Die Katze, der Gerichtsdiener
und das Skelett
von
Alex­and­re Du­mas

 

Alex­and­re Du­mas (1802-1870), der au­ßer­or­dent­lich frucht­ba­re fran­zö­si­sche Dra­ma­ti­ker und Er­zäh­ler, En­kel ei­nes Kreo­len und ei­ner Ne­ge­rin, Sohn ei­nes Ge­ne­rals der Re­vo­lu­ti­ons­zeit, fand mit sei­nen ro­man­ti­schen Stücken und vor al­lem mit sei­nem über 300 Bän­de um­fas­sen­den aben­teu­er­lich bun­ten Ro­man­werk bei sei­nen Zeit­ge­nos­sen be­geis­ter­te Auf­nah­me und wei­tes­te Ver­brei­tung. Sein größ­ter Er­folg war der Ro­man »Die drei Mus­ke­tie­re« aus dem Jah­re 1844. Du­mas über­leb­te sei­ne un­vor­stell­ba­re Be­liebt­heit und starb arm und ver­ges­sen in Puy bei Diep­pe.

 

 

Der Arzt, der mit Wal­ter Scott nach Frank­reich kam, hieß Dok­tor Sym­pson; er war mit den an­ge­se­hens­ten Per­so­nen der Stadt be­freun­det.

Dar­un­ter be­fand sich auch ein Rich­ter, des­sen Na­men er mir nicht ge­nannt hat. Der Na­me war das ein­zi­ge Ge­heim­nis, das er in die­ser gan­zen An­ge­le­gen­heit für sich be­hielt. Die­ser Rich­ter, den er ge­wöhn­lich als Arzt be­han­del­te, ver­fiel sicht­lich, oh­ne daß sei­ne Ge­sund­heit ge­stört schi­en; ei­ne fins­te­re Schwer­mut hat­te sich sei­ner be­mäch­tigt. Sei­ne Fa­mi­lie hat­te wie­der­holt den Dok­tor be­fragt, und die­ser hat­te sich an die Freun­de des Rich­ters ge­wandt, oh­ne et­was aus ih­nen her­aus­zu­brin­gen als un­be­stimm­te Ant­wor­ten, die sei­ne Be­fürch­tung nur noch ver­stärk­ten.

End­lich drang Dr. Sym­pson ei­nes Ta­ges in ihn, wor­auf der Rich­ter mit trau­ri­gem Lä­cheln sei­ne Hän­de er­griff und zu ihm sag­te: »Ja, ich bin krank, und mei­ne Krank­heit, lie­ber Dok­tor, ist un­heil­bar, da sie nur in mei­ner Ein­bil­dung be­steht.«

»Wie? In Ih­rer Ein­bil­dung?«

»Ja, ich bin im Be­griff, wahn­sin­nig zu wer­den!«

»Sie und wahn­sin­nig! Ich bit­te Sie, Sie ha­ben einen kla­ren Blick, ei­ne ru­hi­ge Stim­me« – er er­griff ihn bei der Hand –, »einen aus­ge­zeich­ne­ten Puls.«

»Das ist ja ge­ra­de das Ge­fähr­li­che mei­nes Zu­stands, lie­ber Dok­tor: Ich se­he und be­ur­tei­le es näm­lich selbst.«

»Aber worin be­steht denn Ihr Wahn­sinn?«

»Schlie­ßen Sie die Tür, da­mit man uns nicht stört, Dok­tor, ich will es Ih­nen er­zäh­len.«

Der Dok­tor ver­schloß die Tür und setz­te sich ne­ben sei­nen Freund.

»Er­in­nern Sie sich des letz­ten Straf­pro­zes­ses«, frag­te der Rich­ter, »in dem ich ein Ur­teil zu fäl­len hat­te?«

»Ja, über einen schot­ti­schen Räu­ber, der von Ih­nen zum Gal­gen ver­ur­teilt und ge­henkt wor­den ist.«

»Ganz recht. Nun, in dem Au­gen­blick, als ich das Ur­teil ver­kün­de­te, sprüh­te ei­ne Flam­me aus sei­nen Au­gen, und er zeig­te mir dro­hend die Faust. Ich ach­te­te nicht dar­auf … Sol­che Dro­hun­gen sind bei den Ver­ur­teil­ten häu­fig. Aber am Tag nach der Hin­rich­tung er­schi­en der Scharf­rich­ter bei mir, er sag­te, daß er ge­glaubt hät­te, mich von et­was un­ter­rich­ten zu müs­sen: Der Räu­ber war ge­stor­ben, in­dem er ei­ne Art von Be­schwö­rung ge­gen mich aus­sprach und er­klär­te, daß ich am fol­gen­den Tag um sechs Uhr, der Stun­de, in der er hin­ge­rich­tet wor­den war, Nach­rich­ten von ihm er­hal­ten wür­de.

Ich glaub­te an ir­gend­ei­nen Über­fall durch sei­ne Ka­me­ra­den, an Ra­che von be­waff­ne­ter Hand, und als die sechs­te Stun­de kam, schloß ich mich mit ei­nem Paar Pis­to­len auf mei­nem Schreib­tisch in mei­nem Zim­mer ein.

Die Stand­uhr mei­nes Ka­mins schlug sechs. Ich hat­te den gan­zen Tag an die­se Mit­tei­lung des Scharf­rich­ters ge­dacht. Aber der letz­te Schlag er­beb­te auf der Glo­cke, oh­ne daß ich et­was an­de­res hör­te als ein ge­wis­ses Schnur­ren, des­sen Ur­sa­che ich nicht er­klä­ren konn­te. Ich wand­te mich um und sah ei­ne große schwarz- und feu­er­rot­ge­fleck­te Kat­ze. Wie war sie her­ein­ge­kom­men? Es war un­mög­lich, das zu er­klä­ren, denn Tü­ren und Fens­ter wa­ren ver­schlos­sen. Sie muß­te wäh­rend des Ta­ges in das Zim­mer ein­ge­sperrt ge­we­sen sein.

Ich läu­te­te mei­nem Die­ner, aber er konn­te nicht ein­tre­ten, da ich von in­nen zu­ge­schlos­sen hat­te; ich ging an die Tür und mach­te sie auf. Nun sprach ich von der schwarz- und feu­er­rot­ge­fleck­ten Kat­ze; aber wir such­ten sie ver­ge­bens, sie war ver­schwun­den.

Ich küm­mer­te mich nicht wei­ter dar­um; der Abend ver­floß, die Nacht brach an, der Tag kam und ver­ging, und dann schlug es wie­der sechs Uhr. In die­sem Au­gen­blick hör­te ich das­sel­be Ge­räusch hin­ter mir und sah die­sel­be Kat­ze.

Dies­mal sprang sie auf mei­nen Schoß.

Ich ha­be kei­nen Wi­der­wil­len ge­gen Kat­zen, und den­noch mach­te die­se Ver­trau­lich­keit einen un­an­ge­neh­men Ein­druck auf mich. Ich jag­te sie von mei­nem Schoß. Aber kaum war sie auf dem Bo­den, als sie von neu­em auf mich sprang. Ich stieß sie zu­rück, aber eben­so ver­ge­bens wie das ers­te­mal. Nun stand ich auf und ging im Zim­mer auf und ab; die Kat­ze folg­te mir Schritt für Schritt; un­wil­lig über die­se Be­harr­lich­keit, läu­te­te ich wie am Ta­ge zu­vor, mein Be­dien­ter trat ein, aber die Kat­ze floh un­ter das Bett, wo wir sie ver­ge­bens such­ten; denn so­bald sie un­ter das Bett ge­kro­chen war, war sie ver­schwun­den.

Ich ging am Abend aus und be­such­te meh­re­re Freun­de; dann kehr­te ich nach Hau­se zu­rück.

Da ich kein Licht hat­te, so ging ich aus Furcht, mich zu sto­ßen, vor­sich­tig die Trep­pe hin­auf; als ich die letz­te Stu­fe er­reich­te, hör­te ich mei­nen Be­dien­ten, der sich mit dem Mäd­chen mei­ner Frau un­ter­hielt.

Da mein Na­me fiel, hör­te ich auf das, was er sag­te, und nun hör­te ich ihn das gan­ze Aben­teu­er von ges­tern und heu­te er­zäh­len; nur füg­te er hin­zu: ›Der Herr wird wahn­sin­nig, denn es be­fand sich eben­so­we­nig ei­ne schwarz- und feu­er­rot­ge­fleck­te Kat­ze in dem Zim­mer wie in mei­ner Hand.‹

Die­se Wor­te er­schreck­ten mich; ent­we­der war die Er­schei­nung wirk­lich, oder sie war falsch; wenn die Er­schei­nung wirk­lich war, so be­fand ich mich im Bann ei­ner über­na­tür­li­chen Sa­che; wenn die Er­schei­nung falsch war, wenn ich et­was zu se­hen glaub­te, das nicht be­stand, wie mein Be­dien­ter ge­sagt hat­te, so wur­de ich wahn­sin­nig.

Sie wer­den er­ra­ten, daß ich in mit Furcht ge­misch­ter Un­ge­duld das nächs­te Mal er­war­te­te. Am fol­gen­den Tag be­hielt ich un­ter dem Vor­wand, et­was zu ord­nen, mei­nen Be­dien­ten bei mir; es schlug sechs Uhr, als er da war; bei dem letz­ten Glo­cken­schlag hör­te ich das­sel­be Ge­räusch und sah mei­ne Kat­ze wie­der.

Sie saß ne­ben mir. Ich blieb einen Au­gen­blick ru­hig, oh­ne et­was zu sa­gen, denn ich hoff­te, daß mein Be­dien­ter das Tier er­bli­cken und zu­erst da­von spre­chen wür­de; aber er ging in mei­nem Zim­mer auf und ab und sah of­fen­bar nichts.

Ich war­te­te den Au­gen­blick ab, da er in der Rich­tung, die er ein­schla­gen muß­te, um den Auf­trag aus­zu­füh­ren, den ich ihm ge­ben woll­te, fast auf die Kat­ze tre­ten wür­de.

›Stel­len Sie mei­ne Glo­cke auf den Tisch, John‹, sag­te ich.

Er stand am Kopf­en­de mei­nes Bet­tes, die Glo­cke stand auf dem Ka­min; um von da zum Ka­min zu ge­hen, muß­te er wohl oder übel über das Tier ge­hen. Er kam, aber in dem Au­gen­blick, da sein Fuß das Tier be­rüh­ren muß­te, sprang die Kat­ze auf mei­nen Schoß.

John sah sie nicht oder schi­en sie we­nigs­tens nicht zu se­hen.

Kal­ter Schweiß trat auf mei­ne Stirn, und die Wor­te: ›Der Herr wird wahn­sin­nig‹, ka­men mir wie­der in furcht­ba­re Er­in­ne­rung.

›John‹, sag­te ich zu ihm, ›se­hen Sie nichts auf mei­nem Schoß?‹

John blick­te mich an. Dann sag­te er wie ein Mensch, der einen Ent­schluß faßt:

›Doch, Herr, ich se­he ei­ne Kat­ze.‹

Ich at­me­te wie­der auf.

Ich nahm die Kat­ze und sag­te zu ihm: ›Dann tra­gen Sie sie hin­aus, John, ich bit­te Sie.‹

Sei­ne Hän­de ka­men den mei­nen ent­ge­gen; ich leg­te ihm das Tier auf die Ar­me, wor­auf er auf einen Wink von mir das Zim­mer ver­ließ.

Ich war ei­ni­ger­ma­ßen be­ru­higt; et­wa zehn Mi­nu­ten blick­te ich noch mit ei­nem Rest von Angst um mich; da ich aber kein le­ben­di­ges We­sen, das ir­gend­ei­ner Tier­art an­ge­hör­te, be­merk­te, woll­te ich nach­se­hen, was John mit der Kat­ze ge­macht hat­te.

Ich ver­ließ da­her mein Zim­mer, in der Ab­sicht, ihn da­nach zu fra­gen. Als ich aber den Fuß auf die Schwel­le der Sa­lon­tür setz­te, hör­te ich lau­tes Ge­läch­ter, das aus dem Zim­mer mei­ner Frau kam. Ich nä­her­te mich lei­se auf den Fuß­ze­hen und hör­te die Stim­me Johns:

›Mei­ne lie­be Freun­din‹, sag­te er zu dem Zim­mer­mäd­chen, ›der Herr wird nicht wahn­sin­nig, nein, er ist es schon. Wie du weißt, be­steht sein Wahn­sinn dar­in, daß er ei­ne schwarz- und rot­ge­fleck­te Kat­ze sieht. Heu­te abend hat er mich ge­fragt, ob ich die­se Kat­ze nicht auf sei­nem Schoß sä­he.‹

›Und was hast du geant­wor­tet?‹

›Bei Gott! Ich ha­be geant­wor­tet, daß ich sie sä­he‹, sag­te John. ›Ich ha­be den ar­men, lie­ben Mann nicht är­gern wol­len; und was meinst du, was er ge­tan hat?‹

›Wie soll ich das er­ra­ten?‹

›Nun denn, er hat die ver­meint­li­che Kat­ze von sei­nem Schoß ge­nom­men, hat sie mir auf die Ar­me ge­legt und zu mir ge­sagt: Tra­ge sie fort! – Tra­ge sie fort! – Ich ha­be die Kat­ze hur­tig fort­ge­tra­gen, und er ist zu­frie­den ge­we­sen.‹

›Aber wenn du die Kat­ze fort­ge­tra­gen hast, so war die Kat­ze al­so doch vor­han­den.‹

›Nicht doch, die Kat­ze be­stand nur in sei­ner Ein­bil­dung. Aber was hät­te es ge­hol­fen, wenn ich ihm die Wahr­heit ge­sagt hät­te? Mich aus dem Hau­se wer­fen zu las­sen? – Mei­ner Treu, nein, es geht mir hier gut, und ich blei­be. Er gibt mir fünf­und­zwan­zig Pfund jähr­lich – um ei­ne Kat­ze zu se­hen. Gut, ich se­he sie. Er soll mir drei­ßig ge­ben, und ich wer­de zwei Kat­zen se­hen.‹

Ich hat­te nicht den Mut, län­ger zu­zu­hö­ren. Seuf­zend kehr­te ich in mein Zim­mer zu­rück.

Mein Zim­mer war leer …

Am fol­gen­den Tag fand sich mei­ne Ge­sell­schaf­te­rin wie ge­wöhn­lich um sechs wie­der bei mir ein und ver­schwand erst am fol­gen­den Mor­gen.

»Was soll ich Ih­nen sa­gen, mein Freund?« fuhr der Kran­ke fort. »Einen Mo­nat lang hat­te ich die­sel­be Er­schei­nung je­den Abend, und ich ge­wöhn­te mich all­mäh­lich an ih­re Ge­gen­wart; am drei­ßigs­ten Ta­ge nach der Hin­rich­tung schlug es sechs Uhr, oh­ne daß die Kat­ze er­schi­en.

Ich glaub­te von ihr be­freit zu sein, ich konn­te vor Freu­de nicht schla­fen. Den gan­zen Mor­gen des fol­gen­den Ta­ges schob ich so­zu­sa­gen die Zeit vor mir her; ich konn­te kaum die ver­häng­nis­vol­le Stun­de ab­war­ten.

Von fünf bis sechs Uhr ver­lie­ßen mei­ne Au­gen die Stand­uhr nicht. Ich folg­te dem Gang des großen Zei­gers von Mi­nu­te zu Mi­nu­te. End­lich er­reich­te er die Zahl XII, das Knar­ren der Uhr ließ sich ver­neh­men, dann tat der Ham­mer den ers­ten, den zwei­ten, den drit­ten, den vier­ten, den fünf­ten, end­lich den sechs­ten Schlag! – Bei dem sechs­ten Schlag ging mei­ne Tür auf«, sag­te der un­glück­li­che Rich­ter, »und ich sah einen Ge­richts­die­ner der Kam­mer ein­tre­ten, der die Uni­form des Lord-Lieu­ten­ants von Schott­land trug.

Mein ers­ter Ge­dan­ke war, daß der Lord-Lieu­ten­ant mir ir­gend­ein Schrei­ben sen­de, und ich streck­te die Hand nach dem Un­be­kann­ten aus. Aber er schi­en auf mei­ne Ge­bär­de nicht zu ach­ten und stell­te sich hin­ter mei­nen Ses­sel.

Ich brauch­te mich nicht um­zu­wen­den, um ihn zu se­hen, denn ich saß dem Spie­gel ge­gen­über und hat­te ihn al­so im Blick. Ich stand auf und be­weg­te mich hin und her; er folg­te mir in der Ent­fer­nung ei­ni­ger Schrit­te. Ich ging an mei­nen Tisch und läu­te­te.

Mein Be­dien­ter er­schi­en, aber er sah den Ge­richts­bo­ten eben­so­we­nig wie vor­her die Kat­ze.

Ich schick­te ihn wie­der fort und blieb mit die­ser selt­sa­men Per­son al­lein, die ich nach Her­zens­lust be­trach­ten konn­te.

Er trug Hof­klei­dung, den Haar­beu­tel, den De­gen an der Sei­te, ei­ne ge­stick­te Wes­te und sei­nen Hut un­ter dem Arm.

Um zehn Uhr leg­te ich mich zu Bett; um of­fen­bar die Nacht so be­quem als mög­lich zu­zu­brin­gen, setz­te er sich mei­nem Bett ge­gen­über in einen Ses­sel.

Ich wand­te den Kopf nach der Sei­te der Wand; da ich aber nicht ein­schla­fen konn­te, so dreh­te ich mich zwei- bis drei­mal wie­der um, und je­des­mal sah ich ihn beim Licht mei­ner Nacht­lam­pe in dem­sel­ben Ses­sel.

Auch er schlief nicht.

End­lich sah ich die ers­ten Strah­len des Ta­ges durch die Lä­den in mein Zim­mer drin­gen, ich wand­te mich ein letz­tes­mal nach mei­nem Mann um: Er war ver­schwun­den, der Ses­sel war leer.

Bis zum Abend des nächs­ten Ta­ges war ich von mei­ner Er­schei­nung be­freit.

Am Abend war Emp­fang bei dem Groß­vi­kar der Kir­che, und ich rief un­ter dem Vor­wand, mei­nen Fes­t­rock aus­zu­bürs­ten, we­ni­ge Mi­nu­ten vor sechs Uhr mei­nen Be­dien­ten, in­dem ich ihm be­fahl, die Rie­gel der Tür vor­zu­schie­ben.

Er ge­horch­te.

Beim letz­ten Schlag der sechs­ten Stun­de hef­te­te ich die Au­gen auf die Tür; die Tür ging auf, und mein Ge­richts­bo­te trat ein.

Ich ging so­fort nach der Tür – sie war wie­der ver­schlos­sen; die Rie­gel schie­nen nicht ver­scho­ben zu sein, ich wand­te mich um – der Ge­richts­bo­te stand hin­ter mei­nem Ses­sel, und John ging im Zim­mer hin und her, oh­ne ihn im ge­rings­ten zu be­mer­ken.

Er sah ihn of­fen­bar eben­so­we­nig wie vor­her das Tier.

Ich klei­de­te mich an.

Nun ge­sch­ah et­was Selt­sa­mes: Voll Auf­merk­sam­keit für mich, half mein neu­er Haus­ge­nos­se John in al­lem, was er tat, oh­ne daß John es be­merk­te. So hielt John mei­nen Rock beim Kra­gen – das Ge­spenst hielt die Schö­ße; John reich­te mir die Ho­se beim Gür­tel, das Ge­spenst hielt sie bei den Bei­nen.

Ich hat­te nie­mals einen dienst­eif­ri­ge­ren Be­dien­ten.

Die Stun­de des Be­suchs kam.

Statt mir zu fol­gen, ging der Ge­richts­bo­te mir je­doch vor­aus, schlüpf­te durch die Tür mei­nes Zim­mers, ging die Trep­pe hin­ab, hielt sich, den Hut un­ter dem Arm, hin­ter John, der den Schlag des Wa­gens auf­mach­te, und als John ihn ge­schlos­sen und sei­nen Platz hin­ter dem Wa­gen ein­ge­nom­men hat­te, stieg er auf den Bock des Kut­schers, der nach rechts rück­te, um ihm Platz zu ma­chen.

Vor dem Haus des Groß­vi­kars hielt der Wa­gen; John öff­ne­te den Schlag, aber das Ge­spenst stand be­reits hin­ter ihm auf sei­nem Pos­ten. Kaum war ich aus­ge­stie­gen, als das Ge­spenst mir vor­auseil­te, in­dem es sich durch die Be­dien­ten zwäng­te, die am Por­tal stan­den, und nachsah, ob ich ihm folg­te.

Nun woll­te ich mit dem Kut­scher den­sel­ben Ver­such an­stel­len, den ich mit John ge­macht hat­te.

›Pa­trick‹, frag­te ich ihn, ›wer war der Mann, der ne­ben Euch saß?‹

›Wel­cher Mann, Eu­er Gna­den?‹

›Der Mann, der auf dem Bock saß.‹

Pa­trick mach­te große Au­gen, in­dem er er­staunt um sich blick­te.

›Es ist gut‹, sag­te ich, ›ich ha­be mich ge­irrt.‹

Ich ging in das Haus.

Der Ge­richts­bo­te war auf der Trep­pe ste­hen­ge­blie­ben und er­war­te­te mich. So­bald er mich kom­men sah, lief er mir vor­aus, trat vor mir ein, wie um mich im Emp­fangs­saal zu mel­den; dann, als ich ein­ge­tre­ten war, nahm er in dem Vor­zim­mer wie­der den Platz ein, der sich für ihn ge­ziem­te.

Wie für John und Pa­trick war das Ge­spenst für je­der­mann un­sicht­bar.

Nun ver­wan­del­te sich mei­ne Furcht in Ent­set­zen, und ich sah ein, daß ich tat­säch­lich wahn­sin­nig wür­de.

Von die­sem Abend an be­merk­te man die Ver­än­de­rung, die mit mir vor­ging. Je­der­mann frag­te mich, wel­che Sor­gen mich quäl­ten.

Ich fand mein Ge­spenst im Vor­zim­mer wie­der. Wie bei mei­ner An­kunft eil­te es mir auf dem Heim­weg vor­aus, kehr­te mit mir nach Hau­se und hin­ter mir in mein Zim­mer zu­rück und setz­te sich wie die Nacht zu­vor in den Ses­sel. Nun woll­te ich mich über­zeu­gen, ob et­was Wirk­li­ches und be­son­ders et­was Fühl­ba­res an die­ser Er­schei­nung wä­re. Ich nahm mei­nen gan­zen Mut zu­sam­men und setz­te mich rück­wärts­schrei­tend auf den Ses­sel. Ich fühl­te nichts, aber ich sah den Ge­richts­die­ner im Spie­gel hin­ter mir ste­hen. Wie am Abend zu­vor leg­te ich mich zu Bett. So­bald ich im Bett lag, sah ich ihn wie­der auf sei­nem Ses­sel.

Am fol­gen­den Mor­gen ver­schwand er.

Die Er­schei­nung dau­er­te einen Mo­nat.

Dann fehl­te sie ent­ge­gen ih­rer Ge­wohn­heit und blieb einen Tag aus.

Dies­mal glaub­te ich nicht mehr an ein gänz­li­ches Ver­schwin­den wie das ers­te­mal, son­dern an ir­gend­ei­ne schreck­li­che Ver­än­de­rung, und statt mein Al­lein­sein zu ge­nie­ßen, er­war­te­te ich den nächs­ten Tag vol­ler Ent­set­zen.

Am an­dern Tag hör­te ich beim letz­ten Schlag der sechs­ten Stun­de ein lei­ses Rau­schen in den Vor­hän­gen mei­nes Bet­tes, und an der Wand er­blick­te ich ein Ske­lett.

Das Ske­lett stand re­gungs­los dort und blick­te mich mit sei­nen hoh­len Au­gen an.

Ich stand auf, mach­te meh­re­re Gän­ge in mei­nem Zim­mer – der To­ten­kopf folg­te al­len mei­nen Be­we­gun­gen. Die Au­gen ver­lie­ßen mich kei­nen Au­gen­blick, der Kör­per blieb re­gungs­los.

Die­se Nacht hat­te ich nicht den Mut, mich zu Bett zu le­gen. Ich schlief, oder ich blieb viel­mehr mit ge­schlos­se­nen Au­gen im Lehn­stuhl sit­zen, in dem sonst das Ge­spenst saß, nach des­sen Ge­gen­wart ich mich nun so­gar sehn­te.

Mit Ta­ges­an­bruch ver­schwand das Ske­lett.

Am Abend be­fahl ich John, mein Bett von der Stel­le zu rücken und die Vor­hän­ge zu­zu­zie­hen.

Beim letz­ten Schlag der sechs­ten Stun­de hör­te ich das­sel­be Rau­schen, ich sah die Vor­hän­ge sich be­we­gen, dann er­blick­te ich zwei Kno­chen­hän­de, die die Vor­hän­ge mei­nes Bet­tes zu­rück­schlu­gen, dann nahm das Ske­lett sei­nen Platz ein wie die Nacht zu­vor.

Doch jetzt hat­te ich den Mut, mich zu Bett zu le­gen.

Der Kopf, der wie tags zu­vor al­len mei­nen Be­we­gun­gen ge­folgt war, neig­te sich nun zu mir. Die hoh­len Au­gen, die mich wie in der vor­her­ge­hen­den Nacht kei­nen Au­gen­blick aus dem Blick ver­lo­ren hat­ten, hef­te­ten sich auf mich.«

Am fol­gen­den Tag kam der Dok­tor um sie­ben Uhr mor­gens in das Zim­mer sei­nes Freun­des.

»Nun«, frag­te er ihn, »was macht das Ske­lett?«

»Es ist so­eben ver­schwun­den«, ant­wor­te­te die­ser mit schwa­cher Stim­me.

»Gut, wir wol­len es so ein­rich­ten, daß es heu­te nacht nicht wie­der­kommt.«

»Tun Sie es.«

»Sie sa­gen, daß es mit dem letz­ten Schlag der sechs­ten Stun­de kommt?«

»Je­des­mal.«

»Gut, fan­gen wir da­mit an, die Uhr an­zu­hal­ten«, und er hielt den Pen­del an.

»Was wol­len Sie tun?«

»Ich will Ih­nen die Mög­lich­keit neh­men, die Zeit zu er­ken­nen.«

»Gut.«

»Jetzt wol­len wir die Lä­den schlie­ßen und die Vor­hän­ge der Fens­ter zu­zie­hen.«

»Warum das?«

»Im­mer zu dem­sel­ben Zweck, da­mit Sie nicht wis­sen, wel­che Ta­ges­zeit es ist.«

»Tun Sie es.«

Die Lä­den wur­den zu­ge­macht, die Vor­hän­ge zu­ge­zo­gen, und wir zün­de­ten Ker­zen an.

»Hal­ten Sie ein Früh­stück und ein Mit­tages­sen be­reit, John«, sag­te der Dok­tor, »wir wol­len nicht zu be­stimm­ten Stun­den be­dient sein, son­dern nur dann, wenn ich ru­fen wer­de.«

»Sie hö­ren, John«, sag­te der Kran­ke.

»Ja, Herr.«

»Dann ge­ben Sie uns Kar­ten, Wür­fel, Do­mi­nos, und las­sen Sie uns al­lein.«

John brach­te die ver­lang­ten Ge­gen­stän­de und ent­fern­te sich.

Der Dok­tor be­gann da­mit, den Kran­ken nach Kräf­ten zu zer­streu­en, in­dem er bald plau­der­te, bald mit ihm spiel­te; dann, als er Hun­ger hat­te, läu­te­te er.

John brach­te das Früh­stück.

Nach dem Früh­stück be­gann das Spiel wie­der und wur­de spä­ter durch ein neu­es Läu­ten des Dok­tors un­ter­bro­chen.

John brach­te das Mit­tages­sen. Sie aßen und tran­ken, nah­men Kaf­fee und spiel­ten wei­ter. So für sich ge­las­sen, er­schi­en ih­nen der Tag lang. Der Arzt glaub­te, daß die ver­häng­nis­vol­le Stun­de vor­über sein müß­te.

»Nun denn!« Er stand auf. »Vik­to­ria.«

»Wie, Vik­to­ria?« frag­te der Kran­ke.

»Es muß zwei­fel­los zum min­des­ten acht bis neun Uhr sein, und das Ske­lett ist nicht ge­kom­men.«

»Se­hen Sie nach Ih­rer Uhr, Dok­tor, und wenn die Stun­de vor­über ist, so wer­de ich wie Sie Vik­to­ria ru­fen.«

Der Dok­tor sah nach sei­ner Uhr, sag­te aber nichts.

»Sie hat­ten sich ge­irrt, nicht wahr, Dok­tor?« sag­te der Kran­ke. »Es ist ge­ra­de sechs Uhr.«

»Ja.«

»Nun, da tritt auch das Ske­lett ein.«

Und der Kran­ke warf sich mit ei­nem tie­fen Seuf­zer zu­rück.

Der Arzt blick­te nach al­len Sei­ten.

»Wo se­hen Sie es denn?« frag­te er.

»An sei­nem ge­wöhn­li­chen Platz, hin­ter mei­nem Bett, zwi­schen den Vor­hän­gen.«

Der Dok­tor stand auf, zog das Bett vor, ging hin­ter das­sel­be und nahm zwi­schen den Vor­hän­gen den Platz ein, den das Ske­lett ein­neh­men soll­te.

»Und jetzt«, sag­te er, »se­hen Sie es im­mer noch?«

»Ich se­he nicht mehr den un­te­ren Teil sei­nes Kör­pers, da der Ih­re es mir ver­birgt, aber ich se­he sei­nen Schä­del. Über Ih­rer rech­ten Schul­ter. Es ist, als ob Sie zwei Köp­fe hät­ten, einen le­ben­den und einen to­ten.«

So un­gläu­big der Arzt auch war, er schau­der­te doch un­will­kür­lich. Er wand­te sich um, aber er sah nichts.

»Mein Freund«, sag­te er trau­rig, in­dem er zu dem Kran­ken zu­rück­kehr­te, »wenn Sie noch kein Tes­ta­ment ge­macht ha­ben, so be­ei­len Sie sich.« Und er ent­fern­te sich.

Als John neun Ta­ge spä­ter in das Zim­mer sei­nes Herrn trat, fand er ihn tot in sei­nem Bett.

Es wa­ren ge­nau drei Mo­na­te seit der Hin­rich­tung des Räu­bers ver­gan­gen …