8

Sobald das Display des Handys anzeigte, dass ich wieder Empfang hatte, rief ich Zee an.

»Wer ist da?«, fragte er.

»Mercy.«

»Du hast mir nicht gesagt, dass das Ersatzteil für den Vampir bus war«, sagte er barsch.

Ich rieb mir über das Gesicht. »Ich kann es mir nicht leisten, ihnen den gleichen Prozentsatz zu zahlen wie du«, erklärte ich ihm, und das nicht zum ersten Mal.

In der Columbia-Region, die Richland, Kennewick und Pasco ebenso einschließt wie kleinere umliegende Orte wie Burbank und West-Richland, zahlt jedes Geschäft, das irgendwann mal mit dem Übernatürlichen in Berührung gekommen ist, Schutzgeld an die Vampire. Und ja, genau wie die Mafia schützten die Vampire die Ladenbesitzer dann nur vor sich selbst.

»Sie haben mir eingeräumt, stattdessen ihre Autos zu reparieren – und sie zahlen für die Eratzteile. So verlieren sie das Gesicht nicht, und ich habe nur Stefans Bus und hin und wieder einen Mercedes oder BMW zu reparieren. Und Stefan ist in Ordnung – für einen Vampir.«

Ich hörte ein Knurren vom Sitz neben mir.

»Schon gut«, sagte Adam zu Samuel. »Wir behalten sie im Auge. Und sie hat recht. Stefan ist für einen Vampir tatsächlich in Ordnung. Es heißt, er kümmert sich selbst ein wenig darum, dass ihr nichts passiert.«

Ich hatte nicht gewusst, dass die Vampire vielleicht vorgehabt hatten, mich zu belästigen – oder dass Stefan sich genügend für die Situation interessierte, um in diesem Fall etwas zu unternehmen.

»Das wusste ich nicht«, sagte Zee, der Adams Bemerkung offenbar gehört hatte. Er zögerte. »Vampire sind wirklich keine gute Gesellschaft, Mercy. Je weniger du mit ihnen zu tun hast, desto besser – und jeden Monat einen Scheck zu schreiben und ihn abzuschicken ist besser, als dich direkt mit ihnen abzugeben.«

»Das kann ich mir aber nicht leisten«, erklärte ich noch einmal. »Ich zahle immer noch meine Bankschulden ab, und vermutlich werde ich das noch so lange tun, bis ich so alt bin wie du.«

»Egal«, sagte er schließlich. »Ich hatte ohnehin nicht viel mit ihm zu tun. Dein neues Ersatzteilhaus hat das falsche Teil geschickt. Ich habe es zurückgehen lassen und ihren Verkaufsleiter angerufen. Das richtige Teil sollte Freitag hier sein – das Beste, was sie zustande bringen konnten, da morgen Thanksgiving ist. Ich habe die Nummer angerufen, die ich in den Papieren des Vampirs gefunden habe, und eine Nachricht hinterlassen. Was ist das für ein Vampir, dessen Anrufbeantworter das Scooby-Doo-Lied spielt?« Das war selbstverständlich eine rhetorische Frage, denn er sprach gleich weiter. »Und eine Frau ist vorbeigekommen, die behauptet hat, dein Polizistenfreund habe sie geschickt.«

Ich rieb mir die Stirn. Tonys Freundin hatte ich vergessen. »Hast du herausgefunden, was mit ihrem Auto nicht stimmt?«

»Mercy!«, zischte er empört.

»Ich wollte dich nicht kränken. Ist es etwas, was man reparieren könnte?«

»Der Kabelbaum ist schlecht«, sagte er. »Mercy …«

Ich grinste, weil ich gesehen hatte, welche Wirkung diese Frau auf »Ich bin mit meinem Job verheiratet«-Tony hatte.

Zee knurrte.

»Hast du einen Kostenvoranschlag gemacht?«

»Ich habe noch nicht mir ihr darüber gesprochen«, sagte er. »Man merkt ihr an, dass sie arm und stolz ist. Sie wollte sich nicht von mir nach Hause fahren lassen, also sind sie und ihre Kinder zu Fuß gegangen. Und sie hat keine Telefonnummer, außer auf der Arbeit.«

Ich lachte leise. Es gab mehr als nur einen Grund, dass Zee nicht so wohlhabend war wie viele von der älteren Feenvolk-Generation. Nun ja, ich werde wahrscheinlich auch nie reich werden.

»Also gut«, sagte ich »Von was für einer Art Handel reden wir?«

»Ich habe die Polizei angerufen«, – er sprach das Wort deutsch aus. Er kannte Tony, er mochte ihn sogar, obwohl er sein Bestes tat, sich das nicht anmerken zu lassen, aber er hatte einfach etwas dagegen, wenn menschliche Autoritäten ihm zu nahekamen. Das war sicher nicht falsch – aber ich folge nicht immer den weisesten Regeln. Wenn ich das täte, hätte ich im Augenblick keine zwei Werwölfe in meinem Bus gehabt.

»Was hat er gesagt?«, wollte ich wissen.

»Er sagte, sie hat einen älteren Jungen, der noch zur Schule geht und einen Nebenjob sucht.«

Ich ließ ihn weiterreden: Es war einfach zu schön zu hören, wie er sich wand. Er spielte gern den mürrischen alten Mann – aber sein Herz war so weich wie Marshmallows.

»Nachdem mein Tad weg ist, brauchst du tatsächlich einen anderen Helfer.«

Und nachdem Mac tot ist. Ich verlor sehr plötzlich das Interesse daran, den alten Gremlin zu necken.

»Das ist in Ordnung, Zee. Falls du mit ihr sprechen solltest, sag ihr, dass ihr Sohn die Rechnung abarbeiten kann. Wenn das funktioniert, werde ich ihm Tads Job anbieten. Ich nehme an, du hast das Auto schon repariert?«

»Ja«, sagte er. »Du wirst allerdings selbst mit der Dame sprechen müssen, es sei denn, du brauchst mich morgen. Sie arbeitet tagsüber.«

»Nein, ich werde dich nicht brauchen. Morgen ist Thanksgiving. Ich lasse die Werkstatt zu – wenn du bitte daran denken würdest, das Schild ins Fenster zu hängen.«

»Kein Problem.« Er zögerte. »Ich habe vielleicht eine Spur für dich, was Jesse angeht. Ich wollte dich ohnehin gerade anrufen. Eine vom Feenvolk, die sich immer noch versteckt, hat mir gesagt, sie könne vielleicht helfen, wolle aber erst mit dir sprechen.«

»Immer noch versteckt«, bedeutete entweder, dass sie den Grauen Lords noch nicht aufgefallen oder zu der schrecklichen oder besonders mächtigen Art gehörte.

Diesmal war es Adam, der knurrte. Das sind die Folgen, wenn man in Gegenwart eines Werwolfs ein privates Telefongespräch führen will. Aber irgendwie störte es mich nicht so sehr, dass er lauschte.

»Wir sind noch etwa eine Stunde von der Stadt entfernt«, sagte ich.

»Könntest du heute Abend ein Zusammentreffen mit ihr an einem Ort ihrer Wahl arrangieren?«

»In Ordnung«, erwiderte er und legte auf.

»Habt ihr das alle gehört?«, fragte ich.

»Adam kann nicht gehen«, erklärte Samuel mit fester Stimme. »Nein, Adam, das wissen Sie selbst.«

Adam seufzte. »Also gut. Ich bin sogar Ihrer Meinung, dass ich allein nicht kräftig genug bin – aber ich will, dass Mercy geht. Wir können Darryl und –«

Samuel hob die Hand. »Mercy«, unterbrach er Adam, »was hat dich veranlasst, Adam nach Montana zu bringen, statt einen von seinem Rudel zur Hilfe zu rufen?«

»Es war dumm«, sagte ich.

»Mag sein, aber sag es uns trotzdem.«

»Ich versuchte gerade, mich mit Darryl in Verbindung zu setzen, aber plötzlich fühlte ich mich unbehaglich. Ich habe mich an einen Gesprächsfetzen erinnert, der früher an diesem Abend zwischen Ben und Darryl gefallen war, aber im Nachhinein nicht sehr aussagekräftig ist.«

»Wieso haben Ben und Darryl überhaupt mit dir gesprochen?« , fragte Adam mit dieser sanften Stimme, die er oft benutzte, um anderen gegenüber den Eindruck zu erwecken, dass er nicht zornig war.

»Das ist wohl nicht soo ungewöhnlich, Adam«, knurrte ich. »Ich bin ihnen begegnet, als ich den Müll rausbrachte. Darryl hat Ben nur gesagt, er soll mich in Ruhe lassen. Er sagte ›Das hier ist der falsche Zeitpunkt‹. Ich weiß nicht, warum ich zu dem Schluss gekommen bin, es könne etwas zu bedeuten haben.«

»Erst hast du dich also unbehaglich gefühlt«, sagte Samuel. »Und dann hast du dir möglicherweise diesen Grund dafür ausgedacht.«

»Ja.« Ich spürte, wie ich errötete.

»Und was denkst du jetzt über das Rudel?«

Ich öffnete den Mund, dann schloss ich ihn wieder. »Verdammt noch mal. Irgendwas stimmt nicht. Ich glaube nicht, dass sich Adam an das Rudel wenden sollte, bevor er sich wieder richtig verteidigen kann.«

Samuel lehnte sich mit einem kleinen, selbstzufriedenen Lächeln zurück.

»Was ist?«, fragte ich.

»Dir ist etwas aufgefallen«, erklärte Adam. »Ein Geruch oder etwas in meinem Haus, das dich denken lässt, dass jemand von meinem Rudel in die Sache verwickelt sein könnte. Eine Sache des Instinkts.« Er klang finster. »Ich fand es selbst seltsam, dass sie gekommen sind, nachdem so viele Wölfe schon fort waren.«

Ich schüttelte den Kopf. »Adam, ich weiß wirklich überhaupt nichts.«

»Wir werden niemanden umbringen«, sagte Samuel. »Jedenfalls nicht aufgrund deiner Instinkte – aber was könnte es schaden, vorsichtig zu sein? Ruf deinen Freund vom Feenvolk zurück. Wir werden morgen mit ihm und seiner Informantin sprechen, wenn Adam sich genügend beherrschen kann, um allein zu sein.«

»Nein«, widersprach Adam.

»Ich will verdammt sein, wenn ich das tue.« Es fühlte sich seltsam an, sich nicht mit Adam zu streiten. »Je schneller wir Jesse finden, desto besser.«

»Ich kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein«, erklärte Samuel. »Und ich werde nicht zulassen, dass du alleine gehst und mit einem unbekannten Mitglied des Feenvolks sprichst.«

»Wir müssen Jesse finden«, sagte ich.

»Meine Tochter steht an erster Stelle.«

Samuel drehte sich zu Adam herum. »Gibt es einen dominanten Wolf in Ihrem Rudel, dem Sie trauen? Jemand, der nicht Rudelführer werden will?«

»Warren«, sagten Adam und ich gleichzeitig.

Warren war mein Lieblingswolf aus Adams Rudel und der Einzige, dessen Gesellschaft ich aktiv suchte. Ich war ihm kurz nach meinem Umzug in die Tri-Cities begegnet, bevor ich auch nur gewusst hatte, dass es in der Stadt ein Rudel gab.

Seit ich Montana verlassen hatte, hatte ich keinen Werwolf kennengelernt und ganz bestimmt nicht erwartet, eines Abends einen zu treffen, der nachts in der nächsten durchgehend geöffneten Tankstelle arbeitete. Er hatte mich misstrauisch angesehen, aber es waren noch andere Kunden da gewesen, also hatte er einfach nur mein Geld entgegengenommen. Ich akzeptierte das Wechselgeld mit einem Nicken und einem Lächeln.

Danach hatten wir einander überwiegend ignoriert, bis zu der Nacht, als die Frau mit dem frischen blauen Auge in den Laden kam, um für das Benzin zu bezahlen, das ihr Mann gerade pumpte. Sie gab Warren das Geld, dann packte sie die Hand des Jungen an ihrer Seite fester und fragte Warren, ob es einen Hinterausgang gäbe, den sie benutzen könnten.

Er lächelte sie freundlich an und führte sie und ihren Sohn in ein kleines Büro hinten im Laden, das mir nie zuvor aufgefallen war. Er bat mich, solange auf die Kasse aufzupassen, ging nach draußen und hatte eine kurze Unterredung mit dem Mann an der Pumpe. Als er wieder hereinkam, brachte er der Frau zweihundert Dollar in bar mit, und ihr Mann fuhr in einem Tempo davon, das sich nur mit großem Zorn oder purem Entsetzen erklären ließ.

Warren und ich warteten mit den beiden, bis die Leiterin des Frauenhauses vorbeikam, um ihre neuesten Schutzbefohlenen einzusammeln. Nachdem sie weg waren, drehte ich mich zu ihm um und stellte mich vor.

Warren war einer von den Guten, ein Held. Er war auch ein Einsamer Wolf. Er hatte eine Weile gebraucht, um mir anzuvertrauen, warum.

In anderen Zeitaltern und an andern Orten hätte es vielleicht nichts ausgemacht, schwul zu sein. Aber die meisten Werwölfe, die in den Vereinigten Staaten an der Macht waren, waren zu einer Zeit geboren worden, als Homosexualität als ein Gräuel betrachtet und an einigen Orten sogar mit der Todesstrafe belegt wurde.

Einer meiner Professoren erzählte mir einmal, dass Königin Victoria sich geweigert habe, ein Gesetz zu unterzeichnen, das gleichgeschlechtlichen Sex für illegal erklärte. Das hätte mich beinahe dazu gebracht, eine bessere Meinung von ihr zu haben, aber der Grund ihrer Weigerung bestand offenbar darin, dass sie nicht glaubte, dass Frauen überhaupt zu so etwas imstande seien. Dann änderte das Parlament das Gesetz so ab, dass es sich nur auf Männer bezog, und sie unterschrieb. Nein, Königin Victoria leistete keinen Beitrag zur Aufklärung. Ebenso wenig, wie ich schon oft hatte feststellen können, wie der durchschnittliche Werwolf.

Man braucht also nicht besonders zu betonen, dass ein männlicher Wolf, der sich von anderen männlichen Wölfen angezogen fühlte, in viele Kämpfe geriet. Es sprach Bände über Warrens Zähigkeit, dass er so lange überlebt hatte. Aber ein Rudel akzeptiert keinen Wolf, der zu viel Ärger macht, also hatte er sein letztes Lebensjahrhundert von seiner Art abgeschnitten verbracht.

Ich selbst hatte Adam und Warren einander vorgestellt, etwa zu dem Zeitpunkt, als Adam hinter meinen Trailer zog. Warren war zum Essen bei mir gewesen, und wir hatten über irgendwas – ich habe vergessen was – gelacht und dann gehört, wie einer von Adams Wölfen heulte. Ich werde niemals die Verzweiflung vergessen, die sich in diesem Augenblick auf Warrens Zügen zeigte.

Schon während ich aufwuchs, hatte ich immer wieder gehört, dass es Wölfen einfach bestimmt ist, in einem Rudel zu leben. Ich verstehe es immer noch nicht ganz, aber Warrens Gesicht verriet mir, dass das Alleinsein für einen Wolf keine einfache Sache darstellte.

Am nächsten Morgen hatte ich an Adams Hautür geklopft. Er hatte mir höflich zugehört und den Zettel mit Warrens Telefonnummer entgegengenommen. Als ich mich von seinem Haus abwandte, hatte ich gewusst, dass ich versagt hatte.

Warren erzählte mir später, was bald danach geschehen war. Adam hatte ihn zu sich gerufen und ihn zwei Stunden lang ausgefragt. Am Ende hatte er erklärt, es sei ihm egal, ob ein Wolf es mit einer Ente triebe, solange er Befehlen gehorchte. Adam nutzt drastische Worte wie all seine Waffen: selten, aber mit großer Wirkung.

Ich nehme an, einige Leute werden es seltsam finden, dass Warren Adams bester Freund wurde, Darryl aber höher in der Rangordnung steht. Aber sie sind beide Helden, zwei Männer, die einander sehr ähnlich sind – nun ja, nur dass Adam nicht schwul ist.

Der Rest des Rudels war nicht sonderlich froh über Warrens Eintritt. Es half ein wenig, dass die meisten von ihnen jünger sind als er, und die letzten Jahrzehnte haben zu einer gewaltigen Verbesserung gegenüber der viktorianischen Zeit geführt. Und außerdem wollte sich auch keiner im Rudel gegen den Leitwolf stellen. Oder gegen Warren.

Warren war es egal, was der Rest der Wölfe dachte, solange er ein Rudel hatte, zu dem er gehörte. Wenn er Freunde brauchte, hatte er mich und Adam. Das genügte ihm.

Warren würde Adam niemals verraten. Ohne Adam hätte er kein Rudel mehr.

»Ich rufe ihn an«, sagte ich erleichtert.

Er ging beim zweiten Klingeln an den Apparat. »Warren hier. Bist du das, Mercy? Wo hast du gesteckt? Weißt du, wo Adam und Jesse sind?«

»Adam ist verwundet«, sagte ich. »Und die Leute, die das getan haben, haben Jesse entführt.«

»Sag ihm, er soll keinem sonst davon erzählen«, warf Samuel ein.

»Wer war das?«, fragte Warren plötzlich kühl.

»Samuel«, sagte ich. »Brans Sohn.«

»Haben wir es mit einem Staatsstreich zu tun?«, fragte Warren.

»Nein«, antwortete Adam von Rücksitz aus. »Zumindest nicht, was Bran angeht.«

»Entschuldigt«, sagte ich. »Aber das hier ist mein Telefongespräch. Würdet ihr bitte alle so tun, als handele es sich um ein Privatgespräch? Das schließt auch dich ein, Warren. Du brauchst den anderen Leuten in meinem Bus nicht zuzuhören.«

»Also gut.« Aber er hatte Adam gehört, und seine Stimme entspannte sich zu seinem üblichen schleppenden Texanisch. »Und wie geht es dir heute, Mercy?«, fragte er freundlich, aber als er fortfuhr, bemerkte ich seine Aufregung dennoch. »Hast du schon die erstaunliche Nachricht gehört, dass man in das Haus unseres Leitwolfs eingebrochen hat und er und seine Tochter verschwunden sind? Dass der einzige Hinweis eine Telefonnachricht ist, die jemand auf dem Telefon dieser verdammten russischen Hexe hinterlassen hat? Eine Nachricht, die sie niemanden anhören lässt? Es gibt Gerüchte, dass diese Nachricht von dir stammt und dich ebenfalls niemand finden kann.«

Samuel lehnte sich zurück, schloss die Augen und sagte: »Sag ihm, du wirst es erklären, wenn wir da sind.«

Ich lächelte liebenswert. »Es geht mir jede Minute besser, Warren. Danke der Nachfrage. Montana ist angenehm, aber ich rate nicht dazu, im November dort Urlaub zu machen, es sei denn, du läufst Ski.«

»Ich hab seit zwanzig Jahren keine Skier mehr«, murmelte Warren und klang ein wenig erleichtert. »Hat Adam während dieses Ausflugs nach Montana mit dem Wintersport angefangen?«

»Er besitzt Skier«, antwortete ich, »aber seine Gesundheit war ein wenig angeschlagen. Ich habe einen Arzt mit zurückgebracht, aber er und ich haben heute Abend noch einen Termin, und wir haben uns gefragt, ob du dich währenddessen vielleicht um Adam kümmern könntest.«

»Gerne«, sagte Warren. »Ich arbeite heute Abend ohnehin nicht. Hast du gesagt, Jesse sei entführt worden?«

»Ja. Und im Augenblick müssen wir das geheim halten.«

»Heute Früh bin ich auf dem Rückweg von der Arbeit an euren Häusern vorbeigefahren«, berichtete Warren. »Es gibt dort ziemlich viel Aktivität. Ich glaube, es ist nur das Rudel, das nach dem Rechten sieht, aber wenn ihr ihnen aus dem Weg gehen wollt, solltet ihr vielleicht tatsächlich zu mir kommen.«

»Du glaubst, es ist das Rudel?«, fragte Adam.

Warren schnaubte. »Wer von denen würde mich denn schon anrufen und mit mir darüber reden? Darryl? Aurelie hat mir erzählt, dass du verschwunden bist, aber ohne dich bleiben die Frauen überwiegend außen vor. Die anderen im Rudel halten angeblich nach dir Ausschau, aber das ist alles, was ich weiß. Wie lange sollen wir sie im Dunkeln lassen?«

»Einen oder zwei Tage.« Adams Stimme klang bemüht neutral.

»Also gut, kommt zu mir nach Hause. Ich glaube nicht, dass irgendwer außer dir und Mercy auch nur weiß, wo ich wohne. Ich habe genug Platz für euch alle – es sei denn, es gibt noch ein paar Leute in diesem Bus, die sich noch nicht in das Gespräch eingemischt haben.«


Jede der Tri-Cities hat ihren eigenen Stil, aber es ist Richland, wo sich die Hektik des Atomzeitalters am deutlichsten auswirkt. Als die Regierung entschieden hatte, hier Plutonium von Waffenstärke herstellen zu lassen, hatte sie auch eine Stadt erbaut und über diese Stadt sechsundzwanzig Arten von Gebäuden verteilt, in denen die Arbeiter der Kernindustrie leben sollten. All diese Häuser trugen eine Buchstabenbezeichnung von A bis Z.

Ich kann sie nicht alle identifizieren, aber die großen Doppelhäuser, die A- und B-Häuser, sind ziemlich auffällig. Die A-Häuser sehen irgendwie wie Bauernhöfe aus dem Mittleren Westen aus – zweistöckig, rechteckig und schlicht. Die B-Häuser sind einstöckige Klötze. Die meisten sind inzwischen ein wenig verändert worden, man hatte Veranden angebaut oder sie von Doppelhäusern zu Einfamilienhäusern und wieder zurück umgebaut. Aber ganz gleich, was geschah, sie strahlten alle immer noch diese solide Schlichtheit aus, die nichts mit Backsteinfassaden, Balkonen und Zedernverkleidung zu tun hat.

Warren wohnte in einer A-Doppelhaushälfte mit einem großen Ahornbaum, der den größten Teil des vorderen Rasens einnahm. Als wir das Haus erreichten, wartete er schon auf der Veranda. Als ich ihn kennengelernt hatte, war er in einem leicht studentisch anmutenden Gammellook herumgelaufen. Sein derzeitiger Liebhaber hatte ihn überredet, sich das Haar schneiden zu lassen und sich ein bisschen besser anzuziehen. Also trug er Jeans ohne Löcher, und das Hemd hatte irgendwann in nicht allzu weit zurückliegender Ferne einmal Kontakt mit einem Bügeleisen gehabt.

Ich parkte direkt vor dem Haus. Sobald der Bus stand, sprang Warren die Treppe hinunter und öffnete die Schiebetür.

Er inspizierte Adams Zustand mit einem einzigen raschen Blick.

»Sagtest du, das ist gestern Nacht passiert?«, fragte er mich dann.

»Jep.« Sein Akzent ist ausgeprägt genug, dass ich ihn manchmal unwillkürlich übernehme – obwohl ich nie in Texas gewesen bin.

Warren steckte die Daumen in die Hosentaschen und wiegte sich auf den Absätzen gut eingetragener Cowboystiefel zurück. »Na gut, Boss«, machte er weiter. »Wahrscheinlich hast du Glück, noch am Leben zu sein.«

»Ich wäre besonders dankbar, wenn du dich entschließen könntest, mir hochzuhelfen«, knurrte Adam. »Heute Früh ging es mir nicht so schlecht, aber die Sprungfedern dieses Dings lassen zu wünschen übrig.«

»Wir können nicht alle einen Mercedes fahren«, sagte ich unbeschwert, nachdem ich selbst ausgestiegen war. »Warren, das da ist Brans Sohn, Dr. Samuel Cornick, der mitgekommen ist, um uns zu helfen.«

Warren und Samuel sahen einander wie zwei Cowboys in einem Film aus den Fünfzigern an. Dann streckte Samuel als Reaktion auf ein für mich unsichtbares Signal die Hand aus und lächelte.

»Schön, Sie kennenzulernen.«

Warren schwieg, aber er schüttelte Samuel die Hand und sah aus, als freute er sich über den Gruß des anderen Mannes.

Zu Adam sagte er: »Es wäre wahrscheinlich das Einfachste, dich zu tragen, Boss. Da ist die Vordertreppe, und dann die Treppe hoch zu den Schlafzimmern.«

Adam verzog unglücklich das Gesicht, aber dann nickte er. »In Ordnung.«

Es sah ein wenig seltsam aus, als Warren Adam trug, denn Adam ist nicht groß, aber breit gebaut, und Warren hat eher den Körperbau eines Marathonläufers. Und solche Dinge sollten vorsichtige Werwölfe lieber nicht zu oft in der Öffentlichkeit tun.

Ich öffnete ihnen die Tür, ging aber ins Wohnzimmer, als Warren sich der Treppe zuwandte. Samuel blieb bei mir.

Warrens Hälfte des Doppelhauses hat mehr Grundfläche als mein Trailer, aber viele kleine Zimmer und Treppen, sodass sich mein Haus für mich immer größer anfühlte.

Er hatte es gemütlich mit Möbeln vom Flohmarkt und Bücherregalen eingerichtet, in denen alles von wissenschaftlichen Fachbüchern bis zu zerfledderten Second-Hand-Romanen stand.

Samuel ließ sich auf der guten Seite des Plüschsofas nieder und streckte die Beine aus. Ich wandte mich von ihm ab und stöberte durch das nächste Regal. Ich konnte seinen Blick an meinem Rücken spüren, wusste aber nicht, was er sich denken mochte.

»O Mercy«, seufzte eine leise Stimme. »Der da aber ist hübsch! Wieso flirtest du nicht mit ihm?«

Ich schaute in Richtung Küche und sah, dass Kyle, Warrens derzeitiger Freund, am Türrahmen lehnte, in einer typischen Kyle-Pose, die dazu angetan war, seinen gut trainierten Körper und die maßgeschneiderte Kleidung zu betonen.

Die Pose täuschte, ebenso wie Kyles gesenkte Lider und sein Schmollen – eine Marilyn-Monroe-Haltung, dazu gedacht, die Intelligenz zu verbergen, die ihn zum bestbezahlten Scheidungsanwalt der Stadt machte. Er hatte mir einmal erzählt, offen schwul zu sein, sei gut für sein Geschäft und seinen Ruf. Frauen mitten in einer Scheidung hätten eine gewisse Vorliebe dafür, sich lieber von ihm als von einem weiblichen Anwalt vertreten zu lassen.

Samuel erstarrte und sah mich scharf an. Ich wusste, um was es ihm ging: Er wollte nicht, dass ein Mensch in Werwolfangelegenheiten verwickelt wurde. Ich ignorierte ihn, aber leider tat Kyle das nicht – er nahm nur die Ablehnung wahr und verstand ihre Ursache falsch.

»Schön, dich zu sehen«, sagte ich. »Das hier ist ein alter Freund aus Montana, der zu Besuch ist.« Ich wollte keine Einzelheiten erzählen; es war Warrens Sache, zu entscheiden, was und wie viel er Kyle sagen würde. »Samuel, das hier ist Kyle Brooks. Kyle, darf ich dir Dr. Samuel Cornick vorstellen?«

Kyle schob sich aus dem Türrahmen und schlenderte ins Wohnzimmer. Er blieb stehen, um mich auf die Wange zu küssen, dann setzte er sich aufs Sofa, so nahe an Samuel, wie es möglich war.

Nicht, dass Samuel ihn wirklich interessiert hätte. Kyle hatte einfach seine Ablehnung bemerkt und beschlossen, sich ein wenig zu rächen. Warren zog sich für gewöhnlich vor der Missbilligung anderer zurück oder ignorierte sie. Kyle war ein vollkommen anderer Mensch. Er würde es dem Mistkerl schon zeigen!

Ich würde ja gerne behaupten, dass er zu empfindlich war, aber er wusste schließlich nicht, dass es nicht seine sexuelle Orientierung war, die zu Sams Reaktion geführt hatte – jedenfalls nicht so, wie Kyle es verstanden hatte. Kyle seinerseits wusste nichts von Warrens Werwolfdasein. Werwölfe lehnten es instinktiv ab, solche Dinge mit anderen als dauerhaften Partnern zu besprechen – und das bedeutet für sie stets Partner vom anderen Geschlecht. Die Strafe für Ungehorsam war harsch. Werwölfe haben keine Gefängnisse. Diejenigen unter ihnen, die gegen die Gesetze verstoßen, werden entweder körperlich bestraft oder getötet.

Zu meiner Erleichterung schien Samuel über Kyles wilde Anmache eher überrascht als verärgert zu sein. Als Warren die Treppe herunterkam, hielt er bei dem Anblick von Kyles Hand auf Samuels Oberschenkel einen Moment lang inne. Dann wurden seine Bewegungen ruhig und entspannt, aber ich konnte riechen, wie die Spannung wuchs. Warren war nicht besonders glücklich über die Situation – ich wusste nicht, ob er sich um seinen Geliebten sorgte oder eifersüchtig war. Er kannte Samuel nicht, aber er wusste besser als die meisten, wie ein Werwolf reagieren würde.

»Kyle, es wäre vielleicht eine gute Idee, dir ein paar Tage freizunehmen und dich um dein Haus zu kümmern.« Warren wirkte äußerlich immer noch ruhig, aber der schleppende Akzent war verschwunden.

Kyle hatte ein eigenes großes Haus in den Hügeln von West-Richland, aber er war bei Warren eingezogen, nachdem Warren sich geweigert hatte, bei ihm zu wohnen. Nun schien er bei Warrens Worten zu erstarren.

»Ich muss für ein paar Tage jemanden verstecken«, erklärte Warren. »Es geht nicht um etwas Illegales, aber es wird hier nicht sonderlich sicher sein, bis er wieder weg ist.«

Bei aller Aufmerksamkeit, die Kyle ihm nun schenkte, hätte Samuel auch unsichtbar sein können. »Also gut, wenn du mich nicht hier haben willst, muss ich wohl verschwinden. Ich werde Geordis Einladung zu Thanksgiving annehmen.«

»Ein paar Tage sollten genügen«, sagte Warren, und ihm war deutlich anzusehen, was er empfand.

»Hat das etwas mit dem zu tun, weshalb du in letzter Zeit so aufgeregt warst?«

Warren warf Samuel einen Blick zu, dann nickte er knapp.

Kyle starrte ihn einen Moment an, dann erwiderte er das Nicken. »Na gut. Ein paar Tage. Ich lasse meine Sachen hier.«

»Ich rufe dich an.«

»Tu das.«

Kyle ging und schloss die Tür leise hinter sich.

»Du musst es ihm sagen«, drängte ich. »Sag ihm alles, oder du wirst ihn verlieren.« Ich mochte Kyle, aber selbst ein Blinder hätte erkennen können, dass Warren ihn wirklich liebte.

Warren stieß ein gequältes Halblachen aus. »Was glaubst du wohl, wie er reagieren wird, wenn er hört, dass er mit einem Ungeheuer geschlafen hat? Glaubst du, er steckt das einfach so weg?« Dann zuckte er die Achseln und versuchte, gelassen zu wirken. »Er wird mich ohnehin früher oder später verlassen, Mercy. Er hat einen Abschluss von Cornell, und ich arbeite nachts in einer Tankstelle. Wir sind wohl kaum ein ideales Paar.«

»Mir ist nie aufgefallen, dass ihn das gestört hätte«, stellte ich fest. »Er strampelt sich ab, um dich glücklich zu machen. Mir kommt es vor, als solltest du ihm etwas dafür zurückgeben.«

»Es ist verboten«, sagte Samuel, aber er klang traurig. »Er darf es ihm nicht sagen.«

»Was glaubst du denn, was Kyle tun würde?«, fragte ich empört. »Der Klatschpresse erzählen, dass Warren ein Werwolf ist? Nicht Kyle. Er ist nicht die Art Mensch, der jemanden verrät. Er ist Anwalt, er kennt sich damit aus, ein Geheimnis zu bewahren. Und außerdem ist er viel zu stolz, um unbedingt zu einer weiteren Schlagzeile werden zu wollen.«

»Schon gut, Mercy.« Warren tätschelte mir den Kopf. »Noch hat er mich nicht verlassen.«

»Das wird er aber tun, wenn du weiterhin so viel vor ihm verheimlichst.«

Die beiden Werwölfe sahen mich an. Warren liebte Kyle, und er würde ihn verlieren, weil jemand zu dem Schluss gekommen war, dass man verheiratet sein musste, bevor man seinem Gefährten sagen durfte, was man war – als wäre das kein Rezept für eine Katastrophe.

Ich war ziemlich sicher, dass Kyle Warren ebenfalls liebte. Warum sonst würde er bei Warren wohnen, wenn er eine riesige, moderne, klimatisierte Bude mit einem Pool besaß? Und sehr wahrscheinlich würde hier nun alles in die Brüche gehen.

»Ich gehe spazieren«, verkündete ich also, denn ich hatte wirklich genug von Werwölfen. »Ich komme wieder, wenn ich etwas von Zee gehört habe.«

Ich war nicht so zivilisiert wie Kyle, also knallte ich die Haustür hinter mir zu, bevor ich den Bürgersteig entlangging. Ich war so wütend, dass ich beinahe direkt an Kyle vorbeigegangen wäre, der in seinem Jaguar saß und vor sich hin starrte.

Bevor ich noch weiter nachdenken konnte, hatte ich auch schon die Tür geöffnet und mich auf den Beifahrersitz gesetzt.

»Howard-Amon-Park.«

Kyle sah mich an, aber er hatte sein Anwaltsgesicht aufgesetzt, also hätte ich nicht sagen können, was er dachte, obwohl meine Sinne mir alle Arten von Informationen vermittelten, wie er sich fühlte: zornig, gekränkt und entmutigt.

Was ich vorhatte, war fraglos gefährlich. Ein Werwolf war nicht nur verpflichtet, seinem Alpha zu gehorchen, sondern er musste auch den allgemeinen Regeln folgen, die Warren den Mund verschlossen. Wenn er Kyle sein Geheimnis verraten und es Probleme geben sollte, würde man ihn zum Schweigen bringen. Und ob sie mich mochten oder nicht, wenn Adam oder Bran herausfanden, dass ich es war, die es ihm gesagt hatte, würden sie das Gleiche mit mir tun.

Kannte ich Kyle gut genug, um ihm unser Leben anzuvertrauen?

Der Jaguar glitt durch den mäßigen Mittwochs-nach-der-Arbeit-Verkehr wie ein Tiger durch den Dschungel. Weder Kyles Fahrtechnik noch seine Miene ließen auf den Zorn schließen, der seinen Pulsschlag erhöhte, oder den Schmerz, der seinen Zorn beflügelte – aber ich konnte sie riechen.

Er bog nahe dem südlichen Ende der Stadt in den Howard-Amon-Park ein und stellte den Wagen auf einen der leeren Parkplätze. Es gab viele davon: Im November verbringen die Leute nicht viel Zeit in einem Park am Fluss.

»Es ist kalt«, sagte er. »Wir können im Auto reden.«

»Nein«, sagte ich und stieg aus. Er hatte recht, es war kühl. Der Wind war nicht besonders stark, aber vom Columbia stieg Feuchtigkeit auf. Ich schauderte in meinem T-Shirt mit den Kakaoflecken – oder vielleicht, weil ich nervös war. Aber ich würde tun, was ich mir vorgenommen hatte, und hoffte nur, dass ich mich in Kyle nicht täuschte.

Er öffnete den Kofferraum seines Wagens, nahm eine leichte Jacke heraus und zog sie an. Dann nahm er einen Trenchcoat heraus und reichte ihn mir.

»Zieh das an, bevor du blau anläufst«, sagte er.

Ich hüllte mich in den Mantel, und der Duft von teurem Eau de Toilette umgab mich. Wir hatten so ziemlich die gleiche Größe, also passte mir der Mantel.

»Nett«, sagte ich. »So einen muss ich mir auch besorgen.«

Er lächelte, aber sein Blick war müde.

»Gehen wir«, sagte ich, hakte mich bei ihm ein und führte ihn an einem leeren Spielplatz vorbei zum Weg am Fluss.

Warren hatte recht, dachte ich. Zu wissen, dass er ein Ungeheuer war, würde Kyle vielleicht nicht helfen – aber ich hatte das Gefühl, dass dies die letzte Chance war, ihm alles zu sagen.

»Liebst du Warren?«, fragte ich. »Nicht den Sex und die Gesellschaft. Ich spreche hier von Ich-folge-dir-bis-in-den-Tod-und-darüber-hinaus-Liebe.«

Ich fühlte mich gleich besser, weil er nicht sofort antwortete. »Meine Schwester Ally ist meine einzige Verwandte, mit der ich noch spreche«, sagte er schließlich. »Ich habe ihr vor ein paar Monaten von Warren erzählt. Bevor sie es erwähnte, war mir nicht einmal klar, dass ich ihr nie von meinen anderen Männern erzählt hatte.«

Er legte die Hand auf meine, die auf seinem Arm lag, und wärmte sie. »Meine Eltern haben meine Veranlagung jahrelang geleugnet. Als ich es ihnen schließlich ganz offen sagte, nachdem meine Mutter versucht hatte, mich mit einer jungen Frau aus guter Familie zusammenzubringen, hat mein Vater mich enterbt. Meine Schwester Ally rief mich an, sobald sie davon hörte – aber nach diesem ersten Gespräch vermieden wir es ebenfalls die meiste Zeit, darüber zu sprechen, dass ich schwul bin. Wenn ich mit ihr rede, habe ich das Gefühl, einen scharlachroten Buchstaben auf der Brust zu tragen, und wir versuchen beide, so zu tun, als wäre er nicht dort.« Er stieß ein bitteres, zorniges Lachen aus, das sich am Ende subtil veränderte. Als er fortfuhr, war seine Stimme leise. »Ally hat versucht, mich dazu zu überreden, ihn ihr vorzustellen.« Er schaute mich an, und ich sah, wie viel ihm das bedeutete.

Wir gingen schnell weiter, und der Park verengte sich bald zu einem Rasenstreifen zu beiden Seiten des Wegs. Das Ufer war nun weniger gepflegt und hatte natürlichen Buschbewuchs, und wir gingen durch winterhelles, kniehohes Gras. Auf einer Anhöhe stand eine metallene Schaukel, von der aus man auf den Fluss hinausschauen konnte. Ich führte Kyle dorthin und setzte mich.

Es war so wichtig, keinen Fehler zu machen! Jetzt, da der Moment gekommen war, hatte ich Angst, zu versagen.

Leicht schaukelnd sahen wir zu, wie das Wasser an uns vorbeifloss, beinahe schwarz im dunkler werdenden Schatten des dicht bewölkten Himmels. Einen Augenblick später rieb Warren sich schnell das Gesicht, wie um es zu wärmen – und um verstohlen Tränen wegzuwischen.

»Gott«, sagte er, und ich zuckte zusammen. Ich bin kein Vampir, der Gottes Namen nicht ertragen kann, aber ich nutze ihn auch nicht als Füllwort. Als er weiterredete, wurde allerdings klar, dass Kyle das ebenfalls nicht getan hatte.

»Ich liebe ihn.« Es klang, als risse er sich die Worte aus der Kehle. »Aber er lässt mich einfach nicht an sich ran. Leute rufen ihn mitten in der Nacht an, und er geht weg und sagt mir nie, wohin.«

Ein einsamer Radfahrer in der eng anliegenden Uniform dieser gnadenlosen Enthusiasten kam den Weg entlang, den wir genommen hatten. Er fuhr in einem Wirbel aus Speichen und Supermann-blauem Lycra an uns vorbei.

»Hübsche Beine«, sagte Kyle.

Ein altes Spiel. Kyle und ich verglichen unseren Eindruck von Männern, während Warren so tat, als ärgere ihn das.

Ich lehnte den Kopf an Kyles Schulter. »Zu klein. Ich mag es nicht, wenn ich mehr wiege als meine Männer.«

Kyle lehnte sich zurück, bis er eher zum Himmel als zum Fluss schaute. »Als wir letzten Monat in Seattle waren, vertrieb er eine Gruppe Betrunkener, die uns verprügeln wollten – einfach mit ein paar Worten. Aber dieser Darryl behandelt ihn wie … wie Dreck, und Warren lässt es sich gefallen! Das verstehe ich nicht. Und diese Geschichte heute Abend …« Er atmete tief ein, um sich zu wappnen. »Ist er irgendwie in den Drogenhandel verwickelt?«

Rasch schüttelte ich den Kopf. »Nein, nichts Illegales.« Jedenfalls noch nicht.

»Gehört er zum Feenvolk?«, fragte er, und das klang, als würde ihn so etwas nicht besonders stören.

»Die haben sich alle vor Jahren gezeigt.«

Er schnaubte. »Das glaubst du doch selbst nicht! Ich kenne ein paar Ärzte und Lehrer, die immer noch nicht zugeben, dass sie schwul sind – und sie müssen sich zwar Sorgen machen, ihre Jobs zu verlieren, aber zumindest nicht, dass Gruppen von Idioten ihre Häuser niederbrennen.« Ich konnte spüren, wie er auf den Schluss zusteuerte, dass Warren zum Feenvolk gehörten musste, was seine Nervosität erheblich erhöhte. »Das würde einiges erklären, um Beispiel, wie stark er ist, und dass er schon weiß, wer vorbeikommt, bevor er die Tür aufmacht.«

Nun, dachte ich hoffnungsvoll, zum Feenvolk zu gehören war nicht ganz das Gleiche, wie ein Werwolf zu sein. Aber wenn Kyle das eine akzeptieren konnte, würde ihm das andere vielleicht auch nicht allzu schwer fallen.

»Nein, das ist es nicht«, entgegnete ich. Ich setzte dazu an, ihm zu sagen, was Warren war, aber die Worte blieben mir der Kehle stecken.

»Es sollte Warren selbst sein, der mir das sagt«, stellte Kyle fest.

»Ja«, stimmte ich zu, »Aber das kann er nicht.«

»Du meinst, er wird es nicht tun.«

»Nein. Er kann nicht. Er darf nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht viele Freunde«, sagte ich. »Keine ›Komm rüber und lass uns Popcorn essen und uns zusammen einen wirklich dummen Film ansehen‹-Freunde. Du und Warren, ihr seid so ziemlich meine einzigen Kumpel. Ich habe auch nicht viele Freundinnen. Meine Arbeit lässt mich keine anderen Frauen kennenlernen.«

»Ziemlich traurig«, stellte Kyle fest. Dann sagte er: »Du und Warren, ihr seid die Einzigen, mit denen ich Popcorn esse.«

»Sind wir nicht erbärmlich?« Der Scherz half. Dann holte ich tief Luft und sprach es aus. »Warren ist ein Werwolf.«

»Ein was?« Kyle hörte auf zu schaukeln.

»Ein Werwolf. Du weißt schon. Vollmond und auf allen vieren laufen, mit Pelz und Reißzähnen.«

Er sah mich an. »Du meinst das ernst.«

Ich nickte. »Und du wirst kein Wort davon verraten.«

»Oh?«

»Warren konnte es dir nicht sagen. Deshalb, und weil Adam – der Rudelführer – es verboten hat. Wenn du jetzt zu den Behörden oder zu den Medien gehst, selbst wenn sie dir nicht glauben, wird das Rudel dich umbringen.« Ich wusste, dass sich meine Worte beinahe überschlugen, aber ich konnte sie nicht aufhalten. In Warrens Haus, nur mit Samuel und Warren, hatte es nicht so gefährlich gewirkt. Samuel und Warren mochten mich, aber es gab viele Werwölfe in der Stadt, die mich – und Kyle – sicher gerne für das, was ich gerade gesagt hatte, tot gesehen hätten. »Warren wird gegen sie kämpfen, aber es sind zu viele. Er würde sterben, und du mit ihm.«

Kyle hob die Hand. »Moment mal. Ein bisschen früh, Warren und mich gleich umzubringen, oder?«

Ich holte tief Luft. »Das hoffe ich. Du musst es mir glauben – sie nehmen ihre Geheimhaltung sehr ernst. Wieso, denkst du, hat man sie so lange nicht entdeckt?«

»Mercy.« Er nahm meine Hand – seine war kalt, aber das hätte auch vom Wind herrühren können. »Ein Werwolf?«

Nein, er glaubte mir offenbar nicht – und das konnte noch gefährlicher sein. »Vor zwanzig Jahren hat auch niemand an das Feenvolk geglaubt. Warte mal, ich kann es dir beweisen.«

Ich schaute zu einem leblosen Gebüsch hinüber. Die Büsche standen nicht wirklich dicht genug, um mich auszuziehen und mich ungesehen zu verwandeln, aber auf dem Wasser waren keine Boote, und solange nicht wieder im falschen Moment ein Radfahrer vorbeikam … ich hätte mich auch einfach innerhalb meiner Kleidung verändern können – immerhin werde ich kleiner, nicht größer –, aber ich war eher bereit, einen Strafzettel für die Erregung öffentlichen Ärgernisses zu riskieren. Ein Kojote in Menschenkleidung sieht einfach zu lächerlich aus.

»Warte hier.« Ich gab ihm den Trenchcoat, damit er nicht schmutzig wurde, dann sprang ich von der Schaukel und ging durch das alte Gras ins Gebüsch. So schnell ich konnte, zog ich mich aus, und ich verwandelte mich, sobald ich die letzte Hülle fallen gelassen hatte.

Dann spazierte ich auf den Weg hinaus, setzte mich und versuchte, harmlos auszusehen.

»Mercy?« Kyle hatte sein Anwaltsgesicht aufgesetzt, was mir deutlich machte, wie schockiert er war. Er hatte mir offenbar wirklich nicht geglaubt.

Ich wedelte mit dem Schwanz und gab ein leises, freundliches Geräusch von mir. Er stand von der Schaukel auf wie ein sehr alter Mann und kam auf mich zu.

»Ein Kojote?«, fragte er.

Als ich meine Kleidung holte, folgte er mir. Ich verwandelte mich direkt vor ihm – dann zog ich mich schnell an, denn ich hörte einen weiteren Radfahrer, der in unsere Richtung strampelte.

»Ich bin kein Werwolf«, sagte ich und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. »Aber ich bin wahrscheinlich das Ähnlichste, was du zu sehen bekommst, bis du Warren dazu überreden kannst, sich für dich zu verwandeln.«

Kyle gab ein ungeduldiges Geräusch von sich, zog meine Hände vom Kopf weg und begann, mein Haar selbst zurechtzuzupfen.

»Werwölfe sind größer«, sagte ich, denn ich hatte das Gefühl, ihn warnen zu müssen. »Erheblich größer. Sie sehen nicht wie Wölfe aus. Sie sehen aus wie wirklich große, große Wölfe, die dich fressen könnten.«

»In Ordnung«, sagte er und trat zurück. Ich dachte, er hätte über mein Haar gesprochen, bis er fort fuhr. »Warren ist also ein Werwolf.«

Ich hatte immer noch sein Anwaltsgesicht vor mir und seufzte. »Er konnte es dir nicht sagen. Aber ich sage es dir, und wenn du nichts Dummes tust, ist alles in Ordnung. Aber wenn er es dir selbst verraten hätte, ganz gleich, wie du reagiert hättest, hätte er damit gegen einen direkten Befehl verstoßen. Die Strafe dafür ist ziemlich drastisch.«

Er ließ sich immer noch nichts anmerken. Er war so mit sich beschäftigt, dass ich nicht spüren konnte, was er empfand. Die meisten Menschen verfügen nicht über eine solche Selbstbeherrschung.

»Wird sein Rudel –« Er stolperte über dieses kleine Wort. »Werden sie nicht annehmen, dass er es mir gesagt hat?«

»Viele Werwölfe können spüren, wenn jemand lügt«, sagte ich. »Sie werden wissen, wie du es herausgefunden hast.«

Er kehrte zur Schaukel zurück, griff nach dem Trenchcoat und hielt ihn mir hin. »Erzähl mir mehr.«

Ich steckte gerade mitten in einem kleinen Bericht darüber, wie gefährlich ein Werwolf sein konnte, und warum es keine gute Idee war, mit Samuel oder Darryl zu flirten, als mein Handy klingelte.

Es war Zee.

»Diese Sache mit Adam?«, fragte Kyle, als ich auflegte.

»Ja.« Ich biss mir auf die Unterlippe.

Er lächelte. »Schon in Ordnung. Ich glaube, ich habe für heute genug Geheimnisse erfahren. Ich nehme an, du musst zurück zu Warrens Haus?«

»Sprich noch nicht mit ihm darüber«, riet ich. »Warte, bis du es ein bisschen verdaut hast. Wenn du mehr Fragen hast, kannst du mich gerne anrufen.«

»Danke, Mercy.« Er legte den Arm um meine Schultern. »Aber ich glaube, über den Rest muss ich mit Warren sprechen – wenn wir diese Geschichte hinter uns haben.«