Die Katze, der
Gerichtsdiener
und das Skelett
von
Alexandre Dumas
Alexandre Dumas (1802-1870), der außerordentlich fruchtbare französische Dramatiker und Erzähler, Enkel eines Kreolen und einer Negerin, Sohn eines Generals der Revolutionszeit, fand mit seinen romantischen Stücken und vor allem mit seinem über 300 Bände umfassenden abenteuerlich bunten Romanwerk bei seinen Zeitgenossen begeisterte Aufnahme und weiteste Verbreitung. Sein größter Erfolg war der Roman »Die drei Musketiere« aus dem Jahre 1844. Dumas überlebte seine unvorstellbare Beliebtheit und starb arm und vergessen in Puy bei Dieppe.
Der Arzt, der mit Walter Scott nach Frankreich kam, hieß Doktor Sympson; er war mit den angesehensten Personen der Stadt befreundet.
Darunter befand sich auch ein Richter, dessen Namen er mir nicht genannt hat. Der Name war das einzige Geheimnis, das er in dieser ganzen Angelegenheit für sich behielt. Dieser Richter, den er gewöhnlich als Arzt behandelte, verfiel sichtlich, ohne daß seine Gesundheit gestört schien; eine finstere Schwermut hatte sich seiner bemächtigt. Seine Familie hatte wiederholt den Doktor befragt, und dieser hatte sich an die Freunde des Richters gewandt, ohne etwas aus ihnen herauszubringen als unbestimmte Antworten, die seine Befürchtung nur noch verstärkten.
Endlich drang Dr. Sympson eines Tages in ihn, worauf der Richter mit traurigem Lächeln seine Hände ergriff und zu ihm sagte: »Ja, ich bin krank, und meine Krankheit, lieber Doktor, ist unheilbar, da sie nur in meiner Einbildung besteht.«
»Wie? In Ihrer Einbildung?«
»Ja, ich bin im Begriff, wahnsinnig zu werden!«
»Sie und wahnsinnig! Ich bitte Sie, Sie haben einen klaren Blick, eine ruhige Stimme« – er ergriff ihn bei der Hand –, »einen ausgezeichneten Puls.«
»Das ist ja gerade das Gefährliche meines Zustands, lieber Doktor: Ich sehe und beurteile es nämlich selbst.«
»Aber worin besteht denn Ihr Wahnsinn?«
»Schließen Sie die Tür, damit man uns nicht stört, Doktor, ich will es Ihnen erzählen.«
Der Doktor verschloß die Tür und setzte sich neben seinen Freund.
»Erinnern Sie sich des letzten Strafprozesses«, fragte der Richter, »in dem ich ein Urteil zu fällen hatte?«
»Ja, über einen schottischen Räuber, der von Ihnen zum Galgen verurteilt und gehenkt worden ist.«
»Ganz recht. Nun, in dem Augenblick, als ich das Urteil verkündete, sprühte eine Flamme aus seinen Augen, und er zeigte mir drohend die Faust. Ich achtete nicht darauf … Solche Drohungen sind bei den Verurteilten häufig. Aber am Tag nach der Hinrichtung erschien der Scharfrichter bei mir, er sagte, daß er geglaubt hätte, mich von etwas unterrichten zu müssen: Der Räuber war gestorben, indem er eine Art von Beschwörung gegen mich aussprach und erklärte, daß ich am folgenden Tag um sechs Uhr, der Stunde, in der er hingerichtet worden war, Nachrichten von ihm erhalten würde.
Ich glaubte an irgendeinen Überfall durch seine Kameraden, an Rache von bewaffneter Hand, und als die sechste Stunde kam, schloß ich mich mit einem Paar Pistolen auf meinem Schreibtisch in meinem Zimmer ein.
Die Standuhr meines Kamins schlug sechs. Ich hatte den ganzen Tag an diese Mitteilung des Scharfrichters gedacht. Aber der letzte Schlag erbebte auf der Glocke, ohne daß ich etwas anderes hörte als ein gewisses Schnurren, dessen Ursache ich nicht erklären konnte. Ich wandte mich um und sah eine große schwarz- und feuerrotgefleckte Katze. Wie war sie hereingekommen? Es war unmöglich, das zu erklären, denn Türen und Fenster waren verschlossen. Sie mußte während des Tages in das Zimmer eingesperrt gewesen sein.
Ich läutete meinem Diener, aber er konnte nicht eintreten, da ich von innen zugeschlossen hatte; ich ging an die Tür und machte sie auf. Nun sprach ich von der schwarz- und feuerrotgefleckten Katze; aber wir suchten sie vergebens, sie war verschwunden.
Ich kümmerte mich nicht weiter darum; der Abend verfloß, die Nacht brach an, der Tag kam und verging, und dann schlug es wieder sechs Uhr. In diesem Augenblick hörte ich dasselbe Geräusch hinter mir und sah dieselbe Katze.
Diesmal sprang sie auf meinen Schoß.
Ich habe keinen Widerwillen gegen Katzen, und dennoch machte diese Vertraulichkeit einen unangenehmen Eindruck auf mich. Ich jagte sie von meinem Schoß. Aber kaum war sie auf dem Boden, als sie von neuem auf mich sprang. Ich stieß sie zurück, aber ebenso vergebens wie das erstemal. Nun stand ich auf und ging im Zimmer auf und ab; die Katze folgte mir Schritt für Schritt; unwillig über diese Beharrlichkeit, läutete ich wie am Tage zuvor, mein Bedienter trat ein, aber die Katze floh unter das Bett, wo wir sie vergebens suchten; denn sobald sie unter das Bett gekrochen war, war sie verschwunden.
Ich ging am Abend aus und besuchte mehrere Freunde; dann kehrte ich nach Hause zurück.
Da ich kein Licht hatte, so ging ich aus Furcht, mich zu stoßen, vorsichtig die Treppe hinauf; als ich die letzte Stufe erreichte, hörte ich meinen Bedienten, der sich mit dem Mädchen meiner Frau unterhielt.
Da mein Name fiel, hörte ich auf das, was er sagte, und nun hörte ich ihn das ganze Abenteuer von gestern und heute erzählen; nur fügte er hinzu: ›Der Herr wird wahnsinnig, denn es befand sich ebensowenig eine schwarz- und feuerrotgefleckte Katze in dem Zimmer wie in meiner Hand.‹
Diese Worte erschreckten mich; entweder war die Erscheinung wirklich, oder sie war falsch; wenn die Erscheinung wirklich war, so befand ich mich im Bann einer übernatürlichen Sache; wenn die Erscheinung falsch war, wenn ich etwas zu sehen glaubte, das nicht bestand, wie mein Bedienter gesagt hatte, so wurde ich wahnsinnig.
Sie werden erraten, daß ich in mit Furcht gemischter Ungeduld das nächste Mal erwartete. Am folgenden Tag behielt ich unter dem Vorwand, etwas zu ordnen, meinen Bedienten bei mir; es schlug sechs Uhr, als er da war; bei dem letzten Glockenschlag hörte ich dasselbe Geräusch und sah meine Katze wieder.
Sie saß neben mir. Ich blieb einen Augenblick ruhig, ohne etwas zu sagen, denn ich hoffte, daß mein Bedienter das Tier erblicken und zuerst davon sprechen würde; aber er ging in meinem Zimmer auf und ab und sah offenbar nichts.
Ich wartete den Augenblick ab, da er in der Richtung, die er einschlagen mußte, um den Auftrag auszuführen, den ich ihm geben wollte, fast auf die Katze treten würde.
›Stellen Sie meine Glocke auf den Tisch, John‹, sagte ich.
Er stand am Kopfende meines Bettes, die Glocke stand auf dem Kamin; um von da zum Kamin zu gehen, mußte er wohl oder übel über das Tier gehen. Er kam, aber in dem Augenblick, da sein Fuß das Tier berühren mußte, sprang die Katze auf meinen Schoß.
John sah sie nicht oder schien sie wenigstens nicht zu sehen.
Kalter Schweiß trat auf meine Stirn, und die Worte: ›Der Herr wird wahnsinnig‹, kamen mir wieder in furchtbare Erinnerung.
›John‹, sagte ich zu ihm, ›sehen Sie nichts auf meinem Schoß?‹
John blickte mich an. Dann sagte er wie ein Mensch, der einen Entschluß faßt:
›Doch, Herr, ich sehe eine Katze.‹
Ich atmete wieder auf.
Ich nahm die Katze und sagte zu ihm: ›Dann tragen Sie sie hinaus, John, ich bitte Sie.‹
Seine Hände kamen den meinen entgegen; ich legte ihm das Tier auf die Arme, worauf er auf einen Wink von mir das Zimmer verließ.
Ich war einigermaßen beruhigt; etwa zehn Minuten blickte ich noch mit einem Rest von Angst um mich; da ich aber kein lebendiges Wesen, das irgendeiner Tierart angehörte, bemerkte, wollte ich nachsehen, was John mit der Katze gemacht hatte.
Ich verließ daher mein Zimmer, in der Absicht, ihn danach zu fragen. Als ich aber den Fuß auf die Schwelle der Salontür setzte, hörte ich lautes Gelächter, das aus dem Zimmer meiner Frau kam. Ich näherte mich leise auf den Fußzehen und hörte die Stimme Johns:
›Meine liebe Freundin‹, sagte er zu dem Zimmermädchen, ›der Herr wird nicht wahnsinnig, nein, er ist es schon. Wie du weißt, besteht sein Wahnsinn darin, daß er eine schwarz- und rotgefleckte Katze sieht. Heute abend hat er mich gefragt, ob ich diese Katze nicht auf seinem Schoß sähe.‹
›Und was hast du geantwortet?‹
›Bei Gott! Ich habe geantwortet, daß ich sie sähe‹, sagte John. ›Ich habe den armen, lieben Mann nicht ärgern wollen; und was meinst du, was er getan hat?‹
›Wie soll ich das erraten?‹
›Nun denn, er hat die vermeintliche Katze von seinem Schoß genommen, hat sie mir auf die Arme gelegt und zu mir gesagt: Trage sie fort! – Trage sie fort! – Ich habe die Katze hurtig fortgetragen, und er ist zufrieden gewesen.‹
›Aber wenn du die Katze fortgetragen hast, so war die Katze also doch vorhanden.‹
›Nicht doch, die Katze bestand nur in seiner Einbildung. Aber was hätte es geholfen, wenn ich ihm die Wahrheit gesagt hätte? Mich aus dem Hause werfen zu lassen? – Meiner Treu, nein, es geht mir hier gut, und ich bleibe. Er gibt mir fünfundzwanzig Pfund jährlich – um eine Katze zu sehen. Gut, ich sehe sie. Er soll mir dreißig geben, und ich werde zwei Katzen sehen.‹
Ich hatte nicht den Mut, länger zuzuhören. Seufzend kehrte ich in mein Zimmer zurück.
Mein Zimmer war leer …
Am folgenden Tag fand sich meine Gesellschafterin wie gewöhnlich um sechs wieder bei mir ein und verschwand erst am folgenden Morgen.
»Was soll ich Ihnen sagen, mein Freund?« fuhr der Kranke fort. »Einen Monat lang hatte ich dieselbe Erscheinung jeden Abend, und ich gewöhnte mich allmählich an ihre Gegenwart; am dreißigsten Tage nach der Hinrichtung schlug es sechs Uhr, ohne daß die Katze erschien.
Ich glaubte von ihr befreit zu sein, ich konnte vor Freude nicht schlafen. Den ganzen Morgen des folgenden Tages schob ich sozusagen die Zeit vor mir her; ich konnte kaum die verhängnisvolle Stunde abwarten.
Von fünf bis sechs Uhr verließen meine Augen die Standuhr nicht. Ich folgte dem Gang des großen Zeigers von Minute zu Minute. Endlich erreichte er die Zahl XII, das Knarren der Uhr ließ sich vernehmen, dann tat der Hammer den ersten, den zweiten, den dritten, den vierten, den fünften, endlich den sechsten Schlag! – Bei dem sechsten Schlag ging meine Tür auf«, sagte der unglückliche Richter, »und ich sah einen Gerichtsdiener der Kammer eintreten, der die Uniform des Lord-Lieutenants von Schottland trug.
Mein erster Gedanke war, daß der Lord-Lieutenant mir irgendein Schreiben sende, und ich streckte die Hand nach dem Unbekannten aus. Aber er schien auf meine Gebärde nicht zu achten und stellte sich hinter meinen Sessel.
Ich brauchte mich nicht umzuwenden, um ihn zu sehen, denn ich saß dem Spiegel gegenüber und hatte ihn also im Blick. Ich stand auf und bewegte mich hin und her; er folgte mir in der Entfernung einiger Schritte. Ich ging an meinen Tisch und läutete.
Mein Bedienter erschien, aber er sah den Gerichtsboten ebensowenig wie vorher die Katze.
Ich schickte ihn wieder fort und blieb mit dieser seltsamen Person allein, die ich nach Herzenslust betrachten konnte.
Er trug Hofkleidung, den Haarbeutel, den Degen an der Seite, eine gestickte Weste und seinen Hut unter dem Arm.
Um zehn Uhr legte ich mich zu Bett; um offenbar die Nacht so bequem als möglich zuzubringen, setzte er sich meinem Bett gegenüber in einen Sessel.
Ich wandte den Kopf nach der Seite der Wand; da ich aber nicht einschlafen konnte, so drehte ich mich zwei- bis dreimal wieder um, und jedesmal sah ich ihn beim Licht meiner Nachtlampe in demselben Sessel.
Auch er schlief nicht.
Endlich sah ich die ersten Strahlen des Tages durch die Läden in mein Zimmer dringen, ich wandte mich ein letztesmal nach meinem Mann um: Er war verschwunden, der Sessel war leer.
Bis zum Abend des nächsten Tages war ich von meiner Erscheinung befreit.
Am Abend war Empfang bei dem Großvikar der Kirche, und ich rief unter dem Vorwand, meinen Festrock auszubürsten, wenige Minuten vor sechs Uhr meinen Bedienten, indem ich ihm befahl, die Riegel der Tür vorzuschieben.
Er gehorchte.
Beim letzten Schlag der sechsten Stunde heftete ich die Augen auf die Tür; die Tür ging auf, und mein Gerichtsbote trat ein.
Ich ging sofort nach der Tür – sie war wieder verschlossen; die Riegel schienen nicht verschoben zu sein, ich wandte mich um – der Gerichtsbote stand hinter meinem Sessel, und John ging im Zimmer hin und her, ohne ihn im geringsten zu bemerken.
Er sah ihn offenbar ebensowenig wie vorher das Tier.
Ich kleidete mich an.
Nun geschah etwas Seltsames: Voll Aufmerksamkeit für mich, half mein neuer Hausgenosse John in allem, was er tat, ohne daß John es bemerkte. So hielt John meinen Rock beim Kragen – das Gespenst hielt die Schöße; John reichte mir die Hose beim Gürtel, das Gespenst hielt sie bei den Beinen.
Ich hatte niemals einen diensteifrigeren Bedienten.
Die Stunde des Besuchs kam.
Statt mir zu folgen, ging der Gerichtsbote mir jedoch voraus, schlüpfte durch die Tür meines Zimmers, ging die Treppe hinab, hielt sich, den Hut unter dem Arm, hinter John, der den Schlag des Wagens aufmachte, und als John ihn geschlossen und seinen Platz hinter dem Wagen eingenommen hatte, stieg er auf den Bock des Kutschers, der nach rechts rückte, um ihm Platz zu machen.
Vor dem Haus des Großvikars hielt der Wagen; John öffnete den Schlag, aber das Gespenst stand bereits hinter ihm auf seinem Posten. Kaum war ich ausgestiegen, als das Gespenst mir vorauseilte, indem es sich durch die Bedienten zwängte, die am Portal standen, und nachsah, ob ich ihm folgte.
Nun wollte ich mit dem Kutscher denselben Versuch anstellen, den ich mit John gemacht hatte.
›Patrick‹, fragte ich ihn, ›wer war der Mann, der neben Euch saß?‹
›Welcher Mann, Euer Gnaden?‹
›Der Mann, der auf dem Bock saß.‹
Patrick machte große Augen, indem er erstaunt um sich blickte.
›Es ist gut‹, sagte ich, ›ich habe mich geirrt.‹
Ich ging in das Haus.
Der Gerichtsbote war auf der Treppe stehengeblieben und erwartete mich. Sobald er mich kommen sah, lief er mir voraus, trat vor mir ein, wie um mich im Empfangssaal zu melden; dann, als ich eingetreten war, nahm er in dem Vorzimmer wieder den Platz ein, der sich für ihn geziemte.
Wie für John und Patrick war das Gespenst für jedermann unsichtbar.
Nun verwandelte sich meine Furcht in Entsetzen, und ich sah ein, daß ich tatsächlich wahnsinnig würde.
Von diesem Abend an bemerkte man die Veränderung, die mit mir vorging. Jedermann fragte mich, welche Sorgen mich quälten.
Ich fand mein Gespenst im Vorzimmer wieder. Wie bei meiner Ankunft eilte es mir auf dem Heimweg voraus, kehrte mit mir nach Hause und hinter mir in mein Zimmer zurück und setzte sich wie die Nacht zuvor in den Sessel. Nun wollte ich mich überzeugen, ob etwas Wirkliches und besonders etwas Fühlbares an dieser Erscheinung wäre. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und setzte mich rückwärtsschreitend auf den Sessel. Ich fühlte nichts, aber ich sah den Gerichtsdiener im Spiegel hinter mir stehen. Wie am Abend zuvor legte ich mich zu Bett. Sobald ich im Bett lag, sah ich ihn wieder auf seinem Sessel.
Am folgenden Morgen verschwand er.
Die Erscheinung dauerte einen Monat.
Dann fehlte sie entgegen ihrer Gewohnheit und blieb einen Tag aus.
Diesmal glaubte ich nicht mehr an ein gänzliches Verschwinden wie das erstemal, sondern an irgendeine schreckliche Veränderung, und statt mein Alleinsein zu genießen, erwartete ich den nächsten Tag voller Entsetzen.
Am andern Tag hörte ich beim letzten Schlag der sechsten Stunde ein leises Rauschen in den Vorhängen meines Bettes, und an der Wand erblickte ich ein Skelett.
Das Skelett stand regungslos dort und blickte mich mit seinen hohlen Augen an.
Ich stand auf, machte mehrere Gänge in meinem Zimmer – der Totenkopf folgte allen meinen Bewegungen. Die Augen verließen mich keinen Augenblick, der Körper blieb regungslos.
Diese Nacht hatte ich nicht den Mut, mich zu Bett zu legen. Ich schlief, oder ich blieb vielmehr mit geschlossenen Augen im Lehnstuhl sitzen, in dem sonst das Gespenst saß, nach dessen Gegenwart ich mich nun sogar sehnte.
Mit Tagesanbruch verschwand das Skelett.
Am Abend befahl ich John, mein Bett von der Stelle zu rücken und die Vorhänge zuzuziehen.
Beim letzten Schlag der sechsten Stunde hörte ich dasselbe Rauschen, ich sah die Vorhänge sich bewegen, dann erblickte ich zwei Knochenhände, die die Vorhänge meines Bettes zurückschlugen, dann nahm das Skelett seinen Platz ein wie die Nacht zuvor.
Doch jetzt hatte ich den Mut, mich zu Bett zu legen.
Der Kopf, der wie tags zuvor allen meinen Bewegungen gefolgt war, neigte sich nun zu mir. Die hohlen Augen, die mich wie in der vorhergehenden Nacht keinen Augenblick aus dem Blick verloren hatten, hefteten sich auf mich.«
Am folgenden Tag kam der Doktor um sieben Uhr morgens in das Zimmer seines Freundes.
»Nun«, fragte er ihn, »was macht das Skelett?«
»Es ist soeben verschwunden«, antwortete dieser mit schwacher Stimme.
»Gut, wir wollen es so einrichten, daß es heute nacht nicht wiederkommt.«
»Tun Sie es.«
»Sie sagen, daß es mit dem letzten Schlag der sechsten Stunde kommt?«
»Jedesmal.«
»Gut, fangen wir damit an, die Uhr anzuhalten«, und er hielt den Pendel an.
»Was wollen Sie tun?«
»Ich will Ihnen die Möglichkeit nehmen, die Zeit zu erkennen.«
»Gut.«
»Jetzt wollen wir die Läden schließen und die Vorhänge der Fenster zuziehen.«
»Warum das?«
»Immer zu demselben Zweck, damit Sie nicht wissen, welche Tageszeit es ist.«
»Tun Sie es.«
Die Läden wurden zugemacht, die Vorhänge zugezogen, und wir zündeten Kerzen an.
»Halten Sie ein Frühstück und ein Mittagessen bereit, John«, sagte der Doktor, »wir wollen nicht zu bestimmten Stunden bedient sein, sondern nur dann, wenn ich rufen werde.«
»Sie hören, John«, sagte der Kranke.
»Ja, Herr.«
»Dann geben Sie uns Karten, Würfel, Dominos, und lassen Sie uns allein.«
John brachte die verlangten Gegenstände und entfernte sich.
Der Doktor begann damit, den Kranken nach Kräften zu zerstreuen, indem er bald plauderte, bald mit ihm spielte; dann, als er Hunger hatte, läutete er.
John brachte das Frühstück.
Nach dem Frühstück begann das Spiel wieder und wurde später durch ein neues Läuten des Doktors unterbrochen.
John brachte das Mittagessen. Sie aßen und tranken, nahmen Kaffee und spielten weiter. So für sich gelassen, erschien ihnen der Tag lang. Der Arzt glaubte, daß die verhängnisvolle Stunde vorüber sein müßte.
»Nun denn!« Er stand auf. »Viktoria.«
»Wie, Viktoria?« fragte der Kranke.
»Es muß zweifellos zum mindesten acht bis neun Uhr sein, und das Skelett ist nicht gekommen.«
»Sehen Sie nach Ihrer Uhr, Doktor, und wenn die Stunde vorüber ist, so werde ich wie Sie Viktoria rufen.«
Der Doktor sah nach seiner Uhr, sagte aber nichts.
»Sie hatten sich geirrt, nicht wahr, Doktor?« sagte der Kranke. »Es ist gerade sechs Uhr.«
»Ja.«
»Nun, da tritt auch das Skelett ein.«
Und der Kranke warf sich mit einem tiefen Seufzer zurück.
Der Arzt blickte nach allen Seiten.
»Wo sehen Sie es denn?« fragte er.
»An seinem gewöhnlichen Platz, hinter meinem Bett, zwischen den Vorhängen.«
Der Doktor stand auf, zog das Bett vor, ging hinter dasselbe und nahm zwischen den Vorhängen den Platz ein, den das Skelett einnehmen sollte.
»Und jetzt«, sagte er, »sehen Sie es immer noch?«
»Ich sehe nicht mehr den unteren Teil seines Körpers, da der Ihre es mir verbirgt, aber ich sehe seinen Schädel. Über Ihrer rechten Schulter. Es ist, als ob Sie zwei Köpfe hätten, einen lebenden und einen toten.«
So ungläubig der Arzt auch war, er schauderte doch unwillkürlich. Er wandte sich um, aber er sah nichts.
»Mein Freund«, sagte er traurig, indem er zu dem Kranken zurückkehrte, »wenn Sie noch kein Testament gemacht haben, so beeilen Sie sich.« Und er entfernte sich.
Als John neun Tage später in das Zimmer seines Herrn trat, fand er ihn tot in seinem Bett.
Es waren genau drei Monate seit der Hinrichtung des Räubers vergangen …