Die Angst
von
Guy de Maupassant
Guy de Maupassant (1850-1893), einer der großen französischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts und ein Meister der kurzen novellistischen Prosa, schildert in seinen Romanen, Novellen und Kurzerzählungen mit unbestechlichem psychologischen Realismus die gesellschaftliche Wirklichkeit seiner Zeit. Daneben hat auch das Unheimliche Eingang in sein umfangreiches Erzählwerk gefunden, ungreifbare Schemen aus einer phantastischen Wirklichkeit, die mit Maupassants fortschreitender Paralyse immer stärker hervortraten.
Was ich berichten will, trug sich im letzten Winter in einem Wald im Nordosten Frankreichs zu. Die Nacht war zeitig herangebrochen, der Himmel war düster, und ich befand mich auf der Jagd. Als Führer hatte ich einen Bauern bei mir, der auf dem schmalen Pfad nicht von meiner Seite wich. Zwischen den Baumwipfeln sah ich Wolken dahinjagen. Sie schienen auf der Flucht vor etwas Entsetzlichem. Manchmal schien sich der ganze Wald unter heftigen Windstößen zu neigen.
Die Kälte hatte mich gepackt, obwohl ich warm gekleidet war und tüchtig ausschritt. Wir wollten die Nacht bei einem Wildhüter verbringen, dessen Haus nicht mehr weit entfernt sein konnte. Manchmal hob mein Führer den Blick und murmelte: »Schlimmes Wetter!«
Dann erzählte er von den Leuten, bei denen wir einkehren wollten. Der Vater hatte vor zwei Jahren einen Wilderer in diesem Revier erschossen, und seitdem war sein Sinn düster. Die Erinnerung an diesen Vorfall schien ihn nicht loszulassen. Seine beiden verheirateten Söhne lebten mit ihm zusammen in dem Haus, zu dem wir unterwegs waren.
Es herrschte tiefe Finsternis. Ich sah nichts mehr vor mir und nichts neben mir. Die vom Wind gezausten Aste erfüllten die Nacht mit einem ständig anhaltenden Brausen. Endlich bemerkten wir ein Licht, und bald darauf klopfte mein Begleiter an eine Tür. Schrille Frauenschreie antworteten uns. Dann hörten wir eine erstickte Männerstimme, die fragte: »Wer da?«
Mein Führer nannte seinen Namen. Wir traten ein. Das Bild, welches sich uns bot, werde ich nie vergessen.
Ein alter Mann mit weißen Haaren, in den Augen Wahnsinn, ein geladenes Gewehr schußbereit in der Hand, stand mitten in der Küche, während zwei Burschen, mit Äxten bewaffnet, die Tür nicht aus den Augen ließen.
Im dämmrigen Küchenwinkel konnte man zwei Frauen erkennen, die mit dem Gesicht zur Wand auf den Knien lagen.
Wir stellten uns vor. Der Alte lehnte sein Gewehr an die Wand und ordnete an, daß man mir ein Zimmer richte. Dann, als sich keine der Frauen rührte, sagte er schroff zu mir: »Wissen Sie, mein Herr, heute nacht sind es zwei Jahre her, daß ich einen Mann getötet habe. Im vergangenen Jahr ist er hier erschienen, um mich zu rufen. Heute erwarte ich ihn wieder.« Und er fügte hinzu – ich mußte darüber beinahe lächeln –: »Wir sind etwas beunruhigt.« Ich versicherte ihm, daß es mir gelegen komme, ihm heute nacht gegen die Angst des Aberglaubens beistehen zu können. Ich begann, allerlei Geschichten zu erzählen, und es gelang mir, den Alten etwas zu beruhigen.
Neben dem Eingang lag ein alter, fast blinder Hund. Er schlief mit der Schnauze zwischen den Vorderpfoten. Es war einer jener Hunde, die einen irgendwie an einen Menschen erinnern, den man gut kennt.
Trotz meiner Bemühungen, die Leute zu beruhigen, fühlte ich sehr wohl, daß die Angst sie umklammert hielt, und immer, wenn ich meine Erzählungen unterbrach, lauschten sie auf die Geräusche draußen.
Ich wurde es müde, weiter diesem unvernünftigen, abergläubischen Gehabe mit zuzusehen, und verlangte nach meinem Zimmer, als der Alte auf einmal seinen Stuhl zurückstieß und erneut nach seinem Gewehr griff. Verwirrt stammelte er: »Da ist er. Da ist er!«
Die beiden Frauen fielen in der Ecke wieder auf die Knie und verbargen das Gesicht in den Händen. Die Söhne langten nach den Äxten. Ich wollte sie noch einmal beschwichtigen, als der Hund plötzlich erwachte, seinen Kopf hob, den Hals streckte, mit seinen fast erloschenen Augen in die Flammen des Kaminfeuers blickte und in ein schauerliches Geheul ausbrach. Alle Augen richteten sich auf das Tier. Es verharrte unbeweglich, auf die Pfoten erhoben, wie von einer Erscheinung gebannt, und begann wieder gegen etwas Unsichtbar-Unbekannt-Schreckliches anzuheulen. Das Fell des Tieres sträubte sich. Der Waldhüter war bleiweiß im Gesicht geworden und schrie: »Er riecht ihn! Er riecht ihn! Er war doch dabei, als ich den Kerl tötete.«
Eine Stunde lang heulte der Hund, ohne sich zu rühren. Er heulte und winselte wie in einem Angsttraum. Und die Angst, die schreckliche Angst, ergriff auch mich. Die Angst wovor? Wußte ich es? Nein. Es war die nackte Angst.
Wir hockten da, unbeweglich und aschfarben. Wir warteten auf das Schreckliche, das sich ereignen würde. Wir lauschten gespannt, mit klopfendem Herzen, vom kleinsten Geräusch zu Tode erschreckt. Der Hund begann im Zimmer umherzulaufen, er schnüffelte an den Wänden und zitterte. Dieser Hund machte uns nahezu verrückt. Da warf sich der Bauer, der mich hierher gebracht hatte, auf ihn, öffnete die Tür, die auf den kleinen Hof hinausführte und stieß den Hund dort hinaus.
Sofort verstummte das Tier, und wir tauchten in eine Stille ein, die noch schrecklicher war. Doch plötzlich fuhren wir alle zusammen hoch: Etwas strich an der Hausmauer entlang, die dem Wald zu gelegen war; dann ging es weiter gegen die Tür und schien sie mit zitternder Hand abzutasten. Zwei Minuten hörte man darauf nichts mehr. Wir verloren beinahe die Besinnung. Dann kam es zurück. Es streifte die Mauer und kratzte leise, wie es Kinder mit ihren Nägeln zu tun pflegen. Und da – plötzlich tauchte vor dem kleinen Fenster neben der Tür ein Kopf auf, ein weißer Schädel mit leuchtenden Augen. Ein Ton quälte sich aus seinem Mund, ein undeutlicher Wehlaut. Dann zerriß ein ungeheurer Lärm die Stille in der Küche. Der alte Waldhüter hatte sein Gewehr abgefeuert, und sogleich stürzten auch seine Söhne herbei. Sie verrammelten das Fenster mit dem großen Eßtisch und stellten auch noch den Geschirrschrank hinter den Tisch. Und ich kann Ihnen schwören, seitdem der Schuß gefallen war, hörte ich nichts mehr. Die Angst hatte mein Herz gepackt, meine Seele, meinen Leib. Ich fühlte meine Sinne schwinden und glaubte, vor Angst zu sterben. Wir verharrten so bis zur Morgendämmerung, unfähig, uns zu rühren oder ein Wort zu sprechen, gebannt von einer unsagbaren Verwirrung. Wir wagten nicht, die Barrikade fortzuräumen, bis durch einen Spalt das Tageslicht hereindrang.
Am Fuß der Mauer, gegen die Tür gewandt, lag der alte Hund, die Schnauze von einer Kugel zerrissen.
Er war durch ein Loch in der Umzäunung aus dem Hof entwichen. Ich würde lieber allen Gefahren meines Lebens wieder gegenüberstehen, als noch einmal jene Minute erleben, als der Alte auf den bärtigen Kopf im kleinen Fenster schoß.