Das Seegespenst
von
Jo­nas Lie

 

 

Jo­nas Lie (1833-1908) war zu­erst See­ka­dett, stu­dier­te dann in Chris­tia­na und ent­schied sich für die Be­am­ten­lauf­bahn. Er leb­te ei­ne Zeit­lang in Ita­li­en und spä­ter auf­grund po­li­ti­scher Schwie­rig­kei­ten in Deutsch­land, wo sei­ne Ge­sell­schafts­ro­ma­ne grö­ße­re Be­ach­tung fan­den als in Lies nor­we­gi­scher Hei­mat. In sei­ner Früh­zeit und im Al­ter zeig­te Lie ein be­son­de­res In­ter­es­se für die Spuk- und Dä­mo­nen­ge­schich­ten sei­ner Hei­mat. In den bür­ger­li­chen Rea­lis­mus sei­ner Ro­ma­ne drin­gen im­mer wie­der Ele­men­te sur­rea­ler Phan­tas­tik ein, wie in der ma­ri­ti­men Er­zäh­lung »Das See­ge­spenst«, die sich in Lies Ro­man »Der Hell­se­her« fin­det. Ne­ben Björn­son und Ib­sen zählt Lie zu den Weg­be­rei­tern der mo­der­nen nor­we­gi­schen Li­te­ra­tur.

 

 

Auf dem Kval­holm da un­ten auf Hel­ge­land wohn­te ein ar­mer Fi­scher na­mens Eli­as mit sei­ner Frau Ka­ren, die frü­her bei dem Pas­tor in Al­stad­haug ge­dient hat­te. Sie hat­ten sich dort ei­ne Hüt­te ge­baut, und der Mann mach­te nun ge­gen Ta­ge­lohn die Lo­fo­ten­fi­sche­rei mit.

Auf dem ein­sa­men Kval­holm war es nicht ganz ge­heu­er. Wenn der Mann fort war, hör­te die Frau man­cher­lei un­heim­li­chen Lärm und Ge­schrei, das nicht von et­was Gu­tem her­rüh­ren konn­te.

Ei­nes Ta­ges, als sie auf die Hoch­ebe­ne ge­stie­gen war und Gras zum Win­ter­fut­ter für ih­re Scha­fe mäh­te, hör­te sie es so­gar deut­lich da un­ter dem Ber­ge am Stran­de spre­chen, aber sie wag­te nicht nach­zu­se­hen, was es war.

Je­des Jahr wur­de ih­nen ein Kind ge­bo­ren, aber sie wa­ren bei­de ar­beit­sam und flei­ßig. Als sie­ben Jah­re ver­gan­gen wa­ren, be­fan­den sich sechs Kin­der in der Stu­be; aber um die­se Zeit hat­te sich der Mann auch so viel zu­sam­men­ge­spart, daß er glaub­te, er könn­te sich nun selbst ein sechs­ru­d­ri­ges Boot kau­fen, um dann auf ei­ge­ne Hand auf die Fi­sche­rei aus­zu­se­geln.

Ei­nes Ta­ges, als er mit ei­ner Flun­der­pi­ke in der Hand ein­her­ging und hier­über nach­grü­bel­te, stieß er hin­ter ei­nem Fel­sen­vor­sprung am Stran­de un­ver­mu­tet auf einen un­ge­heu­ren See­hund, der dalag und sich sonn­te und Eli­as wohl eben­so­we­nig er­war­tet hat­te wie die­ser ihn. Eli­as je­doch be­dach­te sich nicht lan­ge; er stieß ihm die lan­ge schwe­re Pi­ke ge­ra­de in den Rücken, dicht un­ter dem Ge­nick.

Aber gab es da ein We­sen! Der See­hund er­hob sich mit ei­nem­mal auf dem Schwän­ze ge­ra­de em­por in die Hö­he, so hoch wie ein Boots­mast, und sah ihn da­bei mit ein paar blut­un­ter­lau­fe­nen Au­gen so bos­haft und gif­tig an, wäh­rend er ihm grin­send die Zäh­ne zeig­te, daß Eli­as vor Schreck bei­na­he den Ver­stand ver­lo­ren hät­te. Dann fuhr der See­hund mit ei­nem­mal hin­un­ter ins Was­ser, so daß der Schaum hin­ter ihm ganz rot von Blut war. Mehr sah Eli­as von dem Tier nicht; aber an der Lan­dungs­stel­le in der Bucht, wo sein Haus stand, kam an dem­sel­ben Nach­mit­tag die Flun­der­stan­ge mit ab­ge­bro­che­ner Ei­sen­spit­ze ans Land ge­trie­ben.

Eli­as dach­te je­doch nicht wei­ter hieran. Er kauf­te sich im Herbst ein sechs­ru­d­ri­ges Boot, für wel­ches er be­reits im Som­mer einen klei­nen Schup­pen ge­baut hat­te.

Ei­nes Nachts, als er noch wach lag und an sei­nen Sechs­ru­de­rer dach­te, fiel es ihm ein, daß er, um das Boot or­dent­lich zu ver­wah­ren, viel­leicht noch ei­ne klei­ne Klam­mer zum Stüt­zen an je­der Sei­te ein­set­zen soll­te. Er war so un­ver­nünf­tig froh über das Boot, daß es ihm ein wah­res Ver­gnü­gen war, auf­zu­ste­hen und es mit der La­ter­ne in der Hand zu be­sich­ti­gen.

Wie er nun da stand und das Boot be­leuch­te­te, glaub­te er plötz­lich, in ei­ner Ecke auf dem Netz­ha­ken ein Ge­sicht zu be­mer­ken, das ganz dem des See­hun­des glich. Es grins­te ihn und die La­ter­ne ei­ne Wei­le bos­haft an, der Ra­chen wur­de gleich­sam grö­ßer und im­mer grö­ßer, und schließ­lich fuhr ein großer Mann zur Tür hin­aus, je­doch nicht so schnell, daß Eli­as bei dem Schein der La­ter­ne nicht deut­lich ge­se­hen, wie ei­ne lan­ge Ei­sen­spit­ze ihm aus dem Rücken her­vor­stand. Nun be­gann er doch das ei­ne und das an­de­re zu be­grei­fen. Aber selbst jetzt war er mehr um das Boot als um sein Le­ben be­sorgt, und er setz­te sich mit der La­ter­ne in der Hand in das Boot und hielt Wa­che. Als sei­ne Frau am fol­gen­den Mor­gen her­ein­kam, fand sie ihn im Boo­te schla­fend, mit der aus­ge­brann­ten La­ter­ne ne­ben sich.

Als er ei­nes Mor­gens im Ja­nu­ar mit zwei Män­nern im Boot auf den Fisch­fang aus­zog, hör­te er in der Dun­kel­heit ei­ne Stim­me, die von ei­ner Scha­re, ge­ra­de an der Aus­fahrt der Bucht, höh­nisch la­chend sag­te: »Wenn du ein großes Boot be­kommst, so nimm dich in acht, Eli­as!«

Es dau­er­te je­doch vie­le Jah­re, be­vor Eli­as es zu ei­nem großen Boo­te brach­te, und sein äl­tes­ter Sohn Bernt war da be­reits sieb­zehn Jah­re alt. In dem­sel­ben Herbst reis­te Eli­as mit sei­ner gan­zen Fa­mi­lie im Boot nach Ra­nen, um den Sechs­ru­de­rer zu­gleich mit dem Auf­geld ge­gen ein großes Boot zu ver­tau­schen. Zu Hau­se blieb nur ein so­eben kon­fir­mier­tes Lap­pen­mäd­chen zu­rück, das Eli­as vor ei­ni­gen Jah­ren zu sich ge­nom­men hat­te.

In Ra­nen war nun wirk­lich ein Boot zu ha­ben, ein klei­ne­res Groß­boot, um das es ihm ge­ra­de zu tun war und wel­ches der bes­te Boots­bau­er just in die­sem Herbst fer­tig­be­kom­men und ge­teert hat­te. Eli­as wuß­te sehr wohl, wie ein Boot be­schaf­fen sein muß­te, und er glaub­te, nie­mals ei­nes ge­se­hen zu ha­ben, das so vor­züg­lich un­ter der Was­ser­li­nie ge­baut war wie die­ses. Über dem Was­ser da­ge­gen sah es we­nigs­tens für einen we­ni­ger Er­fah­re­nen et­was grob und gar nicht be­son­ders schön aus.

Der Bau­meis­ter sah dies al­les eben­so­gut wie Eli­as. Er sag­te, nach sei­ner An­sicht wür­de er der schnells­te Seg­ler wer­den, der je in Ra­nen ge­baut wor­den sei; aber Eli­as soll­te es trotz­dem für bil­li­ges Geld ha­ben, wenn er nur ei­nes ver­spre­chen woll­te, näm­lich kei­ne Än­de­rung am Boo­te vor­zu­neh­men, nicht ein­mal einen Na­gel in die ge­teer­ten Ste­ven zu schla­gen. Erst als Eli­as aus­drück­lich die­ses Ver­spre­chen ge­ge­ben, be­kam er das Boot.

Aber der Mann, der den Bau­meis­ter die­se Form un­ter der Was­ser­li­nie ge­lehrt hat­te – über dem Was­ser muß­te er ar­bei­ten, wie er es selbst konn­te, und das wur­de oft schlecht ge­nug –, war wahr­schein­lich dort ge­we­sen und hat­te ihm be­foh­len, das Boot so bil­lig zu ver­kau­fen, daß Eli­as es er­wer­ben könn­te, und ihm zu­gleich ein­ge­schärft, im vor­aus die Be­din­gung zu ma­chen, daß es nicht ge­zeich­net wer­den dür­fe. Auf die­se Wei­se konn­ten nicht, wie es ge­bräuch­lich war, am Vor­der- und Hin­ters­te­ven Kreu­ze an­ge­bracht wer­den.

Eli­as ge­dach­te nun wie­der nach Hau­se zu se­geln, aber erst ging er nach dem Han­dels­platz und ver­sorg­te sich und die Sei­nen mit Weih­nachts­vor­rat, dar­un­ter auch ei­ne Brannt­wein­kru­ke. Sehr froh und zu­frie­den über den Han­del, nah­men er so­wohl wie sei­ne Frau an die­sem Ta­ge viel­leicht einen Schluck über den Durst, und auch Bernt, der Sohn, durf­te ein we­nig da­von kos­ten.

Dann se­gel­ten sie in dem neu­en Boo­te nach Hau­se. An­de­rer Bal­last als Eli­as selbst nebst Frau und Kin­dern und dem Weih­nachts­vor­rat be­fand sich nicht im Boo­te. Der Sohn Bernt saß vorn, die Frau, un­ter­stützt von dem Zwei­t­äl­tes­ten Sohn, hielt die Se­gel, und Eli­as selbst saß am Ru­der, wäh­rend die bei­den jün­ge­ren zwölf und vier­zehn Jah­re al­ten Brü­der sich beim Was­ser­schöp­fen ab­lö­sen soll­ten.

Sie hat­ten acht See­mei­len zu se­geln, und als sie auf die See hin­aus­ka­men, zeig­te es sich, daß sie das Boot gleich dies ers­te­mal wür­den auf die Pro­be stel­len müs­sen. Nach und nach stei­ger­te sich der Wind zu ei­nem Sturm, und die Schaum­käm­me der schwe­ren Wo­gen be­gan­nen sich an­ein­an­der zu bre­chen.

Jetzt sah Eli­as, was für ein Boot er hat­te; es durch­schnitt die Wel­len wie ein See­vo­gel, oh­ne daß auch nur ein Trop­fen ins Boot kam, und er mein­te, daß er nicht ein gan­zes Reff bei­zu­set­zen brau­che, was auf ei­nem ge­wöhn­li­chen Groß­boot bei sol­chem Wet­ter not­wen­dig ge­we­sen wä­re.

Spä­ter am Ta­ge be­merk­te er nicht weit von sich auf der See ein an­de­res Groß­boot mit vol­ler Be­sat­zung und vier­mal gereff­ten Se­geln. Es hat­te den­sel­ben Kurs, und er fand es et­was selt­sam, daß er es nicht frü­her ge­se­hen. Es schi­en, als wol­le es mit ihm um die Wet­te se­geln, und als er das merk­te, konn­te er es nicht un­ter­las­sen, sein Se­gel wie­der auf­zu­set­zen.

Jetzt ging es mit ra­sen­der Schnel­lig­keit an Land­zun­gen, Wer­dern und Schä­ren vor­über, so daß es Eli­as schi­en, als sei er noch nie zu­vor auf ei­ner so präch­ti­gen Se­gel­fahrt ge­we­sen, und nun zeig­te es sich auch, daß das Boot wirk­lich das bes­te in Nord­land war.

Das Meer ging in­des im­mer hö­her, und sie hat­ten be­reits meh­re­re or­dent­li­che Sturz­wel­len be­kom­men. Sie braus­ten vorn am Hal­se, wo Bernt saß, her­ein und flos­sen in der Nä­he des Hin­ter­ver­decks wie­der in die See hin­aus.

Als es dun­kel ge­wor­den, war das an­de­re Boot ganz in ih­re Nä­he ge­kom­men, so daß sie sich ein­an­der et­was hät­ten zu­wer­fen kön­nen.

So ging die Fahrt Sei­te an Sei­te auf der im­mer ge­fähr­li­cher wer­den­den See in die Nacht hin­ein. Es hät­te nun ei­gent­lich wie­der gerefft wer­den müs­sen, aber Eli­as woll­te sich bei dem Wett­fah­ren nicht gern für be­siegt er­klä­ren und ge­dach­te da­mit so lan­ge wie mög­lich zu war­ten – bis die an­de­ren es ta­ten, wo es viel­leicht eben­so not­wen­dig war. Im­mer öf­ter ging nun die Brannt­wein­kru­ke her­um, da sie jetzt so­wohl der Käl­te wie der Näs­se zu wi­der­ste­hen hat­ten.

Das »Meer­leuch­ten«, das auf den schwar­zen Wo­gen ne­ben Eli­as’ Boot spiel­te, strahl­te ei­gen­tüm­lich stark auf dem Schaum­ran­de um das an­de­re Boot, das gleich­sam durch feu­ri­ge Sturz­wel­len da­hin­se­gel­te. Bei dem hel­len Phos­phor­schein ver­moch­te er so­gar die Taue am Boo­te zu un­ter­schei­den. Er konn­te auch deut­lich die Leu­te an Bord se­hen, mit ih­ren Süd­wes­tern auf dem Kopf; aber als ih­re Luv­sei­te zu­nächst lag, kehr­ten sie ihm al­le den Rücken zu und wur­den zu­dem fast gänz­lich von dem ho­hen Ran­de des Boo­tes ver­deckt.

Plötz­lich schlug ei­ne schreck­li­che Sturz­wel­le, de­ren wei­ßen Kamm Eli­as schon von wei­tem durch die Dun­kel­heit er­blickt hat­te, ins Boot, wo Bernt saß. Sie hielt gleich­sam das gan­ze Boot einen Au­gen­blick auf; die Plan­ken er­beb­ten und zit­ter­ten un­ter ih­rem Druck, und dann ström­te sie hin­ten über die Lee­sei­te wie­der hin­aus, als das Boot, wel­ches ei­ne Wei­le halb ge­ken­tert dalag, sich wie­der er­hob und von neu­em da­hin­schoß. Wäh­rend dies ge­sch­ah, schi­en es Eli­as, als ob von dem an­dern Boot her schreck­lich ge­schri­en wür­de. Aber als es vor­über war, rief die Frau, die hin­ten am Se­gel saß, mit ei­ner Stim­me, die ihm ins Herz schnitt:« Herr mein Gott, Eli­as, die Wel­le hat Mar­tha und Nils mit sich ge­nom­men!« Das wa­ren ih­re zwei jüngs­ten Kin­der, das ers­te­re neun, das an­de­re sie­ben Jah­re alt. Sie hat­ten ne­ben Bernt ge­ses­sen. Eli­as ant­wor­te­te nur: »Laß das Se­gel nicht los, sonst wirst du noch mehr ver­lie­ren!«

Es galt nun das vier­te­mal zu ref­fen, und als das ge­sche­hen war, fand Eli­as, daß er so­gar zum fünf­ten Ma­le ref­fen müß­te, denn der Sturm ward im­mer är­ger; aber um an­der­seits die im­mer schwe­re­ren Sturz­wel­len um­se­geln zu kön­nen, durf­te er das Se­gel nicht wei­ter ein­zie­hen, als durch­aus not­wen­dig war. Es kam je­doch so, daß sie das Se­gel mehr und mehr ein­zie­hen muß­ten. Die See peitsch­te ih­nen ins Ge­sicht, und Bernt und der näch­st­äl­tes­te Bru­der An­ton, der bis­her der Mut­ter am Se­gel ge­hol­fen, muß­ten sich schließ­lich an der Rah hal­ten – ein Aus­weg, zu dem man sei­ne Zu­flucht nimmt, wenn das Boot nicht ein­mal das fünf­mal gereff­te Se­gel mehr ver­trägt.

Das be­nach­bar­te Boot, das ei­ne Wei­le nicht sicht­bar ge­we­sen, tauch­te plötz­lich ne­ben Eli­as’ Boot wie­der auf, mit ganz der­sel­ben Ta­ke­la­ge wie die­ses; aber die Mann­schaft dort an Bord woll­te ihm jetzt nicht recht ge­fal­len. Die bei­den, wel­che die Rah hiel­ten und de­ren blei­che Ge­sich­ter er un­ter den Süd­wes­tern er­blick­te, schie­nen ihm bei der selt­sa­men Be­leuch­tung der Schaum­wo­ge mehr Ge­spens­tern als Men­schen zu glei­chen; auch spra­chen sie kein ein­zi­ges Wort.

Ei­ne Stre­cke ent­fernt er­blick­te er jetzt wie­der auf dem Was­ser den ho­hen Kamm ei­ner Sturz­wel­le, wel­che sich durch die Fins­ter­nis nä­her­te, und er be­rei­te­te sich bei­zei­ten dar­auf vor, sie zu emp­fan­gen. Das Boot wur­de mit dem Ste­ven di­rekt auf die Wel­le ge­legt und das Se­gel so groß wie mög­lich ge­führt, um Schnel­lig­keit ge­nug zu ge­win­nen, daß er die Wel­le durch­schnei­den und wie­der aus ihr her­aus­se­geln könn­te. Her­ein braus­te die Sturz­wel­le, to­send wie ein Was­ser­fall; wie­der la­gen sie einen Au­gen­blick halb ge­ken­tert; aber als die Ge­fahr vor­über war, saß die Frau nicht mehr am Se­gel, und auch An­ton stand nicht mehr da und hielt die Rah – sie wa­ren bei­de über Bord ge­gan­gen.

Auch dies­mal schi­en es Eli­as, als hör­te er den­sel­ben un­heim­li­chen Ruf in der Luft. Aber da­zwi­schen hör­te er deut­lich sei­ne Frau angst­voll sei­nen Na­men ru­fen. Als er be­griff, daß sie über Bord ge­spült war, sag­te er nur: »In Je­su Na­men!« und schwieg dann. Es war ihm so zu­mu­te, daß er ihr am liebs­ten ge­folgt wä­re, aber er fühl­te zu­gleich, daß es nun galt, den Rest der Last zu ber­gen, die er noch an Bord hat­te, näm­lich Bernt und sei­ne zwei an­de­ren Söh­ne, der ei­ne zwölf, der an­de­re vier­zehn Jah­re alt, die nun im Hin­ters­te­ven hin­ter ihm Platz er­hal­ten hat­ten.

Bernt muß­te al­lein auf die Rah ach­ten; er und der Va­ter muß­ten sich so gut hel­fen, wie es ge­hen woll­te. Das Steu­er­ru­der wag­te Eli­as nicht los­zu­las­sen, und er hielt es mit ei­ser­ner Hand fest – sie war je­doch längst vor An­stren­gung ge­fühl­los ge­wor­den.

Ei­ne Wei­le dar­auf tauch­te das an­de­re Boot wie­der auf; es war, wie das ers­te­mal, ei­ne Zeit­lang nicht zu se­hen ge­we­sen. Nun sah Eli­as auch mehr von dem großen Mann, der auf dem­sel­ben Platz wie er selbst im Hin­ters­te­ven saß. Aus sei­nem Rücken un­ter­halb des Süd­wes­ters stand, als er sich um­wand­te, ganz rich­tig ei­ne lan­ge Ei­sen­pi­ke, die Eli­as wie­der­zu­er­ken­nen glaub­te. Da­durch ward ihm zwei­er­lei klar: Ers­tens, daß es nie­mand an­ders war als das See­ge­spenst selbst, das sein Halb­boot dicht ne­ben ihm lenk­te und ihn ins Ver­der­ben ge­führt, und zwei­tens, daß es so be­stimmt war, daß er in die­ser Nacht sei­ne letz­te Fahrt mach­te. Denn der, wel­cher das See­ge­spenst auf dem Mee­re er­blickt, ist ver­lo­ren. Er sag­te nichts zu sei­nen Söh­nen, um ih­nen nicht den Mut zu rau­ben; aber in der Stil­le emp­fahl er Gott sei­ne See­le. Seit ei­ni­gen Stun­den hat­te er den Kurs än­dern müs­sen, um dem Sturm aus­zu­wei­chen; zu­gleich ent­stand nun ein Schnee­ge­stö­ber, und so sah er ein, daß er auf die Lan­dung war­ten müß­te, bis der Tag grau­te. Die Fahrt ging in­des wie bis­her. Von Zeit zu Zeit klag­ten die Kna­ben im Hin­ters­te­ven, daß sie frö­ren, aber da­ge­gen war ja bei der Näs­se nichts zu ma­chen, und Eli­as war zu­dem mit ganz an­de­ren Ge­dan­ken be­schäf­tigt. Es hat­te ihn ein so hei­ßes Ver­lan­gen er­grif­fen, sich zu rä­chen, und er wür­de es auch ge­tan ha­ben, wenn er nicht das Le­ben sei­ner drei üb­ri­gen Kin­der zu ver­ant­wor­ten ge­habt hät­te. Dann wür­de er durch ei­ne plötz­li­che Wen­dung ver­sucht ha­ben, das ver­fluch­te Boot in den Grund zu se­geln, das noch im­mer wie zum Hohn sich ne­ben ihm hielt und des­sen bö­se Ab­sicht er nur all­zu klar durch­schau­te. Konn­te die Flun­der­pi­ke frü­her das Ge­spenst tref­fen, so ließ sich auch wohl jetzt mit ei­nem Mes­ser oder ei­nem ei­ser­nen Fisch­ha­ken das­sel­be er­rei­chen, und er fühl­te, er wür­de gern sein Le­ben hin­ge­ge­ben ha­ben, um den or­dent­lich zu tref­fen, der ihm so un­barm­her­zig das Liebs­te auf Er­den ge­nom­men und wohl noch mehr ha­ben woll­te.

Als es zwi­schen drei und vier Uhr nachts war, er­blick­te Eli­as wie­der in der Dun­kel­heit ei­ne Schaum­bre­chung von sol­cher Hö­he, daß er an­fangs glaub­te, es sei ei­ne Bran­dung in der Nä­he des Lan­des. Er er­kann­te je­doch bald, was es war, näm­lich ei­ne un­ge­heu­re Wo­ge. Da glaub­te er deut­lich zu hö­ren, wie es in dem an­de­ren Boo­te lach­te, und er ver­nahm die Wor­te: »Nun steu­re dein Groß­boot, Eli­as!« Die­ser, der das Un­glück vor­aus­sah, sag­te jetzt laut: »Nun, in Je­su Na­men!«, bat dann sei­ne Söh­ne, sich mit al­ler Macht an den Ru­der­pflö­cken fest­zu­hal­ten, wenn das Boot un­ter­tauch­te, und nicht eher los­zu­las­sen, als bis sie wie­der über Was­ser wä­ren. Er ließ den äl­tern vorn zu Bernt ge­hen, er selbst be­hielt den jüngs­ten dicht ne­ben sich, strich ihm heim­lich mehr­mals die Wan­ge und ver­ge­wis­ser­te sich, ob er sich recht fest­hielt. Das Boot wur­de buch­stäb­lich un­ter der Schaum­wel­le be­gra­ben, er­hob sich je­doch nach und nach mit dem Vor­ders­te­ven und ging dann un­ter. Als es mit dem Kiel nach oben wie­der an die Ober­flä­che stieg, la­gen Eli­as, Bernt und der zwölf­jäh­ri­ge Mar­tin ne­ben dem Boot und hiel­ten sich an dem Wei­den­ban­de fest; aber der drit­te Bru­der fehl­te.

Nun galt es zu­nächst, die Tau­wän­de an der Sei­te zu durch­schnei­den, so daß der Mast an der an­dern Sei­te ne­ben dem Boot schwim­men könn­te, statt ge­walt­sam un­ter dem­sel­ben zu ar­bei­ten, und dann auf den Kiel zu ge­lan­gen, um den Zap­fen aus dem Schlüs­sel­loch zu ent­fer­nen und die Luft, die das Boot jetzt zu hoch im Was­ser hielt, her­aus­zu­las­sen, da­mit es still lie­gen könn­te. Nach großen An­stren­gun­gen glück­te dies, und Eli­as, der zu­erst auf den Kiel ge­lang­te, half nun auch den bei­den Söh­nen hin­auf.

Und dort sa­ßen sie nun in der lan­gen, fins­te­ren Win­ter­nacht, mit Hän­den und Kni­en sich krampf­haft an den Bo­den des Boo­tes fest­klam­mernd, über wel­ches ei­ne Wel­le nach der an­dern schlug.

Schon nach ein paar Stun­den starb Mar­tin, den der Va­ter die gan­ze Zeit über nach Mög­lich­keit ge­stützt hat­te, vor Er­mat­tung und glitt in die See hin­un­ter. Mehr­mals hat­ten sie um Hil­fe ge­ru­fen, ga­ben es aber wie­der auf, weil sie ein­sa­hen, daß es nichts nüt­zen wür­de.

Wäh­rend die bei­den nun al­lein auf dem um­ge­schla­ge­nen Boo­te sa­ßen, sag­te Eli­as zu Bernt: Er glau­be, auch er wür­de bald »der Mut­ter fol­gen«; er ha­be je­doch die fes­te Hoff­nung, Bernt wür­de ge­ret­tet wer­den, wenn er nur wie ein Mann aus­hal­te. Dann er­zähl­te er ihm von dem See­ge­spenst, das er mit der Flun­der­pi­ke in den Nacken ge­sto­ßen und wie die­ses sich nun an ihm ge­rächt ha­be und wohl nicht nach­ge­ben wür­de, bis sie quitt sei­en.

Ge­gen neun Uhr mor­gens, als der Tag zu grau­en be­gann, reich­te Eli­as Bernt, der ne­ben ihm saß, sei­ne sil­ber­ne Uhr mit der Mes­sing­ket­te, die er ent­zwei­ge­ris­sen hat­te, um un­ter der zu­ge­knöpf­ten Wes­te die Uhr her­vor­zu­zie­hen. Er blieb noch ei­ne Wei­le sit­zen; aber als es hel­ler wur­de, sah Bernt, daß des Va­ters Ant­litz to­ten­bleich war und das Haar sich an ver­schie­de­nen Stel­len ge­teilt hat­te, wie es wohl bei ei­nem Ster­ben­den zu ge­sche­hen pflegt, und durch das Fest­hal­ten am Kiel war ihm die Haut von den Hän­den ab­ge­rie­ben. Der Sohn be­griff jetzt, daß es mit dem Va­ter zu En­de ging, und woll­te, wenn’s ihm nur eben mög­lich sei, zu ihm hin­rücken, um ihn zu stüt­zen; aber als Eli­as dies merk­te, sag­te er: »Halt dich nur un­ver­zagt fest, Bernt! In Je­su Na­men geh’ ich nun zur Mut­ter!« Und da­mit warf er sich rück­lings von dem Boot ins Meer.

Als die See ih­re Beu­te emp­fan­gen hat­te, wur­de sie, wie je­der weiß, der auf ei­nem sol­chen um­ge­stürz­ten Boot ge­ses­sen, ei­ne Wei­le nach­her ru­hi­ger. Es ward jetzt Bernt leich­ter, sich fest­zu­hal­ten, und mit dem hel­ler wer­den­den Ta­ge faß­te er auch neue Hoff­nung. Der Sturm leg­te sich, und als es ganz hell ge­wor­den, schi­en es ihm, als ob er die Ge­gend er­kenn­te und sei­ner Hei­mat, dem Kval­holm, zu­trie­be.

Er be­gann jetzt wie­der um Hil­fe zu ru­fen, setz­te aber sei­ne meis­te Hoff­nung auf ei­ne Strö­mung, von der er wuß­te, daß sie an ei­ner Stel­le ans Land trug, wo ei­ne Land­zun­ge der In­sel die Wo­gen brach, so daß das Was­ser ru­hig wur­de. Er trieb auch ganz rich­tig im­mer nä­her und kam schließ­lich ei­ner Schä­re so na­he, daß der Mast, der ne­ben dem Boo­te schwamm, zu­gleich mit den Wel­len an der schrä­gen Klip­pe auf und nie­der wog­te. So starr sei­ne Glie­der von dem Sit­zen und Fest­hal­ten auch wa­ren, ge­lang es ihm jetzt doch un­ter großer An­stren­gung, sich auf die Fel­sen­klip­pe zu ret­ten, auf die er den Mast hin­auf­zog und wo er das Groß­boot vertau­te. Das Lap­pen­mäd­chen, das al­lein zu Hau­se war, hat­te seit ein paar Stun­den Not­ru­fe zu ver­neh­men ge­glaubt, und da die­sel­ben nicht auf­hör­ten, stieg sie auf ei­ne An­hö­he, um zu se­hen, was es wä­re. Da ge­wahr­te sie Bernt auf der Klip­pe und sah das um­ge­kehr­te Groß­boot an der­sel­ben auf und ab wo­gen. Sie lief so­fort hin­un­ter, schob das al­te Ru­der­boot ins Was­ser und ru­der­te um die In­sel her­um zu ihm hin­aus.

Bernt lag un­ter ih­rer Pfle­ge den gan­zen Win­ter krank und ging in die­sem Jah­re nicht auf den Fisch­fang. Die Leu­te mein­ten auch, nach die­sen Er­leb­nis­sen wä­re er manch­mal von et­was wun­der­li­cher Art.

Auf das Meer woll­te er nicht wie­der hin­aus – er hat­te den See­schreck be­kom­men. Er hei­ra­te­te das Lap­pen­mäd­chen und zog hin­auf nach Ma­lan­gen, wo er sich ein Ro­de­land er­warb und wo er jetzt lebt und sich gut steht.