Die Witwe vom Belgrave Square
von
Le­wis Ham­mond

 

 

Le­wis Ham­mond (1861-1940) war ein eng­li­scher Arzt und Ver­si­che­rungs­ma­the­ma­ti­ker, der sich in jun­gen Jah­ren ge­le­gent­lich als Er­zäh­ler ver­such­te und hin und wie­der bei Zeit­schrif­ten mit­ar­bei­te­te. Ei­ne Samm­lung sei­ner Kurz­ge­schich­ten liegt nicht vor. 1940 kam Ham­mond in Lon­don bei ei­nem Luft­an­griff ums Le­ben.

 

 

Sir Ne­ville Hul­me, lang­jäh­ri­ger Di­rek­tor der Stern­war­te von Green­wich, war zwei­fel­los ei­ner un­se­rer be­deu­tends­ten Astro­no­men, und sei­ne For­schun­gen auf dem Ge­biet der no­vae fan­den ja auch in­ter­na­tio­na­le An­er­ken­nung. Aber was im­mer die Ster­ne ihm auch ver­ra­ten ha­ben moch­ten – über sei­ne ei­ge­ne Zu­kunft hat­ten sie ihm nichts er­zählt, sonst hät­te er es wohl nicht ge­wagt, noch im Al­ter von achtund­fünf­zig Jah­ren einen neu­en Haus­stand zu be­grün­den, und zwar mit der bei­na­he vier­zig Jah­re jün­ge­ren Ja­ne Bur­leigh aus der wal­li­si­schen Li­nie der be­kann­ten Fa­mi­lie.

Die Hoch­zeit des be­rühm­ten Ge­lehr­ten, der ei­ne große, schlan­ke und ein­drucks­vol­le Er­schei­nung war, mit der auf­fal­lend schö­nen Ja­ne, ei­nem Mäd­chen kel­ti­schen Typs mit ro­ten Haa­ren, grü­nen Au­gen und je­ner sinn­li­chen Fül­le, wie sie nur noch west­lich des Se­vern vor­kommt, ver­dräng­te für einen Tag so­gar die Nach­rich­ten von der Weltaus­stel­lung in Chi­ca­go vom ge­wohn­ten Platz, und ganz Lon­don be­nei­de­te Sir Ne­ville um die­ses pracht­vol­le Ge­schöpf.

Aber die­ses Glück währ­te eben nicht lan­ge. War es die Not­wen­dig­keit, sei­ne Näch­te zwi­schen den no­vae und La­dy Ja­ne zu tei­len, oder war es ganz ein­fach die na­tür­li­che Er­schöp­fung des Lei­bes nach ei­nem tä­ti­gen Le­ben: Sir Ne­ville Hul­me starb, noch ehe er die zwei­te Wie­der­kehr sei­nes Hoch­zeits­ta­ges fei­ern konn­te, im Mai 1895, wie man sich er­in­nern wird, und kein Ge­rin­ge­rer als der Prinz of Wa­les selbst, der ein viel­ge­rühm­tes Ken­ne­r­au­ge für weib­li­che Schön­heit sein ei­gen nennt, stat­te­te La­dy Ja­ne Hul­me einen Kon­do­lenz­be­such ab.

Als sei­ne kö­nig­li­che Ho­heit welt­män­nisch Ab­schied ge­nom­men und sei­ne sym­pa­thi­sche Lei­bes­fül­le wie­der in die wap­pen­ge­schmück­te Kut­sche ver­frach­tet hat­te, klin­gel­te es aber­mals an der Tür des Trau­er­hau­ses am Bel­gra­ve Squa­re, und Pa­me­la, das dun­kel­häu­ti­ge Dienst­mäd­chen, mel­de­te Dr. Bru­ce At­kin­son.

La­dy Ja­ne hat­te den Na­men be­reits ge­le­sen, wenn ihr auch nicht so­gleich ein­fiel, wo. Es war ein Do­ku­ment, ein amt­li­ches Do­ku­ment, das sie eben erst un­ter den Au­gen ge­habt hat­te, und so ließ sie denn bit­ten.

At­kin­son war mit sei­nen dunklen Haa­ren, der Rö­mer­na­se und dem sinn­li­chen Mund kei­ne sehr bri­ti­sche Er­schei­nung, aber groß und schlank und ganz zwei­fel­los ein sehr schö­ner Mann. Er be­frei­te die jun­ge Wit­we so­gleich von al­len Zwei­feln: Er sei der Arzt, der von Amts we­gen den To­ten­schein aus­ge­stellt ha­be, wie bei al­len To­des­fäl­len zwi­schen West­mins­ter und Ken­sing­ton, er kom­me nun aber mit ei­ner sehr per­sön­li­chen und bei­na­he de­li­ka­ten Bit­te.

Ja­ne Hul­me wuß­te, daß sie un­ge­hal­ten sein müß­te, denn es war weiß Gott nicht der Tag, ihr mit per­sön­li­chen An­lie­gen zu kom­men. Aber der sam­ti­ge Blick des jun­gen Arz­tes um­fing sie mit sol­cher In­nig­keit, daß ihr nach Ta­gen und Näch­ten der Ein­sam­keit und des Schmer­zes zum ers­ten­mal wie­der warm ums Herz wur­de. Hier war end­lich je­mand, der nicht nur von dem to­ten Ne­ville sprach, son­dern auch für die am Le­ben ge­blie­be­ne Ja­ne ein Herz zu ha­ben schi­en, und so ließ sie denn Tee brin­gen und warf einen prü­fen­den Blick in den großen ve­ne­zia­ni­schen Spie­gel über dem Ka­min. Kein Zwei­fel: Schwarz klei­de­te sie, das züch­ti­ge De­kol­le­te des schwar­zen Klei­des wirk­te durch die wei­ße, glat­te Elo­quenz ih­rer Haut nicht min­der er­re­gend als ein großer Aus­schnitt, und die Fül­le ih­res ro­ten Haa­res, müh­sam ge­bän­digt über ih­rem von den Trä­nen noch ver­schlei­er­ten Blick, stand im Raum wie ein Fa­nal, das von ih­rer un­ge­bro­che­nen Schön­heit kün­de­te.

In vie­len wohl­ge­setz­ten, be­ru­hi­gen­den und auf­mun­tern­den Wor­ten hat­te Dok­tor At­kin­son bald ei­ne wah­re Lau­be des Ver­trau­ens, ja bei­na­he der Zärt­lich­keit über dem klei­nen Tee­tisch er­baut, und dar­um war es für La­dy Ja­ne wie ein har­ter, grau­sa­mer Fall ins Bo­den­lo­se, als er plötz­lich düs­ter und ton­los sag­te:

»Ja und se­hen Sie, Myla­dy, mei­ne Kar­rie­re als Arzt wird schon in zehn Ta­gen en­den, ich wer­de bis an mein Le­bens­en­de den trau­ri­gen Pos­ten ei­nes Dis­trikts-To­ten­be­schau­ers be­klei­den, weil ich zu mei­ner letz­ten, ab­schlie­ßen­den Prü­fung nicht wer­de an­tre­ten kön­nen!«

»Noch ei­ne Prü­fung?« frag­te La­dy Ja­ne nicht son­der­lich in­ter­es­siert, denn sie war vollauf da­mit be­schäf­tigt, den Ge­wis­sens­kon­flikt zwi­schen ih­rer Trau­er um Ne­ville und der im­mer deut­li­che­ren At­trak­ti­on Bru­ce At­kin­sons zu dämp­fen. Warum gab es auch so schö­ne Män­ner in Lon­don!

»Ge­wiß, Myla­dy, ich ha­be die aka­de­mi­schen Prü­fun­gen hin­ter mir und bin Arzt, aber ich brau­che noch ei­ne Fach­prü­fung in dem von mir er­wähl­ten Spe­zi­al­fach der Phre­no­lo­gie, der Schä­del­kun­de, um die aus­ge­schrie­be­ne ein­träg­li­che Stellung am Roy­al In­sti­tu­te for me­di­cal en­gi­nee­ring zu erhalten.«

»Und warum wol­len Sie zu die­ser Prü­fung nicht an­tre­ten?«

Dok­tor At­kin­son reck­te sein un­ta­de­li­ges Pro­fil in tra­gi­scher Po­se ge­gen den Pla­fond und sag­te dumpf:

»Ich ha­be doch kei­nen Schä­del!«

Zu ih­rem ei­ge­nen Ent­set­zen muß­te Ja­ne la­chen, sil­ber­hell, fröh­lich, wie ei­ne Zwan­zig­jäh­ri­ge eben lacht. Nur daß sie eben Wit­we ge­wor­den war.

»Nun«, sag­te sie, als sie sich ge­faßt hat­te, »mit dem Ih­ren kön­nen Sie doch wohl zu­frie­den sein, Dok­tor!«

At­kin­son wand­te sich voll Ja­ne zu, tauch­te sei­nen Blick in den ih­ren und sag­te, als er­klä­re er ei­nem Kind die Mys­te­ri­en der Welt:

»Ich brau­che einen Schä­del für je­ne Prü­fung – den Kopf ei­nes To­ten. Ein Stu­di­en- und Prü­fungs­ob­jekt. Und ich kann nicht be­ste­hen, ich kann die Prü­fung nicht er­folg­reich ab­le­gen und die Stel­lung er­hal­ten, wenn ich nicht einen taug­li­chen, einen über­durch­schnitt­li­chen Kopf auf­trei­be. Denn wir Phre­no­lo­gen, wir se­zie­ren nicht bloß: Wir er­ar­bei­ten uns aus der Kennt­nis der ein­zel­nen Hirn­par­ti­en ein Bild des neu­en Men­schen. Mit den exe­ku­tier­ten Lei­chen aus Old Bai­ley kann ich nichts an­fan­gen, mit den Er­trun­ke­nen aus der Them­se, den Er­schla­ge­nen aus So­ho, den schwam­mi­gen Säu­fern von den Docks kann ich mei­nen Kon­kur­ren­ten nicht schla­gen, denn En­ver Bo­stic ver­fügt über ein her­vor­ra­gen­des Stu­die­n­ob­jekt, über den Kopf ei­nes eben zu rech­ter Zeit ver­stor­be­nen On­kels, der im­mer­hin Ma­ler war.«

La­dy Ja­ne wur­de un­be­hag­lich. Sie ver­stand so we­nig von dem, was der schö­ne Arzt ihr er­zähl­te, und es war zu­viel Frem­des. Sein Blick hat­te ei­ne nar­ko­ti­sche Wir­kung, die ihr neu war: Nach zwei Jah­ren an der Sei­te ei­nes sehr viel äl­te­ren Man­nes trat sie zum ers­ten­mal wie­der hin­aus in je­ne Welt, in der die Män­ner be­gehr­ten und die Frau­en be­gehrt wur­den – ein Spiel der Kräf­te, das in ih­rem Hei­mat­ort in Wa­les re­la­tiv harm­los ab­ge­lau­fen war, hier in Lon­don aber of­fen­sicht­lich sei­ne Ge­fah­ren hat­te.

»Die­ser Kon­kur­rent …«, be­gann sie. »Dok­tor Bo­stic!«

»… ist sehr tüch­tig?«

»Er hat einen schar­fen Ver­stand, küh­ne Ide­en, bis­wei­len so­gar all­zu küh­ne. Aber er wird sich dank sei­nes bes­se­ren Ob­jekts auch bes­ser ins Licht set­zen und die Po­si­ti­on er­hal­ten, die ein­zi­ge, die es der­zeit für Phre­no­lo­gen gibt. Und da er so alt ist wie ich, wird er sie in­ne­ha­ben und hal­ten kön­nen, bis ich ein al­ter Mann bin.«

Ein al­ter Mann … Wie oft hat­te sie das ge­dacht, wenn ihr ge­lieb­ter Ne­ville, von der Stern­war­te kom­mend, nach ei­nem zärt­li­chen Kuß auf ih­re Stirn ein­ge­schla­fen war. Nein, von al­ten Män­nern – bei al­ler Lie­be und Ver­eh­rung – hat­te sie ge­nug.

»Was kann ich für Sie tun, Dok­tor At­kin­son?« frag­te sie mu­tig, ob­wohl ein lei­ses Grau­en sie be­schlich.

Auch At­kin­son muß­te sich erst fas­sen, ehe er zu sei­ner Bit­te an­setz­te:

»Ge­ben Sie mir die Er­laub­nis, Myla­dy, den Kopf des großen Astro­no­men Sir Ne­ville Hul­me bei mei­nem Ex­amen zu be­han­deln.«

Die Wor­te rausch­ten an Ja­ne vor­bei. Ne­vil­les Kopf. Sie sah ihn vor sich, wie er auf­ge­bahrt dalag und nur Kopf, Hals und Hän­de zu se­hen wa­ren. Und der Kopf, die­ser im Le­ben so ehr­furcht­ge­bie­ten­de Kopf, schmal, klar, vor­nehm und in­tel­li­gent, war im Tod ei­ne ent­setz­li­che Mas­ke grei­sen­haf­ter Selbst­über­he­bung ge­wor­den, starr, stei­nern, ar­ro­gant und feind­se­lig.

»Wer wird es er­fah­ren?« frag­te sie lei­se.

»Die Prü­fer, Pro­fes­so­ren und Ärz­te, sie bin­det das Be­rufs­ge­heim­nis.«

»Und Dok­tor Bo­stic?«

»Der hat mir nichts vor­zu­wer­fen, da er den Schä­del ei­nes Ver­wand­ten zur Prü­fung mit­bringt.«

»Und nach der Prü­fung, was ist dann?«

»Dann wird der Schä­del so­gleich re­sti­tu­iert und ge­mein­sam mit dem Leich­nam, den wir bis da­hin im In­sti­tut ein­frie­ren, bei­ge­setzt.«

»Aber die of­fi­zi­el­len Lei­chen­fei­ern … das Be­gräb­nis mor­gen nach­mit­tag? Sie se­hen, Dok­tor At­kin­son, ich kann Ih­nen nicht hel­fen.«

»Dar­an ha­be ich na­tür­lich ge­dacht, Myla­dy, der Sarg wür­de mit Stei­nen ge­füllt, bis das Ge­wicht des Ver­bli­che­nen er­reicht ist, und in vier­zehn Ta­gen, wenn al­les vor­bei ist, schrei­ten wir mit be­hörd­li­cher Ge­neh­mi­gung ins­ge­heim zur ech­ten Be­stat­tung.«

Die merk­wür­di­ge und durch­aus un­er­war­te­te Kom­pli­ka­ti­on in den letz­ten Stun­den vor dem Staats­be­gräb­nis hat­te La­dy Ja­ne auf das Glück­lichs­te ab­ge­lenkt. Ge­senk­ten Hauptes, in ih­ren Ge­dan­ken aber aus­schließ­lich bei Dok­tor At­kin­son, saß sie in der schwarz­aus­ge­schla­ge­nen Kut­sche, die dem Sarg­wa­gen folg­te, und auch die Ta­ge, Wo­chen und Mo­na­te, die dem To­des­fall folg­ten, ge­hör­ten in im­mer stär­ke­rem Maß der so un­ver­se­hens in ihr Le­ben ge­tre­te­nen Bin­dung. Denn konn­te es ei­ne stär­ke­re Bin­dung ge­ben als die Ge­mein­sam­keit ei­nes so düs­te­ren Ge­heim­nis­ses?

Im Ju­ni 1896, schick­li­cher­wei­se erst vier Wo­chen nach Ab­lauf des Trau­er­jah­res, trat La­dy Ja­ne mit Dok­tor Bru­ce At­kin­son vor den Al­tar von Saint Ma­rys Church in West-Bromp­ton, und der jun­ge Ge­lehr­te, der im Roy­al In­sti­tu­te of me­di­cal en­gi­nee­ring ei­ne viel­be­ach­te­te Spe­zi­al­ab­tei­lung auf­ge­baut hat­te, er­öff­ne­te in dem ge­räu­mi­gen Wohn­haus sei­ner jun­gen Frau am Bel­gra­ve Squa­re ei­ne klei­ne, aber ein­träg­li­che Pri­vat­pra­xis.

In die­ser mit den neues­ten Ap­pa­ra­ten und Be­hel­fen aus­ge­stat­te­ten Or­di­na­ti­on un­ter­such­te At­kin­son ei­nes Ta­ges, es war ge­gen En­de des zwei­ten Ehe­jah­res, sei­ne jun­ge Frau. Ja­ne war nun drei­und­zwan­zig Jah­re alt, ih­re Schön­heit war, dank der Lie­be und der Zärt­lich­keit ei­nes jun­gen Gat­ten, voll er­blüht, ih­re grü­nen Au­gen blitz­ten vor Le­bens­lust, und ihr Mund, den sie mit­un­ter, wie ei­nem fer­nen Lied lau­schend, leicht öff­ne­te, war ei­ne Ver­lo­ckung für je­den, der sie sah.

»Ich bin zwar kein Gy­nä­ko­lo­ge«, sag­te At­kin­son, wäh­rend Ja­ne sich hin­ter dem Wand­schirm ent­klei­de­te, »aber ehe ich mei­ne schö­ne Frau ei­nem Kol­le­gen über­las­se, will ich doch selbst ein­mal se­hen, was dir Be­schwer­den macht. So bit­te, nimm hier Platz. Le­ge dich zu­rück, kei­ne Sor­ge, ich un­ter­su­che nur …«

Ja­ne hat­te sich et­was scheu auf den großen wachs­tuch­be­spann­ten Tisch zu­be­wegt. War At­kin­son auch ihr Mann, hat­ten sie in vie­len Näch­ten auch kei­ne Ge­heim­nis­se vor­ein­an­der, so war es doch das ers­te­mal, daß sie sich hier, im hel­len Ta­ges­licht und zwi­schen den fremd an­mu­ten­den Ge­gen­stän­den sei­ner Pra­xis­räu­me, nackt vor ihm zeig­te. Nach kur­z­er Un­ter­su­chung wuß­te er, was ihr Schmer­zen be­rei­te­te:

»Ein Ab­szeß, Ja­ne, ein ba­na­les klei­nes Ge­schwür, nur an ei­ner dum­men Stel­le … Des­we­gen brauchst du wirk­lich nicht zu Sir Ed­win zu ge­hen, das ma­che ich gleich selbst.«

»Du tust mir doch nicht weh, Bru­ce?«

»Wo denkst du hin! Ich ha­be doch Lach­gas … Ich bin­de dich nur fest, da­mit du mir im Lach­gas­räusch­lein nicht vom Tisch kol­lerst. So, das hät­ten …«

At­kin­son un­ter­brach sich, denn es hat­te eben ge­klin­gelt.

»Pa­me­la hat Aus­gang«, sag­te Ja­ne, »aber ich bit­te dich, ge­he jetzt nicht öff­nen, mir ist das hier doch ein we­nig un­heim­lich.«

Es klin­gel­te aber­mals, und At­kin­son wur­de ner­vös.

»Ich se­he doch ein­mal nach«, sag­te er, »es kann die Nach­mit­tags­post sein, die möch­te ich doch lie­ber in Emp­fang neh­men. Ich bin gleich zu­rück.«

Aber er kam nicht gleich zu­rück. Statt des­sen ver­nahm Ja­ne mit im­mer stär­ke­rer Un­ru­he Stim­men in der Hal­le. Die ihr un­be­kann­te Stim­me des Be­su­chers wur­de im­mer lau­ter, und nun ver­moch­te sie je­des Wort zu ver­ste­hen:

»Mit Ih­rem Ge­lehr­ten­schä­del ha­ben Sie mich um mei­ne Zu­kunft ge­bracht, At­kin­son«, schrie der Frem­de, »es war glat­ter Ho­kus­po­kus, da­mit im letz­ten Au­gen­blick auf­zu­war­ten, so daß ich mir kei­nen gleich­wer­ti­gen Ca­sus mehr be­schaf­fen konn­te. Und jetzt sit­zen Sie hier im Fett. Wo­zu brau­chen Sie denn das Amt im In­sti­tut, Ih­re Frau ist doch reich, Sie ha­ben ei­ne Pra­xis …«

Die lei­se­re Stim­me, die ih­res Gat­ten, ver­stand Ja­ne nicht. Zwei­fel­los ver­such­te er, den Be­su­cher zu be­ru­hi­gen, aber es ge­lang ihm nicht. Die Stim­men schwol­len schließ­lich bei­de an, die Män­ner er­reg­ten sich, und nach ein paar un­de­fi­nier­ba­ren Ge­räuschen ver­nahm Ja­ne, der der Atem stock­te, einen dump­fen Fall. Ver­zwei­felt ver­such­te sie sich zu be­frei­en, aber ih­re Ar­me wa­ren ein­zeln mit Gur­ten fest­ge­schnürt, die Bei­ne, weit ge­spreizt, des­glei­chen. Un­mög­lich, auf­zu­ste­hen und Bru­ce zu Hil­fe zu kom­men.

In der nächs­ten Se­kun­de sprang kra­chend die Tür auf, und Ja­ne schrie wi­der Wil­len laut auf: In der Tür stand Bruce, lei­chen­blaß und mit er­ho­be­nen Hän­den, und hin­ter ihm tauch­te ein un­ter­setz­ter, bär­ti­ger Mann auf, der Bru­ce nun mit ei­ner Pis­to­le zwang, in dem Stuhl hin­ter dem Schreib­tisch Platz zu neh­men. Oh­ne Ja­ne mehr als einen flüch­ti­gen Blick zu schen­ken – er hielt sie wohl für ei­ne Pa­ti­en­tin – mach­te der Frem­de sich auf die Su­che nach Schnü­ren und Gür­teln und fes­sel­te At­kin­son an sei­nen Schreib­tisch­ses­sel, an die Rücken- und die Sei­ten­leh­ne und die Bei­ne, so daß der Arzt ge­ra­de noch die Fin­ger und den Kopf be­we­gen konn­te.

Nun erst wand­te sich der Be­su­cher Ja­ne zu, ver­beug­te sich knapp und sag­te:

»Dok­tor Bo­stic. Ich bin Arzt wie At­kin­son, Sie brau­chen sich nicht zu ge­nie­ren, und Dok­tor At­kin­son wird sei­ne Be­hand­lung gleich fort­set­zen. Er muß mir nur schnell ein Do­ku­ment un­ter­schrei­ben.« Da­bei ließ er einen zer­streu­ten Blick über die nack­te Ja­ne glei­ten, sah At­kin­son ver­wun­dert an und sag­te: »Ab­szeß am Schei­den­ein­gang … Seit wann ar­bei­ten Sie als Gy­nä­ko­lo­ge, At­kin­son? Wohl nur bei so hüb­schen Frau­en?«

»Las­sen Sie den Un­sinn, Bo­stic«, ant­wor­te­te At­kin­son mit be­leg­ter Stim­me, »die Da­me ist kei­ne Pa­ti­en­tin, sie ist mei­ne Frau, dar­um ma­che ich den harm­lo­sen Ein­griff selbst!«

Bo­stic hob den Kopf. Er sah aus, als er­wa­che er aus ei­ner Tran­ce, aus ei­ner Fi­xie­rung. In sei­nen Au­gen be­gann es zu fla­ckern, als er rief:

»Ih­re Frau? Al­so die frü­he­re La­dy Ja­ne Hul­me, die lie­bens­wür­di­ge Schä­del­s­pen­de­rin? Das än­dert na­tür­lich die Sach­la­ge. Myla­dy wer­den ge­stat­ten müs­sen, daß ich mich auch bei Ih­nen für je­nen Zwi­schen­fall be­dan­ke, der mei­ne Lauf­bahn rui­nier­te!«

Bei die­sen Wor­ten trat Bo­stic auf Ja­ne zu, schob ihr ein Kis­sen un­ter den Kopf und einen Wat­te­bausch in den Mund und ver­kleb­te die vol­len Lip­pen Ja­nes mit ei­nem brei­ten Strei­fen Leu­ko­plast.

»Nun kann ich Sie zwar nicht mehr küs­sen, zu­min­dest nicht auf den Mund«, sag­te er sar­kas­tisch, »aber was Sie mir sonst bie­ten, Mrs. At­kin­son, ist im­mer noch der Be­trach­tung wert … Und Sie, lie­ber Kol­le­ge, ver­hal­ten sich still, ganz still, wenn Ih­nen das Le­ben Ih­rer Frau und Ihr ei­ge­nes lieb ist. Sonst ver­kle­be ich Ih­nen nicht nur den Mund, son­dern auch die Na­sen­lö­cher, und dann möch­te ich se­hen, was für schö­ne Zu­ckun­gen Sie in ih­rem Ses­sel auf­füh­ren.«

»Bo­stic«, bat At­kin­son lei­se, »ich wer­de tun, was Sie ver­lan­gen. Ich ge­be Ih­nen mein Wort als Arzt und Aka­de­mi­ker, daß ich mor­gen mei­ne De­mis­si­on im In­sti­tut ein­rei­che und Sie als mei­nen Nach­fol­ger vor­schla­ge. Aber las­sen Sie Ja­ne aus dem Spiel, sie ist zu jung, sie hat das al­les nicht ver­stan­den, ich ha­be sie über­rum­pelt in der Sa­che mit dem Schä­del!«

»Daß sie jung ist«, ant­wor­te­te Bo­stic ge­nie­ße­risch, »das se­he ich selbst. Sie ist ein schö­ner, jun­ger Mensch, ei­ne von de­nen, die das neue Jahr­hun­dert er­le­ben wer­den, mehr von ihm se­hen wer­den als von die­sem stin­ken­den al­ten vik­to­ria­ni­schen Eng­land. Ich hät­te auch gern an dem neu­en Men­schen ge­ar­bei­tet, an sei­nem Bild, an sei­nem Schä­del, an der Geo­gra­phie sei­nes Ge­hirns, aber der schö­ne Bru­ce, Ihr Mann, Ver­ehr­te, hat mich dar­an ge­hin­dert, und so will ich denn se­hen, ob Sie das Zeug zu je­nem neu­en Men­schen ha­ben, ob Sie die Frau des kom­men­den Jahr­hun­derts sind, des Zwan­zigs­ten, des Jahr­tau­send-En­des!«

Mit die­sen Wor­ten trat Bo­stic ne­ben Ja­ne und be­gann, ih­ren Leib mit sei­nen kur­z­en, di­cken Fin­gern zu er­kun­den. Er mas­sier­te die Brüs­te, stieß mit bö­sem Ki­chern die Fin­ger zwi­schen ih­re Rip­pen, strei­chel­te die In­nen­sei­ten ih­rer Schen­kel und kit­zel­te sie schließ­lich so lan­ge an den Fuß­soh­len, daß Ja­ne im Ge­sicht pu­ter­rot an­lief und ihr vor Atem­not die Au­gen aus den Höh­len quol­len.

»Ach ja«, sag­te Bo­stic schließ­lich, als fal­le ihm et­was ein, »das Ab­szeß … Kei­ne Sor­ge, Mrs. At­kin­son, das ha­ben wir gleich!«

»Um Got­tes wil­len, Bo­stic«, ächz­te At­kin­son, »ver­grei­fen Sie sich doch nicht an ei­ner wehr­lo­sen Frau. Sie sind doch Arzt, sei­en Sie gnä­dig mit uns!«

»Da ich mit die­sen mo­der­nen In­stal­la­tio­nen nicht um­ge­hen kann, ver­ehr­te Pa­ti­en­tin«, sag­te Bo­stic un­ge­rührt, »lie­fen Sie Ge­fahr, von mir mit Lach­gas er­stickt zu wer­den. Ich se­he, daß Sie vor­bild­lich fest­ge­schnallt sind. Ich wer­de Ih­nen jetzt das Ab­szeß mit dem Mes­ser öff­nen. Ein klei­ner Schnitt, wenn ich es gleich rich­tig tref­fe, was nicht sehr wahr­schein­lich ist, denn ich ha­be vor mei­ner De­mar­che reich­lich Whis­ky zu mir ge­nom­men. Al­so lie­gen Sie ganz ru­hig und las­sen Sie mich ge­wäh­ren, das ist Ih­re ein­zi­ge Chan­ce, daß ich da un­ten, wo sich Ihr schö­ner Gat­te so gern zu schaf­fen macht, kein Blut­bad an­rich­te.«

Bo­stic zog den Wa­gen mit den Mes­sern her­an und wähl­te sorg­fäl­tig.

»Sie müs­sen doch zu­erst ste­ri­li­sie­ren!« rief At­kin­son un­vor­sich­tig laut.

»Psst, At­kin­son, sonst kommt mir das Mes­ser aus. Ste­ri­li­sie­ren, wenn ich das schon hö­re. Sie glau­ben wohl, wir sind am Pas­teur­in­sti­tut? Nee, mein Lie­ber, der Mensch des neu­en Jahr­hun­derts stirbt nicht an ein paar Mi­kro­ben. Wie war’s mit die­sem Mes­ser­chen, Ma­dam? Soll ich mal an Ih­ren Brüst­chen pro­bie­ren, ob es die rich­ti­ge Schär­fe hat?«

Bo­stic ließ das Mes­ser mit dem lan­gen Griff und der kur­z­en, schar­fen Klin­ge un­mit­tel­bar vor den Au­gen Ja­nes fun­keln, die ei­ner Ohn­macht nä­her war als je­dem Ver­such, sich zu weh­ren, strich dann da­mit ganz zart über die War­ze der lin­ken Brust, tat dann einen Schritt, stell­te sich in Po­si­tur und führ­te einen blitz­schnel­len Schnitt durch das Ab­szeß.

Ja­ne stieß einen gur­geln­den Schrei aus, At­kin­son schleu­der­te mit den Zäh­nen sei­nen Brief­be­schwe­rer durchs Fens­ter, so daß bei­de Schei­ben klir­rend zer­spran­gen, und Bo­stic warf einen letz­ten, be­dau­ern­den Blick auf die schö­ne Frau, der das Blut zwi­schen den Schen­keln her­vor­schoß.

»Mit dem Brief­be­schwe­rer hät­te ich ih­nen den Schä­del ein­schla­gen sol­len, At­kin­son«, sag­te Bo­stic und wusch sich Ja­nes Blut von sei­nem Geh­rock, »aber er ge­fiel mir so gut, daß ich ihn mir nach­her mit­neh­men woll­te. Ein klei­ner, mar­mor­ner To­ten­kopf auf ei­nem bron­ze­nen So­ckel, schon als Sie noch stu­dier­ten, ha­be ich Sie dar­um be­nei­det. Wenn Sie ge­stat­ten, he­be ich ihn mir drau­ßen vom Pflas­ter auf, zur Er­in­ne­rung an die­sen un­ver­geß­li­chen Nach­mit­tag. Mrs. At­kin­son, Herr Kol­le­ge, good bye