10

Ich weiß nicht, wie ich mir das Quartier der Vampire vorgestellt hatte – wahrscheinlich war ich doch ein bisschen von den einschlägigen Filmen beeinflusst und hatte an ein viktorianisches Herrenhaus gedacht, in einem heruntergekommenen Teil der Stadt. Im Innenstadtbereich von Kennewick gibt es tatsächlich ein paar viktorianische Häuser, aber die meisten von ihnen sind schick renoviert und ein ziemlich teures Pflaster. Die alten Häuschen in den schäbigeren Nachbarschaften neigen eher dazu, selbst für eine kleine Siedhe nicht geräumig genug zu sein.

Es hätte mich nicht überraschen sollen, über eine mit Kopfstein gepflasterte Straße zu fahren, an der in jeder Einfahrt ein Mercedes, ein Porsche, ein BMW oder gleich mehrere dieser Luxusschlitten geparkt waren.

Die Straße schnitt sich tief in die Seite eines Hügels oberhalb der Stadt, und seit dreißig Jahren hatten Ärzte, Anwälte und Konzernchefs ihre Vierhundert-Quadratmeter-Häuser auf diese abschüssigen Grundstücke gebaut. Aber wie Stefan uns unterwegs erklärte, waren die Vampire als Erste hier gewesen.

Am Ende der Hauptstraße zweigte eine etwas schmalere Kiesstraße ab und führte zwischen zwei Backsteingebäuden hindurch. Sie sah beinahe aus wie eine Einfahrt, zog sich dann aber weiter in einen spärlich bebauten Bereich dahinter.

Wir fuhren etwa eine Viertelmeile durch die übliche Buschwüste – die überwiegend mit Akazien, Lieschgras und indianischem Salbei bewachsen war – und dann über eine kleine Hügelkuppe, die gerade hoch genug war, um eine zweistöckiges Hazienda hinter einer acht Fuß hohen Mauer zu verbergen. Als die Straße sich den Hügel hinunterschlängelte, konnte ich durch ein zweiflügliges schmiedeeisernes Tor ein paar Details erkennen. Die weiten spanischen Bögen an den Seiten des Gebäudes leisteten wunderbare Arbeit dabei, den Mangel an Fenstern zu verbergen.

Auf Stefans Anweisung parkte ich direkt vor der Mauer. Der Vampir sprang aus dem Bus und war an meiner Tür, um sie zu öffnen, bevor Samuel das Auto auch nur verlassen konnte.

»Soll ich das hierlassen?«, fragte ich Stefan und hielt Zees Dolch hoch. Unterwegs war ich zu dem Schluss gekommen, dass er zu groß war, um ihn ohne den Schutzzauber des Feenvolks zu verbergen – über den ich ohnehin nicht verfügte – und es vielleicht ohnehin keine so gute Idee war, ihn mitzunehmen.

Stefan zuckte die Achseln, Hände und Finger leicht auf den Oberschenkeln spielend, wie in Reaktion auf eine Melodie, die ich nicht hören konnte. Das war eine seiner Gewohnheiten; ich hatte ihn selten vollkommen reglos gesehen.

»Ein so altes Artefakt zu tragen, könnte dazu führen, dass sie dich mehr respektieren«, meldete sich Samuel, der inzwischen um den Bus herumgegangen war, zu Wort. »Nimm es mit.«

»Ich will keinen falschen Eindruck erwecken«, erklärte ich.

»Ich erwarte nicht, dass der heutige Abend gewalttätig endet«, sagte Stefan. »Der Dolch wird nichts daran ändern.« Er grinste mich an. »Es ist allerdings in diesem Staat illegal, eine solche Waffe zu besitzen. Das solltest du nicht vergessen, wenn du ihn mitnimmst.«

Also wickelte ich das Leder ein paar Mal um meine Hüften. Es gab eine handgemachte Schnalle an einem Ende, und ich flocht das andere Ende des Gürtels hindurch und band es fest.

»Zu locker«, sagte Stefan und griff danach, aber Samuel kam ihm zuvor.

»Binde es fester um die Taille«, sagte er und zog den Gurt für mich zurecht. »Dann zieh es über die Hüften, sodass das Gewicht der Klinge dir nicht das ganze Ding auf die Knöchel rutschen lässt.«

Als er zufrieden war, trat er zurück.

»Ich bin nicht der Feind«, erklärte Stefan freundlich.

»Das wissen wir«, sagte ich.

Stefan tätschelte mir die Schulter, fuhr aber fort. »Ich bin auch nicht Ihr Feind, Wolf. Ich setze mehr aufs Spiel als Sie, indem ich Sie unter meinen Schutz nehme. Die Herrin wollte andere nach Ihnen schicken – und ich glaube nicht, dass Ihnen das gefallen hätte.«

»Warum gehen Sie das Risiko ein?«, fragte Samuel. »Warum uns unter Ihren Schutz stellen? Ich weiß ein wenig darüber, was das bedeutet. Aber Sie kennen mich nicht einmal – und Mercy ist nur Ihre Mechanikerin.«

Stefan lachte, die Hand immer noch auf meiner Schulter. »Mercy ist eine Freundin, Dr. Cornick. Und meine Mutter hat mir beigebracht, mich um meine Freunde zu kümmern – Ihre nicht?«

Er log. Ich weiß nicht, wieso ich so sicher war, aber ich wusste es.

Einige Werwölfe wissen genau, wenn jemand lügt. Ich kann das nur bei Personen feststellen, die ich gut kenne und wenn ich darauf achte. Normalerweise tue ich das nicht. Ich war nie imstande gewesen, irgendetwas an Stefan zu bemerken, nicht einmal die üblichen Gefühle, die mit deutlichen Gerüchen kommen. Und Stefans Pulsschlag und Atmung waren rätselhaft. Manchmal dachte ich, dass er nur atmete, weil er wusste, wie unbehaglich sich die meisten Leute fühlen würden, wenn er das nicht täte.

Dennoch war ich jetzt vollkommen davon überzeugt, dass er gelogen hatte.

»Du hast uns gerade angelogen«, sagte ich. »Warum hilfst du uns wirklich?« Ich entzog mich seiner Hand, damit ich mich zu ihm umdrehen konnte, mit Samuel in meinem Rücken.

»Dafür haben wir keine Zeit«, sagte Stefan, und etwas von der üblichen Lebhaftigkeit verschwand aus seinem Gesicht.

»Ich muss wissen, dass wir uns auf dich verlassen können«, sagte ich. »Oder zumindest wie weit.«

Er machte eine dieser großen Bühnenzauberer-Gesten, riss die Hände hoch und warf den Kopf zurück – und ich spürte einen feinen Mantel der Magie, der sich über uns ausbreitete. Wie Zees Magie schmeckte sie nach Erde, aber es gab auch noch dunklere Aspekte an Stefans Zauber, dunkler als bei allem, was der Gremlin je in meiner Nähe gewirkt hatte.

»Gut«, sagte er. »Aber gebt mir nicht die Schuld, wenn sie miserabel gelaunt ist, weil wir sie warten gelassen haben. Du hast mich heute Abend angerufen, um mich etwas zu fragen.«

»Was haben Sie da gerade getan?«, fragte Samuel leise.

Stefan stieß einen gereizten Seufzer aus. »Ich habe dafür gesorgt, dass wir drei die Einzigen sind, die Anteil an diesem Gespräch haben, denn es gibt Dinge in der Nacht, die sehr gut mithören können.«

Dann wandte er sich wieder an mich. »Als ich unsere Buchhalterin anrief, stellte sie mich direkt zur Herrin durch – und das ist ungewöhnlich. Unsere Herrin interessierte sich offenbar mehr für deinen Dr. Cornick als für deine Frage. Sie kam zu mir und veranlasste mich, dich zurückzurufen – und sie hatte nicht vor zuzulassen, dass ich dich eskortiere. Sie wollte nicht, dass du über so viel Schutz verfügst, aber nachdem ich meine Hilfe angeboten hatte, konnte sie mir nicht widersprechen. Ich bin hier, Mercy, weil ich wissen will, was los ist, und ob es meine Herrin aus der Lethargie reißen wird, in der sie sich befindet, seit sie hierher ins Exil geschickt wurde. Ich muss wissen, ob es sich um etwas Gutes oder etwas sehr Schlechtes für meine Art handelt.«

Ich nickte. »In Ordnung.«

»Aber ich hätte es auch um unserer Freundschaft willen getan«, fügte er hinzu.

Unerwartet stieß Samuel ein kleines bitteres Lachen aus. »Selbstverständlich. Wir alle tun für Mercy Dinge aus Freundschaft.«


Stefan ging nicht durch das Tor, das groß genug für einen LKW war, sondern führte uns an der Seite der Mauer entlang bis zu einer kleinen, offenen Tür.

Im Kontrast zu dem Buschland vor den Toren waren die Grünflächen im Inneren kunstvoll angelegt. Selbst im November wuchs das Gras unter dem schwindenden Licht des Mondes dunkel und üppig. In geschützten Bereichen nahe dem Haus konnte ich ein paar Rosen entdecken, und die letzten Chrysanthemen hatten immer noch Blüten. Es war ein Garten im französischen Stil, mit sorgfältig gepflegten Rasenflächen und Beeten. Wäre das Haus tatsächlich im viktorianischen oder im Tudor-Stil erbaut gewesen, hätte der Garten hinreißend ausgesehen. Neben einer spanischen Hazienda wirkte er ein wenig seltsam.

Kahle Ranken zogen sich über die Mauern. Im Mondlicht sahen sie aus wie eine Reihe von Leichen, die mit weit ausgebreiteten Armen gekreuzigt an den Spalieren hingen, die sie stützten.

Ich schauderte und bewegte mich näher zu der Wärme, die Samuel verströmte. Er bedachte mich mit einem seltsamen Blick, weil er mein Unbehagen zweifellos roch, aber dann legte er die Hand auf meine Schulter und zog mich näher zu sich.

Wir folgten einem Kopfsteinpfad vorbei an einem Pool, der für den Winter abgedeckt war, und um die Hausecke herum zu einer breiten Rasenfläche. Auf der anderen Seite stand ein zweistöckiges Gästehaus von beinahe einem Drittel der Größe des Haupthauses. Es war dieses kleinere Gebäude, zu dem Stefan uns führte.

Er klopfte zweimal an die Haustür, dann öffnete er und winkte uns in eine Eingangshalle, die ziemlich aggressiv im Stil des amerikanischen Südwestens eingerichtet war, Tontöpfe und Kachina-Puppen eingeschlossen. Überall überdeckte der Duft nach seltsamen Blüten und Kräutern selbst die Gerüche der Wüste.

Ich nieste, und Samuel zog die Nase kraus. Vielleicht war dieses Potpourri ja dazu gedacht, unseren Geruchssinn zu verwirren – aber es schien nicht gefährlich zu sein. Es gefiel mir nicht, hielt mich aber auch nicht davon ab, verfallendes Leder und verrottenden Stoff zu riechen. Rasch sah ich mich unauffällig um, aber ich konnte nichts sehen, was für die Fäulnis verantwortlich gewesen wäre.Auf den ersten Blick sah das Mobiliar neu aus.

»Wir werden im Wohnzimmer auf sie warten«, sagte Stefan und führte uns aus der Halle mit der hohen Decke in einen Flur.

Der Raum, in den er uns brachte, war anderthalbmal so groß wie das größte Zimmer in meinem eigenen Haus, wirkte aber durchaus gemütlich. Wir hatten das Südwest-Thema offenbar zum größten Teil hinter uns gelassen, obwohl die Farben auch weiterhin warme Erdtöne blieben.

Die Polstermöbel machten einen bequemen Eindruck, wenn man weiche Polster mochte. Stefan ließ sich in entspannter Haltung auf einem Sessel nieder, der ihn beinahe verschluckte. Ich hockte mich auf den vorderen Rand eines Zweisitzer-Sofas, das geringfügig härter wirkte, aber das Polster würde mich immer noch aufhalten, falls ich mich schnell bewegen musste.

Samuel setzte sich auf einen Sessel wie den von Stefan, stand aber schnell wieder auf, als er einzusinken begann. Dann stellte er sich hinter mein kleines Sofa und schaute aus dem großen Fenster, das den Raum dominierte. Es war das erste Fenster, das ich in dem Haus sah.

Mondlicht fiel herein und beschien Samuels Gesicht. Er schloss die Augen und erfreute sich daran, denn er wusste, dass es ihn rief, obwohl der Mond nicht voll war. Ich werde vom Mondlicht nicht auf diese Weise angesprochen, aber Samuel hatte mir einmal mit den Worten eines Dichters erklärt, wie dieser Ruf auf ihn wirkte. Die hingerissene Miene, während er der Musik des Mondes lauschte, verschönerte sein Gesicht ungemein.

Und ich war nicht die Einzige, die das bemerkte.

»Oh, sieh doch, wie schön du bist!«, sagte eine kehlige, ein wenig europäisch wirkende Stimme, die einer Frau in einem tief ausgeschnittenen Kleid aus goldener Seide gehörte, das zusammen mit Laufschuhen und wadenhohen Sportsocken eher seltsam wirkte.

Ihre rötlichblonden Locken waren mit eleganter Nachlässigkeit und jeder Menge Haarklammern aufgesteckt, sodass man baumelnde Ohrringe aus Diamanten sehen konnte, die zu ihrem kunstvollen Halsschmuck passten. Sie hatte kleine Fältchen um Mund und Augen.

Sie roch ein wenig wie Stefan, also musste ich annehmen, dass sie ebenfalls ein Vampir war, aber die Falten überraschten mich. Stefan schien kaum zwanzig zu sein, und irgendwie hatte ich erwartet, dass es sich bei Untoten wie bei Werwölfen verhielt, deren Zellen sich selbst regenerierten und die Schäden von Alter, Krankheit und Erfahrung beseitigten.

Die Frau kam herein und ging direkt auf Samuel zu, der sich umdrehte und sie ernst ansah. Als sie sich gegen ihn lehnte und auf die Zehenspitzen stellte, um über seinen Hals zu lecken, ließ er eine Hand zu ihrem Nacken gleiten und sah Stefan an.

Ich rutschte ein wenig weiter auf den Sitzrand zu und drehte mich zur Seite, damit ich sie über den Rücken des Sofas hinweg beobachten konnte. Ich machte mir keine großen Sorgen um Samuel – er hatte sich darauf eingestellte, ihr das Genick zu brechen. Ein Mensch hätte das vielleicht nicht geschafft, aber er war kein Mensch.

»Lilly, meine schöne Lilly.« Stefan seufzte, und seine Stimme durchdrang die Spannung im Raum. »Du solltest unsere Gäste nicht lecken, meine Liebe. Das sind schlechte Manieren.«

Sie hielt inne, die Nase an Samuels Haut. Ich packte Zees Dolch fester und hoffte, ihn nicht benutzen zu müssen. Samuel konnte auf sich selbst aufpassen, davon ging ich zumindest aus, aber er tat nicht gerne Frauen weh – und Stefans Lilly machte einen sehr femininen Eindruck.

»Sie sagte, wir hätten Gäste zur Unterhaltung.« Lilly klang ein wenig wie ein schmollendes Kind, dem man soeben gesagt hat, dass der versprochene Ausflug zum Spielzeuggeschäft verschoben wird.

»Ich bin sicher, sie meinte, wir hätten Gäste, die du unterhalten solltest, meine Süße.« Stefan hatte sich nicht vom Sessel bewegt, aber seine Schultern wirkten angespannt, und er hatte sich vorgebeugt.

»Aber er riecht so gut«, murmelte sie. Ich glaubte zu sehen, wie sie den Kopf nach vorn stieß, aber ich musste mich wohl geirrt haben, denn Samuel rührte sich nicht. »Er ist so warm.«

»Er ist ein Werwolf, liebste Lilly. Du würdest feststellen müssen, dass er eine eher schwierige Mahlzeit abgibt.« Stefan stand auf, ging langsam um meine Couch herum, nahm eine von Lillys Händen in seine und küsste sie. »Komm, spiel für uns, meine Liebe.«

Er führte sie von Samuel fort und zu einem Klavier, das in einer Ecke des Zimmers stand. Dort zog er die Bank für sie hervor und half ihr, sich hinzusetzen.

»Was soll ich spielen?«, fragte sie. »Keinen Mozart. Er war immer so unhöflich.«

Stefan berührte ihre Wange mit den Fingerspitzen. »Was du auch spielst, wir werden gebannt lauschen.«

Sie seufzte übertrieben, ließ die Schultern hängen, richtete sich dann wie eine Marionette, an deren Fäden gezogen wird, von Kopf bis Fuß gerade auf und legte die Hände auf die Tasten.

Ich mag Klaviermusik nicht. Als ich klein war, gab es in Aspen Creek nur eine einzige Musiklehrerin, und sie spielte Klavier. Vier Jahre lang klimperte ich jeden Tag eine halbe Stunde und hasste das Instrument jedes Jahr mehr. Das Piano hatte diese Gefühle erwidert.

Aber nun brauchte es nur ein paar Läufe, um zu erkennen, dass ich mich bezüglich der Klaviermusik geirrt hatte – zumindest, wenn Lilly es war, die spielte. Es wirkte einfach unmöglich, dass all dieser Wohlklang von dieser zerbrechlichen Frau kommen sollte, die dort vor uns saß.

»Liszt«, flüsterte Samuel, trat vom Fenster weg und lehnte sich an die Rückenlehne meines Zweisitzers. Dann schloss er die Augen und lauschte, wie er zuvor dem Mond gelauscht hatte.

Stefan trat vom Klavier weg, sobald Lilly sich auf ihre Musik konzentrierte. Er machte ein paar Schritte rückwärts und blieb neben mir stehen. Dann streckte er die Hand aus.

Ich warf Samuel einen Blick zu, aber er war immer noch in der Musik versunken. Also nahm ich Stefans Hand und ließ mich hochziehen. Er brachte mich zur anderen Seite des Zimmers, bevor er mich losließ.

»Wie sie sich verhält, hat nichts damit zu tun, dass sie ein Vampir ist«, sagte er zwar nicht unbedingt im Flüsterton, aber leise genug, dass es nicht über die Musik hinwegtrug. »Der Vampir, der sie zu einer von uns machte, fand sie beim Klavierspiel in einem teuren Bordell. Er wollte sie unbedingt in seiner Siedhe haben, also nahm er sie, bevor er ihren Zustand noch so recht verstand. Normalerweise wäre man gnädig genug gewesen, sie zu töten; Vampire, die sich nicht beherrschen können, sind gefährlich. Ich weiß, dass Werwölfe ähnlich vorgehen. Aber niemand konnte den Gedanken ertragen, ihre Musik zu verlieren. Also wird sie in der Siedhe behalten und bewacht wie ein Schatz, der sie auch wirklich ist.«

Er hielt inne. »Für gewöhnlich wird ihr nicht erlaubt, einfach umherzuwandern, wie sie will. Es gibt immer Personen, die sich um sie – und um unsere Gäste – kümmern. Vielleicht hat unsere Herrin sich hier einen Scherz erlaubt.«

Ich sah zu, wie Lillys zarte Hände sich über die Tastatur bewegten. Ich dachte daran, was geschehen war, als sie hereingekommen war.

»Was, wenn Samuel negativ reagiert hätte?«, fragte ich.

»Sie hätte keine Chance gegen ihn gehabt.« Stefan wippte unglücklich mit dem linken Fuß. »Sie hat keine Erfahrung darin, unwillige Beute zu nehmen, und Samuel ist alt. Lilly bedeutet uns sehr viel. Wenn er ihr wehgetan hätte, wäre die ganze Siedhe auf Vergeltung aus gewesen.«

»Ruhe«, forderte Samuel.

Sie spielte lange Zeit Liszt. Nicht die frühen lyrischen Stücke, sondern die, die er komponierte, nachdem er den radikalen Geiger Paganini gehört hatte. Aber direkt in der Mitte seiner eindeutig verrückten Läufe ging sie dann zu einem Bluesstück über, das ich nicht erkannte, etwas Weichem, Entspanntem, das sich so trügerisch träge bewegte wie eine große Katze. Sie spielte ein wenig von den Beatles, ein wenig Chopin und etwas vage Orientalisches, bevor sie mit den vertrauten Klängen von Eine kleine Nachtmusik begann.

»Ich dachte, du wolltest keinen Mozart spielen«, sagte Stefan, nachdem sie damit zu Ende gekommen war und mit der rechten Hand begann, eine neue Melodie auszuwählen.

»Ich mag seine Musik«, erklärte sie den Tasten. »Aber er selbst war ein Schwein.« Sie ließ die Hände zweimal auf die Klaviatur krachen. »Und jetzt ist er tot, und ich bin es nicht. Nicht tot.«

Ich wollte ihr nicht widersprechen. Nicht, nachdem einer dieser zarten Finger die Taste darunter zerbrochen hatte. Die anderen schwiegen ebenfalls.

Abrupt stand sie vom Klavier auf und ging durch den Raum. Sie blieb vor Samuel stehen, aber als Stefan hüstelte, ging sie zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich werde jetzt essen«, sagte sie. »Ich habe Hunger.«

»Gut.« Stefan umarmte sie, dann schob er sie liebevoll aus dem Zimmer.

Mich hatte sie nicht einmal angesehen.

»Sie glauben also, dass man uns irgendwie hereinlegen will?«, fragte Samuel mit täuschend liebenswürdiger Stimme.

Stefan zuckte die Achseln. »Sie, mich oder Lilly. Suchen Sie es sich aus.«

»Scheint eine Menge Aufwand zu sein«, spekulierte ich. »Wenn Samuel sterben sollte, würde Bran dieses Haus zerstören. Im ganzen Staat würde kein einziger Vampir übrig bleiben.«

Ich sah Stefan an. »Deine Herrin mag mächtig sein, aber Zahlenverhältnisse sind bei einem Konflikt nicht unwichtig. Die Tri-Cities sind nicht so groß. Wenn es Hunderte von euch gäbe, wäre mir das aufgefallen. Bran kann sich an jeden Alpha in Nordamerika wenden.«

»Es ist schön zu wissen, dass die Wölfe uns so hoch schätzen. Ich werde dafür sorgen, dass unsere Herrin erfährt, dass sie den Wolf in Ruhe lassen soll, weil sie ihn fürchten muss«, erklang eine Frauenstimme direkt hinter mir.«

Ich zuckte zusammen und fuhr herum, und Stefan stand plötzlich zwischen mir und dem neuen Vampir. Diese Frau war weder ätherisch noch verführerisch. Wäre sie kein Vampir gewesen, hätte ich sie auf über sechzig geschätzt, jedes Jahr eingraviert in Falten grimmiger Missbilligung, die sich über ihr Gesicht zogen.

»Estelle«, sagte Stefan. Ich hätte nicht sagen können, ob das eine Vorstellung oder eine Warnung darstellte.

»Sie hat es sich anders überlegt. Sie wird den Wolf und seine Begleiter nicht hier aufsuchen. Sie können stattdessen zu ihr kommen.« Estelle ließ sich kein bisschen auf Stefan ein.

»Diese Personen stehen unter meinem Schutz.« Stefans Stimme verfinsterte sich auf eine Weise, die ich nie zuvor gehört hatte.

»Sie sagte, du könntest ebenfalls mitkommen.« Estelle schaute Samuel an. »Ich muss allerdings alle Kreuze und heiligen Gegenstände einsammeln, die deine Schützlinge dabeihaben. Wir gestatten nicht, dass sich jemand der Herrin bewaffnet nähert.«

Sie hielt eine Ledertasche mit goldener Prägung auf, und Samuel griff nach seiner Halskette mit dem Kreuzamulett. Als er sie aus dem Hemd zog, blitzte oder glühte sie nicht. Es war nur gewöhnliches Metall, aber ich bemerkte Estelles unwillkürliches Schaudern, als die Kette ihre Haut streifte, ehe sie das Schmuckstück in die Tasche fallen ließ. Sie sah mich an, und ich holte meine Halskette heraus und zeigte ihr mein Lamm. »Kein Kreuz«, sagte ich tonlos. »Ich hatte nicht erwartet, heute Abend mit Ihrer Herrin zu sprechen.«

Sie gönnte Zees Waffe nicht einmal einen Blick und tat sie offenbar als gewöhnlichen Dolch ab. Nachdem sie die Schnur an ihrer Tasche, die nun Samuels Kreuzanhänger enthielt, wieder zugezogen hatte, ließ sie sie daran baumeln. »Kommen Sie mit.«

»Ich bringe sie in einer Minute selbst hinunter«, sagte Stefan. »Geh vor und sag ihr, dass wir unterwegs sind.«

Der andere Vampir zog die Brauen hoch, ging aber ohne ein Wort und nahm die Tasche mit Samuels Kreuz mit.

»Hier liegt mehr im Argen, als ich dachte«, murmelte Stefan schnell. »Gegen das meiste kann ich euch schützen, aber nicht gegen die Herrin selbst. Wenn du willst, Mercy, werde ich euch sofort wieder von hier wegbringen und sehen, ob ich die Informationen auch ohne euch erhalten kann.«

»Nein«, sagte Samuel. »Wir sind jetzt hier. Bringen wir es zu Ende.«

Seine Worte klangen ein wenig schleppend, und ich bemerkte, dass Stefan ihm einen fragenden Blick zuwarf.

»Noch einmal biete ich an, euch von hier fortzubringen, Mercy« Diesmal sah Stefan mich an. »Ich würde nicht zulassen, dass dir und den deinen etwas zustößt.«

»Kannst du herausfinden, wo die anderen Wölfe sich aufhalten, auch wenn sie nicht will, dass du das tust?«, fragte ich.

Er zögerte, was mir als Antwort genügte.

»Dann werden wir mit ihr reden.«

Stefan nickte, aber er wirkte alles andere als glücklich. »Dann kann ich nur die Worte deines Gremlins wiederholen. Sieh sie nicht an. Sie hat wahrscheinlich andere bei sich, ob sie nun zulässt, dass ihr sie seht oder nicht. Schaut niemandem in die Augen. Es gibt hier vier oder fünf Vampire, die es sogar mit deinem Wolf aufnehmen könnten.«

Er drehte sich um und führte uns durchs Haus zu einem Alkoven mit einer Wendeltreppe. Als wir hinuntergingen, dachte ich zunächst, wir befänden uns auf den Weg zum Tiefparterre, aber wir stiegen noch weiter hinab. Kleine Lichter in der Zementwand leuchteten auf, als Stefan an ihnen vorüberging. So konnten wir zwar erkennen, dass wir uns in einer Zementröhre bewegten, das Licht war aber nicht hell genug, um mehr zu leisten als das. Frische Luft drang aus kleinen Luftschlitzen, aber sie hielt mich auch davon ab, eine Witterung aus dem Untergeschoss aufzunehmen.

»Wie viel tiefer noch?«, fragte ich und versuchte, gegen einen leichten klaustrophobischen Anfall anzukämpfen.

»Etwa zwanzig Fuß unter die Oberfläche.« Stefans Stimme hatte ein kleines Echo – oder etwas von unten hallte zu uns herauf.

Vielleicht war ich auch einfach nur nervös.

Wir erreichten eine ebene Zementfläche, aber trotz meiner Nachtsicht war die Dunkelheit so vollständig, dass ich in jede Richtung nur etwa einen Meter sehen konnte. Der intensive Geruch von Bleiche tanzte um mehrere andere Düfte herum, denen ich noch nie begegnet war.

Stefan bewegte sich, und etliche fluoreszierende Lichter flackerten auf. Wir befanden uns in einem Raum, dessen Boden, Wände und Decke aus Zement bestanden. Die allgemeine Wirkung dieses Interieurs war steril und leer.

Stefan blieb nicht stehen, sondern ging weiter in einen engen Tunnel, der sich leicht nach oben zog. In geringen Abständen waren Stahltüren ohne Griffe in die Wände eingelassen. Ich konnte hören, dass sich hinter diesen Türen Dinge bewegten, und beeilte mich, Schutz an Samuels Schulter zu suchen. Als ich an der letzten Tür vorbeikam, prallte etwas dagegen und verursachte ein hohles Scheppern, das durch den Gang hallte. Hinter einer andern Tür erklang ein schrilles, hoffnungsloses Lachen, das sich höher und höher schraubte und in einer Reihe von Schreien endete.

Am Ende klammerte ich mich beinahe an Samuel, aber er wirkte immer noch entspannt und atmete nicht einmal schneller. Verdammt sollte er sein! Ich konnte erst wieder tief Luft holen, nachdem wir die Türen hinter uns hatten.

Der Tunnel machte eine scharfe Kurve, und dahinter lagen zwölf Stufen, die zu einem Raum mit gebogenen vergipsten Wänden führten, der in ein weiches Licht getaucht war. Direkt gegenüber der Treppe stand eine ausladende, mokkabraune Ledercouch, deren Rundungen die Wände nachzuzeichnen schienen.

Eine Frau hatte sich auf zwei dicke, bestickte Kissen an eine Armlehne der Couch gelehnt. Sie trug Seide. Ich konnte die Überreste von Seidenraupen riechen, ebenso wie den leichten Duft, den ich mit Vampiren zu assoziieren gelernt hatte.

Das Kleid selbst war schlicht und kostbar und betonte ihre Gestalt mit wirbelnden Lila- und Rottönen. Ihre schmalen Füße waren nackt, bis auf abwechselnd aufgetragenen roten und lila Nagellack. Sie hatte die Knie hochgezogen, sodass sie das Taschenbuch, das sie las, stützen.

Offenbar war sie gerade mit einer Seite zu Ende, denn nun machte sie ein Eselsohr in eine Ecke und legte das Buch dann nachlässig auf den Boden. Dann schwang sie die Beine von der Couch und drehte sich so, dass sie uns das Gesicht zuwandte, bevor sie den Blick hob, um uns anzusehen. All das geschah so schnell und geschmeidig, sodass ich kaum Zeit hatte, meinen eigenen Blick zu senken.

»Stelle uns vor, Stefano«, sagte sie mit einer tiefen Altstimme, die durch einen Hauch von italienischem Akzent noch voller wurde.

Stefan verbeugte sich – eine förmliche Geste, die eigentlich nicht zu seinen zerrissenen Jeans hätte passen sollen, aber dennoch nicht altmodisch wirkte, sondern gut aussah.

»Signora Marsilia«, sagte er. »Darf ich Ihnen Mercedes Thompson vorstellen, eine außerordentliche Automechanikerin, und ihren Freund Dr. Samuel Cornick, den Sohn des Marrok. Mercy, Dr. Cornick, das hier ist Signora Marsilia, die Herrin der Columbia-Siedhe.«

»Willkommen«, sagte sie.

Es hatte mich gewundert, wie menschlich die beiden Frauen oben mit ihren Falten und Unvollkommenheiten ausgesehen hatten. Über Stefan hing ein Hauch von Anderssein, den ich erkennen konnte. Ich hatte gleich bei unserer ersten Begegnung gewusst, dass er kein Mensch war. Aber von dem deutlichen Geruch der beiden anderen Vampire abgesehen, wären sie für mich als Menschen durchgegangen.

Diese hier war etwas ganz anderes.

Ich starrte sie an und versuchte zu begreifen, wieso sich meine Nackenhaare sträuben. Sie sah aus wie eine Frau Anfang zwanzig, die offensichtlich gestorben und zum Vampir geworden war, bevor das Leben sie gezeichnet hatte. Ihr Haar war blond – nicht unbedingt eine Farbe, die ich mit Italien in Verbindung gebracht hätte. Sie hatte jedoch ebenso dunkle Augen wie ich selbst.

Hastig riss ich meinen Blick von ihrem Gesicht los und begann schneller zu atmen, als mir klar wurde, wie einfach es war, die Vorsichtsmaßnahmen zu vergessen. Sie hatte mich allerdings nicht angesehen. Wie die anderen Vampire richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Samuel, was ja auch nur verständlich war. Er war der Sohn des Marrok, Brans Sohn, eine einflussreiche Person und nicht nur irgendein Autobastler. Außerdem hätten ihn die meisten Frauen ohnehin eher angesehen als mich.

»Habe ich etwas gesagt, was Sie amüsiert, Mercedes?«, fragte Marsilia. Ihre Stimme war angenehm, aber es lag Macht darin, ein wenig wie die, auf die die Alphas sich berufen konnten.

Ich kam zu dem Schluss, dass ich ihr am besten die Wahrheit sagen sollte, und es ihr überlassen, wie sie damit umging. »Sie sind heute Abend die Dritte, die mich praktisch ignoriert, Signora Marsilia. Das halte ich allerdings für vollkommen verständlich, denn es fällt mir ebenfalls schwer, meine Aufmerksamkeit von Dr. Cornick abzuwenden.«

»Haben Sie oft diese Wirkung auf Frauen, Dr. Cornick?«, fragte sie ihn spitzbübisch. Sie beobachtet ihn also immer noch.

Samuel, der unerschütterliche Samuel, geriet ins Stottern. »Ich – ich habe nicht …« Er hielt inne und atmete ein, und dann sagte er, wieder ein wenig mehr wie er selbst klingend: »Man kann wohl davon ausgehen, dass Sie mehr Glück mit dem anderen Geschlecht haben als ich.«

Sie lachte, und ich erkannte schließlich, was mich beunruhigte. Etwas an ihrer Miene und ihren Gesten wirkte so, als würde sie Menschen nur nachahmen, als wäre ihr ganzes Auftreten nur eine Vorstellung für uns Zuschauer.

Zee hatte mir erzählt, dass technische Fortschritte Filmemachern gestatteten, vollkommen computeranimierte Personen für die Leinwand zu erschaffen, die beinahe lebendig wirkten. Aber nach einer gewissen Weile war offenbar deutlich geworden, dass diese Personen die Zuschauer abstießen; je mehr, desto echter sie wirkten.

Ich wusste nun genau, was er meinte.

Bei Marsilia stimmte beinahe alles. Ihr Herzschlag, der Atem. Ihre Haut war leicht rosig, wie die einer Person, die gerade aus der Kälte hereingekommen war. Aber sie lächelte immer ein klein wenig zum falschen Zeitpunkt, ein wenig zu spät oder zu früh. Ihre Imitation des Menschlichen kam der Wirklichkeit sehr nahe, aber nicht nahe genug, als dass sie hätte echt sein können – und dieser minimale Unterschied ließ mich schaudern.

Im Allgemeinen habe ich keine Selbstbeherrschungsprobleme wie die Werwölfe – Kojoten sind anpassungsfähige, liebenswerte Tiere. Aber in diesem Augenblick wäre ich gerne so weit weggerannt, wie ich konnte, wenn ich meine Kojotengestalt gehabt hatte.

»Mein Stefano sagt mir, dass Sie etwas über die Besucher wissen wollen, die mich so gut dafür bezahlt haben, dass ich sie in Ruhe lasse.« Wieder ignorierte sie mich – etwas, worüber ich nicht wirklich unglücklich war.

»Ja.« Samuel klang leise, beinahe verträumt. »Wir würden sie auch selbst finden, aber Ihre Informationen könnten uns dabei von Nutzen sein.«

»Wenn ich Ihnen diese Informationen gegeben habe«, ihre Stimme grollte in der Kehle wie die einer Katze, »werden wir uns ein wenig über den Marrok unterhalten und darüber, wie er mich für meine Mitarbeit entlohnen wird.«

Samuel schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Signora. Ich bin nicht autorisiert, über solche Dinge zu verhandeln. Ich werde allerdings gern jede Nachricht weiterleiten, die Sie für meinen Vater haben.«

Sie sah ihn schmollend an, und ich spürte die Wucht ihrer Enttäuschung und konnte riechen, wie Samuel in Rage geriet. Die schrecklichen Dinge hinter den Stahltüren hatten seinen Pulsschlag nicht schneller werden lassen, aber die Herrin der Siedhe war offenbar dazu imstande. Sie beugte sich vor, und er schloss die Entfernung zwischen ihnen, bis ihr Gesicht nur ein paar Zoll von seiner Lende entfernt war.

»Samuel«, sagte Stefan leise. »An Ihrem Hals ist Blut. Hat Lilly Sie geschnitten?«

»Lassen Sie mich sehen«, schlug die Signora vor. Sie atmete tief ein, dann machte sie ein hungriges Geräusch, das klang wie das Klappern trockener Knochen. »Ich werde mich für Sie darum kümmern.«

Das klang nach einer wirklich schlechten Idee, und ich war offenbar nicht die Einzige, die das dachte.

»Diese Personen stehen unter meinem Schutz, Herrin«, erklärte Stefan steif. »Ich habe sie hierher gebracht, damit Sie mit dem Sohn des Marrok sprechen können. Ihre Sicherheit ist eine Frage meiner Ehre – die schon zuvor zutiefst in Frage gestellt wurde, als Lilly unbewacht zu uns kam. Ich würde es wirklich ungern sehen, dass Ihre Wünsche sich meiner Ehre entgegenstellen.«

Sie schloss die Augen und senkte den Kopf, die Stirn an Samuels Bauch. Ich hörte, wie sie einen weiteren tiefen Atemzug machte, und Samuels Erregung wuchs, als sie einatmete.

»Es ist so lange her«, flüsterte sie. »Seine Macht lockt mich wie heißer Wein in einer Winternacht. Das Denken fällt mir schwer. Wer war für Lilly zuständig, als sie zu meinen Gästen kam?«

»Das werde ich herausfinden«, sagte Stefan. »Es wäre mir eine Freude, die Missetäter vor Sie zu bringen und zu sehen, wie Sie sich wieder um die Ihren bemühen.«

Sie nickte, und Samuel stöhnte. Das Geräusch ließ Marsilia die Augen öffnen, die nun nicht mehr dunkel waren. Im trüb beleuchteten Raum glühten sie wie rotes und goldenes Feuer.

»Meine Selbstbeherrschung ist nicht mehr, was sie einmal war«, murmelte sie. Irgendwie hatte ich erwartet, dass ihre Stimme mit der Hitze der Flammen in ihren Augen schärfer wurde, aber stattdessen war sie nun weicher und so verführerisch tief, dass mein eigener Körper reagierte – und normalerweise interessieren mich Frauen ganz und gar nicht auf diese Weise.

»Das hier wäre ein guter Zeitpunkt für dein Schaf, Mercy.« Stefans Aufmerksamkeit war so auf den andern Vampir konzentriert, dass ich einen Augenblick brauchte, um zu begreifen, dass er mit mir sprach.

Ich befand mich jetzt näher an Samuel. Fünf Jahre Training in Kampfkünsten hatten mir einen lila Gürtel verliehen, Muskeln, um schwere Autoersatzteile herumzuwuchten, und ein Verständnis dafür, dass das alles gegen einen Vampir nicht das Geringste helfen würde.

Ich dachte darüber nach, ob es wohl klug wäre, Samuel von ihr wegzustoßen, aber dann drang etwas, was meine Sinne mir schon vor einer Weile hatten sagen wollten, endlich zu mir durch: Es gab hier noch andere im Raum, andere Vampire, die ich nicht sehen konnte – nur riechen.

Stefans Rat war besser als meine eigenen Ideen. Ich holte meine Halskette heraus. Sie war lang genug, dass ich sie über den Kopf ziehen konnte, und ich ließ sie von der Hand baumeln, als Marsilia sich bewegte.

Ich war mit Werwölfen aufgewachsen, die schneller als Windhunde rannten, und ich bin selbst bin sogar noch ein wenig flinker – aber ich sah Marsilias Bewegung nicht einmal. Einen Augenblick hatte sie sich noch vorn an Samuels Jeans gepresst, und im nächsten waren ihre Beine um seine Taille geschlungen, und ihr Mund klebte an seinem Hals. Alles, was dann folgte, schien wie in Zeitlupe zu geschehen, obwohl ich annehme, dass es nur ein paar Sekunden dauerte.

Die Illusion, die die anderen Vampire verbarg, löste sich in der Heftigkeit von Marsilias Hunger auf, und dann sah ich sie, sechs andere, die an der Wand des Raums standen. Sie versuchten nicht einmal, wie Menschen zu wirken, und ich erhielt den flüchtigen Eindruck von grauer Haut, hohlen Wangen und Augen, die wie schwarze Edelsteine glitzerten. Keiner von ihnen bewegte sich jedoch, nur Stefan, der Marsilia gepackt hatte und versuchte, sie von Samuel wegzuziehen. Niemand mischte sich ein, als ich zu Samuel ging, die alberne Halskette ums Handgelenk geschlungen. Ich nehme an, sie hielten uns beide nicht für gefährlich.

Samuel hatte die Augen geschlossen und den Kopf zurückgelegt, um Marsilia mehr Zugang zu gewähren. So verängstigt, dass ich kaum atmen konnte, drückte ich das Silberlamm gegen Marsilias Haarsansatz und betete eilig darum, dass es das Gleiche erreichen würde wie ein Kreuz.

Ich drückte den kleinen Anhänger gegen ihre Stirn, aber Marsilia war so versunken darin, sich von Samuel zu nähren, dass sie nicht darauf reagierte. Dann geschahen mehrere Dinge beinahe gleichzeitig.

Das Lamm in meiner Hand leuchtete mit der unheimlichen blauen Flamme eines gut eingestellten Bunsenbrenners auf. Marsilia hockte plötzlich hinten auf der Couch, so weit von meiner Halskette – und Samuel – entfernt wie möglich. Sie kreischte, ein schrilles Geräusch, das so gerade eben noch im Bereich meines Hörvermögens lag, und machte eine Geste.

Alle sackten zu Boden – Samuel, Stefan und Marsilias Wachen, und ich allein blieb stehen, das kleine Lamm in der Hand wie ein absurd blaues Neonschild, das die Herrin des Vampirnests beleuchtete. Ich dachte zunächst, die anderen hätten sich freiwillig zurückgezogen, in Reaktion auf ein geheimes Zeichen, das mir entgangen war. Aber Marsilia zuckte mit dem Kinn, eine schnelle, unmenschliche Bewegung, und schrie abermals. Die Geschöpfe auf dem Boden wanden sich ein wenig, als täte ihnen etwas weh, aber sie konnten nichts unternehmen, um ihre Situation zu erleichtern – und schließlich erkannte ich, dass es ebenso Magie wie Angst war, die mir den Atem raubte. Marsilia tat etwas, das ihnen allen Schmerzen zufügte.

»Hören Sie auf damit«, forderte ich mit aller Autorität, die ich aufbringen konnte, aber die Worte kamen nur dünn und zittrig heraus. Alles andere als beeindruckend.

Ich räusperte mich und versuchte es noch einmal. Immerhin hatte ich mich sogar Bran entgegengestellt, nachdem ich seinen Porsche gegen einen Baum gefahren hatte, ohne Führerschein oder auch nur die Erlaubnis, das Auto zu benutzen. Tatsächlich konnte ich meine Stimme so weit beruhigen, dass sie nicht mehr quiekte. »Das reicht jetzt. Niemand hat Ihnen etwas getan.«

»Nichts getan?«, zischte sie und riss den Kopf herum, so dass ihre Haarmähne nach hinten geschleudert wurde und eine unangenehm aussehende Verbrennung in Form meines Anhängers auf ihrer Stirn entblößte.

»Sie haben sich ohne seine Erlaubnis von Samuel genährt«, sagte ich fest, als wüsste ich, dass ihre Tat mir das Recht dazu gegeben hatte – ich war nicht sicher, ob das wirklich stimmte, aber bei Wölfen funktionierte es, wenn man bluffte. Und Vampire schienen viel Wert auf Umgangsformen zu legen.

Sie reckte das Kinn, antwortete aber nicht. Dann holte sie tief Luft, und mir wurde klar, dass sie nicht mehr geatmet hatte, seit ich sie von Samuel vertrieben hatte. Ihre Lider flatterten, als sie die Witterung des Raums aufnahm – ich konnte es ebenfalls riechen: Schmerz, Angst, Blut und etwas Süßes, Zwingendes, vermischt mit den übrigen Düften.

»Es ist lange her, seit so etwas für mich vorbereitet wurde«, sagte sie. »Er blutete und war bereits halb gebannt.« Sie klang nicht gerade bedauernd, aber ich nahm mir vor, mich auch auf eine nicht ganz so gute Erklärung einzulassen, wenn uns das alles lebendig hier herausbringen konnte.

Es gelang Stefan, ein Wort von sich zu geben. »Falle.«

Sie vollzog eine rasche Kreisgeste in der Luft und ließ die Hand dann wieder sinken. Als Reaktion darauf erschlafften alle Männer, die am Boden lagen. Samuel, wie ich erfreut bemerkte, atmete noch.

»Eine Erklärung, Stefan«, befahl sie, und ich holte tief und erleichtert Luft, weil sie ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen richtete.

»Man hat Ihnen offenbar eine Falle gestellt, Herrin«, murmelte Stefan heiser wie ein Mann, der zuvor geschrien hat. »Sie lassen den Wolf bluten und präsentieren ihn Ihnen, als wäre er ein Geschenk. Sie waren gut. Mir ist nicht aufgefallen, dass er gebannt war, bis ich das Blut sah.«

»Du könntest recht haben«, erwiderte sie. Sie warf mir einen gereizten Blick zu. »Bitte tun Sie dieses Ding weg. Sie brauchen es jetzt nicht mehr.«

»Es ist in Ordnung, Mercy«, sagte Stefan, die Stimme immer noch rau. Er war nicht aufgestanden, sondern lag immer noch mit geschlossenen Augen da, als hätte er das Ende seiner Kraft erreicht.

Ich steckte die Halskette ein, und das Zimmer sah in dem verbliebenen Licht noch surrealer aus.

»Erzähle mir mehr von dieser Falle, Stefano«, forderte sie energisch, während sie von der Lehne der Couch wieder auf den Sitz kletterte. Falls ihr Blick dabei ein wenig zu lange an Samuel hängen blieb, der immer noch schlaff dalag, dann war doch zumindest das unmenschliche Flackern ihrer Augen beinahe vergangen.

Die Vampire im Raum zeigte zwar wieder gewisse Lebenszeichen, aber nur Stefan bewegte sich wirklich. Er stöhnte, als er sich hinsetzte und sich die Stirn rieb, als hätte er Schmerzen. Seine Bewegungen waren ruckartig und wirkten unmenschlich.

»Lilly kam ohne ihre Betreuer zu uns. Ich dache, sie solle einen Vorfall provozieren. Wenn Samuel sie getötet hätte, wäre es zum Krieg zwischen unserer Siedhe und dem Marrok gekommen. Aber vielleicht ging es um noch mehr als das. Ich dachte, es sei uns gelungen, ihn wegzubringen, ehe Lilly ihn markieren konnte, aber im Nachhinein glaube ich, dass er von diesem Moment an unter dem Bann stand. Sie schickten ihn blutend wie ein rohes Steak hier herunter und präsentierten ihn Ihnen. Wenn Sie Samuel umgebracht hätten – und das halte ich durchaus für möglich, halb verhungert, wie Sie waren –« Ich konnte die Missbilligung in seiner Stimme hören. »Wenn Sie Samuel umgebracht hätten …« Er brach ab.

Sie leckte sich die Lippen, als gäbe es dort immer noch eine Spur von Blut. Ich sah auch das Aufblitzen von Bedauern auf ihren Zügen, als sie Samuel anstarrte, als wünschte sie sich, man hätte sie nicht aufgehalten.

»Wenn ich ihn umgebracht hätte, hätte es Krieg gegeben.« Sie wandte sich von Samuel ab und sah mir in die Augen – aber nichts geschah. Sie verzog verärgert das Gesicht, schien aber weniger überrascht zu sein als ich. Vielleicht arbeitete das kleine Lamm, das mich vor ihrer Magie geschützt hatte, immer noch. Sie ließ die langen, manikürten Nägel aufeinanderklicken und sah aus, als dächte sie über etwas nach.

»Wir wären vollkommen unterlegen gewesen«, sagte Stefan, als sie weiterhin schwieg. Er riss sich sichtlich zusammen, bevor er aufstand. »In einem Krieg wären wir gezwungen gewesen, dieses Land zu verlassen.«

Sie erstarrte, als hätte er etwas ungemein Wichtiges gesagt. »Diese verfluchte Wüste zu verlassen und nach Hause zurückzukehren –« Sie schloss die Augen »Dafür würden viele hier meinen Zorn riskieren.«

Die anderen Vampire regten sich inzwischen. Ich bewegte mich zwischen sie und Samuel und verließ mich darauf, dass Stefan uns seine Herrin vom Leib halten würde. Als sie aufstanden, schienen sie sich mehr auf Stefan als auf Marsilia zu konzentrieren. Wie die meisten Leute an diesem Abend ignorierten sie mich, als sie langsam näher kamen.

»Wach auf, Sam.« Ich schubste ihn mit meinem Absatz.

Stefan sagte etwas in wohlklingendem Italienisch. Als befänden sie sich in einem seltsamen Spiel von »schaukle die Statue«, hörten die andern Vampire einfach auf, sich zu bewegen, obwohl das einige in unbequem aussehenden Posen erstarren ließ.

»Was ist mit Samuel los?«

Ich hatte die Frage an Stefan gerichtet, aber es war Marsilia, die antwortete. »Er steht im Bann meines Bisses«, sagte sie. »Einige sterben an dem Kuss, aber einem Werwolf wird es wahrscheinlich keinen dauerhaften Schaden zufügen. Wenn er etwas Geringeres wäre, hätte er sich nicht hingegeben.« Sie klang erfreut.

»Wie ist es dann Lilly gelungen?«, fragte Stefan. »Es war kein voller Kuss, aber er stand tatsächlich unter dem Bann.«

Plötzlich hockte sie zu meinen Füßen und berührte Samuels Hals. Diese Art, einfach irgendwo zu erscheinen, gefiel mir ganz und gar nicht.

»Das ist eine gute Frage«, murmelte sie. »Ist er dominant, dieser Sohn des Bran?«

»Ja«, antwortete ich. Ich wusste, dass Menschen Schwierigkeiten hatten, einen dominanten von einem unterwürfigen Wolf zu unterscheiden, wäre aber nicht auf die Idee gekommen, dass das auch auf Vampire zutraf.

»Dann hätte es Lilly eigentlich nicht gelingen sollen. Aber … nun, vielleicht hat man ihr die Macht verliehen.« Sie hob die Finger an die Lippen und leckte Samuels Blut ab. Ihre Augen begannen wieder zu glühen.

Ich griff unter mein Hemd und wollte das Lamm gerade noch einmal herausziehen, aber eine bleiche Hand packte mein Handgelenk und riss mich gegen einen Körper, der nur aus kalten Knochen und Sehnen zu bestehen schien.

Noch bevor mir wirklich klar wurde, was geschah, hatte ich auch schon reagiert. Hätte ich vorher überlegen können, hätte ich nie versucht, mit einem Vampir umzugehen wie mit einem Menschen, aber es war ein Reflex aus Hunderten von Stunden im Dojo.

Er landete direkt auf Samuel, weil Marsilia ausgewichen war. Dann bewegte er sich, und ich dachte schon, er werde wieder angreifen, aber er hatte es stattdessen auf Samuel abgesehen. Er schlug nach Samuels blutendem Hals.

Marsilia riss ihren Vampir von Brans Sohn weg, aber er hinterließ bei Samuel zerfetzte Haut, wo seine Reißzähne eingedrungen waren. Ohne jede sichtliche Anstrengung oder jedes Gefühl schleuderte sie ihn gegen die nächste Wand. Gips bröckelte, und der Vampir prallte mit einem Fauchen auf, das erstarb, sobald er sah, wer ihn beim zweiten Mal geworfen hatte.

»Hinaus, meine Lieben.« Mir fiel auf, dass die Verbrennung an ihrer Stirn bereits verheilte. »Hinaus, bevor wir alle unsere Ehre verlieren, überwältigt von solcher Liebenswürdigkeit, wie man sie uns hier als verführerisches Festessen anbietet.«

Ich hatte endlich mein Schaf vollkommen herausgeholt, aber bevor es zu glühen begann, waren wir allein, Stefan, Samuel und ich.