher Anspruch auf mich als seine Gefährtin hat mich in Sicherheit gebracht. Soweit ich weiß, hat Bran ihn gebeten, sich um mich zu kümmern. Das bedeutet nicht, dass ich zum Rudel gehöre, und ich bin nicht seine Gefährtin. Das Erste liegt daran, dass ich eine Kojotin bin, und das Zweite, dass mich jemand fragen muss, bevor er mich zu seiner Gefährtin machen kann.«

Samuel lachte freudlos. »Denk, was du willst. Wie weit ist es denn noch bis zu dieser Bar?«

»Sie liegt auf der anderen Seite von Pasco«, erklärte ich. »Wir werden in zehn Minuten dort sein.«

»Also gut«, sagte er. »Warum erzählst du mir nicht mehr über Zee und seine Feenvolk-Freundin, die wir treffen werden?«

»Ich weiß selbst nicht viel«, sagte ich. »Nicht über die Frau. Nur, dass sie vielleicht über Informationen verfügt, die uns interessieren könnten. Zee selbst ist ein Gremlin. Er hat mir nach dem College meinen ersten Job gegeben, und ich habe ihm die Werkstatt abgekauft, als er in den Ruhestand ging. Er hilft immer noch aus, wenn ich ihn brauche, oder wenn er anfängt, sich zu langweilen. Er nimmt gerne Dinge auseinander und sieht nach, was mit ihnen nicht stimmt, aber für gewöhnlich bin ich diejenige, die sie danach wieder zusammensetzt.«

»Es gibt hier in der Nähe ein Reservat des Feenvolks.«

Ich nickte. »Etwa vierzig Meilen entfernt. Direkt vor Walla Walla.«

»Adam sagt, es hat einige der bedeutenderen Angehörigen des Feenvolks angezogen, dass es hier so viele Geringere gibt.«

»Davon weiß ich nichts«, sagte ich. »Ich kann ihre Magie riechen, aber ich weiß nie, wie stark sie sind.«

»Er glaubt auch, dass es hier deshalb mehr Vampire, Geister und andere Übernatürliche gibt als zum Beispiel in Spokane, was die größere Stadt wäre.«

»Ich versuche wirklich, mich aus den Angelegenheiten anderer Spezies herauszuhalten«, sagte ich. »Ich kann die Werwölfe nicht vermeiden, nicht, wenn Adam nebenan wohnt, aber ich versuche es. Und die einzigen vom Feenvolk, mit denen ich etwas zu tun habe, sind Zee und sein Sohn Tad.«

»Immerhin sind sie bereit, mit dir zu reden.« Samuel streckte die Beine aus und verschränkte die Finger im Nacken, sodass die Ellbogen abstanden wie Flügel. »Adam sagt, dein alter Boss sei einer der Ältesten. Und nur, damit du es weißt, die Metallschmiede – Gremlins – werden nicht zu den Geringeren gezählt. Warren sagte mir auch, dass Stefan der Vampir recht oft zu dir kommt. Und dann gibt es noch diesen menschlichen Polizisten. Es ist gefährlich, die Aufmerksamkeit der Autoritäten zu erregen.«

In seinen Worten klang es wirklich, als hätte ich meine Finger überall drin.

»Zee wurde von den Grauen Lords in die Öffentlichkeit gezwungen«, sagte ich. »Also halten sie ihn für einen Geringeren. Stefan liebt seinen Bus, und helfe ihm, ihn zu reparieren.«

»Du tust was?«

Ich hatte vergessen, dass er Stefan nie begegnet war. »Er ist nicht wie die meisten anderen Vampire.« Ich versuchte, es ihm zu erklären. Obwohl Stefan der einzige Vampir war, den ich je kennengelernt hatte, wusste ich, dass man von ihnen erwartete, dass sie große Schauspieler waren. Ich ging schließlich ins Kino wie jeder andere auch.

»Sie sind alle wie die meisten anderen Vampire«, sagte Samuel finster. »Einige von ihnen können es nur besser verbergen als andere.«

Es würde nicht helfen, ihm zu widersprechen, besonders, da ich im Prinzip ja seiner Meinung war.

»Und der Polizist ist nicht meine Schuld«, murmelte ich und nahm die Ausfahrt nach Pasco. Es schien ein guter Zeitpunkt zu sein, das Thema zu wechseln, also sagte ich: »Der Feenhügel in Walla Walla ist die Bar, zu der die Touristen gehen, wenn sie Feenvolk sehen wollen. Feenvolk selbst, das nicht angestarrt werden will, geht überwiegend zu Onkel Mike hier in Pasco. Zee sagt, es liegt ein Bann auf der Bar, der bewirkt, dass Menschen sie meiden. Das betrifft mich nicht, aber ich habe keine Ahnung, wie er auf Werwölfe wirkt.«

»Du wirst nicht ohne mich da hineingehen«, erklärte er.

»Gut.« Ich erinnerte mich an eine wichtige Regel: Widersprich niemals einem Werwolf, bevor es notwendig wird.


Onkel Mikes Bar lag von meiner Werkstatt aus gesehen auf der anderen Seite des Columbia mitten in Pascos Industriegelände. Das alte Haus war einmal ein kleines Lagerhaus gewesen, und es gab noch weitere Lagerhäuser auf beiden Seiten, alle von den Kids vollständig mit Graffiti überzogen. Ich war nicht sicher, ob es Magie war, die sie von Onkel Mikes Haus fernhielt, oder jemand mit noch mehr Farbe und einem Pinsel, aber die Außenwände dieses bestimmten Hauses waren stets makellos.

Ich fuhr auf den Parkplatz und schaltete das Licht aus. Es war gegen sieben, noch ein bisschen früh für Stammgäste, und in der Nähe standen nur vier andere Autos, eins davon Zees.

Drinnen war es dunkel genug, dass ein Mensch auf den Stufen, die vom Eingang zur eigentlichen Theke führten, vielleicht gestolpert wäre. Samuel zögerte an der Tür, aber ich hielt das eher für Taktik als für eine Reaktion auf den Bann. In der Bar nahm die Theke die gesamte Wand rechts von uns ein. Es gab auch eine kleine Tanzfläche in der Mitte des Raums, mit Gruppen von Tischen rings umher.

»Da sind sie«, sagte ich zu Samuel und ging zur gegenüberliegenden Ecke, wo Zee recht entspannt neben einer mäßig attraktiven Frau in einem konservativen Kostüm saß.

Ich hatte Zee noch nie ohne seinen Schutzzauber gesehen – er hatte mir erzählt, er habe ihn so lange getragen, dass er sich nun in dieser Gestalt wohler fühlte als in seiner eigentlichen. Was er für sich gewählt hatte, war das Aussehen eines einigermaßen hochgewachsenen, kahl werdenden Mannes mit einem kleinen Bauch. Ein paar Falten zierten sein Gesicht, gerade genug, um ihm Charakter zu geben.

Er sah uns kommen und lächelte. Da er und die Frau bereits mit dem Rücken zur Wand saßen, setzten Samuel und ich uns vor sie. Wenn es Samuel störte, den größten Teil des Raums, der überwiegend leer stand, hinter sich zu haben, ließ er sich das nicht anmerken. Ich zog meinen Stuhl herum, bis ich wenigstens einen kleinen Blick auf den Rest des Lokals werfen konnte.

»Hallo, Zee«, sagte ich. »Das hier ist Dr. Samuel Cornick. Samuel, darf ich dir Zee vorstellen?«

Zee nickte, stellte aber seine Begleiterin nicht vor. Stattdessen wandte er sich ihr zu und sagte: »Das ist die Person, von der ich dir erzählt habe.«

Sie verzog das Gesicht und tippte mit langen manikürten Nägeln auf den Tisch. Etwas an der Art, wie sie sie benutze, ließ mich annehmen, dass sie unter ihrem Schutzzauber vielleicht Klauen hatte. Ich versuchte, mehr von ihrem Geruch zu erkennen, aber schließlich war ich gezwungen zuzugeben, dass sie entweder keinen hatte oder ebenso wie Zee bloß nach Eisen und Erde roch.

Als sie schließlich die Betrachtung ihrer Nägel aufgab, sprach sie mich an und nicht Samuel. »Zee sagte mir, dass ein Kind verschwunden ist.«

»Sie ist fünfzehn«, erklärte ich, um ganz genau zu sein. Das Feenvolk mag es nicht, wenn sie glauben, dass man sie anlügt. »Die menschliche Tochter des hiesigen Leitwolfs.«

»Das könnte wirklich Ärger bedeuten«, sagte sie. »Aber ich habe mit Zee gesprochen, und was ich Ihnen zu sagen habe, hat nichts mit dem Feenvolk zu tun, also bin ich frei, es Ihnen mitzueilen. Normalerweise würde ich den Wölfen nicht helfen, aber es gefällt mir nicht, wenn jemand seinen Kampf zu Unschuldigen trägt.«

Ich wartete.

»Ich arbeite in einer Bank«, sagte sie schließlich. »Ich werde Ihnen den Namen nicht verraten, aber es ist die, welche die hiesige Siedhe von Vampiren benutzt. Ihre Überweisungen folgen überwiegend einem gleichmäßigen Muster.« Das bedeutete wohl, dass die meisten Einzahlungen monatlich erfolgten. Sie trank geziert einen Schluck aus ihrem Glas. »Vor sechs Tagen gab es jedoch eine ungewöhnliche Abweichung.«

»Besucher, die Tribut zahlten«, spekulierte ich und richtete mich ein wenig auf. Das klang vielversprechend. Ein Einzelner vom Feenvolk oder ein Wolf hätte keinen so hohen Tribut gezahlt, dass es jemandem aufgefallen wäre.

»Ich habe mir die Freiheit genommen, mit Onkel Mike selbst zu sprechen, bevor ihr gekommen seid«, warf Zee ein. »Er hat von keinen neuen Besuchern gehört, was bedeutet, dass sich diese Leute offenbar sehr bedeckt halten.«

»Wir müssen mit den Vampiren sprechen«, erklärte Samuel. »Adam wird wissen, wie.«

»Das dauert zu lange.« Ich holte das Handy heraus und wählte Stefans Nummer. Es war noch ziemlich früh für ihn, um schon wach zu sein, aber er rief mich für gewöhnlich nicht viel später an.

»Mercy«, sagte er freundlich. »Bist du von deinem Ausflug zurück?«

»Ja. Stefan, ich brauche deine Hilfe.«

»Was kann ich für dich tun?« Etwas in seiner Stimme schien sich zu verändern, aber darüber durfte ich mir keine Gedanken machen.

»Von Dienstag auf Mittwoch hat eine Gruppe von Personen, darunter Werwölfe von außerhalb dieses Territoriums, die Tochter des hiesigen Alpha entführt. Sie ist eine persönliche Freundin von mir, Stefan. Jemand hat mir gesagt, dass deine Siedhe vielleicht etwas über ein fremdes Rudel weiß.«

»Aha«, sagte er. »Das liegt nicht in meinem Verantwortungsbereich. Soll ich für dich Nachforschungen anstellen?«

Ich zögerte. Ich wusste nicht viel über Vampire, außer, dass man sie klugerweise lieber mied. Etwas an der Förmlichkeit seiner Frage ließ mich annehmen, dass der Hintergrund weitreichender sein mochte, als ich gedacht hatte.

»Was bedeutet das genau?«, fragte ich misstrauisch.

Er lachte, ein fröhliches, gar nicht nach Vampir klingendes Geräusch. »Schlau von dir. Es bedeutet, dass du mich zu deinem offiziellen Vertreter machst, und das verleiht mir bestimmte Rechte, diese Sache zu verfolgen, die ich normalerweise nicht hätte.«

»Rechte über mich?«

»Keine, die ich ausnutzen werde«, sagte er. »Ich gebe dir mein Ehrenwort, Mercedes Thompson. Ich werde dich zu nichts veranlassen, was du nicht willst.«

»Also gut«, sagte ich. »Dann möchte ich, dass du Nachforschungen anstellst.«

»Was weißt du?«

Ich warf dem ausdruckslosen Gesicht der Frau einen Blick zu. »Ich kann dir nicht alles sagen – nur dass ich gerade erfahren habe, dass deine Siedhe etwas über Besucher in den Tri-Cities weiß, die vielleicht mit der Gruppe identisch sind, nach der ich suche. Wenn es in dieser Gruppe keine Werwölfe gibt, ist sie die falsche. Möglicherweise experimentieren sie mit Medizin oder Drogen.«

»Ich werde mich erkundigen«, sagte er. »Behalte dein Handy bei dir.«

»Ich bin nicht sicher, ob das richtig war«, sagte Zee, nachdem ich aufgelegt hatte.

»Du hast gesagt, sie hat mit Werwölfen zu tun.« Die Frau zog mir gegenüber leicht die Oberlippe hoch. »Du hast nicht erwähnt, dass sie auch Beziehungen zu den Untoten unterhält.«

»Ich bin Mechanikerin«, sagte ich. »Ich verdiene nicht genug, um die Vampire bar bezahlen zu können, also repariere ich ihre Autos. Stefan besitzt einen alten Campingbus, den er restauriert. Er ist der Einzige, mit dem ich je persönlich zu tun hatte.«

Sie wirkte nicht gerade erfreut, aber ihre Oberlippe entspannte sich wieder.

»Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie mir ihre Zeit schenken«, sagte ich und umging damit knapp ein offenes »Danke«, denn das hätte sich als problematisch erweisen können. Die falsche Art von Feenvolk wird einen Dank als Eingeständnis betrachten, dass man sich ihr verpflichtet fühlt, und dass bedeutet dann, dass man ihnen einen Wunsch erfüllen muss. Zee hatte mir das mit großer Akribie erklärt, damit ich richtig mit solchen Situationen umgehen konnte. »Der Alpha wird ebenfalls froh sein, seine Tochter zurückzuerhalten.«

»Es ist immer gut, wenn der Alpha froh ist«, stellte sie fest, aber ich hätte nicht sagen können, ob sie das ehrlich oder sarkastisch meinte. Abrupt stand sie auf und strich ihren Rock glatt, um mir Zeit zu geben, meinen Stuhl zu bewegen, damit sie gehen konnte.

Sie blieb noch kurz an der Theke stehen und sprach mit dem Barmann, dann verließ sie das Lokal.

»Sie riecht wie Sie«, sagte Samuel zu Zee. »Ist sie ebenfalls Metallschmied?«

»Gremlin, bitte«, sagte Zee. »Es mag ein neuer Name für etwas Altes sein, aber es ist zumindest keine schlechte Übersetzung. Sie ist ein Troll – eine Verwandte, aber keine enge. Trolle mögen Geld und Wucher, und viele von ihnen arbeiten im Bankwesen.« Er sah mich verärgert an. »Du solltest nicht allein in dieses Vampirnest gehen, Mercy, und auch nicht nur mit Stefan. Er scheint besser zu sein als die meisten von ihnen, aber ich lebe schon sehr lange. Man kann einem Vampir nicht trauen. Ja angenehmer sie wirken, desto gefährlicher sind sie.«

»Ich habe auch nicht vor, irgendwohin zu gehen«, erwiderte ich. »Samuel hat recht – Wölfe zahlen hier keinen Tribut. Wahrscheinlich sind es Leute, die nichts mit Jesses Entführung zu tun haben.«

Mein Handy klingelte.

»Mercy?«

Es war Stefan, aber etwas an seiner Stimme beunruhigte mich. Ich hörte auch noch etwas anderes im Hintergrund, aber inzwischen befanden sich mehr Leute in der Bar, und jemand hatte die Musik lauter gestellt.

»Einen Moment«, sagte ich laut, und dann log ich. »Tut mir leid, ich kann dich nicht hören. Ich gehe nach draußen.« Ich winkte Samuel und Zee zu, dann ging ich hinaus auf den ruhigeren Parkplatz.

Samuel begleitete mich. Er setzte dazu an, etwas zu sagen, aber ich hielt einen Finger an die Lippen. Ich wusste nicht, wie gut Vampire hören können, und ich wollte nichts riskieren.

»Mercy, verstehst du mich jetzt?«

Stefans Stimme war sehr deutlich und klar.

»Ja«, sagte ich. Ich konnte auch die Stimme einer Frau vernehmen, die liebenswürdig sagte: »Frag sie, Stefan.«

Er holte tief Luft, als hätte sie ihm wehgetan.

»Befindet sich ein fremder Werwolf bei dir?«, fragte er.

»Ja«, sagte ich und sah mich um. Ich konnte keinen Vampir in der Nähe riechen, und ich war ziemlich sicher, dass es mir aufgefallen wäre. Die Vampire mussten eine Kontaktperson bei Onkel Mike haben, jemanden, der Adams Werwölfe kannte und überdies feststellen konnte, dass Samuel ein Werwolf war.

»Meine Herrin fragt sich, wieso sie nicht über einen Besucher informiert wurde.«

»Wölfe bitten nicht um Erlaubnis, und schon gar nicht bitten sie die Siedhe«, sagte ich ihm. »Adam weiß Bescheid.«

»Adam ist verschwunden und hat sein Rudel führerlos zurückgelassen.« Er und die Frau unterhielten sich offenbar miteinander, und Stefans Worte kamen so angespannt heraus, dass sie wie ein Echo klangen.

Ich war relativ sicher, dass die Frau nicht wusste, dass ich sie hören könnte – aber Stefan tat es. Er wusste, was ich war, weil ich es ihm gezeigt hatte. Offenbar hatte Stefan den Rest seiner Siedhe nicht informiert. Selbstverständlich war eine so relativ machtlose Person wie ich für die Vampire auch nur von geringem Interesse.

»Das Rudel ist wohl kaum führerlos«, erklärte ich.

»Das Rudel ist schwach«, sagte sie. »Und es ist bereits zu einem Vorfall gekommen. Diese Leute haben dafür bezahlt, in unser Territorium zu kommen, weil wir stärker als Adams kleines Rudel sind.«

Samuel kniff die Augen zusammen und spannte die Lippen an. Die Vampirin sprach über die Leute, die Mac umgebracht und Jesse entführt hatten.

»Die neuen Besucher sind also tatsächlich mit Werwölfen gekommen«, stellte ich scharf fest. »Es sind nicht Brans Wölfe. Sie können kein Rudel sein. Sie sind weniger als nichts. Gesetzlose ohne Status. Ich selbst habe zwei von ihnen getötet, und Adam zwei weitere. Und jeder weißt, dass ich keine große Macht besitze. Echte Wölfe, Wölfe in einem Rudel, würden niemals einer so schwachen Person wie mir zum Opfer fallen.« Das entsprach der Wahrheit, und ich hoffe, dass sie es beide hören konnten.

Es gab eine lange Pause. Ich konnte im Hintergrund Gemurmel hören, aber nicht verstehen, was sie sagten.

»Das mag so sein«, stellte Stefan schließlich müde fest. »Bring deinen Wolf mit und kommt zu uns. Wir werden entscheiden, ob er einen Besucherpass braucht. Wenn nicht, sehen wir keinen Grund, dir nicht zu sagen, was wir über diese Gesetzlosen wissen, die so viel weniger sind als ein Rudel.«

»Ich weiß nicht, wo sich deine Siedhe befindet«, sagte ich.

»Ich komme und hole dich ab«, verkündete Stefan, offenbar aus eigenem Entschluss. Dann legte er auf.

»Ich denke, wir werden heute Abend die Vampire besuchen«, berichtete ich meinen Begleitern. Irgendwann während des Gesprächs war auch Zee aus der Bar gekommen. Ich hatte es während des Telefonats nicht bemerkt, aber nun stand er neben Samuel. »Kennst du dich mit Vampiren aus?«

Samuel zuckte die Achseln. »Ein wenig. Ich hatte hin und wieder mit ihnen zu tun.«

»Ich komme ebenfalls mit«, verkündete der alte Mechaniker leise, und dann trank er den letzten Rest des Scotchs, den er mitgebracht hatte. »Nicht, dass ich euch helfen könnte – Metall ist nicht ihr Fluch. Aber ich weiß ein paar Sachen über sie.«

»Nein«, sagte ich. »Ich brauche dich für etwas anderes. Wenn du bis morgen Früh nichts von mir gehört hast, will ich, dass du diese Nummer anrufst.« Ich zog eine alte Quittung aus dem Geldbeutel und schrieb Warrens Telefonnummer auf die Rückseite. »Das ist Warren, der dritte Wolf in Adams Rudel. Erzähl ihm alles, was du weißt.«

Er nahm die Nummer. »Das gefällt mir nicht.« Aber er steckte sie in stillem Einverständnis ein. »Ich wünschte, du hättest mehr Zeit, dich vorzubereiten. Hast du ein Symbol deines Glaubens, Mercy, vielleicht ein Kreuz? Es ist nicht ganz so wirkungsvoll, wie Mr Stoker es darstellte, aber es würde helfen.«

»Ich trage ein Kreuz«, warf Samuel ein. »Bran befiehlt es uns allen. Wir haben in unserem Teil von Montana keine Vampire, aber es gibt noch andere Geschöpfe, gegen die Kreuze hilfreich sind.« Wie einige unangenehmere Angehörige des Feenvolks – aber Samuel hätte das vor Zee nicht ausgesprochen, was auch sehr unhöflich gewesen wäre. Genau wie Zee nie erwähnen würde, dass die dritte und vierte Kugel in seiner Waffe aus Silber waren – ich hatte sie selbst für ihn hergestellt. Er hätte es wahrscheinlich besser machen können, aber falls er irgendwann mit Werwölfen aneinandergeraten sollte, würde er sich dabei vielleicht besser schlagen, weil wir einander kannten.

»Mercy?«, fragte Samuel.

Ich mag keine Kreuze. Meine Ablehnung hat nichts mit ihrer metaphysischen Wirkung auf Vampire zu tun, und als ich in Brans Rudel lebte, trug ich ebenfalls einen entsprechenden Anhänger. Aber ich habe mich nie von der Vorstellung lösen können, wie krank es ist, das Zeichen der Folter Jesu als Symbol für den Fürsten des Friedens zu tragen, der uns lehrte, einander zu lieben. Das ist ein gutes Argument, das ich selbst glaube.

Tatsächlich jedoch lassen Kreuze mich einfach schaudern. Ich kann mich deutlich erinnern, mit meiner Mutter bei einem ihrer seltenen Besuche, als ich vier oder fünf war, in eine Kirche gegangen zu sein. Mutter war arm, lebte in Portland und konnte sich daher nicht leisten, oft vorbeizukommen. Wenn sie es schaffte, unternahm sie gern etwas Besonderes mit mir. Wir gingen also zu einem Mutter-Tochter-Wochenende nach Missoula und suchten uns nach dem Zufallsprinzip eine Kirche aus – wohl mehr, weil Mutter dachte, sie sollte mich zur Kirche bringen, als weil sie besonders religiös gewesen wäre.

Sie war gleich im Eingang stehen geblieben, um mit dem Pastor oder Priester zu sprechen, und ich schlenderte weiter in das Gebäude, sodass ich alleine war, als ich um eine Ecke bog und mich plötzlich einer überlebensgroße Statue des sterbenden Jesus am Kreuz gegenüberfand. Meine Augen lagen so gerade eben auf gleicher Höhe wie seine Füße, die mit einem riesigen Nagel ans Kreuz genagelt und lebensecht bemalt waren, mit Blut und allem. Wir gingen an diesem Tag nicht zum Gottesdienst – und seitdem hatte ich kein Kreuz mehr sehen können, ohne an den furchtbaren Tod des Gottessohns denken zu müssen.

Also kein Kreuzanhänger für mich. Aber da ich in Brans Rudel aufgewachsen war, trug ich etwas anderes. Widerstrebend holte ich meine Halskette heraus und zeigte sie ihnen.

Samuel verzog das Gesicht. Die kleine Gestalt war stilisiert, und ich nehme an, er konnte nicht gleich erkennen, um was es sich handelte.

»Ein Hund?«, fragte Zee und starrte das Amulett an.

»Ein Lamm«, erklärte ich defensiv und steckte es wieder unters Hemd. »Einer von Jesu Namen lautet ›Das Lamm Gottes‹.«

Samuels Schultern bebten leicht. »Ich sehe es genau vor mir: Mercy, die mit einem leuchtenden Silberschaf einen Raum voller Vampire in Schach hält.«

Ich versetzte ihm einen Stoß und war mir dabei der Hitze bewusst, die in meine Wangen stieg, aber es half nichts. Er sang leise und neckend: »Mercy hat ein kleines Lamm …«

»Es heißt, es sei der Glaube, der zählt«, warf Zee ein, obwohl auch er ein wenig zweifelnd klang. »Ich nehme nicht an, dass du dieses Lamm schon mal gegen Vampire eingesetzt hast?«

»Nein«, erwiderte ich gereizt, immer noch verärgert wegen des Lieds. »Aber wenn ein Davidsstern funktioniert, und Bran sagt, das ist der Fall, dann sollte das Lamm ebenfalls wirken.«

Wir drehten uns alle um und beobachteten, wie ein Auto auf den Parkplatz fuhr, aber die Leute darin stiegen aus, und nachdem der Fahrer Zee mit einem Tippen an einen nicht vorhandenen Hut gegrüßt hatte, gingen sie ins Lokal. Keine Vampire auf diesem Parkplatz.

»Gibt es noch etwas, was wir wissen sollten?«, fragte ich Zee, der über die besten Informationen zu verfügen schien.

»Beten funktioniert nicht«, sagte er. »Obwohl es gewisse Wirkung auf Dämonen und einige der Ältesten und Finstersten vom Feenvolk zu haben scheint. Knoblauch funktioniert nicht –«

»Oder nur wie ein Insekten vertreibendes Mittel«, sagte Stefan, der gerade hinter Zee zwischen zwei geparkten Wagen erschienen war. »Er tut nicht weh, aber er riecht schlecht und schmeckt noch schlimmer. Wenn du keinen von uns ärgerst und dafür sorgst, dass die Freunde, die du mitbringst, keinen Knoblauch gegessen haben, setzt euch das zumindest auf die Speisekarte.«

Ich hatte ihn nicht kommen hören, hatte ihn nicht gesehen und nichts gespürt, bis er den Mund aufmachte. Zee zog von irgendwo einen Dolch mit dunkler Klinge, der so lang wie mein Arm war, und trat zwischen mich und dem Vampir. Samuel knurrte.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Stefan dann demütig, als er erkannte, wie sehr er uns erschreckt hatte. »Sich ungesehen zu bewegen, ist eine Begabung von mir, aber normalerweise nutze ich sie nicht, wenn ich mich mit Freunden treffe. Ich habe nur gerade eine unangenehme Situation hinter mir und bin wachsam geblieben.«

Stefan war ein relativ hochgewachsener, kräftiger Mann, aber er schien immer weniger Raum einzunehmen, als er sollte, also betrachtete ich ihn selten auf diese Weise, solange er nicht neben jemandem stand. Er war, wie mir jetzt auffiel, ebenso groß wie Samuel und beinahe ebenso breit in den Schultern, obwohl ihm die solide Statur eines Werwolfs abging.

Seine Züge waren gleichmäßig, und im Ruhezustand sah er ziemlich gut aus. Aber sein Mienenspiel war so ausgeprägt, dass sich Einzelheiten vollkommen in seinem strahlenden Grinsen auflösten.

Und nun sah er mich stirnrunzelnd an. »Wenn ich euch zur Herrin bringen soll, wäre es mir lieber gewesen, ihr hättet euch ein bissen besser angezogen.«

Ich schaute an mir herunter und erkannte, dass ich immer noch die Sachen anhatte, die ich trug, als ich hinübergegangen war, um Adams Haus zu überprüfen. Es schien eher eine Woche her zu sein als einen Tag. Tatsächlich war das T-Shirt ein Geschenk von Stefan, weil ich ihm gezeigt hatte, wie er die Steuerung an seinem Bus richten konnte. Die Aufschrift lautete »Glück ist deutsches Ingenieurswesen, italienische Küche und belgische Schokolade«. Es hatte einen großen Fleck von dem Kakao, den ich darauf gegossen hatte. Daran zu denken, wie lange ich es trug, ließ mich auch bemerken, dass ich ein wenig intensiver roch als sonst – und zwar nicht nach Waschmittel und Weichspüler.

»Wir sind erst heute Nachmittag zurückgekommen«, entschuldigte ich mich. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, nach Hause zu gehen und mich umzuziehen. Aber du trägst ja selbst auch nicht deine Paradeuniform.«

Er schaute an sich hinunter und schaukelte auf den Absätzen hin und her, wobei er die Finger spreizte wie ein Vaudeville-Komiker, der seine Bewegungen für die Zuschauer übertreibt. Er trug ein schwarzes langärmliges Freizeithemd über einem schlichten weißen T-Shirt und Jeans mit einem Loch über einem Knie. Ich hatte ihn niemals in etwas Förmlicherem gesehen, aber aus irgendeinem Grund sah seine Kleidung immer irgendwie falsch an ihm aus, als trüge er ein Kostüm.

»Was, das hier?«, fragte er. »Das ist mein bester Verarmter-Vampir-Look. Vielleicht hätte ich schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt tragen sollen, aber ich übertreibe nur ungern.«

»Ich dachte, du würdest uns abholen.« Ich sah mich demonstrativ um. »Wo ist dein Auto?«

»Ich bin auf dem schnellen Weg gekommen.« Er erklärte nicht, was das bedeutete, sondern fuhr gleich fort: »Ich sehe, du hast deinen Bus. Dort sollte mehr als genug Platz für uns alle sein.«

»Zee bleibt hier«, sagte ich.

Stefan lächelte. »Damit er die Kavallerie schicken kann.«

»Weißt du, wo sich die Leute, die Adam angegriffen haben, befinden?«, fragte ich, statt auf diese Bemerkung einzugehen.

Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Die Herrin hat sich nicht dazu herabgelassen, mir mehr mitzuteilen als dir.« Seine Miene wurde einen Augenblick starr. »Ich bin nicht einmal sicher, ob sie die Wahrheit gesagt hat. Es könnte sein, dass sie überhaupt nichts weiß. Vielleicht möchtest du eine Ausrede finden, um nicht zu ihr zu gehen, Mercy.«

»Diese Besucher haben bereits einen Mann umgebracht und Adams Haus zerstört«, sagte ich. »Wenn deine Herrin weiß, wo sie sind, dann müssen wir sie fragen.«

Er verbeugte sich seltsam förmlich, dann drehte er sich zu Samuel um und bedachte ihn mit einem breiten Lächeln, das allerdings keine Reißzähne zeigte. »Ich kenne Sie nicht. Sie müssen der neue Wolf in der Stadt sein.«

Ich stellte die beiden einander vor, aber es war klar, dass Samuel und Stefan nicht so schnell Freunde werden würden – und das würde nicht an Stefan liegen.

Das überraschte mich ein wenig. Beide Männer hatten diesen ungezwungenen Charme, der andere normalerweise schnell für sie einnahm. Aber Samuel machte einen ungewöhnlich verbissenen Eindruck. Offenbar mochte er keine Vampire.

Ich stieg in den Bus und wartete, während Stefan und Samuel sich sehr höflich darüber stritten, wer wo sitzen würde. Beide wollten auf den Rücksitz. Ich war bereit zu glauben, dass Stefan nur versuchte, höflich zu sein, aber Samuel wollte einfach nicht, dass der Vampir hinter ihm saß.

Bevor er alle Höflichkeit fallen ließ und das laut aussprach, mischte ich mich ein. »Ich brauche Stefan vorn, damit er mir die Richtung zeigen kann.«

Zee klopfte an mein Fenster, und als ich auf den Knopf drückte, um es herunterzurollen, reichte er mir den Dolch, den er gezogen hatte, als Stefan aus dem Schatten getreten war, zusammen mit einem Gürtel aus Lederschnüren, der sich als Scheide verwenden ließ.

»Nimm das hier mit«, bat er schlicht.

»Darf ich?«, fragte Stefan beflissentlich, als er sich auf den Vordersitz setzte. Als Zee knapp nickte, reichte ich ihm die Waffe.

Der Vampir hielt die Klinge hoch und drehte sie unter der Deckenbeleuchtung des Busses hin und her. Er setzte gerade dazu an, sie mir zurückzureichen, als Samuel zwischen den Sitzen hindurchgriff und ihm die Waffe abnahm. Er prüfte die Schärfe der Schneide und schnitt sich dabei leicht den Daumen auf. Er atmete scharf ein und steckte den Daumen in den Mund.

Einen Augenblick lang passierte nichts. Dann zog eine gewaltige Macht durch den Bus. Es war nicht die Art von Macht, die die Alphas heraufbeschwören konnten, und sie fühlte sich auch nicht an wie die Kräfte, die Elizaveta Arkadyevna benutzte. Tatsächlich ähnelte sie eher den Schutzzaubern des Feenvolks und schmeckte in meinem Mund nach Blut und Metall. Einen Augenblick später umgab uns wieder nichts als die Stille der Nacht.

»Ich möchte anmerken, dass es keine gute Idee ist, alten Klingen Ihr Blut zu schenken«, murmelte Stefan freundlich.

Zee legte den Kopf in den Nacken und lachte offen und kehlig. »Hören Sie sich diesen Vampir an, Samuel Brans Sohn! Meiner Tochter gefällt Ihr Geschmack ein wenig zu gut.«

Samuel rechte mir den Dolch und das Zubehör zurück. »Zee«, sagte er dann auf Deutsch, als hätte er gerade erst etwas erkannt. »Siebold Adelbert Zerschmetterer aus dem Schwarzwald?«

»Siebold Adelbertsmiter aus dem Reservat von Walla Walla«, verbesserte Zee freundlich.

Deutsch oder Englisch, das war gleich – die Worte, die Sam klingen ließ wie ein Ehrentitel, hatten für mich immer noch keine Bedeutung.

Wenn man in ein irisches Dorf kommt, erfährt man dort oft die Namen derer vom Feenvolk, die mit dem Weiler zu tun hatten. Es gibt Felsen und Teiche mit den Namen der Kobolde und Kelpies, die dort wohnen. Die deutschen Geschichten konzentrieren sich eher auf die Helden. Nur über wenige vom deutschen Feenvolk wie Loreley und Rumpelstilzchen gibt es Geschichten, die ihre Namen angeben und einen bis zu einem gewissen Grad warnen, mit wem man es zu tun hat.

Samuel, dachte ich, wusste etwas über Zee.

Zee bemerkte meinen Blick und lachte noch einmal. »Vergiss es, Mädchen. Wir leben in der Gegenwart, und die Vergangenheit ist vergangen.«

Ich habe einen Uni-Abschluss in Geschichte, was einen der Gründe für meinen Beruf als Automechanikerin darstellt. Die meiste Zeit befriedigte ich meine Sehnsucht nach der Vergangenheit, indem ich historische Romane und Liebesgeschichten lese.

Ich hatte auch einmal versucht, mir von Zee alte Geschichten erzählen zu lassen, aber ebenso wie die Werwölfe war er nicht sonderlich gesprächig, wenn es um dieses Thema ging. Zu viele Schatten in der Vergangenheit. Nun würde ich mich mit einem Namen bewaffnet aufs Internet stürzen können, sobald ich nach Hause kam.

Zee sah Stefan an, und das Lachen verließ seine Augen. »Der Dolch wird wahrscheinlich nicht viel gegen Vampire ausrichten, aber ich würde mich besser fühlen, wenn ich weiß, dass sie etwas hat, um sich zu verteidigen.«

Stefan nickte bloß.

Der Dolch lag quer über meinem Schoß wie jede andere Klinge, aber dann erinnerte ich mich an die Berührung der Macht und steckte ihn vorsichtig ein.

»Sieh ihnen nicht in die Augen, Mercy«, sagte Zee abrupt. »Und das gilt auch für Sie, Dr. Cornick.«

»Spiel keine Dominanzspiele mit Vampiren«, sagte Samuel. »Ich erinnere mich.«

Die zweite Hälfte dieses alten Wolfssprichwortes lautet: »Bring sie einfach um.« Ich war froh, dass er das ausgelassen hatte.

»Haben Sie noch andere Warnungen, Vampir, der Marcys Freund ist?«, fragte Zee Stefan.

Er zuckte die Achseln. »Ich hätte dieser Sache nicht zugestimmt, wenn ich wirklich der Ansicht wäre, dass die Herrin ihr schaden wollte. Meistens langweilt sie sich einfach nur. Mercy ist sehr geschickt, wenn es um freundliche Antworten geht, die nicht wirklich etwas versprechen. Wenn dem Wolf das Gleiche gelingt, sollten wir alle vor Morgengrauen sicher wieder in unseren Betten liegen.«